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Die Schatten heißen dich willkommen, denn sie wollen dein Blut. Paris, 1789 - Leo hat alles: Reichtum, einen Titel und zahlreiche Liebhaber. Bis zu der Nacht, in der er alles verliert. Ihm bleibt nichts, nichts als der Hunger und ein Mann, der ihn immer tiefer in die verführerische Dunkelheit zieht. Doch Liebe, Blut und Rache sind ein gefährlicher Cocktail…
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Seitenzahl: 631
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Copyright 2024 by
Dunkelstern Verlag GbR
Lindenhof 1
76698 Ubstadt-Weiher
http://www.dunkelstern-verlag.de
E-Mail: [email protected]
Lektorat: Dunkelstern Verlag GbR
Cover: Bleeding Colours Coverdesign
unter Verwendung von Stockdaten von Adobe Stock.
Korrektorat: Nicole Gratzfeld
ISBN: 978-3-98947-029-3
Alle Rechte vorbehalten
Für alle, die das Licht in den Schatten suchen.
Und für meine Eltern. Danke, dass ihr an mich glaubt.
Inhalt
Content Notes
Playlist
La beauté trompeuse d’un jour de printemps - Die trügerische Schönheit eines Frühlingstages
Danse à lalumière du feu - Tanz im Feuerschein
Le bienfait de l’ignorance - Der Segen der Ignoranz
Merveilles dela nuit - Wunder der Nacht
Monstres dans un monde cruel - Monster in einer grausamen Welt
Un compagnon pour les nuits solitaires - Ein Gefährte für einsame Nächte
Ombres du passé - Schatten der Vergangenheit
Chat et souris - Katz und Maus
La Maison des désirs - Das Haus der Wünsche
Petit prince et fier chevalier - Kleiner Prinz und stolzer Ritter
Homme ou monstre - Mann oder Monster
Plaisir et douleur - Lust und Schmerz
Meurtrier en bonne compagnie - Mörder in guter Gesellschaft
Pas un bon toutou - Kein braver Schoßhund
Soirée sanglante - Blutige Abendgesellschaft
La jalousie est une passion - Eifersucht ist eine Leidenschaft
Monstres dans les rues de Paris - Monster auf den Straßen von Paris
Un dernier adieu - Ein letzter Abschied
Libre de toutmauvais sens - Von allen bösen Geistern verlassen
Carotte et bâton - Zuckerbrot und Peitsche
Signes précurseursde la tempête - Vorboten des Sturms
Réalisateur de désirs - Erfüller der Wünsche
Bon petit prince - Braver kleiner Prinz
Anges déchus - Gefallene Engel
Chemins dans l‘obscurité - Wege in die Dunkelheit
Alliés dangereux - Gefährliche Verbündete
Le calme avant la tempête - Ruhe vor dem Sturm
Descente en enfer - Abstieg in die Hölle
Feu d‘enfer - Höllenfeuer
Ange de la vengeance - Engel der Rache
Lever du soleil - Sonnenaufgang
Rêves d‘un ami - Träume eines Freundes
Le diable nefaisait que rire - Der Teufel lachte nur
La dernière leçon - Die letzte Lektion
Petit joie – Laurent - Liaison dangereuse - Gefährliche Liebschaft
Danksagung
Historischer Überblick
Glossar
Content Notes
Content Notes
In dieser Geschichte mag es einen Prinzen geben, der im Zeichen der Rose auf einem weißen Pferd daherreitet. Doch dies ist keine glückliche Geschichte. Der Prinz rettet keine hübsche Prinzessin oder sein Königreich. Im Gegenteil, nur ein verführerisches Wesen der Schatten vermag es, ihn zu retten, den Prinzen von Blut und Rosen.
Aber ich möchte euch nicht unwissend in dieses reizvolle Verderben führen. Auf den hinteren Seiten dieses Buches findet ihr wohlgemeinte Warnungen zu Inhalten, die für manch einen zu gesundheitlichen Problemen führen könnten. Tretet also nicht in die Schatten, wenn ihr nicht dazu bereit seid.
Zudem findet ihr dort auch ein paar nützliche Hinweise zu den französischen Ausdrücken und dem historischen Hintergrund, der mir vielleicht bekannt sein mag, aber nicht jedem von euch.
Amusez-vous bien!
Lionel
Playlist
Madalen Duke – How Villains Are Made
Palaye Royale – Tonight Is The Night I Die
Saint Mesa - Fire
The 69 Eyes – Velvet Touch
Ten – Nightwalker
Taemin – Criminal
Jackson Wang – Blow
Adam Lambert – For Your Entertainment
DPR IAN – Don’t Go Insane
The Pretty Reckless – Going to Hell
5 Seconds of Summer - Teeth
Stray Kids – Red Lights
Deftones – Change
Evanescence – Lacrymosa
Hidden Citizens, Rånya – Paint It Black
Imagine Dragons – Natural
Woodkid – Iron
Disturbed – Don’t Tell Me
HIM – Wicked Game
Borislav Slavov – I want to live
Assassins Creed Unity & Ezio Trilogie Soundtrack
Meine Geschichte steht nicht in den Geschichtsbüchern. Es gibt keine alten Folianten, die von mir oder meiner Familie erzählen. Meine Geschichte und die Welt, in der ich lebte, sind ebenso obskur wie der Nebel, der über das Seineufer steigt, durch die Gassen der Stadt wandert und ihre Straßen in Geheimnisse hüllt.
Nach all den Jahrzehnten bin ich es leid, dass kaum jemand sie kennt. Dass ich niemanden treffen kann, der mir neu ist, aber mich erkennt. Ich will gekannt werden, gefürchtet, geliebt. Schenkt mir eure Herzen, lasst mich noch einmal das so kostbare Leben spüren.
Dafür schenke ich euch meine Geschichte, meine Leidenschaft, mein Herz.
Lionel de la Fayette
La beauté trompeuse d’un jour de printemps
Die trügerische Schönheit eines Frühlingstages
Paris, April 1789
Leos Herz schlug in freudiger Erwartung, als er den Platz vor dem Palais Royal betrat. Die Sonne blendete ihn und er hielt die Hand schützend über seine Augen. In dem regen Treiben war es schwer, den Überblick zu behalten, und es dauerte einen Moment, bis er seinen Freund zwischen den Säulen erblickte. François stand inmitten des Stroms aus bunt gekleideten Besuchern. Mit seinen dunkelbraunen Haaren und dem Mantel aus grünem Samt erinnerte er ihn an einen Baum auf einer Wiese inmitten farbenprächtiger Blumen. Bei dem Gedanken schmunzelte er.
François schien ihn noch nicht entdeckt zu haben. Vermutlich würde er ein Rufen von Leo nicht hören, also kämpfte sich dieser mit etwas Mühe zu ihm durch. In dem Buchladen, den er zuvor besucht hatte, hatte ihn das Meer aus spannenden neuen Geschichten die Zeit vergessen lassen, und so wartete sein Freund nun bereits eine ganze Weile auf ihn. Als dieser ihn endlich bemerkte, leuchteten seine Augen auf.
»Ich habe das Buch besorgt, von dem ich dir erzählt habe«, erklärte Leo außer Atem. Er strich sich die blonden Haare aus der Stirn, zog ein dunkelrotes Buch aus seinem Beutel und reichte es François. Auf dem Rücken stand in blassgoldenen Buchstaben Gefährliche Liebschaften.
»Für einsame Nächte.« Sein Zwinkern beschwor eine sanfte Röte, die sich von den Ohren bis zu den Wangen seines Freundes verteilte. Er schlug das Buch auf, wobei sich ein paar dunkle Strähnen aus seinem Zopf lösten, und schaute hinein.
»Lass es lieber nicht offen rumliegen. Du willst nicht, dass deine kleinen Geschwister es finden.« Leo grinste und François räusperte sich ein wenig peinlich berührt.
»Merci«, flüsterte er und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Leo spürte, wie seine eigenen Wangen warm wurden und er sich plötzlich sehr leicht fühlte.
Die Menge um sie herum lichtete sich und er versuchte irritiert, den Grund dafür zu erkennen. Es waren ein paar Männer, die sich in ihrer Nähe auf Kisten gestellt hatten und begannen, lautstark über den König und die Hungersnot in Paris zu lamentieren.Leo rümpfte die Nase, all die Blumen und süßen Kleinigkeiten, die hier feilgeboten wurden, konnten nicht über das hinwegtäuschen, was der Wind herübertrug.
»Komm.« Leo griff nach François‘ Hand und zog ihn mit sich in eine kleine Gasse, die zum Place des Victoires führte, auf dem sie ihre Pferde angebunden hatten. In ihrer guten Kleidung waren sie bei den Demonstranten nicht gerne gesehen.
Die Sonne am Himmel verhieß einen warmen Frühlingstag und das goldene Licht tauchte die Stadt in ihr schönstes Kleid. All die dunklen Seiten verblassten, und wäre nicht der Gestank gewesen, der wie ein Miasma in den Straßen hing, hätte sich Leo der Illusion hingeben können, dass die Welt noch immer die war, die er so zu schätzen gelernt hatte.
Doch die Straßen waren voller Schmerz. Mancher war offen wie eine klaffende Wunde, mancher versteckt wie ein gebrochenes Herz. Vor nur wenigen Monaten hatte er sich blind und taub gestellt und jegliche Verbindung zwischen seiner Realität und der auf den Straßen ignoriert. Seit einer Weile konnte selbst er die Hilferufe nicht mehr ausblenden. Die meisten der Verhungernden waren unschuldig und sie arbeiteten härter für ein Stück Brot, als Leo in seinem ganzen bisherigen Leben hatte arbeiten müssen.
Sein weißer Hengst schnaubte unzufrieden, als Leo ihn losband und aufstieg. Nicht weit von ihnen lehnten zwei ausgemergelte Männer in zerschlissener Kleidung an einer Statue von Louis XIV. und beobachteten sie stumm. Ihr Anblick hätte kaum ein größerer Kontrast zu dem Prunk über ihnen seinen können. Sie gehörten zweifelsohne zu denen, die der Hunger bereits eingeholt hatte. Leo spürte, wie ihm trotz der warmen Sonne auf seiner Haut kalt wurde. Der Blick des etwas kräftiger wirkenden Mannes war durchdringend, und obwohl er nichts sagte, hatte Leo das Gefühl, es läge eine Aufforderung in ihm. Er kramte hastig ein paar Livre aus seinem Geldbeutel. Wohlwollend warf er sie den Männern zu. Die Augen des schmächtigeren Mannes leuchteten, als er das Silber aufsammelte. Es würde reichen, um sie für einige Tage zu ernähren. Der andere löste seinen Blick nicht von Leo und nickte ihm schließlich zu.
»Merci beaucoup, monsieur.« Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, das Leo einen kalten Schauer über den Rücken laufen ließ.
Er nickte ihm ebenfalls zu, zog sein Pferd an den Zügeln und drückte daraufhin die Beine in dessen Seiten, um François hinterherzureiten.
In einem schnellen Trab verließen sie die stinkenden Gassen und das Miasma legte sich ein wenig. Leo atmete tief durch, die kleinen Parks der Stadt spendeten zum Glück ein angenehmeres Klima. Ihr Weg führte sie an der Seine entlang Richtung Südwesten, wo sich die Güter ihrer Familien befanden.
»Was hat dich aufgehalten?«, fragte François und verlangsamte den Trab seiner braunen Stute.
»Hast du die Männer gesehen? Ich habe ihnen noch ein paar Almosen gegeben.« Leo räusperte sich, seine Stimme klang belegt.
»Ich weiß nicht, warum du seit einer Weile darauf bestehst, den Armen dein Geld in die Hände zu drücken«, sagte der Andere kopfschüttelnd, in seinen dunklen Augen stand Sorge. »Irgendwann rauben sie dich aus oder Schlimmeres. Du könntest, wie ich auch, der Kirche spenden oder Bedienstete herschicken, und sie verteilen die Almosen für dich.«
»Aber dann wissen die Leute nicht, woher es kommt. Wir bleiben ihr Feindbild und es wird sich nichts ändern.« Leos Tonfall war trotziger, als er es beabsichtigt hatte. Er wusste nicht mehr, was ihn zum Umdenken bewogen hatte, auch wenn er vermutete, dass es François gewesen war. Jetzt war er aber umso entschlossener, etwas gegen die Missstände zu tun.
Die Gebäude zu ihren Seiten waren trotz des prekären Zustandes der Stadt beeindruckend schön und das Wasser der Seine, an der sie nun entlang ritten, glitzerte trügerisch.
»Sie hassen uns so oder so. Oder denkst du, sie halten dich jetzt für ihren Retter, nur weil du ihnen ein paar Münzen gegeben hast, die weniger wert sind als dein Handschuh?« François sah Leo durch seine langen Haare herausfordernd an.
»Nein, aber wenn wir ihnen helfen und sich ihr Zustand bessert, ändert sich das hoffentlich bald. Dafür, dass ein paar hundert Leute eine Woche essen können, verzichte ich gerne auf die nächste Feier.« Leo warf einen ebenso kritischen Blick zurück.
François seufzte traurig. »Würdest du das?«
Leo starrte nachdenklich auf das Pflaster vor ihm. Würde er das? Bisher hatte er auf nichts verzichten müssen, auch wenn er immer wieder kleinere Summen an die Bettler gab.
Die Straße wurde breiter und die Sonne erleuchtete nun ungehindert die sandigen Steine. Wie trügerisch schön ein Tag erscheinen konnte.
***
An einem sonnigen Tag wie diesem war die Champs-Élysées belebt und Leo und François kamen nur langsam mit ihren Pferden an der Vielzahl von Ständen vorbei. Trotz des desolaten Zustandes, in dem sich Teile der Bevölkerung befanden, suchten doch noch immer viele Bürger nach Unterhaltung und Ablenkung von den Schattenseiten der Stadt. Es wäre so einfach gewesen, sich davon täuschen zu lassen, aber nun erfüllte Leo der Anblick mit Unbehagen. Er erinnerte ihn an einen Apfel, dessen sichtbare Seite noch glänzend und frisch aussah, er aber bereits braun und von Würmern zerfressen war, wenn er ihn umdrehte und von der anderen betrachtete. Unzufrieden verzog er das Gesicht und erntete dafür ein Augenrollen von François, der vermutlich nur dachte, dass ihn die Fußgänger störten.
»Was ist los?« Sein Freund blieb stehen, aber Leo winkte nur ab und ritt weiter. Er wollte ihn nicht mit seinen düsteren Gedanken belasten.
Leise Musik drang durch das Klappern der Pferdehufe an ihre Ohren und Leo sah nicht weit von ihnen die bunten Zelte einiger Schausteller. Er fragte sich, wie sie in solch einer Zeit noch Geld mit ihren Künsten verdienen konnten, aber vermutlich war die Prachtstraße besser als ein verlassenes Fleckchen auf dem Land. Irgendein Stadtbewohner hatte wohl immer ein paar Livre, die er bereit war, für gute Unterhaltung auszugeben.
»Vielleicht hilft das deinem Optimismus auf die Sprünge.« François deute auf ein blaues Zelt, dessen Seite eine Hand mit einem Augensymbol in der Mitte zierte.
»Aberglaube …«, murmelte Leo abschätzig. Er wollte nicht zugeben, dass ihn der Gedanke, seine Zukunft zu erfahren, nervös machte. »Lass uns lieber zurück nach Hause.«
»Ach, sei kein Spielverderber! Was hast du zu befürchten, mon Seigneur de la Fayette?«, rief François mit einem herausfordernden Grinsen und stieg bereits von seinem Pferd, um es an einer Laterne neben dem Zelt festzubinden. Seufzend tat es Leo ihm gleich.
Es war zwar ein warmer Frühlingstag, aber es erstaunte ihn, dass die Luft um das Zelt herum zu flimmern schien, als wäre es Hochsommer.
Mit klopfendem Herzen folgte er François in das Innere.
Es war dunkel und es dauerte einen Moment, bis sich seine Augen daran gewöhnt hatten. Der Qualm von Räucherstäbchen erfüllte das kleine Zelt und Leo unterdrückte ein Husten. Sein Kopf fühlte sich seltsam schwer an. Im schweren Dunst erschien der Ort mit seinen mitternachtsblauen Wänden und den silbrigen Zierbändern wie ein Traumgebilde.
»Wie kann ich zu Diensten sein, meine Herren?« Eine kleine Frau schaute von einem runden Tisch zu ihnen auf. Sie war in bunte Tücher und unzählige Schmuckketten gehüllt. Ihr Alter war schwer zu schätzen, sie war blass, sah gleichzeitig jung und alt aus.
»Mein Freund hier und ich möchten, dass Ihr uns die Zukunft vorhersagt«, erklärte François, nun nicht mehr ganz so zuversichtlich wie zuvor.
»Sehr wohl.« Die Frau wirkte, als müsste sie sich einen Kommentar verkneifen, und setzte ein professionelles Lächeln auf.
Konzentriert begutachtete sie François‘ Handfläche und runzelte die Stirn.
»Euer Leben wird nicht so sorglos bleiben, Monsieur.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich sehe einen Bruch, kann aber nicht sagen, wie es danach weitergeht. Die Zukunft steht Euch offen, aber Ihr müsst bald selbst dafür sorgen, dass sie zu Euren Gunsten ausfällt.«
François bedankte sich und tauschte seinen Platz mit Leo. Dessen Hand zitterte ein wenig, als er sie der Seherin entgegenhielt. Warum war er so nervös? Gewöhnlich war er gar nicht so abergläubisch. Er schaute zu François herüber, der auf seiner Unterlippe kaute und seine Hand mit der anderen rieb. War es seine Nervosität, die ihn ansteckte? Der Blick der Frau beruhigte ihn kaum. Sie strich mit den kühlen Fingern über seinen Handteller und er merkte, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief.
»Das ist seltsam. Die Lebenslinie ist ungewöhnlich lang. So lang, dass sie sich verliert, aber ich sehe keine Familie, keine Kinder. Was mich aber noch mehr beunruhigt, ist der Bruch hier.« Sie deutete auf eine kleine Verästelung in der Linie. »Ein ebenso großer Bruch wie bei Eurem Freund. Nur sieht es aus wie …«
Plötzlich hob sie ihren Blick und schaute Leo in die Augen. Erschrocken zog er seine Hand zurück.
Ihre hellblauen Augen drangen so tief, dass er das Gefühl hatte, sie würden tief in seine Seele sehen.
»Es sieht aus, als sei sie dort zu Ende. Sehr früh zu Ende. Aber da die Lebenslinie danach weitergeht, fällt es mir schwer, es zu deuten.«
Er hatte nicht bemerkt, wie schnell sein Atem geworden war. Warum ließ er sich so davon beeinflussen? Seine Hand war seine Hand, kein Fenster in die Zukunft.
»Ich glaube, das reicht für heute.« François sah ihn besorgt an und legte ein paar Kupfermünzen auf den Tisch. Doch bevor Leo aufstehen konnte, fühlte er den kalten Griff der Frau erneut um seine Hand.
»Gestattet Ihr mir, Euch die Karten zu legen, mon Seigneur? Ich kann Euch so nicht guten Gewissens gehen lassen.«
Ihr Blick war flehend. Leo zögerte und zog langsam seine Hand zurück.
»Lass sie, Leo«, flüsterte François ihm zu und bevor er sich noch weitere Gedanken machen konnte, setzte er sich wieder.
Die Seherin holte ein Deck mit vierfarbig illustrierten Karten aus einem kleinen Samtbeutel, mischte sie sorgfältig und fächerte sie vor Leo auf dem Tisch auf.
»Wählt drei Karten, die Ihr vor Euch hinlegt. Die erste zeigt Eure Vergangenheit, die zweite Eure Gegenwart und die dritte Eure Zukunft.«
Er atmete tief durch, zog die erste Karte und drehte sie um. Sie zeigte drei goldene Kelche, um die sich grüne Pflanzen rankten. Der Anblick stimmte ihn positiv, obwohl er nicht genau sagen konnte, warum. Sowohl er als auch die Frau atmeten erleichtert auf.
»Diese Karte symbolisiert Fülle, Reichtum und Überfluss. Aber auch Liebe und Leidenschaft. Euch hat es bisher an nichts gefehlt, vermute ich?«
Leo schüttelte nachdenklich den Kopf. Seine Kleidung ließ darauf schließen, dass es sich bei ihm um einen reichen Adeligen handelte. Tatsächlich war sein bisheriges Leben gut verlaufen, er kannte keinen Hunger, keine Armut. Er hatte immer das bekommen, nach dem es ihn verlangte. Seine Eltern versuchten, Probleme meist mit materiellen Gütern zu lösen. Er kannte es nicht anders. Deshalb war es auch ein langer Weg gewesen, bis er erkannt hatte, wie schlimm es um die armen Bürger stand.
Seine Hand wanderte erneut zu den Karten. Als sich seine Finger um eine schlossen, wurde ihm schlagartig kalt. Vorsichtig zog er sie heraus und deckte sie vor sich auf, wobei sie ihm beinahe aus den Fingern glitt. Er hörte nur, wie die Frau ihm gegenüber erschrocken nach Luft schnappte. François hielt sich nun an seiner Stuhllehne fest.
Vor ihm zeigte die Karte einen roten Turm. Er war dabei, einzustürzen und von den Flammen verschlungen zu werden.
Hilfesuchend schaute er zu der Frau herüber, die seinem Blick mit tiefer Besorgnis begegnete.
»Das ist der Turm. Ich will ehrlich zu Euch sein, es ist kein gutes Zeichen.«
Es war, als wäre die Stille um sie herum lauter geworden. Die Geräusche der Stadt drangen nicht mehr in das Zelt hinein. Leo fühlte, wie François ihm seine Hand auf die Schulter legte.
»Er bedeutet, dass die Welt aus den Fugen gerät. Dadurch gibt es zwar auch die Möglichkeit eines Neuanfangs, aber ob dies geschieht, steht in den Sternen. Sicher ist, dass sich sehr bald eine Katastrophe ereignen wird.« Ihre Worte waren bedacht und ruhig, obwohl es ihr schwerfiel, sie auszusprechen.
Leos Blick verfinsterte sich. »Dann wollen wir uns mal die Zukunft anschauen, schlimmer kann es wohl kaum werden«, sagte er bitter.
Dieses Mal wurde ihm nicht kalt, als er die Karte zog. Es war, als setzte sein Herzschlag für einen kurzen Moment aus. Er atmete tief durch und deckte sie auf.
Der Tod.
Er musste kein Hellseher sein, um das zu erkennen. Sein Herz, das zuvor fast vergessen hatte zu schlagen, raste nun. Wütend stand er auf und riss dabei fast den Tisch vor sich um.
»Was soll das? Ist das eine miese Taktik des Pöbels, um Leute wie uns einzuschüchtern?«
Er zitterte am ganzen Leib und selbst François‘ Hand gab ihm keinen Halt mehr.
»Ist es das?«, schrie er, wobei er seine Hände zu Fäusten ballte.
Die Frau hatte sich keinen Zentimeter bewegt und schaute nur traurig zu ihm herauf.
Schließlich schüttelte sie kaum merklich den Kopf.
»Ihr wisst genauso wie ich, dass es das nicht ist«, flüsterte sie und das Mitleid in ihrer Stimme löste Übelkeit in Leo aus.
»Und was soll das heißen? Ich werde von einem Stein erschlagen und sterbe? Ich muss mich wohl demnächst von Türmen fernhalten, dann wartet ein langes Leben auf mich«, knurrte er und wedelte sarkastisch mit seiner Hand.
Erstaunlicherweise blieb die Frau weiterhin ruhig. Sie wirkte unendlich betrübt und Leo tat es ein wenig leid, sie so angefahren zu haben.
»Der Tod steht für die größtmögliche Veränderung. Oft ist diese nicht angenehm, aber danach wartet gewöhnlich ein Neubeginn. Ob Ihr es mir glauben wollt oder nicht, sie steht auch für Hoffnung.«
»Hoffnung? Und da dachte ich, ich käme in die Hölle. Wie schön.« Leo zitterte noch immer und versuchte, sich so gut es ging zu beruhigen.
»Ich denke, wir gehen jetzt lieber …«, sagte François behutsam.
Es dauerte einen Moment, bis Leo realisierte, was sein Freund gesagt hatte.
Schließlich nickte er, drehte sich um und ging mit wackeligen Schritten auf den Ausgang zu. Er hörte zwar noch, wie sich François bei der Frau entschuldigte und sie bezahlte, wirklich ankommen wollte es aber nicht.
***
Als ihn die kühle Abendluft empfing, war es Leo, als erwachte er aus einem Albtraum. War so viel Zeit in dem Zelt vergangen? War es nicht gerade erst früher Nachmittag gewesen, als sie hinein gegangen waren?
»Leo?«
Er blinzelte und schaute zu François herüber.
»Es war eine dumme Idee, dich da hineinzuzerren. Tut mir leid.«
Aber Leo zuckte nur mit den Schultern. »Aberglaube … wahrscheinlich waren irgendwelche Kräuter in dem Räucherwerk.« Er schwang sich auf sein Pferd, was erneut protestierend schnaubte. Es spürte, wie aufgewühlt er war. Beschwichtigend strich er über das weiße Fell. Das unangenehme Gefühl in seinem Bauch wollte einfach nicht weichen.
Der Ritt zum Schloss der la Fayettes, Leos Familie, dauerte eine Weile und es war bereits Nacht, als sie in die Allee einbogen, die zu dem Anwesen führte. War es eine Sinnestäuschung oder leuchteten die reich verzierten Fenster heller als sonst? Ihm kam das Feuer auf der Karte mit dem Turm in den Sinn. Er hoffte, dass seine Eltern bereits schliefen – so gerne sie François auch hatten, war ein Überraschungsgast zu solch einer späten Zeit nicht gern gesehen.
Die beiden jungen Männer spornten ihre Pferde an, bis sie nahe genug waren, um mehr erkennen zu können. Von Nahem ließ nichts darauf schließen, warum der Eindruck entstanden war. Vermutlich war es nur seine eigene Vorstellungskraft gewesen. Leos Herz klopfte dennoch heftig und wollte sich nicht so recht beruhigen. Mit zittrigen Beinen stieg er von seinem Pferd und schaute flehend zu François hinauf, welcher seufzte und es ihm gleichtat.
»Bleibst du heute Nacht?« Leo griff nach seiner Hand und küsste sie sanft.
Sein Freund wich seinem Blick aus, während sich langsam eine leichte Röte auf seine Wangen stahl.
»Du bist unmöglich! Jetzt nutzt du auch noch mein schlechtes Gewissen aus.« Aber François konnte ein Lächeln nicht lange unterdrücken.
»Du machst es mir auch viel zu leicht, mon Cher.« Leo zwinkerte und zog ihn mit sich in sein Zuhause.
Im Foyer waren bereits die Kerzen gelöscht, sodass das spärliche Mondlicht unheimliche Schatten auf die edle Einrichtung warf. Nur ein schwacher Schimmer drang aus einem der Korridore zu ihnen herüber.»Vite! Bevor meine Eltern uns erwischen und dich in ein Gästezimmer stecken!« Leo griff nach François‘ Hand und zog ihn zu der großen Treppe. Der Schein in ihrer Nähe wurde heller. Wer auch immer auf sie zu kam, würde sie entdecken, bevor sie außer Sichtweite waren.
»Leo, bist du das?« Es war die helle Stimme seiner Schwester und er atmete auf.
Auch François neben ihm entspannte sich und streckte den Kopf in die Richtung, aus der ihre Stimme kam.
»Keine Sorge, Marie. Wir sind so gut wie in meinem Zimmer.« Leo lachte und zwang sich, dabei möglichst leise zu bleiben. »Was machst du um diese Zeit hier draußen?«
»Ich konnte nicht schlafen und war in der Küche, um mir etwas Milch mit Honig aufwärmen zu lassen.«
Seine Schwester war nur mit einem langen weißen Nachthemd bekleidet und ihre blonden Haare fielen ihr in Wellen über die Schultern. Sie hielt einen Kerzenleuchter in der linken Hand. Ihre Erscheinung hatte etwas von einem hübschen Gespenst. Als ihr bewusst wurde, dass François neben Leo stand, hob sie die Hand vor den Mund und ihre Augen weiteten sich.
»Oh, du bist auch hier!« Sie schlug den freien Arm um sich und schaute peinlich berührt zu ihrem Gast, der höflich den Blick senkte.
»Bon soir«, flüsterte er und nickte ihr schüchtern zu.
»Jetzt beeilt euch, sonst findet Maman noch ein Zimmer im anderen Flügel für ihn, wenn ihr überhaupt noch ins Bett kommt nach ihrer Predigt.« Sie deutete in die Richtung, in der Leos Schlafgemach lag und ihre Scheu wandelte sich langsam in Belustigung.
Danse à la
lumière du feu
Tanz im Feuerschein
In seinen Träumen wandelte Leo ziellos über den Platz vor dem Palais Royal. Verzweifelt suchte er François, aber er fand nichts als leere Gesichter, die teilnahmslos durch ihn hindurchblickten. Irgendwann lichtete sich die Menge. An den Ausgängen sammelten sich mehr und mehr Männer, die alle das Gesicht der beiden Bettler trugen, denen er am Tag zuvor die Almosen gegeben hatte. Sie kamen unaufhaltsam näher und Leo griff nach etwas, mit dem er sich verteidigen konnte, aber fand nur das rote Buch, das sich in seinen Händen zu Asche verwandelte.
Mit einem Schrei wachte er auf. Über sich sah er Feuer. Der blaue Baldachin über seinem Bett brannte, aber die Flammen waren kühl und erreichten ihn nicht. Bevor er sich umschauen konnte, öffnete er die Augen. Der blaue Samtstoff war unberührt – es war also auch nur ein Traum gewesen. Sein Herz wollte sich aber noch nicht beruhigen. Sein Oberkörper war mit Schweißperlen bedeckt, weshalb der frische Luftzug, der durch eines der Fenster wehte, ihn frösteln ließ und er sich die Decke bis zum Hals zog. Er spürte, wie sich eine warme Hand um ihn schlängelte und blickte in François‘ schläfrige Augen.
»Was ist los?«, fragte sein Freund und gähnte leise.
»Nur ein Albtraum.« Leo rang sich zu einem Lächeln durch und kuschelte sich in die Umarmung.
***
»Lionel! Was macht François hier?« Seine Mutter stellte die Teetasse mit einem Klirren auf das Porzellan und bedachte die beiden jungen Männer mit einem strafenden Blick. »Wir haben heute genug zu tun, da können wir uns nicht noch um Gäste kümmern.«
»Weil du auch sonst so eine hingebungsvolle Gastgeberin bist, ma Chère.« Leo Vater seufzte, ohne von der Gazette hochzublicken.
Leo und François gesellten sich neben Marie an den Tisch. Es war offensichtlich, woher sie und Leo ihre hellen Haare hatten. Ihre Mutter trug die blonden Locken kunstvoll hochgesteckt und grau gepudert, was Leo nicht so recht verstehen konnte. Vielleicht war es gerade die Mode, aber er fand ihre natürliche Farbe schöner. Grau würden sie noch früh genug werden.
»Fühl dich hier trotzdem willkommen, François«, erklärte die Comtesse de la Fayette mit einem süßlichen Lächeln und deutete auf den Platz neben Marie, woraufhin diese errötete.
Mit einer leichten Verbeugung folgte François ihrer Anweisung und Leo setzte sich mit einem Augenrollen neben ihn.
Wirklich ruhig war es im Château de la Fayette selten. Leos Eltern veranstalteten diverse Soirées undin der Zwischenzeit empfingen sie oder seine Geschwister häufig Gäste. Obwohl er froh über die Ablenkung war, wurde es ihm doch manchmal zu viel – ein weiterer Grund, warum er sich gerne zu François und dessen Familie, den Beaumonts, flüchtete. Ihr Schloss war schlichter und gemütlicher. Nur selten organisierten sie luxuriöse Feiern.
»Wo ist Thomas?«, erkundigte sich Leo, während er einen Diener herbeiwinkte, der ihm und François frischen Tee einschenkte.
»Im Gegensatz zu dir verbringt dein Bruder seine Zeit mit sinnvollen Dingen.« Leos Vater legte die Zeitung beiseite und bedachte seinen jüngsten Sohn mit einem prüfenden Blick.
»Gerade ihr solltet verstehen, dass es sehr viel Sinn ergibt, das Leben zu genießen «, erklärte Leo mit gehobenen Augenbrauen, woraufhin ein leises Kichern aus Maries Richtung ertönte.
»Ich hoffe, du nimmst dir kein Beispiel an deinem Bruder, Chérie.«
Die strengen Worte seiner Mutter ließen Marie verstummen. Sie schaute peinlich berührt auf ihren Teller, wobei das Rot ihrer Wangen noch deutlicher wurde.
»Als ob ihr besser wärt«, murmelte Leo und biss lustlos von dem Stück Brioche ab, das er sich aufgetan hatte. Er war froh, dass François die kleinen Streitereien gewohnt war, sonst wäre es ihm unangenehm gewesen. Das Verhältnis zu seinen Eltern war passabel, auch wenn sie ihren Unmut über seine Umtriebigkeit oft genug kundtaten. Da sie ihm aber selten etwas verboten und es bei harmlosen Worten blieb, nahm er ihnen ihre Strenge nicht übel. Abgesehen davon, dass er sie als scheinheilig empfand, denn Kinder von Traurigkeit waren auch sie nicht.
Leo atmete erleichtert auf, als er wohlbekannte Schritte hörte, und kurz darauf sein älterer Bruder in der Tür stand. Mit den braunen Haaren kam er nach ihrem Vater und er war ein Stück größer und kräftiger gebaut als Leo. Sein Mantel und die Reiterstiefel verrieten, dass er nicht plante, ihnen Gesellschaft zu leisten.
»Ich habe den Brief abgeschickt, Maman«, sagte er gutgelaunt und nahm sich im Vorbeigehen ein Gebäckteilchen von einem Tablett. »Ich hoffe, dass ihr Vater mich bald anhört.«
»Er wäre ein Narr, wenn nicht.« Das Lächeln auf dem Gesicht ihrer Mutter war kühl, aber zufrieden. »Mir fällt ein Stein vom Herzen, wenn wenigstens eines meiner Kinder unter der Haube ist.«
Thomas lachte nur, nickte François freundlich zu und lehnte sich neben Leo an den Tisch.
»Wenn Lionel nicht jeden Abend mit einer neuen Liebschaft nach Hause käme und Marie einem Verehrer zur Abwechslung länger als fünf Minuten zuhören würde, müsste Thomas nicht allein die Verantwortung tragen.« Ihr Vater erhob sich vom Tisch und ging an ihnen vorbei zur Tür. »François muss einen schrecklichen Eindruck von uns haben.« Er seufzte erneut und verabschiedete sich.
»Ganz und gar nicht, ich–« Doch François unterbrach sich, denn Leos Vater war bereits außer Hörweite.
»Geht ihr heute Abend zu der Soirée der Villieux? Ich schaffe es nicht – könnt ihr sie von mir grüßen?«, erkundigte sich Thomas und schob sich den Rest seines Gebäcks in den Mund.
»Ist das heute?« Mit großen Augen schaute Marie zu ihrem Bruder.
»Du gehst nicht, Chérie.« In dem Tonfall ihrer Mutter lag etwas Finales.
»Aber Maman!« Flehend blickte Marie zu ihr, doch ihr begegnete nur ein Kopfschütteln. »Ohne einen Chaperon ist es viel zu riskant.«
»François und ich gehen hin, wir können sie mitnehmen.« Leo hatte noch nicht mit seinem Freund darüber gesprochen, ging aber davon aus, dass dieser nichts dagegen hatte. Wie erwartet nickte François.
»Das steht außer Frage. Es gibt wenige, die ungeeigneter wären als du, mon Fils.«
So hart die Worte auch waren, der Ausdruck auf ihrem Gesicht wurde sanfter. »Ich weiß, dass Marie bei dir in guten Händen ist, aber da bin ich vermutlich die Einzige. Dein Ruf könnte ihr schaden.«
Resigniert seufzte Leo und auch Marie schien der Kampfgeist verlassen zu haben.
»Mach dir nichts draus, das nächste Mal nehme ich dich mit.« Thomas zwinkerte ihr freundlich zu und schon fand das Lächeln zurück auf ihr Gesicht.
Auch das Buch, das Leo am Tag zuvor für sie geholt hatte, tröstete sie. Vor Kurzem hatten sie im Theater Figaros Hochzeit gesehen. Ein Stück, dessen romantischer Humor bei Marie viel Anklang gefunden hatte. Das mit Blumenranken verzierte Buch enthielt den Text des Stückes. Leo fand dagegen viel spannender, welchen Skandal die Aufführung vor wenigen Jahren ausgelöst hatte, indem sie schamlos Adelige wie ihn kritisierte.
***
Die Soirée wurde in ein einem edlen pariser Stadthaus nahe des Place Vendôme abgehalten. Leo hatte darauf bestanden, die Pferde anstatt einer Kutsche zu nehmen. Die kühle Abendluft und ein schneller Ritt brachten ihn in Stimmung für die Feier, und da er sich wie so oft dagegen entschieden hatte, sich mit einer der modischen Perücken auszustatten, gab es auch nichts, was dagegensprach. François ging es ähnlich – noch mehr als Leo war er dem Reiten und der Natur zugetan.
Bei der Feier der Villieux handelte es sich um eine der besonders verschwenderischen Soirées, auf denen Mitglieder des Hofes oder manchmal sogar die Königin zu finden waren. Dementsprechend hatte Leo seinen schönsten roten Seidengehrock wie auch eine passende Maske herausgesucht, denn wie auf so vielen dieser Feiern trugen die meisten Gäste etwas, um flüchtig ihre Identität zu verbergen. Während François gerne davon Gebrauch machte, trug Leo das Accessoire meist nur am Handgelenk – ihm machte es nichts aus, wenn Leute sahen, wer er war und mit wem er auf den Feiern Umgang pflegte. Sollte Thomas doch die Last der Familienehre tragen – er würde im Gegenzug dazu seinen Ruf als Bonvivant pflegen.
Der Saal war erhellt von dem warmen Licht hunderter Kerzen. Fröhliche Musik schallte durch den Raum und die Gäste tanzten und lachten, als kannten sie keine Sorgen. Die bunten Kleider und Röcke ergaben ein solch farbenfrohes Bild, dass es an einen Blumengarten erinnerte. Als Leo sich unter die Menge mischte, musste er für einen Moment daran denken, wie es um die meisten anderen Bürger der Stadt gestellt war. Von dem Geld, das diese Feier kostete, hätten Duzende von ihnen ein Jahr lang leben können. Aber der Gedanke war ebenso schnell verschwunden, wie er gekommen war. In diesen Mauern regierte der Überfluss und Leo lebte dafür, ihn zu genießen.
Während er sich durch die Trauben aus fein gekleideten Menschen schlängelte, spürte er zufrieden, wie ihn einige neugierige Blicke trafen. Er achtete darauf, dass sein Rücken gerade, sein Gang elegant und sein Lächeln unwiderstehlich waren. Es gab wenig, das ihn in einen solchen Rausch versetzte, wie zu wissen, dass er die Fantasie der Leute entfachte. Abgesehen vielleicht von den Nächten mit François, der zwar selbstsicher, aber noch lange nicht so effektheischend hinter ihm her ging.
»Wenn du darauf bestehst, den Pfau zu spielen, dann trag das nächste Mal Federn«, tadelte sein Freund ihn und Leo lachte laut.
»Bring mich nicht auf Ideen!«, scherzte er und nahm zwei Gläser von einem Tablett. Er reichte François eins, wobei ein paar Tropfen Champagner über den Rand schwappten.
»Auf einen erfolgreichen Abend!« Leo prostet ihm zu, woraufhin François lächelnd den Kopf schüttelte.
»Ich weiß, von welchem Erfolg du sprichst, und ich bin mir nicht sicher, ob ich dich dazu noch ermutigen sollte.« Fast als wollte sich sein Freund Mut antrinken, leerte er das Glas und nahm sich direkt ein neues, was Leo dazu veranlasste, es ihm gleichzutun.
»Ich habe das Gefühl, dass etwas Bedeutendes passieren wird«, verkündete er ausgelassen.
»Was denn? Dass du dieses Mal mit zwei hübschen Damen – oder Herren – das Bett teilen wirst, statt nur mit einer?« François schien weniger überzeugt als Leo, was dessen Stimmung aber nicht trübte.
Es war etwas Anderes, das sich wie ein Schatten über seine Gedanken legte. Die Karten der Seherin erschienen in seinen Erinnerungen und er versuchte, sie so schnell zur Seite zu schieben wie möglich. Wenn Leo eines konnte, dann sich ablenken und Sorgen mit allerlei Freuden übertünchen. François war der Einzige, der ihn regelmäßig auf den Boden der Tatsachen zurückbrachte, aber dorthin wollte er in diesem Moment gar nicht. Und sein Freund ausnahmsweise ebenfalls nicht.
»Tanz mit mir!« Leo griff grinsend nach seiner Hand.
»Aber wir … du weißt schon – was sollen die Leute denken?«, stammelte François, offensichtlich irritiert von dem Überschwang seines Freundes. Geradeso konnte er noch sein Glas auf eine Anrichte stellen, bevor Leo ihn mit sich zog.
»Die denken gar nichts.« Leo lachte und schaute neugierig auf die Tanzfläche. Der Abend war bereits fortgeschritten genug und Wein und Champagner flossen in Strömen. So war die höfliche Ordnung vergessen und sie waren nicht die Einzigen, die nicht so mit einem Partner tanzten, wie es die Etikette vorsah. Im Gegenteil – die Tanzpartner wechselten schneller, als das Auge begreifen konnte, ob die nächste Zielperson ein Kleid trug oder eine Hose.
Schnell setzte die Erleichterung bei François ein und Leo war glücklich, ein Funkeln in seinen warmen braunen Augen zu sehen. Sie tanzten überschwänglich, wobei Leo führte und sein Freund sich dabei immer näher an ihn schmiegte. Nun ernteten sie doch ein paar skeptische Blicke. Die meisten Schaulustigen waren allerdings viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um sich darum zu kümmern. Leo spornte das sanfte Rot, das nun François‘ Wangen zierte, noch weiter an und er lehnte sich zu ihm, bis seine Lippen beinahe sein Ohr berührten.
»Vielleicht besteht mein Erfolg auch darin, dich zwei Nächte in Folge in mein Schlafgemach zu führen«, flüsterte er und spürte triumphierend, wie sich der Atem seines Freundes beschleunigte.
Doch die Musik kündigte einen Wechsel an und mit ihr auch eine Rotation der Tanzpartner. François schien erleichtert, Leo spürte aber immer wieder seinen sehnsüchtigen Blick. Dieses Mal tanzte er mit einer hübschen Dame, die er als eine junge Witwe erkannte, von der ihm sein Bruder erzählt hatte. Sie schien sehr zufrieden über die Fügung zu sein und ließ ihn nicht aus den Augen, während er sie mit sicheren Schritten über das Parkett führte.
»Wenn Ihr mich so angesehen hättet wie Euren Freund, wäre ich bereits in Ohnmacht gefallen.« Sie lächelte und zwinkerte ihm zu. Das Rouge auf ihren Wangen ließ nicht erkennen, ob sie tatsächlich errötete und Leo war froh, dass François nichts auf Puder oder Rouge gab.
»Das wäre ganz und gar tragisch, ma Chère!« Leos Augen wurden groß. Er gab sich Mühe, möglichst schockiert auszusehen. »Dann könnte ich schließlich nicht mehr mit Euch tanzen!«
Sie lachten beide und er machte einen geistigen Vermerk, sie auf die Liste derer zu setzen, die er alsbald zu seinen Eroberungen zählen wollte. Jedenfalls sofern ihr Enthusiasmus anhielt. So sehr Leo sich damit rühmte, möglichst viele Errungenschaften zu beglücken, war es ihm doch immer ein Anliegen, dies nur zu tun, wenn es ausdrücklich gewünscht war. Er gab sich also frei und willig, warf sich auch dem Einen oder der Anderen in die Arme, aber sein Bett teilten nur die, von denen er wusste, dass sie um ihn gekämpft hätten, wenn er sie nicht so bereitwillig dorthin eingeladen hätte.
Die Musik wechselte erneut und dieses Mal stolperte Leo beinahe, aber sein Gegenüber fing ihn geschmeidig und begann nun, ihn zu führen, was er auch ohne Protest geschehen ließ. Es war ein Mann, dessen Gesicht ihn an eine griechische Statue erinnerte, so schön und makellos blass war er. Wie viele der Gäste trug er noch immer seine violette Maske, die mit den goldenen Verzierungen an eine venezianische Maske erinnerte und lediglich seine Augen umrahmte. Die lockigen, rotbraunen Haare umrahmten Stirn und Wangen. Seine dunklen Augen schimmerten im Kerzenlicht und Leo stellte verwirrt fest, dass sie unnatürlich rot wirkten. So wie sie ihn ansahen, war es ihm, als zögen sie ihn unwiederbringlich in ihren Bann. In ihnen lag etwas, was ihn das Treiben um sie herum vergessen ließ und nichts anderes zuließ als seinen Blick. Leos Atem beschleunigte sich und ihm wurde ein wenig schwindelig. Der Fremde lächelte vielsagend und dieses Mal spürte Leo, wie sich seine eigenen Wangen röteten. Vielleicht war er heute nicht der Eroberer, sondern die Eroberung. Der Gedanke gefiel ihm weit mehr, als er zugeben wollte.
»Kennen wir uns?«, fragte Leo atemlos, woraufhin der Fremde nur den Kopf zur Seite neigte, ähnlich wie Leo es zuvor bei François getan hatte. Als der Mann zu sprechen begann, spürte Leo seinen Atem auf seinem Hals und ein wohliger Schauer fuhr ihm über den Rücken.
»Vielleicht? Jedenfalls noch nicht gut genug.« Die samtene Stimme des Mannes war kaum mehr als ein Flüstern und Leo bemerkte, wie er die Luft anhielt. »Ich hoffe aber sehr, das wird sich bald ändern, kleiner Prinz.«
Damit lehnte er sich wieder zurück und die Musik deutete einen erneuten Wechsel an. In Trance beobachtete Leo, wie sich der Mann entfernte, und plötzlich hielt er eine unbekannte Dame in den Armen. Er brauchte all seine Willenskraft, um sich wieder auf die Schritte zu konzentrieren und ihr nicht auf die Füße zu treten. So schnell, wie es die Etikette erlaubte, verließ er daraufhin die Tanzfläche und schaute sich um. Der Mann war nirgends zu sehen. Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr hatte er das Gefühl, er käme ihm bekannt vor. Hatte er ihn auf anderen Feiern gesehen? Waren sie einander schon einmal begegnet?
Mit zittrigen Fingern suchte er sich ein neues Glas Champagner und leerte es in einem Zug. Sein Herz beruhigte sich langsam, das seltsame Gefühl blieb aber. So schnell ließ er sich sonst nicht aus dem Konzept bringen.
»Leo? Ist alles gut bei dir?« François‘ Stimme klang weit entfernt und Leo atmete tief durch, bis er sich zu seinem Freund drehte und nickte.
»Oui, nur etwas zu viel Wein. Der verträgt sich nicht mit den schnellen Drehungen.«
François wirkte nicht ganz überzeugt und bedachte ihn mit einem sorgenvollen Blick.
So sehr Leo den unbeschwerten Abend genoss – der Fremde wollte ihm nicht aus dem Kopf gehen. Ebenso wie die dunkle Vorhersehung, die er so verzweifelt versuchte zu vergessen. Die Kerzen in den Leuchtern erinnerten ihn an das Feuer aus seinem Traum, die Spielkarten auf den Tischen fielen wie die kleinen Punkte auf der Karte mit dem Turm und die überlaufenden Gläser Champagner riefen die Kelche in sein Bewusstsein. Gewöhnlich hätte er sich keine Gedanken über solchen Aberglauben gemacht, aber warum wollte das komische Gefühl dann nicht weichen?
Kurz nach Mitternacht verließ er mit François den Saal, um ein wenig frische Luft zu schnappen.
»Ich sollte mich auf den Weg machen. Der Abend war lang genug.« Er gähnte und streckte sich.
»Das klingt aber gar nicht nach dir.« François legte die Hände auf Leos Schultern und schaute ihn fragend an.
»Ich bin nur müde, nichts weiter.« Leo zwang sich zu einem Lächeln. »Das ganze Durcheinander zu Hause macht mich wahnsinnig. Thomas‘ Verlobung, Maries Verehrer, die anstrengenden Gäste meiner Eltern. Ich brauche nur ein bisschen Ruhe.«
François nickte erleichtert und ging voran zu den Pferden.
»Soll ich dann lieber nach Hause reiten? Wie ich dich kenne, lenkt meine Anwesenheit dich vom Schlafen ab.« Er lächelte gespielt unschuldig und Leo gab ihm daraufhin einen sanften Klaps.
»Untersteh dich! Deine Anwesenheit ist genau die Ablenkung, die ich brauche.«
***
Der Ritt nach Hause, zum Château seiner Familie, erinnerte Leo an die vorherige Nacht. Es war beinahe unwirklich, fast als wäre keine Zeit vergangen und als hätten sie gerade erst das Zelt der Wahrsagerin verlassen.
Nach einer Weile bogen sie in die Allee ein. Auch dieses Mal schien das Licht in den Fenstern heller als sonst. Leo wusste nicht, warum sein Herz erneut begann, wie wild zu schlagen, aber auch das unheilvolle Gefühl war stärker als zuvor. Wieder spornte er seinen Hengst an, um zu sehen, was den Eindruck erweckte.
Doch was sie sahen, war kein Kerzenlicht. Es war Feuer. Loderndes, alles verschlingendes Feuer.
Leos Augen weiteten sich in Panik und er spürte, wie sein Herz so fest klopfte, als wollte es aus seinem Brustkorb springen.
Dann ritt er schneller, als er jemals zuvor geritten war.
Alles um ihn herum verschwamm, er hörte François in der Ferne rufen, aber vielleicht hatte er sich das nur eingebildet.
Das Gebäude stand in Flammen.
Die Türen waren geschlossen, scheinbar verriegelt, und eine Rauchsäule wandte sich gen Himmel.
Vor dem Schloss hatte sich eine Menschentraube gebildet. Einige gossen aufgeregt Wasser aus Eimern in ein zerbrochenes Fenster. Es war völlig aussichtslos.
Andere wirkten ganz und gar nicht besorgt. Im Gegenteil, sie feierten überschwänglich.
Leo preschte mit seinem Pferd durch die Menge und konnte sich geradeso noch halten, als es sich aufbäumte, um den Flammen nicht zu nah zu kommen. Er schwang sich vom Sattel und der Hengst flüchtete in Richtung Garten.
Der Rauch biss in Leos Augen und Lungen. Die Hitze schmerzte auf seiner Haut. Es hatte keinen Sinn hineinzugehen, selbst wenn vor der Tür keine Bretter aufgestellt gewesen wären.
Plötzlich drang eine bekannte Stimme an ihn heran. Es war die einer älteren Frau. Desorientiert schaute er, wo sie herkam.
»Seigneur!« Eine rundliche Frau mit einer weißen Schürze lief auf ihn zu und umklammerte seinen Arm, als sie ihn erreichte. Es war die Köchin seiner Familie.
Er konnte ihr nicht antworten oder sie fragen, was mit seinen Eltern und Geschwistern war. Zu viele Gefühle führten Krieg in seinem Herzen.
»Ich bin so froh, dass Ihr unversehrt seid! Es ist schrecklich … sie sind da drin …« Ihre Stimme überschlug sich und sie schaute hilfesuchend zu ihm herauf.
»Wer ist da drin?«, fragte er nur tonlos. Seine Stimme hörte sich fremd an.
»Monsieur le Comte, die Comtesse, alle! Ich und die anderen Bediensteten aus der Küche waren die Einzigen, die es herausgeschafft haben. Sie haben uns gehen lassen.«
Leo schaute herauf in die Flammen. Es hätte an Selbstmord gegrenzt hineinzugehen, abgesehen davon, dass er weder durch die Türen noch durch die Fenster ins Innere gelangen konnte.
Er überlegte fieberhaft, ob es eine Möglichkeit gab, aber ihm wollte nichts einfallen.
Einige Dachziegel lösten sich und fielen auf sie herunter. Er konnte die Köchin geradeso noch zur Seite ziehen. Die Hitze und der Rauch machten es schwer zu denken.
Ein Gedanke kam ihm dennoch. Und dieser drohte alle anderen zu verschlucken.
»Sie?«, fragte er die Köchin mit bebender Stimme. »Wer sie?«
»Die Männer dort! Revolutionäre, sagen sie. Sie haben sogar gesagt, dass sie uns leben lassen, weil wir ja nur Diener sind … dabei sind die Anderen auch noch dort drin!«
Leo drehte sich langsam zu der Gruppe von Männern um, die ihm zuvor schon aufgefallen war. Seine Hand glitt von der Schulter der Köchin und für einen Moment sah er nichts anderes als das halbe Dutzend Gestalten, die nicht weit entfernt standen und gerade eine Flasche Wein herum reichten. Zu ihren Füßen lagen ein paar Säcke, aus denen goldene Kerzenleuchter und andere Schätze hervorblitzten. Leo spürte kaum, wie François, der ihn endlich eingeholt hatte, nach seinem Arm griff. Auch seine Stimme hörte er so entfernt, dass er die Worte nicht verstehen konnte.
Leo fühlte eine seltsame Ruhe. Er hörte ein Rauschen, das die Geräusche der Flammen und die Stimmen übertönte. Es war das Blut in seinen Ohren. Eine Welle rollte auf ihn zu und er bemerkte, wie sich seine Füße wie von allein in Bewegung setzten.
Kurz bevor er die Männer erreichte, brach sie über ihm zusammen. Eine Welle aus reiner heißer Wut, wie er sie noch nie zuvor gespürt hatte.
Dass er hoffnungslos unterlegen war, auf die Idee kam er erst gar nicht. Es wäre ihm auch egal gewesen. Seine Vernunft hatte geradeso noch ausgereicht, um nicht in das brennende Gebäude zu stürmen. Sie genügte aber nicht, um ihn davon abzuhalten, sich auf die Männer zu stürzen.
»Wart ihr es?! Habt ihr sie getötet?!«, schrie er so laut, dass sein Hals brannte.
Die Männer lachten und begutachteten ihn belustigt.
»Sieh mal, Henri, ist das nicht der kleine Lord von gestern?«, sagte einer von ihnen.
»Keine Ahnung, die Puderfressen sehen alle gleich aus für mich«, antwortete der Andere namens Henri.
Leo starrte die Männer für einen Moment an. Es waren tatsächlich die, denen er einen Tag zuvor Almosen gegeben hatte. Ungläubig musterte er sie. Wie konnten diese Männer, denen er vielleicht sogar das Leben gerettet hatte, sein eigenes zerstören?
Das Adrenalin in seinen Adern gab ihm keine Möglichkeit, noch weiter darüber nachzudenken.
Er stürzte sich auf Henri, riss ihn mit sich zu Boden und schlug auf ihn ein.
Seine Faust traf das Gesicht des Mannes. Immer und immer wieder, bis ihm Blut aus Mund und Nase lief. Die Knöchel taten ihm weh, aber Leo spürte nichts als die Wut. Er war außer Atem, seine Hände wanderten zu Henris Kehle und er drückt so fest zu, wie er konnte. Gnadenlos, ebenso wie sie seine Familie ausgelöscht hatten. Henris Hände klatschten gegen seine Arme, bekamen ihn aber nicht zu fassen. Leo merkte, wie etwas unter seinen Fingern nachgab und wie der Mann zuckte und röchelte.
Ein scharfer Schmerz fuhr durch seine Seite und das Nächste, das er sah, war der Kies, auf dem er mit dem Kopf landete. Weit entfernt hörte er François panisch seinen Namen rufen.
Die anderen Männer waren aus ihrer Starre erwacht und hatten ihn von Henri heruntergeholt.
Leo versuchte sich aufzurichten, ein heftiger Tritt in seinen Bauch ließ ihn aber wieder einknicken. Er stöhnte schmerzerfüllt. Die Männer gönnten ihm aber keine Pause. Auf einen Tritt folgte der nächste. Sein Körper bestand aus nichts als Schmerz. Sein Bauch, seine Brust, seine Beine, schließlich auch sein Kopf. Er konnte nicht einmal sagen, wie viele ihn angriffen. Das Einzige, was er wahrnahm, waren der Schmerz und die Schreie der Köchin und von François. Sein Freund versuchte, die Männer von ihm abzubringen, als ihn aber ein gezielter Schlag auf den Kopf traf, ging er ohnmächtig zu Boden. Leo war beinahe neidisch, obwohl er hoffte, dass es ihn nicht schlimm erwischt hatte. Er wollte nur noch, dass es vorbei war. Dass er seine Familie wiedersehen konnte und dass der Schmerz ein Ende fand.
Aber die Männer wussten genau, was sie taten. Sie würden ihn so schnell nicht sterben lassen.
Neben den Tritten bewarfen sie ihn mit Schimpfwörtern, kippten den restlichen Wein über ihn und schienen ihrerseits den verletzten Henri völlig vergessen zu haben.
Leo verstand nur noch, dass sie ihre Arbeit gründlich machen wollten, aber bevor sie den letzten la Fayette ins Jenseits beförderten, wollten sie noch etwas Spaß haben. Unter Spaß verstanden sie offensichtlich, ihn so lange mit Tritten und Schlägen zu peinigen, bis er seiner Familie hinterherreiste.
Leo schmeckte Blut und ihm wurde langsam kalt. Die Schmerzen wurden dumpf und die Welt vor seinen Augen verzerrte sich und wurde kurz schwarz, nur um dann wieder im Feuerschein aufzuflackern. Bewegen konnte er sich nicht mehr. Er wusste nicht, wo er verletzt war, er war aber sicher, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis es endlich vorbei war.
Zu seiner Überraschung ließen die Männer von ihm ab.
»Der Junge ist kaputt, der macht es nicht mehr lange«, meinte einer von ihnen.
»Ja, es ist langweilig, wenn er nicht mehr reagiert«, sagte ein Anderer.
Ein Dritter beugte sich zu ihm herab und klatschte ihm auf die Wange.
»Schau mal, siehst du das Feuer? So wird es allen dreckigen Blaublütern ergehen.« Er gab ihm eine Ohrfeige, die Leo aber kaum spürte. Die hasserfüllten Augen des Mannes brannten heißer als das Feuer in seinem Rücken. »Viel Spaß beim Sterben.«
Damit richtete er sich auf und folgte den Anderen, die sich mit Henri im Schlepptau entfernten.
Leo rang nach Luft und schaute nur benommen zu den Flammen herauf. Ein Teil der Fassade bröckelte und stürzte neben ihm auf den Kies.
Ein Schatten erschien über ihm. War es François? Nein, irgendetwas war anders.
»Sei beruhigt, kleiner Prinz. Dies ist noch nicht das Ende.«
Die Stimme war sanft und gehörte einem Mann, viel mehr konnte Leo aber nicht verstehen.
Er blinzelte nur, spürte, wie er hochgehoben wurde und ein heftiger Schmerz durch seinen Körper fuhr. Danach wurde es dunkel.
***
Als er seine Augen öffnete, sah er nur den hellen Mond am Himmel. War das schon das Jenseits? Er mochte den Mond.
Langsam kamen auch die Schmerzen zurück. Nein, so sehr konnte nur das Leben wehtun.
Er versuchte, den Kopf zu drehen. Unter sich fühlte er kühles Gras und zu seinen Seiten konnte er Rosenbüsche erkennen. Hatte der Fremde aufgegeben, ihn zu einem Arzt zu bringen, und ihn stattdessen an einen schönen Ort zum Sterben gebracht?
Er hatte Angst. Mehr als je zuvor, aber er empfand auch so etwas wie Frieden. Sehr bald würde er seine Familie wiedersehen und keine Schmerzen mehr spüren. Und immerhin war das Letzte, was er sah, nicht das brennende Grab seiner Familie.
»Bist du wach, kleiner Prinz?«, fragte die sanfte Stimme. Sie klang beinahe amüsiert.
Der Mann, der versucht hatte ihn zu retten, kniete nun neben ihm und schaute wohlwollend auf ihn herab. Verschwommen erkannte Leo ihn als denjenigen, mit dem er einige Stunden zuvor getanzt hatte. Er wollte etwas entgegnen, aber stöhnte nur schmerzerfüllt.
»Schhh, spar dir deine letzte Kraft.«
Verwirrt zog Leo die Augenbrauen zusammen. Selbst das tat weh.
Der Mann strich ihm seicht über die Wange.
»Ich gebe dir die Wahl. Du kannst jetzt friedlich einschlafen. Ich verspreche, du wirst keine Schmerzen mehr haben.« Seine Fingerspitzen wanderten zu Leos Hals. »Oder ich schenke dir ein neues Leben. Eines, das niemals enden wird.«
Leo spürte, wie sein Herz verzweifelt gegen seine Brust schlug. Er wusste nicht, was der Mann meinte. Aber er wusste, dass er leben wollte.
»Wie entscheidest du dich? Willst du leben?«
Mit seiner letzten Kraft nickte Leo und krächzte ein leises »Ja«.
Über das Gesicht des Mannes huschte ein triumphierendes Lächeln und bevor Leo realisieren konnte, was passierte, spürte er weiche Lippen auf seinem Hals und einen leichten Schmerz, auf den ein seltsames, kaum greifbares Gefühl folgte. Es war, als wäre er schwerelos.
Langsam wurde ihm immer kälter und seine Hände suchten Halt in der Kleidung des Mannes, aber er war zu schwach, um danach zu greifen.
Der Fremde ließ von ihm ab, seine Lippen waren nun rot und benetzt von Leos Blut.
Leo konnte spüren, wie sein Herz kämpfte und dabei war, den Kampf zu verlieren.
Nun biss der Mann in sein eigenes Handgelenk und bot es Leo dar.
»Trink und lebe.« Sanft drückte er es an Leos Mund und das warme Blut fand seinen Weg.
Le bienfait de l’ignorance
Der Segen der Ignoranz
Die Flammen stiegen höher und Leo schlug mit all seiner Kraft gegen die geschwärzte Tür, aber sie öffnete sich nicht. Die Hitze war unerträglich. Seine Hände waren blutig und schwarz vom Ruß. Er konnte die Schreie seiner Familie durch das Knacken des Holzes und das Rauschen des Feuers hören. Aber egal wie sehr er versuchte, in das Gebäude zu gelangen, die Tür bewegte sich kein Stück. Tränen rannen über sein Gesicht, sie fühlten sich fast so heiß an wie das Inferno vor ihm. In dem Marmor unter seinen Füßen bildeten sich Risse und er konnte die Glut unter ihnen erkennen. Als sie unter seinem Gewicht nachgaben, schrie er lautlos.
Die Kissen waren weich und warm. Hatte er den Traum überwunden? Als Leo seine Augen öffnete, bemerkte er das sanfte Licht der Kerzen und schaute sich um. Er kannte den Ort nicht, die edle Einrichtung erinnerte ihn aber ein wenig an sein Zuhause. Nur war sie im Gegensatz zu seinem alten Zimmer blutrot statt blau. Eine Gestalt saß am Rand seines Bettes. Es war der Mann, der ihn gerettet hatte. Die lockigen, dunkelroten Haare hatte er zu einem Zopf gebunden. Ihre Farbe erinnerte Leo an edles Mahagoni. In dem schwachen Licht erschienen seine feinen Gesichtszüge noch mehr wie die einer Statue als in dem Salon in der vorherigen Nacht.
»Du hast es geschafft, kleiner Prinz«, sagte er mit einem zufriedenen Lächeln.
Als Leo seine langen Eckzähne sah, wurde ihm langsam bewusst, was mit ihm passiert war. Was nicht bedeutete, dass er es glauben konnte. Ihn erfasste ein fürchterliches, beinahe schwereloses Gefühl, als fiele er plötzlich haltlos in die Tiefe. War dies ein Fiebertraum? Er konnte sich noch an Bruchstücke der vorherigen Nacht erinnern, ebenso wie daran, dass die darauffolgenden Stunden alles andere als angenehm gewesen waren. Die Albträume waren sicher nicht nur eine Auswirkung des Fiebers, aber für den Moment schob er die grauenhaften Bilder zur Seite und konzentrierte sich auf den Mann neben ihm. Zuvor hatte Leo es nicht richtig erkennen können, aber nun sah er, dass die Augen seines Gegenübers tatsächlich von einem tiefen Rot waren. Sein Blick zog Leo erneut in den Bann, wenn auch dieses Mal nur leicht. Er war zu aufgewühlt, um sich dem Gefühl hinzugeben.
»Du bist …« Leo kam nicht weiter, seine Stimme wollte ihm nicht gehorchen.
»Dein Retter? Ausgesprochen gutaussehend?«, erwiderte der Mann belustigt, obwohl ihm bewusst zu sein schien, worauf Leo hinauswollte.
»Ein Vampir …«, krächzte dieser und zog seine Bettdecke instinktiv etwas höher. Seine Hände zitterten. Er konnte kaum glauben, dass er die Worte über die Lippen brachte, klangen sie doch so absurd.
»Schlauer kleiner Prinz.« Der Mann lachte. »Man nennt mich Laurent.«
Er beugte sich zu Leo herab und strich ihm über die Wange. Seine Finger waren kühl. Die Berührung jagte Schauer über Leos Rücken.
»Du kannst dich so lange ausruhen, wie du möchtest. Du hast jetzt alle Zeit der Welt.«
Nachdem Laurent sich von dem Bett erhoben hatte, deutete er auf einen Stuhl, auf dem ein kleiner Stapel sorgsam gefaltete Kleidung lag. »Deine alten Kleider waren leider nicht mehr zu retten.«
Leo nickte nur und bevor er sehen konnte, wie der Vampir den Raum verließ, hatte der Schlaf ihn schon geholt.
***
Den Kerzen nach zu urteilen hatte er nicht lange geschlafen. Sein Körper fühlte sich seltsam leicht und schwer zugleich an und Leo erwartete, dass die Schmerzen wiederkamen, als er sich langsam aus dem Bett kämpfte. Doch sie kamen nicht. Seine Wunden waren verheilt, er fühlte sich aber noch immer benommen. Vorsichtig ging er zu einer Kommode, auf der ein Spiegel und eine Schale mit Wasser standen. Als er sein Spiegelbild sah, schreckte er zurück.
Es hatte sich so sehr verändert. Seine Haut war noch blasser als gewöhnlich, seine Eckzähne ebenso lang und spitz wie die von Laurent. Die wilden blonden Haare, die ihm über das Gesicht bis zu den Ohren fielen, waren voller und glänzender als zuvor. Am auffälligsten aber waren seine Augen, die nun nicht mehr blaugrau waren, sondern tiefrot. Halluzinierte er? Vielleicht war dies nur ein weiterer Albtraum? Aber es fühlte sich anders an als die vorherigen Träume. Auch sein Fieber hatte sich gelegt und seine Haut war ungewohnt kühl, fast schon zu kalt. Die einzige sichtbare Verletzung war der Bissabdruck von Laurent in seiner Halsbeuge. Leos Knie gaben nach und er sackte zu Boden. Er schaute auf seine zittrigen Hände, die nun ebenfalls so schrecklich bleich waren. Bläuliche Adern durchzogen sie und das Rosa der Fingernägel war nun leicht violett. Hastig schloss er die Augen und drückte seine kühlen Handflächen auf die Lider. In seinem Kopf herrschte ein Sturm.
Wenn er hier war, wo war dann François? Leos Magen verkrampfte sich bei dem Gedanken. Die Männer hatten ihn zurückgelassen und seinem Freund keine Beachtung geschenkt. Vielleicht war wenigstens ihm ein kleines bisschen Glück zuteilgeworden? Und was war mit seiner Familie? Hatte das Feuer sie alle geholt?
Mit einem Seufzen vergrub Leo das Gesicht in seiner Armbeuge. Er sollte wenigstens dankbar über seine Rettung sein. Die Erinnerungen und die neuen Eindrücke waren aber zu unwirklich, zu überwältigend. Konnte es wirklich sein, dass es Wesen gab, die den Tod besiegten? Waren sie mehr als düstere Legenden? Er wollte keines von ihnen sein. Er wollte leben.
Die Kerzen waren bereits erloschen, als Laurent ihn zusammengekauert auf dem Dielenboden fand. Leo blinzelte und wischte sich mit dem Ärmel seines Nachthemdes über das Gesicht. Leise schniefte er und versuchte zu verstecken, dass er geweint hatte.
»Mais non, mon petit«, sagte Laurent leise und beugte sich zu ihm hinab. »Was ist denn los?«
In seinen dunkelroten Augen spiegelte sich Besorgnis. Er ging neben Leo in die Hocke und strich ihm die wilden blonden Haare aus dem Gesicht.
Umständlich setzte sich Leo auf und starrte betreten auf seine nackten Füße. Wieder erinnerten ihn die bleiche Haut und die blauen Adern an das, was er nicht glauben konnte. Nicht glauben wollte.
»Leg dich wenigstens wieder ins Bett, Chéri. Ist es, weil du gesehen hast, wie du jetzt aussiehst?«, fragte Laurent mit sanfter Stimme und sein Blick wanderte zu dem Spiegel auf der Kommode.
Leo nickte nur stumm. Ihm fehlten die passenden Worte. Gab es überhaupt Worte für etwas, was sich gegen jedes Gesetz der Natur stellte?
»Du bist exquisit, kleiner Prinz. Ein Meisterwerk der Schatten, ein roter Diamant, der die Dunkelheit der Ewigkeit erleuchtet.« Laurent strich mit den Fingerspitzen über Leos Lippen bis zu seinem Kinn und hoben es, damit er seinem Blick begegnen konnte. Den Mund des Vampirs zierte ein verspieltes Lächeln.
Der Schauer, der nun über Leos Rücken lief, war überraschend angenehm. Er schnaubte leise.
»Und ich dachte, meine Komplimente wären übertrieben,« krächzte er und Laurents Lächeln wandelte sich zu einem Grinsen.
»Komm.« Behutsam half er Leo auf die Füße und führte ihn zurück zu dem großen, von roten Vorhängen gesäumten Himmelbett. Dort gab er sich erst zufrieden, als Leo brav unter die Decke geklettert war und zu ihm emporschaute.
»Wo sind wir hier?«, fragte Leo erschöpft. Langsam kam auch seine Stimme zurück.
»In Paris. Im Stadtteil le Marais. Ich habe hier ein hübsches Stadthaus. Nicht so prunkvoll wie dein Chateau, aber es kann sich sehen lassen.«
Leo nickte nachdenklich. »Wie lange habe ich … geschlafen?«
Nicht, dass es mit einem gewöhnlichen Schlaf zu vergleichen gewesen wäre.
»Fast einen ganzen Tag. Deine Verwandlung ging schnell, du lagst schließlich auch ohne mein Zutun bereits im Sterben.« Laurent erklärte es beiläufig, fast so, als wäre es nicht der Rede wert.
»Ich habe so viele Fragen.« Leo drehte sich auf die Seite und atmete tief durch. Dabei bemerkte er, dass es sich seltsam anfühlte. Er stellte überrascht fest, dass er nicht mehr atmete. Erschrocken schaute er zu Laurent, dieser lachte aber nur.
»Beruhig dich, kleiner Prinz, das ist ganz normal. Schließlich bist du nicht mehr lebendig im eigentlichen Sinne.«
»Also gibt es sie wirklich? Vampire? Untote?« Leos Hände krallten sich in Bettdecke, er wusste nicht, ob er die Antwort hören wollte.
»Uns, nicht »sie«. Ja, uns gibt es, mon Cher. Wir verstecken uns gut vor den Menschen. Ich verstehe, dass es schwer für dich ist, mir zu glauben.« Sein Lächeln war sanft und verständnisvoll, in seinen Augen lag ein Funkeln. »Ich empfehle dir, dir darüber erst mal nicht den Kopf zu zerbrechen. Mit der Zeit wird es leichter, das zu akzeptieren.«