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Das Buch versteht sich als kurzgefasstes Praxisbuch, in dem Anleitungen für eine sportpsychologische Praxis auf der Grundlage fundierter Erkenntnisse der sportpsychologischen Forschung gegeben werden. Dabei wird ein breites Spektrum von Aufgabenbereichen der sportpsychologischen Praxis im Wettkampf- und Leistungssport angesprochen: von der Diagnostik über die Persönlichkeitsentwicklung und Teambildung, vom mentalen Training bis hin zur psychischen Gesundheit und Wohlbefinden. In all diesen Bereichen veranschaulichen Praxisbeispiele, wie Jürgen Beckmann und Anne-Marie Elbe in ihrer praktischen Arbeit vorgehen. Das Buch ist nicht nur eine vollständige Überarbeitung und thematische Erweiterung der zweiten Auflage der erfolgreichen "Praxis der Sportpsychologie", sondern zeichnet sich auch durch eine weitergefasste Grundorientierung aus. Es wird nun auch eine systemische Perspektive einbezogen und das Methodenrepertoire z.B. durch die klinische Hypnose erweitert.
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Jürgen Beckmann
Anne-Marie Elbe
Praxis der Sportpsychologie im Wettkampf und Leistungssport
3., überarbeitete und ergänzte Auflage
Sportpsychologie
Band 11
Praxis der Sportpsychologie im Wettkampf und Leistungssport
Prof. Dr. Dr. Jürgen Beckmann, Prof. Dr. Anne-Marie Elbe
Die Reihe wird herausgegeben von:
Prof. Dr. Bernd Strauß, Prof. Dr. Wolfgang Schlicht, Prof. Dr. Jörn Munzert, Prof. Dr. Reinhard Fuchs, Prof. Dr. Anne-Marie Elbe, Prof. Dr. Claudia Voelcker-Rehage
Prof. Dr. Dr. Jürgen Beckmann, geb. 1955. 1974–1980 Studium der Sozialwissenschaften mit Schwerpunkt Psychologie an der Ruhr-Universität Bochum. 1980–1983 Wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Sozialpsychologie der Universität Mannheim. 1984 Promotion. 1984–1990 Projektleiter am Max-Planck-Institut für Psychologische Forschung München. 1988 Habilitation. 1990–1995 Heisenberg Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Visiting Scholar an der Florida Atlantic University 1993. 1995–2006 Professor für Sportpsychologie an der Universität Potsdam. 2006–2021 Lehrstuhlinhaber für Sportpsychologie an der TU München. 2021 bis heute Emeritus of Excellence an der TU München. Seit 2023 wiss. Mitarbeiter Psychokardiologie am Deutschen Herzzentrum München. Seit 2018 Honorary Professor an der School of Human Movement and Nutrition Sciences der University of Queensland. Arbeitsschwerpunkt: Selbstregulation, neurowissenschaftliche Aspekte sportlicher Leistung, Stress- und Erholung, klinische Sportpsychologie.
Prof. Dr. Anne-Marie Elbe, geb. 1972. 1992–1997 Studium für das Amt des Studienrats in den Fächern Sport und Englisch, FU Berlin. 1998–2001 Promotionsstudium. 2001 Promotion. 2001–2006 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Sportpsychologie am Institut für Sportwissenschaft der Universität Potsdam. 2005 Habilitation. 2006 Vertretungsprofessur für das Fach Sportpsychologie an der Universität Potsdam. 2006–2007 Senior Lecturer for Sport and Exercise Psychology, Northumbria University, Newcastle upon Tyne. 2007–2017 Associate Professor for Sport Psychology, University of Copenhagen. Seit 2018 Professorin für Sportpsychologie an der Sportwissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig. Arbeitsschwerpunkte: Motivationale und volitionale Aspekte der sportlichen Leistung, Talententwicklung im Sport, Dopingprävention sowie die integrative Rolle des Sports.
Die ersten beiden Auflagen dieses Buches erschienen unter dem Titel „Praxis der Sportpsychologie: Mentales Training im Wettkampf- und Leistungssport“ im Spitta Verlag.
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Satz: Sabine Rosenfeldt, Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen
Format: EPUB
3., überarbeitete und ergänzte Auflage 2024
© 2024 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen
(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-3294-6; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-3294-7)
ISBN 978-3-8017-3294-3
https://doi.org/10.1026/03294-000
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Seit der ersten Auflage dieses Buches sind 15 Jahre vergangen. In dieser Zeit sind zahlreiche Forschungsarbeiten entstanden, die unser Wissen über psychische Abläufe im Sport und die Beeinflussung sportlichen Handelns durch diese Prozesse deutlich erweitert haben. Auch Grundvorstellungen über ein Herangehen an sportpsychologische Praxis haben sich verändert. Zum Zeitpunkt der ersten Auflage war die Einstellung gegenüber Sportpsychologie in weiten Bereichen des Leistungssports noch eher zurückhaltend. Dies beruhte zum Teil darauf, dass bei Verantwortlichen (z. B. Trainer_innen, Sportdirektor_innen) nur sehr lückenhafte Kenntnisse darüber vorhanden waren, was Sportpsychologie ist, was sie leisten kann und wie sie arbeitet. Die erste Auflage orientierte sich auch daran, diese Lücken zu schließen unter anderem durch die Konzipierung eines struktur-funktionalen Modells sportpsychologischen Trainings. Die Situation hat sich seitdem deutlich verändert. Sportpsychologie genießt heute weitgehende Akzeptanz im Leistungssport und wird als wichtiger Bestandteil des Betreuungssystems angesehen.
Brand hat 2010 zwischen sportpsychologischer Betreuung und sportpsychologischem Training unterschieden. Dieses Buch hatte bei seiner ersten Auflage einen eindeutigen Fokus auf sportpsychologisches Training im Wettkampf- und Leistungssport. Damit war die Vorstellung verbunden, einerseits allgemein das Wissen über sportpsychologische Arbeit zu vergrößern, insbesondere aber auch Sportpsychologinnen und Sportpsychologen gerade zu Beginn ihrer berufspraktischen Karriere konkrete Werkzeuge an die Hand zu geben, ähnlich den Manualen in der Verhaltenstherapie. Die Neuauflage unseres Buches hat ihren Schwerpunkt nach wie vor im Bereich des sportpsychologischen Trainings im Leistungssport. Auch die wissenschaftliche Begründung dieser Trainingsmaßnahmen bleibt ein wesentliches Element. Daher wird auch weiterhin auf wissenschaftliche Evidenzen eingegangen – fokussiert und praxisbezogen.
Die 3. Auflage soll aber auch neue Orientierungen in der Praxis integrieren und Themenfelder einbeziehen, die vermehrt an Bedeutung gewonnen haben, wie beispielsweise die psychische Gesundheit von Athleten und Athletinnen. Zu den neuen Entwicklungen gehört eine 3 P Ausrichtung sportpsychologischer Arbeit: personalisiert, partizipativ und präventiv. Demnach werden individuelle Besonderheiten ins Zentrum gestellt und Interventionen entsprechend personalisiert. |6|Zudem sollen Athlet_innen als Expert_innen für sich selbst Hauptakteure bei der sportpsychologischen Arbeit sein. Sportpsychologische Betreuung wird also partizipativ ausgerichtet. Schließlich sollte die Arbeit auch so gestaltet sein, dass sowohl Persönlichkeit als auch Fertigkeiten entwickelt werden, die verhindern, dass Athlet_innen überhaupt in schwerwiegende Problemsituationen kommen, sei es nun hinsichtlich Leistung oder Gesundheit. In unserem Ansatz vertreten wir demgemäß auch eine präventive Orientierung. Die dritte Auflage wurde daher insgesamt so grundlegend überarbeitet, dass sie einer Neukonzeption gleichkommt. Bewährte Elemente der früheren Auflagen wurden aber bewahrt und fortgeschrieben. Mit der Neuauflage stand auch ein Verlagswechsel an. Wir freuen uns, dass das Buch nunmehr beim Hogrefe Verlag erscheint.
Unser Ziel ist es nicht, ein umfassendes Lehrbuch der Sportpsychologie vorzulegen, das alle vorhandenen Entwicklungen abbildet und die theoretischen Hintergründe ausführlich diskutiert. Wir möchten vielmehr anhand unserer eigenen Erfahrungen einen Einblick in unsere Praxis der Sportpsychologie im Leistungssport geben.
Wir möchten uns an dieser Stelle ganz herzlich für die Durchsicht des Manuskripts und die vielfältigen Hinweise bei Caroline Andonian-Dierks, Denise Beckmann-Waldenmayer, Michael Kellmann, Christopher Mächel und V. Vanessa Wergin bedanken.
München und Leipzig, Juni 2024
Über den Erfolg des Buches, der eine Neuauflage nach nur drei Jahren erforderlich macht, freuen wir uns sehr. Auch wenn drei Jahre in der Wissenschaft eine sehr kurze Zeit sind, haben sich dennoch neue Forschungsergebnisse und Weiterentwicklungen ergeben, die eine Überarbeitung und Erweiterung des Buches als angezeigt erscheinen lassen. So sind beispielsweise vermehrt neurowissenschaftliche Ansätze auch in die Sportpsychologie hineingetragen worden. Diese Forschung liefert nicht unbedingt grundlegend neue Erkenntnisse, untermauert aber häufig teilweise ältere Theorieansätze, wie z. B. die Theorie der Leistungsmotivation. Teilweise eröffnen sich neue Perspektiven für alte, bislang nicht zufrieden stellend gelöste Probleme, wie z. B. das Problem einer optimalen Aktivierung.
Das Verständnis von sportpsychologischer Praxis entwickelt sich kontinuierlich weiter. Während vor ein paar Jahren noch in der Verhaltenstherapie verankerte fertigkeitsorientierte Interventionen im Vordergrund standen, haben sich in letzter Zeit auch nicht-direktive Orientierungen entwickelt, die z. B. aus der systemischen Therapie stammen. Schließlich gab es in letzter Zeit im Spitzensport auch Ereignisse, denen aufgrund ihrer Dramatik viel Medienaufmerksamkeit zuteil wurde. In besonderem Maße war dies nach dem Selbstmord des Torhüters der deutschen Fußballnationalmannschaft, Robert Enke, der Fall. Dies lenkte auch in der Sportpsychologie die Aufmerksamkeit auf bislang vernachlässigte Themen, wie z. B. das Thema Depression. Nach wie vor ist eine klare Trennung von klinischer Psychologie und Sportpsychologie aufrecht zu erhalten. Sportpsychologen therapieren nicht, sondern unterstützen Athleten, Mannschaften und Trainer dabei, ihr Training und den Abruf des jeweiligen Leistungspotenzials im Wettkampf zu optimieren. Aber auch für den Sportpsychologen ist es wichtig, Krisensituationen, wie z. B. das Auftreten einer depressiven Episode möglichst frühzeitig zu erkennen und sensibel darauf zu reagieren, sodass die Betroffenen eine Chance auf fachkundige Hilfe erhalten.
In der Neuauflage gehen wir auf die wichtigsten Themen ein. Dies geschieht teilweise in größerer Ausführlichkeit als in der ersten Auflage. Wir haben aber darauf geachtet, dass dadurch nicht der bewährte Charakter des Buches verändert wird. Der Fokus liegt nach wie vor darauf, wissenschaftlich fundiertes Wissen zu vermitteln, das unmittelbar praktisch eingesetzt werden kann.
München und Kopenhagen, Januar 2011
Seit einigen Jahren erfreut sich die Sportpsychologie eines zunehmenden Interesses. In weiten Teilen des Sports setzte sich auch im deutschsprachigen Raum die Erkenntnis durch, dass „mental voll da zu sein, wenn es darauf ankommt“, den entscheidenden Vorsprung im Wettkampf liefern kann. Dennoch sind die Meinungen von Sporttreibenden über die Rolle der Psyche und Psychologie im Sport immer noch geteilt. Manche halten die Beschäftigung mit Psychologie für reine Zeitverschwendung oder für ein Alibi für schlechte Leistung. Oft hört man auch von Trainern die Ansicht, dass sie selbst ihre Athleten ausreichend psychologisch unterstützen könnten, man müsse eben Einfühlungsvermögen haben, zuhören und mit den Leuten reden können.
Letzteres sind natürlich wichtige Fähigkeiten, die von großer psychologischer Bedeutung sind. Die moderne Sportpsychologie geht aber weit über diese Grundfertigkeiten hinaus. Sie kann die psychischen Hintergründe verschiedener Abläufe im sportlichen Geschehen fundiert erklären und auf der Grundlage dieser Erklärungen systematisch Maßnahmen herleiten, wie dem Sportler in seiner Problemsituation zu helfen ist. Bei vielen Sportlern und Trainern hat sich zudem die Erkenntnis durchgesetzt, dass mithilfe der Psychologie zwar kein mittelmäßig talentierter Athlet zum Weltmeistertitel gebracht werden kann, aber psychologische Fertigkeiten bei zwei gleichermaßen talentierten und trainierten Sportlern den entscheidenden Vorteil zum Sieg liefern können.
Häufig ist der Vorwurf zu hören, die Psychologie liefere nur Erkenntnisse, die ohnehin schon bekannt sind. In der Tat finden sich nur selten Erkenntnisse der Psychologie, die dem Alltagsverstand nicht plausibel sind und nahelegen „das habe ich schon immer gewusst“. Führt man sich aber das Alltagswissen um psychische Vorgänge vor Augen, so wird schnell klar, dass dies als sicheres Rezept für das Handeln kaum herhalten kann. Zu fast jedem Sprichwort gibt es ein weiteres mit gegenteiliger Aussage: Wächst nun die Liebe durch die Zeit der Trennung oder gilt „aus den Augen, aus dem Sinn“? Die systematische psychologische Forschung klärt die Umstände, unter denen bestimmte Aussagen gelten, so dass man immer sagen kann: Wenn die Umstände X gegeben sind, dann ist die Reaktion Y zu erwarten. Psychologische Erklärungen haben in der Regel einen hohen Grad an Plausibilität.
|9|In der Psychologie, der Wissenschaft vom Verhalten, existiert inzwischen ein beträchtliches Wissen über menschliches Verhalten. Der Sport ist ein spezieller Bereich menschlichen Verhaltens. In der Sportpsychologie wurden in den letzten 30 Jahren erhebliche Erkenntnisse über psychologische Prozesse im Sport gesammelt. Damit wurden die Grundlagen für Erfolg versprechende Maßnahmen (Interventionen) zur Unterstützung des Sporttreibens geschaffen. Mit ihrer Hilfe kann die Vorbereitung eines Leistungssportlers auf sportliche Höchstleistungen optimiert werden. Durch sportpsychologische Erkenntnisse können auch die Bedingungen im Präventions- und Rehabilitationssport so gestaltet werden, dass die Teilnehmer motiviert sind, Spaß erleben und das Sporttreiben die angestrebten gesundheitlichen Wirkungen zeigt. Im vorliegenden Buch geht es uns jedoch nur um den Wettkampf- und Leistungssport.
Wir erheben nicht den Anspruch, mit unserem Buch sämtliche mentale Trainingsformen umfassend darzustellen. Unsere Ziele sind es, einerseits einen Rahmen bzw. eine systematische Struktur sportpsychologischer Praxis zu liefern, die Orientierung für Anwender (Sportpsychologen) und Nutzer (Athleten, Trainer) schafft. Andererseits werden sportpsychologische Maßnahmen dargestellt, die aus unserer Sicht ein Grundgerüst sind und sich in unserer sportpsychologischen Praxis mit zahlreichen Wettkampf- und Leistungssportlern bewährt haben. Insofern versteht sich dieses Buch auch nicht vorrangig als Lehrbuch der Sportpsychologie, sondern vielmehr als Anleitung zum sportpsychologischen Training. Allerdings legen wir Wert darauf, dass die vorgestellten Trainingsmaßnahmen nicht unserer Intuition oder Erfahrung entstammen, sondern auf wissenschaftlichen sportpsychologischen Erkenntnissen beruhen.
Wir haben das Buch nicht mit wissenschaftlichen Details überfrachtet, da es ein Praxisbuch sein soll. Gleichzeitig war es uns aber wichtig, deutlich zu machen, dass die dargestellten Praxisansätze auf belegbarer wissenschaftlicher Erkenntnis beruhen, um eine klare Grenze zu unwissenschaftlichen oder pseudowissenschaftlichen Mentaltrainings zu ziehen. Außerdem können an den zugrundeliegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen interessierte Leser durch die angegebenen Quellen bei Bedarf tiefer in die Materie einsteigen. Am Ende eines jeden Kapitels ist ferner ergänzende Literatur angeführt.
Dem Buch liegt im Wesentlichen die Grundstruktur der sportpsychologischen Betreuung zugrunde. Es untergliedert sich in 2 Hauptteile: Im ersten Teil werden die Grundorientierungen für die sportpsychologische Praxis dargelegt, der zweite Teil widmet sich den konkreten Interventions- und Trainingsmaßnahmen. Dabei befasst sich Kapitel 2 mit der Diagnostik, die am Beginn jeder sportpsychologischen Betreuungsmaßnahme stehen sollte. Kapitel 3 ergänzt dies mit dem Thema „Persönlichkeit und Persönlichkeitsentwicklung“. Damit wird einerseits der Gegenstand der Diagnostik weiter erläutert, andererseits werden umfassendere |10|Zielvorstellungen sportpsychologischer Betreuung wie Talentauswahl und Talententwicklung angesprochen.
Der zweite Teil des Buches beginnt mit einer praxisorientierten Darstellung des Grundlagentrainings in Kapitel 4; im Mittelpunkt stehen dabei Entspannungsverfahren. Im Kapitel 5 folgt eine Beschreibung der wesentlichsten zu erlernenden und zu trainierenden mentalen Fertigkeiten zur Stabilisierung sportlicher Leistung. Ganz wesentlich für die langfristige Stabilisierung sportlicher Leistung sind das Vermeiden von Übertraining und die Aufrechterhaltung einer ausgeglichenen Erholungs-Beanspruchungs-Bilanz. Dieser im Grundmodell über das kontinuierliche Monitoring erfassten Komponente widmet sich Kapitel 6. Im Verlauf einer Sportlerkarriere können immer wieder krisenhafte Situationen und Konflikte oder längerfristige Krisen auftreten. Die Bewältigung solcher Krisen wird von Kapitel 7 thematisiert. Damit sind alle Ebenen des Grundmodells sportpsychologischer Betreuung erfasst. Mit dem mentalen Werkzeugkasten in Kapitel 8 wollen wir dem Praktiker ferner eine Übersicht an die Hand geben, die ihm hilft, schnell ein Problem und seine Ursachen zu identifizieren und dann geeignete Lösungsmaßnahmen einzuleiten.
Wir möchten uns an dieser Stelle für die Durchsicht des Manuskripts und die vielfältigen Hinweise bei Nils Bühring, Felix Ehrlenspiel, Christian Heiss, Josef Keller, Lena Lämmle und Denise Waldenmayer bedanken. Unser besonderer Dank gilt Marion Bächle und Katharina Wenninger für sekretarielle Arbeiten beim Verfassen des Manuskripts.
München und Kopenhagen, Januar 2008
Jürgen Beckmann und
Anne-Marie Elbe
Vorwort zur 3. Auflage
Vorwort zur 2. Auflage
Vorwort zur 1. Auflage
1 Sportpsychologische Perspektiven
1.1 Einleitung
1.2 Was ist mentale Stärke?
1.3 Definition und Inhalte der Sportpsychologie
1.4 Was kann Sportpsychologie leisten?
1.5 Was kann die Neurowissenschaft zur sportpsychologischen Praxis beitragen?
1.6 Sportpsychologische Betreuung
1.6.1 Grundvoraussetzungen
1.7 Grundorientierung und Selbstverständnis von Sportpsycholog_innen
1.8 Struktur sportspychologischer Praxis
1.8.1 Qualitätsmanagement und Trainingsplan
1.8.2 Auftragsklärung
1.8.3 Problembezogene Diagnostik
1.8.4 Grundlagentraining
1.8.5 Fertigkeitstraining
1.8.6 Krisenintervention
1.8.7 Monitoring
2 Persönlichkeit und Persönlichkeitsentwicklung
2.1 Einleitung
2.2 Was ist Persönlichkeit?
2.2.1 Forschungsbefunde zu den „Big Five“ Persönlichkeitseigenschaften
2.3 Gibt es einen Zusammenhang von Sport und Persönlichkeit?
2.4 Selektions- und Sozialisierungshypothese
2.4.1 Befunde zur Selektionshypothese
2.4.2 Befunde zur Sozialisierungshypothese
2.4.3 Interaktionshypothese
2.5 Veränderung von Persönlichkeitsmerkmalen – Persönlichkeitsentwicklung
2.6 Praxisorientierungen
3 Diagnostik
3.1 Verfahren und Grundprinzipien
3.2 Warum ist psychologische Diagnostik im Hochleistungssport wichtig?
3.3 Welche Diagnostik? Allgemeine und sportspezifische Diagnostik
3.4 Qualitätskriterien der diagnostischen Instrumente
3.4.1 Vor- und Nachteile standardisierter Tests
3.5 Auswahlkriterien
3.6 Interpretation der Befunde
3.7 Integration der Diagnostik in den Betreuungsprozess
3.8 Diagnostischer Prozess als „Action-Research“-Ansatz
3.9 Wie sichert man die Kooperation der Beteiligten?
3.9.1 Zusammenarbeit mit Trainer_innen
3.9.2 Zusammenarbeit mit Sportlerinnen und Sportlern
3.10 Auswahl diagnostischer Instrumente
3.10.1 Zustandsmaße
3.10.2 Eigenschaftsmaße
3.10.3 Instrumente für die Bereiche Motivation und Volition
3.10.4 Instrumente für die Bereiche Trainerverhalten
3.10.5 Teamdiagnostik
3.11 Talentidentifikation und -entwicklung
3.12 Eingangsdiagnostik: Erstellen eines Stärken-Schwächen-Profils
3.13 Diagnostik zur Evaluation der Intervention
3.14 Einsatz und Nutzen von Diagnostik
4 Sportgruppen und Mannschaften
4.1 Aufgaben der Sportpsychologie im Teamkontext
4.1.1 Teamkultur
4.1.2 Teamorganisation und -entwicklung
4.1.3 Führung
4.2 Teambuilding
4.2.1 Aktivitäten zur Stärkung der Kohäsion
5 Erholung
5.1 Einleitung
5.2 Definition und Kennzeichen von Erholung
5.2.1 Individuelle Erholungsstrategien
5.2.2 Einflussfaktoren
5.3 Wie kann man Erholung messen?
5.3.1 Erholungs-Belastungs-Fragebogen für Sportler (EBF-Sport 36)
5.3.2 Akutmaß Erholung und Beanspruchung und Kurzskala Erholung und Beanspruchung
5.4 Monitoring der Erholung und Beanspruchung
5.4.1 Vorteile für Sportler_innen
5.4.2 Vorteile für Trainer_innen
5.5 Untererholung und Übertraining als Folge mangelnder Erholung
5.5.1 Ursachen
5.5.2 Symptome
5.5.3 Intervention
5.6 Erholung, Beanspruchung und Persönlichkeitsfaktoren
6 Grundlagentraining
6.1 Einleitung
6.2 Grundlegende Psychoregulation
6.2.1 Achtsamkeit
6.3 Entspannungsverfahren
6.3.1 Atementspannung
6.3.2 Progressive Muskelentspannung (Progressive Muscle Relaxation, PMR)
6.3.3 Autogenes Training (AT)
6.4 Aktivieren
7 Fertigkeitstraining
7.1 Einleitung
7.2 Motivation und Aktivierung
7.2.1 Regulationsstrategien
7.3 Zielsetzungstraining
7.3.1 Mannschaftsziele
7.4 Erklärung von Erfolg und Misserfolg: Ursachenzuschreibung
7.4.1 Selbstwertdienliche Attribution
7.4.2 Maßnahmen bei Misserfolgsängstlichkeit
7.4.3 Prinzip der optimalen Passung
7.5 Selbstwirksamkeitsüberzeugung und Selbstvertrauen
7.6 Selbstgesprächsregulation
7.6.1 Optimierung des inneren Dialogs
7.7 Konzentrationstraining
7.7.1 Stoppen negativer Gedanken
7.7.2 Aufmerksamkeitsregulation
7.7.3 Centering-Technik
7.7.4 Umgang mit Störungen lernen
7.7.5 Embodiment
7.8 Imagination und Vorstellungstraining
7.9 Tipps für die Durchführung von Imagination und Vorstellungstraining
7.10 Routinen
7.10.1 Präroutine
7.10.2 Postroutine
7.10.3 Zwischenroutine
8 Angeleitete Interventionen mit nachhaltigem Impact
8.1 Einleitung
8.2 Impacttechniken
8.3 Musik
8.4 Humor
8.5 Hypnose
8.5.1 Hypnose im Sport
8.5.2 Schmerz- und Verletzungsbewältigung durch Hypnose
8.5.3 Zur Ruhe kommen und Selbstvertrauen aufbauen
9 Krisenintervention
9.1 Einleitung
9.2 Kommunikationsstörungen
9.2.1 Was ist Kommunikation?
9.2.2 Interner Code
9.2.3 4-Ohren-Modell, Kommunikationsbarrieren
9.2.4 Grundlagen einer effektiven Kommunikation
9.3 Konflikte
9.3.1 Konfliktlösung
9.4 Psychologisches Aufbautraining nach Verletzungen
9.4.1 Imagination und mentales Training in der Rehabilitation
9.4.2 Zielsetzungstraining als Teil der Rehabilitation
9.4.3 Positive Selbstgespräche
9.4.4 Modeling (Orientierung an Vorbildern)
9.4.5 Entspannungsverfahren
9.4.6 Kommunikationsfertigkeiten, soziale Unterstützung
9.5 Dopingkontrollen
9.6 Karriereübergang: Vom Junioren in den Seniorenbereich
9.6.1 Elterncoaching
9.6.2 Karriereende
9.7 Sexualisierte Gewalt
10 Psychische Gesundheit und Wohlbefinden
10.1 Einleitung
10.2 Psychische Probleme
10.2.1 Angststörungen
10.2.2 Burnout
10.2.3 Depression
10.2.4 Essstörungen
10.2.5 Persönlichkeitsstörungen
10.2.6 Substanzmissbrauch und -abhängigkeit (Sucht)
10.3 Professionelle Orientierung von Sportpsycholog_innen im Kontext psychischer Störungen
10.4 Prävention psychischer Erkrankungen
11 Mentaler Werkzeugkasten
11.1 Typische Problemsituationen
11.2 Weitere sportpsychologische Tools
Literatur
Anhang
Sachregister
Was ist eigentlich Sportpsychologie? Wer ist Sportpsychologe bzw. Sportpsychologin? Was machen Sportpsycholog_innen? Mit diesen Fragen werden wir in unserer sportpsychologischen Praxis und auch von Studierenden der Sportwissenschaft und der Psychologie häufig konfrontiert. Die Bekanntheit und das Wissen über Sportpsychologie in der Öffentlichkeit haben in den letzten Jahren zugenommen. Noch 1991 titelte eine Boulevardzeitung, als der Erstautor die sportpsychologische Betreuung der deutschen alpinen Skinationalmannschaft der Herren übernahm: „Skimannschaft holt Psychiater“. Eine solche Schlagzeile wäre heute kaum noch zu erwarten. Spätestens seit Jürgen Klinsmann vor der Fußballweltmeisterschaft 2006 einen Sportpsychologen zur Mannschaft holte, sollte Sportpsychologie nicht mehr mit Psychiatrie verwechselt werden. Aber was sind denn die Aufgabenbereiche und Methoden der Sportpsychologie und was wird erwartet?
In unserer sportpsychologischen Praxis haben wir bezüglich der Erwartungen schon die unterschiedlichsten Antworten bekommen. Entweder werden ganz spezielle Dinge genannt, wie „um das Teamklima in meiner Mannschaft zu verbessern“, „meine Nervosität am Start in den Griff zu kriegen“ oder auch „um den Abstieg zu vermeiden“. Nicht immer werden jedoch Probleme so konkret benannt. Außerdem müssen benannte Probleme nicht unbedingt leistungsbehindernde Faktoren sein. Manche vordergründig benannten Probleme stellen auch nicht unbedingt das tatsächliche Anliegen der Person dar, die sportpsychologische Hilfe sucht. Bevor ein sportpsychologisches Betreuungsangebot erstellt wird, muss daher geklärt werden, wo überhaupt der Bedarf bzw. das Problem liegt. Es entsteht dabei immer auch die Frage, welchen Auftrag bekommt der Sportpsychologe bzw.die Sportpsychologin und von wem. Am Anfang besteht immer sehr viel Klärungsbedarf. Die Klärung dieser Fragen ist Voraussetzung für eine erfolgreiche Arbeit.
Sportler und Sportlerinnen kommen schon längst nicht mehr nur dann zur Sportpsychologie, wenn sie ein Problem feststellen. In vielen Sportarten wurde erkannt, dass eine sportpsychologische Betreuung einen Beitrag dazu leisten kann, Trai|18|ning zu optimieren, bereits gute Leistungen noch weiter zu steigern und die Athlet_innen mental zu stabilisieren. Ein junger Eisschnellläufer (der später deutscher Meister wurde) antwortete auf die Frage, warum er zum Sportpsychologen gekommen sei: „Weil dies für mich heute dazu gehört. Mentale Stärke muss genauso trainiert werden wie alles andere auch.“ Die Sportpsychologie reiht sich somit einerseits in das Spektrum anderer Wissenschaften ein, die dazu beitragen, sportliche Leistungsfähigkeit zu erhöhen, wie etwa die Trainingswissenschaft. Andererseits gehen die Aufgaben der Sportpsychologie aber inzwischen über diesen rein leistungsbezogenen Ansatz hinaus. Der leistungsbezogene Ansatz lässt sich nach Brand (2010) als sportpsychologisches Training charakterisieren. Davon lässt sich eine umfassendere sportpsychologische Beratung unterscheiden. Sportpsychologische Beratung ist psychosozial orientiert. Es geht um Stressbewältigung und Wohlbefinden und insbesondere im Nachwuchsleistungssport um die ganzheitliche Entwicklung der Person. Die Erkenntnis setzt sich durch, dass dadurch auch eine stabilere Leistung nachhaltig gefördert wird.
Oft hört man, dass von zwei gleichermaßen austrainierten und technisch entwickelten Athlet_innen der/die mental Stärkere gewinnt. Was aber ist eigentlich mentale Stärke? Loehr (1996) gibt hierzu eine einfache Definition:
„Mentale Stärke ist die Fähigkeit, sich ungeachtet der Wettkampfbedingungen an seiner oberen Leistungsgrenze zu bewegen“ (Loehr, 1996, S. 20). Diese Definition ist nicht wirklich zufrieden stellend, weil sie sich gewissermaßen im Kreis dreht und in ihr eher das Ergebnis des Beherrschens mentaler Fertigkeiten zum Ausdruck kommt. Loehr spezifiziert diese Definition jedoch noch etwas weiter. Danach setzt sich mentale Stärke aus vier Komponenten zusammen (Loehr, 1996, S. 19):
emotionale Flexibilität: „Fähigkeit, sich auf unerwartete emotionale Veränderungen einzustellen sowie locker und ausgeglichen zu bleiben, nicht aufzubrausen und in Bezug auf den Wettkampf eine möglichst positive Einstellung (Spaß, Kampfgeist, Humor) zu entwickeln“,
emotionales Engagement: „Fähigkeit, emotional alert und engagiert zu bleiben, wenn man unter Druck steht“,
emotionale Stärke: „Fähigkeit, dem Gegner unter Druck das Gefühl der eigenen Stärke zu vermitteln und der Stärke des Gegners zu widerstehen sowie in aussichtslosen Situationen unbeugsamen Kampfgeist an den Tag zu legen“,
emotionale Spannkraft: „Fähigkeit, einen Treffer des Gegners emotional wegzustecken und sofort wieder auf den Beinen zu sein, Enttäuschungen, Fehler und vergebene Chancen schnell abzuhaken und mit voller Kraft und Konzentration den Wettkampf wieder aufzunehmen“.
|19|Nach diesen Vorstellungen Loehrs spielen Emotionen für die individuelle mentale Stärke die entscheidende Rolle. Emotionen sind zweifellos zentrale Faktoren, zum Beispiel als Organisationskern jeder Motivation. Man muss sich für das, was man tun will, begeistern können. Aber Emotionen sind nicht alles; daneben gibt es vor allem Informationsverarbeitungsprozesse, so genannte kognitive Prozesse. Sein Denken kontrollieren zu können, ist eine wichtige mentale Fertigkeit mit verschiedenen Facetten. Im Kern geht es darum, sich selbst regulieren zu können. Deshalb ziehen wir folgende umfassendere Definition vor:
Ganz allgemein wird unter mentaler Stärke das Verfügen über effektive Selbstregulationsfertigkeiten verstanden, die es Individuen ermöglichen, auch unter ungünstigen Bedingungen ihr Leistungspotenzial abzurufen (Näheres siehe Kap. 6 und 7).
Nach dieser Vorstellung gehört zur mentale Stärke im Kern die sogenannte „Willensstärke“, die wir als volitionale Fertigkeiten ansprechen. Wesentlich für die sportpsychologische Praxis ist, dass diese Fertigkeiten trainiert werden können.
Clough thematisiert mentale Stärke im Sinne von Persönlichkeitseigenschaften (Clough & Strycharczyk, 2012). Diese umfassen: Vertrauen (confidence), Herausforderung (challenge), Kontrolle (control) und Selbstverpflichtung (commitment). Personen mit großer mentaler Stärke zeigen bei diesen vier Komponenten hohe Werte. Zweifellos sind diese Komponenten wesentlich für eine effektive Selbstregulation. Uns ist wichtig, dass mentale Stärke nicht aufgefasst wird als angeborene und unveränderbare Persönlichkeitseigenschaft, über die man verfügt oder nicht. Die Vorstellung einer unveränderbaren Eigenschaft hat Dweck (2017) als statisches Selbstbild (fixed mindset) bezeichnet. Wir gehen in der Sportpsychologie von einem dynamischen Selbstbild (growth mindset) aus. Danach sind Eigenschaften entwickelbar, Menschen können mit ihren Aufgaben wachsen. Dieser wachstumsorientierten Vorstellung liegt ein dynamisches Verständnis von Persönlichkeit zugrunde. Untersuchungen haben gezeigt, dass Sport Potenzial zu einem Persönlichkeitswachstum bietet, gerade hinsichtlich der Entwicklung volitionaler Fertigkeiten im Jugendalter (Beckmann et al., 2006). Mentale Stärke entsteht aus einer starken Person heraus. Die ihr zugrundeliegende Selbstregulation verlangt nach einem starken, möglichst konfliktfreien Selbst. Hier gibt es eine enge Verbindung zum so genannten Kohärenzsinn (sense of coherence) von Antonovsky (1997). Dieser beinhaltet die Wahrnehmung von Sinn im Leben („einem wozu im Leben“), Kontrollierbarkeit (controllability) und Bewältigbarkeit (manageability). Dieser Kohärenzsinn liefert eine Widerstandsressource für eine Vielzahl von Problemsituationen und hat eine zentrale präventive Funktion im Hinblick auf Lebenskrisen und Erkrankungen und steht damit im Zusammenhang mit mentaler Stärke.
Aber zurück zur Ausgangsfrage: Was ist eigentlich Sportpsychologie?
Die Europäische Föderation für Sportpsychologie definierte 1996 Sportpsychologie als „die Erforschung der psychologischen Grundlagen, Abläufe im Sport und Effekte des Sports“ (FEPSAC, 1996). In dieser Definition fehlt jedoch ganz deutlich die Anwendung des so geschaffenen sportpsychologischen Wissens. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass es zwar relativ viele Bücher gibt, die sich allgemein mit dem Gegenstand „Sportpsychologie“ auseinandersetzen, jedoch nur wenige Bücher, die konkrete Anwendungen aus wissenschaftlichen sportpsychologischen Erkenntnissen in Praxis überführen. Dies genau ist Gegenstand des vorliegenden Buches.
Gabler (1986) bezeichnete sportpsychologische Anwendung als psychologisch reflektierte Praxis. Angesichts des stetig gewachsenen sportpsychologischen Wissens reicht uns diese Formulierung jedoch nicht mehr aus. Wir ziehen daher vor, von einer wissenschaftlich begründeten oder evidenz-basierten Praxis zu sprechen. Sportpsycholog_innen in der Praxis des Wettkampf- und Leistungssports versuchen, von einer wissenschaftlichen Basis ausgehend, in einem psychologischen Training Selbstregulationstechniken anzubieten, die sowohl den Trainingsprozess unterstützen als auch den Abruf des Leistungspotenzials von Sportler_innen in Wettkampfsituationen verbessern und stabilisieren sollen. Beim psychologischen Training geht es darum ein Spektrum solcher wissenschaftlich begründeter Fertigkeiten individuell zu entwickeln und zu trainieren.
Oft antworten gerade Trainer_innen auf die Frage, warum sie Unterstützung durch die Sportpsychologie wüschen zum Beispiel, dass sie „den Abstieg vermeiden wollen“. Solche Aufträge lehnen wir jedoch in der Regel ab, insbesondere wenn sie gewissermaßen „fünf Minuten vor zwölf“ an uns herangetragen werden, also die Mannschaft bereits in der Relegation ist oder kurz vor Ende der Saison auf dem letzten Tabellenplatz steht. Damit unterscheiden wir uns von „Mentalgurus“, die einen schnellen Erfolg versprechen. Feuerwehrfunktionen oder „quick fixes“ sind eher nicht von nachhaltigem Erfolg gekrönt und daher nicht Sache seriöser Sportpsychologie. Wenn ein „Mentalguru“ eine Mannschaft über glühende Kohlen laufen lässt, mag dies kurzfristig einen teambildenden Effekt haben und auch das Selbstbewusstsein einzelner Spieler_innen für kurze Zeit stärken. Solche Maßnahmen sind aber eher wie ein Strohfeuer, das nur kurzfristig aufflackert. Fertigkeiten, die den Spieler_innen langfristig zugutekommen, haben sie dadurch nämlich nicht gelernt.
Am Anfang unserer Arbeit steht im Gegensatz dazu immer eine gründliche Klärung der Situation im Hinblick darauf, wo und welche Art von Bedarf an sportpsychologischer Intervention besteht. Erst nach Klärung dieser Fragen können Sportpsycholog_innen auf Basis ihrer eigenen Kompetenzen entscheiden, ob sie den |21|Auftrag annehmen können und wollen. Diese Entscheidung wird auf der Grundlage ausführlicher, klärungsorientierter Gespräche erfolgen. Wird ein Auftrag angenommen, sollte eine systematischere Diagnose folgen. Von dieser Diagnose ausgehend können gezielt Interventionen entwickelt werden. Es gibt zweifellos einige mentale Fertigkeiten, die leicht zu erlernen sind und die relativ schnell Effekte zeigen. Ein seriöses sportpsychologisches Training bedarf aber eines längerfristigen Trainings. Wie beim Technik- oder Konditionstraining geht es um den längerfristig angelegten Erwerb und das Beherrschen von Fertigkeiten und im Weiteren um eine Unterstützung der Entwicklung der gesamten Person.
Wir definieren Sportpsychologie als wissenschaftliches Fach an der Schnittstelle von Psychologie, Sportwissenschaft und Medizin. Ihre Inhalte sind die Erforschung der psychologischen Grundlagen, der Abläufe im Sport und der Effekte des Sports, um daraus wissenschaftlich begründete Trainingsmaßnahmen zur Optimierung des Verhaltens im Sport ableiten zu können.
Gelegentlich wird vorgeschlagen, Sportpsychologie in Leistungspsychologie (performance psychology) umzubenennen (Aoyagi et al., 2012). Damit wäre die unmittelbare Verknüpfung mit dem Sport und der besondere Charakter der Sportpsychologie als anwendungsorientierte Disziplin an der Schnittstelle anderer sportbezogener Disziplinen nicht mehr sichtbar. Die über Jahre aufgebaute spezifische Identität ginge verloren, denn Leistung gibt es auch außerhalb der sportspezifischen Kontexte und ist Thema in anderen psychologischen Teildisziplinen. Konträr zur Fokussierung auf Leistungspsychologie wird teilweise argumentiert, dass der Fokus von Sportpsychologie „in erster Linie auf dem Wohlbefinden von Athlet_innen, in zweiter Linie auf der Persönlichkeitsentwicklung und erst in dritter Linie auf der Leistungsentwicklung“ liegen sollte (Ohlert & Schröer, 2019, S. 287). In unserer eigenen praktischen Arbeit hat das Wohlbefinden von Athlet_innen selbstverständlich zentrale Bedeutung. Nach unserer Vorstellung und Erfahrung ist es aber nicht zielführend die von Ohlert und Schröer vorgeschlagene Rangfolge vorzunehmen. Alle genannten Aspekte sind Teile eines untrennbaren Systems. Hinzukommt, dass in den allermeisten Fällen der Anlass für eine Auftragsvergabe an die Sportpsychologie durch das Thema Leistungsentwicklung und -stabilisierung motiviert ist. Wir verstehen unsere Aufgabe aber auch im Sinne einer Aufklärung, dass nachhaltige und gesunde Leistungsentwicklung nur erreichbar ist, wenn eine Entwicklung der ganzen Person erfolgt und dabei Sorge für das Wohlbefinden der Athlet_innen getragen wird.
Auch wenn mentale Stärke das entscheidende Quäntchen für den Sieg im Spitzensportbereich liefern kann, heißt das nicht, dass selbst die ausgereiftesten sportpsychologischen Trainingsmaßnahmen zum Beispiel aus einer Fußballmannschaft mit eher schlechten Voraussetzungen einen Europapokalsieger machen können. Hier gilt es, von vornherein realistische Zielsetzungen zu vermitteln. In der Praxis sind wir aber auch mit der Behauptung konfrontiert worden: „Es ist ja gar nicht bewiesen, dass Sportpsychologie überhaupt die Leistung steigert.“ Dieser Behauptung steht eine Vielzahl von Untersuchungen zur Effektivität sportpsychologischen Trainings entgegen (Lochbaum et al,. 2022). Natürlich muss man berücksichtigen, dass sportliche Leistung ein höchst komplexes Phänomen ist, an dem verschiedene Komponenten beteiligt sind – sowohl physische als auch psychische. Das Trainingsziel muss eine Optimierung aller Komponenten einschließlich der psychologischen sein. Die Optimierung einer einzelnen Komponente ist noch kein Garant für eine Spitzenleistung. Dies gilt auch für andere sportwissenschaftliche Disziplinen, wie zum Beispiel die Trainingswissenschaft.
Positive Effekte sportpsychologischer Praxis zeigten sich in wissenschaftlichen Studien sowohl für einzelne Aspekte (z. B. das Vorstellungstraining) als auch für eine systematische Betreuung. Untersuchungen zum Vorstellungstraining belegen, dass über die Bewegungsvorstellung neue neuronale Bahnen für die vorgestellten Bewegungen entstehen oder vorhandene gestärkt werden (z. B. Dettmers & Nedelko, 2009). Positive Effekte auf motorisches Lernen sowie motorische Leistungen wurden empirisch nachgewiesen. Eine komplexe Bewegung kann in der Vorstellung perfekter realisiert und damit programmiert werden als durch eine stets mit Fehlern behaftete reale Bewegungsausführung eines Trainierenden. Dadurch werden die motorischen Programme im Gehirn optimiert (Cross et al., 2006).
In den letzten Jahrzehnten hat die Neurowissenschaft eine rasante Entwicklung gezeigt. Zunehmend finden neurowissenschaftliche Erkenntnisse auch Eingang in die Sportpsychologie. Diese bestätigen teilweise ältere sportpsychologische Annahmen und Befunde und erweitern darüber hinaus unser Verständnis psychologischer Prozesse bei sportlichen Handlungen sowie der Auswirkungen von Sport im Bereich der Persönlichkeitsentwicklung und psychischen Gesundheit. Hier soll nur beispielhaft auf einige Befunde eingegangen werden (ausführlicher z. B. bei Voelcker-Rehage & Kutz, 2020).
So wird etwa gefunden, dass die Ausschüttung des Neurotransmitters Dopamin dann am höchsten ist, wenn der Erfolg sportlicher Betätigung eher unerwartet ist. |23|Es wird hingegen kein Dopamin ausgeschüttet, wenn der Erfolg (oder auch der Misserfolg) sicher erscheint (Beck & Beckmann, 2010). Dies hat natürlich praktische Konsequenzen für die Gestaltung des Trainings. Grundsätzlich entsprechen diese Befunde Atkinsons Theorie der Leistungsmotivation von 1957. Nach dieser Theorie entsteht zumindest bei erfolgszuversichtlichen Personen die höchste Motivation, wenn größte Unsicherheit über das Ergebnis (Erfolg oder Misserfolg) vorliegt (dies ist bei einer Erfolgswahrscheinlichkeit von 50 % gegeben). In Übereinstimmung mit den alten Motivationstheorien zeigen die aktuellen neurowissenschaftlichen Befunde auch, dass nach längeren Trainingsphasen eine vermehrte Dopamin-Ausschüttung bereits dann einsetzt, wenn tätigkeitsbezogene Reize die Belohnung lediglich ankündigen. Hier entstehen also motivationale Anreize.
Selbstregulation spielt im Wettkampf- und Leistungssport eine große Rolle. Sowohl wenn es beispielsweise im Wettkampf darum geht, den eigenen Wettkampfplan einzuhalten, nicht aufzugeben, sondern zusätzliche Energien zu mobilisieren als auch wenn es darum geht, ein nicht immer anregendes, anstrengendes Training über lange Zeiträume aufrecht zu erhalten. Nach den vorliegenden Forschungserkenntnissen spielt der Neurotransmitter Dopamin auch hierbei eine wesentliche Rolle. Für Selbstregulation ist vor allem der vordere Teil des Großhirns, der so genannte präfrontale Kortex zuständig. Eine größere Dopamin-Verfügbarkeit in diesem Gehirnbereich ist allerdings, wie die Forschung zeigt, nicht nur positiv zu sehen. Steigt das Dopamin-Niveau an, nimmt also die Motivation zu, so macht dies gleichzeitig anfälliger für Stress. Diesen Befund kann man als eine neurophysiologische Erklärung für das so genannte Phänomen der so genannten „Übermotivation“ ansehen. Interessanterweise gibt es genetische Unterschiede, wie anfällig Sportler für diese „Übermotivation“ sind (Diamond, 2007). Auch zum Verständnis von Misserfolgsverarbeitung und Emotionsregulation tragen neurowissenschaftliche Erkenntnisse bei. Offensichtlich gibt es hier Persönlichkeitsunterschiede im Hinblick darauf ob der linke oder der rechte präfrontale Kortex dominant ist. Eine dominante Aktivierung des rechtshemisphärischen präfrontalen Kortex ist verbunden mit länger anhaltendem negativen Affekt und nachfolgend schlechterer Leistung (Hähl et al., 2020).
Auch die Wirksamkeit des mentalen Trainings findet über die Neurowissenschaft Bestätigung. Verschiedene Studien belegen, dass das Anschauen aber auch das Vorstellen von gelernten Bewegungen zu einer vermehrten Aktivierung der für diese Bewegungen relevanten Gehirnstrukturen führt. Darüber verbessert ein mentales Training die Ausführung und die Planung zuvor trainierter als auch neuer Aufgaben (Cross et al., 2006).
Ähnlich ist es bei der Entwicklung von Techniken zur Voraktivierung (Priming) der Hirnbereiche, die an der Ausführung einer sportlichen Aktivität beteiligt sind (z. B. räumliche Orientierung). Die Forschung legt nahe, dass insbesondere bei Wettkampfstress solche leistungsbedeutsamen Gehirnbereiche aufgrund einer er|24|höhten Aktivierung von Gehirnbereichen, die mit Grübeln in Zusammenhang stehen, gehemmt werden können (Crews, 2004). Dem kann man durch gehirngerechte Aktivierungstechniken entgegenwirken (z. B. Cross-Villasana et al., 2015; siehe dazu den Abschnitt „Embodiment“ in Kap. 7).
Sehr viel Hoffnung wird auf Neurofeedback gesetzt (Hammond, 2011). Im EEG-Feedback Training werden zum Beispiel Hirnströme mittels Elektroenzephalogramm, teilweise mit mobilen Geräten mit wenigen Elektroden erfasst. Damit soll Konzentrationsfähigkeit trainiert (Wang & Hsieh, 2013) oder auch die Angst vor einem Wettkampf reduziert werden (Faridnia et al., 2012). In einer Studie von Mikicin et al (2018) konnte durch ein Neurofeedback-EEG Training die Konzentrationsfähigkeit von Schützen verbessert werden. Während Gruzelier (2014) positive Evidenzen für die Wirksamkeit des Neurofeedbacks sieht, kommen Mirifar et al. (2017) nach Evaluation von 26 Studien zu einer vorsichtigeren Einschätzung. Danach ist die Wirksamkeit von Neurofeedbacktraining zur Zeit noch nicht hinreichend belegt. Dies liegt an der Qualität der Studien, aber auch der auf dem Markt angebotenen Geräte.
Zusammenfassend kann man sagen, dass die Neurowissenschaft in der sportpsychologischen Praxis nicht nur Erklärungen für bekannte Sachverhalte liefert, sondern auch zu neuartigen Lösungen alter Praxisprobleme führen kann. Die Weiterentwicklung der neurowissenschaftlichen Forschung im Bereich von Sport und Bewegung wird in den nächsten Jahren noch tiefer gehende Einblicke in die sportliche Leistung bestimmenden Prozesse im Gehirn liefern. Für Chang et al. (2022) ist die Forschung momentan noch zu weit entfernt von der Sportpraxis und bedürfte mehr Studien, die nicht labormäßig angelegt sind, sondern in die Komplexität echter Sportwettkämpfe hineingehen. Davon sind weitere Impulse für die sportpsychologische Praxis zu erwarten.
Damit eine sportpsychologische Betreuung effektiv realisiert werden und zu den gewünschten Ergebnissen führen kann, müssen einige Grundvoraussetzungen erfüllt sein. Vor Beginn einer Betreuung sollten alle Beteiligten daher sicherstellen, dass diese Voraussetzungen erfüllt sind.
Grundvoraussetzungen der sportpsychologischen Betreuung
Am Anfang jeder sportpsychologischen Betreuung steht die Auftragsklärung: Wer erteilt welchen Auftrag.
|25|Im Weiteren geht es dann zunächst um Vertrauensbildung: Athlet_innen und Trainer_innen müssen zunächst die betreuenden Sportpsycholog_innen kennenlernen und Vertrauen zu ihnen aufbauen.
Jede sportpsychologische Handlung sollte die Unterstützung des Top-Managements des Teams und des Cheftrainers bzw. der Cheftrainerin erfahren.
Das sportpsychologische Training sollte möglichst in den regulären Trainingsplan integriert werden. Für die sportpsychologische Beratung werden separate Zeiten reserviert.
Dabei sollte berücksichtigt werden, dass eine sportpsychologische Betreuung mit einer großen Verantwortung und Fürsorgepflicht einhergeht sowie berufsethischen Grundsätzen unterliegt. Diese Grundsätze stellen das Wohlergehen aller Beteiligten sicher und sind beispielsweise bei der FEPSAC (www.fepsac.eu) oder der Association for Applied Sport Psychology (www.appliedsportpsych.org) nachzulesen. Das ethische Grundprinzip jeder sportpsychologischen Arbeit ist es, Schaden jeglicher Art zu verhindern bzw. abzuwenden.
Ethische Grundsätze (Auswahl)
Sportpsycholog_innen streben in allen Bereichen ihrer Arbeit nach einer hohen Kompetenz. Hierzu gehört u. a. eine kontinuierliche Weiterbildung und dass die eingesetzten Methoden auf wissenschaftlicher Evidenz basieren. Ferner bedeutet dies, dass sie die Grenzen ihrer Expertise sowie ihrer angewandten Techniken und Methoden kennen und dann ggf. bei spezifischen Problemstellungen an Spezialist_innen weiter verweisen (siehe dazu Kap. 10; Weiterleitung an Psychotherapeut_in).
Sportpsycholog_innen beginnen erst mit ihrer Arbeit, wenn sie alle Beteiligten darüber aufgeklärt und deren Einwilligung erhalten haben.
Sportpsycholog_innen unterliegen der Pflicht zur Verschwiegenheit und dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung keine Informationen an Dritte weitergeben. Da ihre Arbeit aber oftmals in der Öffentlichkeit stattfindet, z. B. beim Training oder bei Wettkämpfen, stellt die Einhaltung der Verschwiegenheit eine besondere Herausforderung dar.
Sportpsycholog_innen sind integer, d. h. dass sie sich ehrlich, fair und respektvoll anderen Kolleg_innen, Klient_innen sowie der Öffentlichkeit gegenüber verhalten. Dies bedeutet z. B. auch, dass sie ehrlich bei der Bewerbung ihrer Dienstleitungen vorgehen und die Namen der betreuten Personen weder in Interviews nennen noch zu Werbezwecken verwenden.
Sportpsycholog_innen verhalten sich standesgemäß und fördern den Berufsstand. Sie haben eine Verpflichtung ihrem Berufsstand und der Öffentlichkeit gegenüber, andere vor unethischem Verhalten zu schützen.
|26|Weitere wichtige ethische Grundsätze sind, dass die Arbeit stets dokumentiert wird und dass die Grundsätze des Datenschutzes eingehalten werden. Es ist zu ergänzen, dass die Berufsbezeichnung Psychologe/Psychologin nach einem Urteil des deutschen Bundesgerichtshofes aus dem Jahre 1983 nur von Personen geführt werden darf, die einen Hochschulabschluss in Psychologie haben. Der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (bdp) ist der Ansicht, dass davon auch alle Bezeichnungen betroffen sind, in denen Psychologe vorkommt. Danach dürfen Personen, die nicht Psychologie, sondern z. B. Sportwissenschaft studiert haben, sich nicht Sportpsychologe bzw. Sportpsychologin nennen, auch wenn sie sich im Studium und in Fort- und Weiterbildungen auf Sportpsychologie spezialisiert haben. Eine unrechtmäßige Bezeichnung als Sportpsychologe bzw. Sportpsychologin ist nach Paragraf 132a, Abs. 2 des Strafgesetzbuches (StGB) strafbar. Diplom-Psycholog_innen unterliegen gemäß Paragraf 203 des StGB der Schweigepflicht. Das österreichische Psychologengesetz spezifiziert in Paragraf 14, dass alle Psycholog_innen zur Verschwiegenheit über alle in Ausübung des Berufs bekannt gewordenen Geheimnisse verpflichtet sind. Diese Schweigepflicht ist auch im sportpsychologischen Kontext von besonderer Bedeutung, geht es doch nicht selten um Mitteilungen, die Betroffene als sehr persönlich und intim empfinden und häufig nicht einmal dem engsten Familien- oder Freundeskreis anvertrauen. Insbesondere besteht im Leistungssport oft die Sorge, dass Trainer_innen oder Funktionär_innen etwas von den Sportpsycholog_innen gegenüber gemachten Aussagen erfahren könnten. Die Verpflichtung auf Verschwiegenheit ist daher für die Arbeit in der Sportpsychologie von ganz grundlegender Bedeutung. Dies gilt selbstverständlich auch für alle, die nicht die Bezeichnung „Sportpsychologe oder Sportpsychologin“ führen dürfen, aber in diesem Bereich arbeiten. Wer in der Sportpsychologie tätig ist, sollte sich auf die genannten professionellen Standards verpflichten und sich seiner besonderen Verantwortung gegenüber den Klient_innen stets bewusst sein.
Das Curriculum „Sportpsychologisches Coaching und Training im Leistungssport“ der Arbeitsgemeinschaft für Sportpsychologie (asp), das Sportpsycholog_innen im deutschsprachigen Raum ausbildet, kann sowohl mit einem Masterabschluss in Psychologie als auch Sportwissenschaft absolviert werden. Damit können durchaus unterschiedliche Voraussetzungen und unterschiedliche Grundorientierungen im Verständnis sportpsychologischer Betreuung verbunden sein. So kann beispielsweise eine Orientierung an der sportwissenschaftlichen Trainingswissenschaft vorherrschen oder aber psychologischer Beratung und Therapie. Hinsichtlich letzterem kann beispielsweise zudem primär ein verhaltenstherapeutischer Ansatz |27|vertreten werden oder aber eine Ausrichtung an der systemischen Therapie erfolgen. Traditionell waren sportpsychologische Trainingsmaßnahmen stark an einem verhaltenstherapeutischen Ansatz orientiert, wie zum Beispiel einer systematischen Desensibilisierung bei Ängsten.
In der Folge der Arbeiten von Grawe (2000) ist die Psychotherapie hybrid geworden. Nach dieser Vorstellung sollten therapeutische Ansätze an der Problemstellung und auch den Klient_innen ausgerichtet werden. Dies ist auch auf die Sportpsychologie übertragbar. Wesentlich ist, dass eine Ausrichtung am Sportler/der Sportlerin, ein Eingehen auf dessen bzw. deren individuelle Persönlichkeit und gegebene Bedürfnislage erfolgt. Anzustreben ist eine auf wissenschaftliche Evidenz gründende 3 P Sportpsychologie, die personalisiert, partizipativ und ganzheitlich präventiv arbeitet.
Keegan (2016) unterscheidet zwischen einem Vorgehen in der sportpsychologischen Praxis, das entweder durch die betreuten Athlet_innen oder durch Sportpsycholog_innen geleitet wird. Bei einem athletenzentrierten Vorgehen (client-led) ist die Rolle der Sportpsycholog_innen die von Moderator_innen oder Katalysatoren. Hier geht es darum die Selbsterkenntnis der Athlet_innen zu stärken, damit sie sich selbst durch schwierige Situationen navigieren können. Dieser Ansatz kann z. B. gewählt werden, wenn es um Themen wie Wohlbefinden oder Persönlichkeitsentwicklung geht. Beim Sportpsycholog_innen-geführten (practitioner-led) Ansatz nehmen die Sportpsycholog_innen die Rolle von Wissensvermittler_innen und Analyst_innen ein. Sie wissen aufgrund ihrer Kenntnis der wissenschaftlichen Befunde am besten, wie die Situation verbessert werden kann. Daher diagnostizieren sie und wählen dann die geeignetsten Interventionen aus. Dieser Ansatz findet z. B. Anwendung, wenn es um Leistungssteigerung oder Talententwicklung geht. Weidig und Liesenfeld (2019) merken ferner an, dass sich gute Sportpsycholog_innen durch eine hohe Fach-, Beratungs- und Rollenkompetenz auszeichnen. Fachkompetenz basiert auf einer fundierten psychologischen Ausbildung im Studium mit anschließender Weiterbildung in Sportpsychologie. Mit Beratungskompetenz ist die Kompetenz gemeint, „eine gute Beratungsbeziehung aufzubauen und den Beratungsprozess zu gestalten und zu reflektieren“ (Weidig & Liesenfeld, 2019, S. 50). Sportpsycholog_innen nehmen im Betreuungsprozess unterschiedliche Rollen ein, zum Beispiel als sportpsychologische Expert_innen und/oder Trainer_in, aber auch eventuell Freund_in. Eine Reflektion des eigenen Selbstverständnisses ist hier gefordert, damit Rollen dynamisch ausgefüllt werden können, unter Umständen aber auch abgelehnt werden.
Anfangs des neuen Jahrtausends fand auch der Achtsamkeitsansatz (mindfulness) seinen Eingang in die Sportpsychologie. Damit war einerseits das Ziel einer Leistungssteigerung verbunden, andererseits kam aber auch das Thema einer Verbesserung des psychischen und allgemeinen Wohlbefindens von Athlet_innen stärker ins Spiel (Gardner & Moore, 2004). Teilweise wird der „achtsamkeitsorientierte |28|Ansatz“ in der Sportpsychologie als Gegenpol zu einer fertigkeitsorientierten Sportpsychologie angesehen. Wir sind der Meinung, dass hier nicht notwendigerweise ein Gegenpol zu sehen ist. Die besondere Problemlage im Wettkampf- und Leistungssport benötigt vielfältige, flexible Betreuungsansätze. Auch eine moderne Psychotherapie macht sich verschiedene therapeutische Ansätze zunutze (Smith & Grawe, 2005). Entscheidend ist, dass primär problem- und klientenorientiert vorgegangen wird. Da das Thema Achtsamkeit voraussetzungslos in die sportpsychologische Betreuung einbezogen werden kann, beschreiben wir den Ansatz in diesem Buch näher im Kapitel 6 „Grundlagentraining“.
Ein aus der systemischen Therapie übernommener Ansatz liefert eine ganzheitliche Grundorientierung für sportpsychologische Betreuung (Beckmann-Waldenmayer, 2012). Im systemischen Ansatz werden Sportler_innen als beziehungsorientierte Menschen betrachtet. Jedes Individuum lebt in einem Kontext mit vielfältigen psychosozialen Bedingungen und Interaktionsmustern. So stellt das Handeln Aktion und Reaktion dar in einem System aus eigenen Erfahrungen, den Rahmenbedingungen des Sporttreibens und aus in diesem System bedeutsamen Personen wie Trainer_innen, Funktionär_innen, Freunden/innen und Bekannten.
Der systemische Ansatz geht davon aus, dass es für die jeweilige Problemsituation keine objektive Beurteilung geben kann. Insbesondere können Sportpsycholog_innen nie wissen, was für den Klienten bzw. die Klientin „wirklich“ bzw. „objektiv“ „gut“ ist. Daraus folgt, dass im systemischen Ansatz der Sportler/die Sportlerin als Expert_in für sich selbst angesehen wird. Sportpsycholog_innen sind in diesem Ansatz neutrale Prozessbegleiter_innen. Sie treffen keine Entscheidungen für die Betreuten. Wenn beispielsweise ein Problem damit besteht, vor dem Start die notwendige Konzentration und Wettkampfspannung aufzubauen, werden lediglich (aufbauend auf einer gezielten Gesprächsführung) unterschiedliche Vorschläge, so genannte Einladungen, unterbreitet, aus denen die Athlet_innen sich diejenigen herausgreifen können, die am besten zu passen erscheinen. Diese Vorschläge basieren hierbei auf wissenschaftlichen Grundlagen und können somit auch der Forderung Grawes (2000) nach einer „schulenübergreifenden Intervention“ folgen. Am Ende kann dabei beispielsweise eine Vorstartroutine herauskommen, die nicht nur auf den wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Problemstellung, sondern auch auf dem eigenen, individuellen Erfahrungsschatz der Athlet_innen basiert. Die Autonomie der Athlet_innen wird gewahrt und gestärkt. Sie erhalten Kompetenz für sich zurück. Die eigenen Ressourcen werden aktiviert. Die Beratung ist grundsätzlich kontextorientiert und offen in Ergebnis- und Prozessschritten. Sportpsycholog_innen werden aber immer versuchen, eine Balance zwischen Anregung zu hilfreichen Suchprozessen und der Respektierung von Autonomie zu erreichen.
Der systemische Ansatz ist lösungs- und ressourcenorientiert. Die Ressourcen liegen dabei in der Person selbst, wie schon ausgeführt wurde. Im Gegensatz zu vie|29|len anderen psychotherapeutischen Ansätzen wird die Lösung der Probleme primär nicht in der Vergangenheit der Klient_in gesucht. Im systemischen Ansatz konzentriert man sich vielmehr darauf, was in der Gegenwart gegeben ist und wie Veränderungen für die Zukunft herbeigeführt werden können. Eine Konzentration auf die Ursachen eines Problems wird hingegen nur in Ausnahmen relevant. Charakteristisch für diese Orientierung ist folgende Frage: „Angenommen wir finden heraus, welche Ursache dein Problem hat, können es jedoch nicht lösen – oder aber wir finden eine Lösung deines Problems, jedoch nicht die Ursache – für welche Möglichkeit würdest du dich entscheiden?“
Charakteristisch für den systemischen Ansatz ist, dass Athlet_innen nicht isoliert betrachtet werden, sondern das gesamte System, in das sie eingebettet sind, Berücksichtigung findet. Bei einer systemischen Prozessanalyse wird versucht, den Sportler_innen das eingespielte System, durch das ein Problemmuster erst entstanden sein kann, transparent zu machen. Insbesondere sollen die Denk- und Handlungsmuster offengelegt werden, um eine autonome Zielbestimmung und Verbesserung von Kommunikationsprozessen zu erreichen. Mit Hilfe von Fragen und durch das Bilden von Unterschieden wird versucht das eingespielte, aktuell dysfunktionale System zu verstören, um dadurch neue Perspektiven und Sichtweisen zu provozieren. Dies soll die Entwicklung neuer, funktionalerer Verhaltensmuster und Wahrnehmungen bewirken.
Der systemische Ansatz eignet sich gut als Grundorientierung für sportpsychologisches Arbeiten. Die Bewahrung von Neutralität (klienten-, problem- und lösungsbezogen), das zum Ausdruck bringen der Wertschätzung, trägt zum Schaffen einer Basis für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit bei. Letzteres äußert sich unter anderem darin, dass die sportpsychologisch betreuten Personen als Expert_innen für sich selbst angesehen werden und dies auch kommuniziert wird. Die Erwartungshaltung der betreuten Personen sowie der häufig gegebene Zeitdruck (z. B. direkt vor einem Wettkampf) verlangen dennoch auch, dass Sportpsycholog_innen teilweise fertigkeitsorientiert und direktiv vorgehen. So können in der sportpsychologischen Arbeit verschiedene Ansätze miteinander kombiniert werden – je nach Situationserfordernis. Denn: auch wenn Hilfe bei einem Problem durch die Vermittlung konkreter psychischer Fertigkeiten erwartet werden mag, kommt nach unseren Erfahrungen keine vertrauensvolle Zusammenarbeit zustande, wenn Athlet_innen sich mit Ihren Problem nicht verstanden und ernst genommen fühlen, weil sie den Eindruck haben, mit vorgefertigten Konzepten abgespeist zu werden.
In der modernen sportpsychologischen Betreuung sollten Rollen je nach den Rahmenbedingungen dynamisch differenziert werden können: mal als Experte/Expertin für mentale Fertigkeiten (sportpsychologisches Training), mal als prozessorientierte/r Begleiter_in (sportpsychologische Beratung). Manchmal wird dabei der Prozess stärker vom Sportpsycholog_innen und manchmal stärker durch die Athlet_innen vorgegeben (vgl. Keegan, 2016). Je nach vorhandenen Motiven, |30|Potentialen und Defiziten tragen Sportpsycholog_innen wertschätzend zur Entwicklung von Alternativen bei. Sie geben dabei so viel Sicherheit und Anleitung wie nötig und so wenig vorgefertigte Lösungen wie möglich. Nach Liesenfeld (2009) sind Sportpsycholog_innen „Maßschneider_innen mit Teilstandardisierungen“.
Die Transparenz eines zu realisierenden sportpsychologischen Programms ist ein wesentliches Qualitätsmerkmal sportpsychologischer Betreuung, und zwar sowohl im Hinblick auf die Inhalte, die zeitlichen Umfänge als auch auf die Kosten. Durch klare Strukturen des Systems sportpsychologischer Betreuung und Transparenz der Qualitätsmerkmale muss eine deutliche Abgrenzung der qualitativ hochwertigen, wissenschaftlich begründeten Praxis der Sportpsychologie von so genannten „Mentaltrainern“ ohne einschlägige Ausbildung erfolgen. Aufgrund der Bedeutsamkeit einer Qualitätssicherung der sportpsychologischen Praxis hatte das Bundesinstitut für Sportwissenschaft ein mehrjähriges Forschungsvorhaben in Auftrag gegeben, bei dem es um die Entwicklung, Durchführung und Überprüfung einer Konzeption zur Qualitätsförderung von sportpsychologischer Beratung und Betreuung im deutschen Spitzensport ging. Aus dem Projekt ist eine eigene Website entstanden, auf der vielfältige Informationen über die Qualitätssicherung und -optimierung der sportpsychologischen Betreuungsarbeit nachgelesen und auch heruntergeladen werden können (www.bisp-sportpsychologie.de).
Mittlerweile liegen genügend verlässliche sportpsychologische Forschungsergebnisse vor, um angewandte Sportpsychologie als wissenschaftlich begründete Praxis zu betreiben (Beckmann & Kellmann, 2008a). Dies bedeutet, dass Interventionen in der Sportpsychologie systematisch aus bestehenden wissenschaftlichen Erkenntnissen abgeleitet werden sollten. Ferner sollte bei der Aufnahme einer sportpsychologischen Betreuung deutlich werden, dass diese aus klar definierten, aufeinander aufbauenden Elementen besteht, die in einer sinnvollen zeitlichen Struktur angeordnet sind. Daraus kann ein Trainingsplan erstellt werden, der einen zeitlichen Rahmen für die Betreuungsmaßnahme vorgibt. Dieser Trainingsplan kann zudem im Sinne einer aus der Trainingswissenschaft bekannten Periodisierung gestaltet sein. Dazu gehört beispielsweise, dass Themen wie Wettkampfangst frühzeitig in den Vorbereitungsperioden angesprochen werden und nicht etwa kurz vor Wettkämpfen.