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**Lass dich vom Klang der Wellen verzaubern** Gerade noch war es Maylas größtes Problem, den schwindelerregenden Flug nach Gran Canaria zu überstehen, als sie im nächsten Moment in eine fremde Welt eintaucht. Die Begegnung mit dem rätselhaften und so unglaublich anziehenden Sirenenkrieger Atlan rückt plötzlich alles in ein anderes Licht und lässt sie an ihrer Herkunft zweifeln. Zusammen tauchen sie hinab in ein Reich unter Wasser, dessen mystische Bewohner Mayla fremd und gleichzeitig seltsam vertraut erscheinen. Dort wird ihr eine Wahrheit über sich selbst offenbart, die ihr gesamtes Leben verändert: Auf einmal muss sie zwischen zwei Fronten um ihr Leben und für die Liebe kämpfen … Das Finale einer magisch-mystischen Dilogie, die zum Träumen einlädt. Endlich Neues von der beliebten Autorin Lia Kathrina! Auch in ihrer neuen Reihe schafft sie es, mit ihrer unverwechselbaren Stimme fantastische Welten zu kreieren, aus denen man nie wieder auftauchen möchte. Leser*innen über die »Essenz der Magie«-Reihe von Lia Kathrina: »Einfach super.« »Wow!« »Note 1!« »Ich wollte dieses Buch nicht mehr aus der Hand legen.« //Dies ist der zweite Band der magischen Fantasy-Buchserie »Prinzessin der See«. Alle Bände der Reihe: -- Prinzessin der See 1: Melodie des Ozeans -- Prinzessin der See 2: Stille der Wellen -- Prinzessin der See: Alle Bände der romantischen Fantasy-Buchserie in einer E-Box// Diese Reihe ist abgeschlossen.
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Impress
Die Macht der Gefühle
Impress ist ein Imprint des Carlsen Verlags und publiziert romantische und fantastische Romane für junge Erwachsene.
Wer nach Geschichten zum Mitverlieben in den beliebten Genres Romantasy, Coming-of-Age oder New Adult Romance sucht, ist bei uns genau richtig. Mit viel Gefühl, bittersüßer Stimmung und starken Heldinnen entführen wir unsere Leser*innen in die grenzenlosen Weiten fesselnder Buchwelten.
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Lia Kathrina
Prinzessin der See 2: Stille der Wellen
**Lass dich vom Klang der Wellen verzaubern**Gerade noch war es Maylas größtes Problem, den schwindelerregenden Flug nach Gran Canaria zu überstehen, als sie im nächsten Moment in eine fremde Welt eintaucht. Die Begegnung mit dem rätselhaften und so unglaublich anziehenden Sirenenkrieger Atlan rückt plötzlich alles in ein anderes Licht und lässt sie an ihrer Herkunft zweifeln. Zusammen tauchen sie hinab in ein Reich unter Wasser, dessen mystische Bewohner Mayla fremd und gleichzeitig seltsam vertraut erscheinen. Dort wird ihr eine Wahrheit über sich selbst offenbart, die ihr gesamtes Leben verändert: Auf einmal muss sie zwischen zwei Fronten um ihr Leben und für die Liebe kämpfen …
Buch lesen
Vita
Danksagung
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© David Milan
Lia Kathrina lebt mit ihren zwei Katzen und unzähligen Büchern und Manga in der lauten, vielfältigen und unfreundlichen Stadt Berlin – und möchte niemals weg. Sie arbeitet als freiberufliche Pressereferentin und im Office einer Berliner Firma. Nebenbei betreibt sie einen YouTube-Kanal über Bücher. Von klein auf dachte sie sich mit ihrer kleinen Schwester Geschichten aus und beschloss 2017, endlich ihren Traum zu erfüllen und ein Buch zu schreiben.
Ich sagte einmal, ich sei jung und hätte nichts zu verlieren.
Verdammt, habe ich viel verloren.
Mayla
Für Josi Z.
Weil du mir 2020 so sehr geholfen hast – in allen Lebensbereichen. Dank dir konnte ich besser werden.
Mit voller Wucht schlage ich den Deckel meines leeren Koffers zu, reiße den Verschluss herunter und befördere das Ding in die hinterste Ecke meines Zimmers. Noch immer kann ich nicht begreifen, wie es dazu kommen konnte. Womit habe ich das verdient? Ja, ich wollte die Sirenenprinzessin sein und mit meinem Seelenverwandten Atlan eine Beziehung führen. Ja, ich habe akzeptiert, dass meine beste Freundin Lucia die Auserwählte ist und ich nur der Sidekick. Ja, es war für mich auch – nach zugegeben langer Bedenkzeit – irgendwie in Ordnung. Vor allem, da meine Gefühle für Atlan wohl doch nicht dieses heiße Feuer waren, das ich für Noah empfinde. Aber ich bin unter keinen Umständen damit einverstanden, dass ich nicht nur ein Sidekick bin, sondern auch noch der bösen Spezies angehöre.
Wütend greife ich nach einem der vielen Kissen auf meinem Bett und schleudere es durch mein Zimmer, dabei reißt es einen meiner Pokale herunter, die ich für meine Schwimmkünste erhalten habe. Betont langsam steuere ich auf meine Kommode zu, die übersät ist mit Auszeichnungen von Schwimmwettkämpfen. Im Sonnenlicht glänzen sie schön, als würden sie mich veralbern und mir sagen: Du hast uns nicht verdient. Goldene Medaillen hängen fein säuberlich aufgereiht an der Wand. Tante Carla hat sie vor gut zwei Jahren angebracht, damit ich direkt nach dem Aufwachen stolz auf meine Erfolge blicken kann. Doch jetzt verhöhnen sie mich. Denn ich bin keine außergewöhnliche Schwimmerin, sondern eine verdammte Betrügerin.
Mit einem lauten Aufschrei wische ich alles von der Kommode, scheppernd fliegen die Pokale gegen die Wand und veranstalten einen Heidenkrach. Als Nächstes reiße ich jede einzelne Medaille runter, manche samt Nägeln. Nichts davon habe ich mir ehrlich verdient.
Ich spüre die Wut in jeder Zelle meines Körpers, schon seit meiner Ankunft fühle ich mich ruhelos und unter Strom. Das Flüstern in meinem Kopf raubt mir jeden Nerv und ich setze alles daran, es zu übertönen.
Das blecherne Geräusch der auf das Laminat fallenden Medaillen klingt in meinen Ohren wie ein Echo. Doch es reicht mir immer noch nicht.
Auf meinem Schreibtisch steht ein gerahmtes Foto von mir, wie ich überglücklich einen Pokal in die Kamera halte. Alegria grinst breit und macht ein Peace-Zeichen, während Tante Carla sich die Tränen aus den Augen wischt. Lucia hat dieses Bild geschossen.
Ich schleudere es, begleitet von einem lauten Aufschrei, gegen meinen Kleiderschrank. Das Klirren von zerbrechendem Glas schwingt in der Luft. Ich atme schwer ein und aus.
Mein Blick fällt auf den Spiegel rechts von mir an der Wand. Ein Ganzkörperspiegel, den ich unbedingt haben wollte, weil es im Heim immer nur kleine Spiegel über den Waschbecken gegeben hatte. Mein weißer Fleck am Hals ist so präsent wie nie zuvor. Dieses verdammte Mistding!
Ich will ihn nicht mehr sehen. Zunächst presse ich die Hand auf meinen Hals, aber allein der Gedanke, dass ich jeden Tag aufwache und direkt diesen beschissen Fleck sehen muss, bringt mich um. Neben meinem Bett liegt immer noch der Haufen der herausgerissenen Klamotten aus dem Koffer. Wahllos greife ich danach und schleudere alles gegen den Spiegel. Doch offensichtlich haben meine Kleider nicht die gewünschte Wirkung. Es klirrt nur, als die Gürtelschnalle meiner Hose gegen die Oberfläche donnert. Also müssen als Nächstes meine Turnschuhe dran glauben. Doch dieses Scheißteil will einfach nicht kaputtgehen.
Er muss zerbrechen! Er muss einfach, denn wenn er nicht zerbricht, habe ich das Gefühl, selbst in tausend Stücke zu zerbersten. Meine Seele nicht beisammenhalten zu können.
Mit voller Wucht schlage ich mit der Faust gegen das Glas. Beim dritten Mal hat es endlich einen Sprung. Mein Gesicht spiegelt sich, durchzogen von Rissen. Ich sehe so kaputt aus, wie ich mich fühle. Ich reiße das Teil von der Halterung und hebe es über meinen Kopf, um es dann mit Schwung auf den Boden zu schmeißen. Dabei laufen mir die Tränen über die Wangen. Ich bin ein Monster, ein verdammtes Monster!
»Mayla! Es ist Siesta.«
Tante Carla reißt die Tür auf und selten habe ich so einen geschockten Gesichtsausdruck bei ihr gesehen. Sie ist sonst die Ruhe in Person – außerhalb der Küche – und das letzte Mal hat sie so entgeistert geschaut, als sie mich dabei erwischte, wie ich mit Blessuren nach einer Prügelei nach Hause kam. Meine Klamotten liegen kreuz und quer im Raum verteilt, meine Pokale, teilweise zerbrochen, haben Schrammen an der Kommode und der Wand hinterlassen und über allem thronen die Scherben meines Spiegelbilds.
»Was hast du hier veranstaltet, Señorita?«
Doch ein Blick auf mein verweintes Gesicht und ihre angespannten Züge verwandeln sich in eine sorgenvolle Miene.
»Komm her!« Sie breitet die Arme aus und auch wenn ich sie mittlerweile um einen Kopf überrage, werfe ich mich an ihre Brust. Die Scherben knirschen unter meinen Schuhsohlen. Tante Carlas Wärme umschließt mich augenblicklich und macht alles nur noch schlimmer. Ich kriege keine Luft mehr, weil ich so sehr schluchzen muss und die Tränen unaufhörlich fließen.
»Ich bin ein Monster«, bringe ich irgendwie hervor, immer wieder unterbrochen von viel zu schnellen Atemzügen.
»Meine Señorita ist kein Monster.«
Ich spüre, wie sie innehält und das Chaos hinter mir betrachtet.
»Nur etwas ungehalten.«
Natürlich weiß Tante Carla nichts von dem, was auf Gran Canaria vorgefallen ist. Als ich heute mit tiefen Augenringen vor unserer Eingangstür stand, war sie völlig überrumpelt von meinem Anblick. Verkrustete Haare, schmutzige Kleidung, all das spricht nicht gerade für eine gute Verfassung.
»Ich habe gerade eine Tapasplatte vorbereitet. Komm, wir setzen uns nach unten.« Ganz getreu ihrem Motto, gutes Essen könne alle Probleme lindern. Aber in diesem Fall zweifle ich das ganz stark an. Vor allem, da mir klar wird, dass die Spezies, zu der ich seit Neuestem gehöre, sich von Seelen ernährt.
O Gott. Meine Verwandten haben Alegrias Seele auf dem Gewissen. Mir ist so schlecht, dass mein Magen sich allein schon gegen den Gedanken an feste Nahrung wehrt. Klar, wahrscheinlich will er lieber eine delikate Seele verspeisen.
Ohne auf meine grunzenden Widerlaute zu reagieren, schleppt mich Tante Carla nach unten ins Lokal.
Unsere Wohnung befindet sich in der Altstadt von Barcelona über ihrer kleinen urigen Bar. Da gerade Siesta ist, haben wir geschlossen. Gegen achtzehn Uhr öffnet Tante Carla wieder ihre Tore, um nicht nur hungrige Touristen zu bedienen, sondern auch viele Bewohner der Stadt. Jeder besucht gern unser Haus.
Ben – die Küchenhilfe – ist noch nicht da. Deshalb sind wir nur zu zweit.
Die Bar ist nicht besonders groß, dafür hoch, weshalb Tante Carla als erste Maßnahme eine zweite Etage hat einziehen lassen, die aus Holzdielen besteht. So bekommt man immer noch genug vom Trubel mit, aber es gibt mehr Platz für die Gäste. Unsere Bar El Tropezon befindet sich an einer kleinen Kreuzung direkt an der Ecke der Carrer del Regomir. Das Gebäude gehört zu Recht in die Altstadt, es ist aus großen sandfarbenen Steinen gebaut und steht schon seit Ewigkeiten hier.
Wir setzen uns an den Tisch direkt neben der Küche. Tante Carla holt ein Tablett mit mehreren kleinen Keramikschüsseln vom Tresen und stellt es zwischen uns auf die runde hölzerne Oberfläche. Normalerweise würde ich gar nicht an mich halten können und mich gerade nach diesem ganzen Urlaubsessen über ihre hausgemachten Tapas hermachen. Aber allein der Anblick von Albóndigas, Chorizo und der heißen Pimientos de Padrón löst bei mir ein beklemmendes Gefühl aus.
»Entschuldige, aber ich kann gerade nichts essen.«
Die warme Hand von Tante Carla liegt schneller auf meiner Stirn, als die Gäste normalerweise das Lokal stürmen, sobald sie den Schlüssel im Schloss dreht. Denn ich verschmähe ihr Essen nie.
»Okay, Señorita, du sagst mir jetzt, was los ist.«
Aber selbstverständlich erkläre ich ihr haarklein, wie ich meine leibliche Mutter gefunden habe und dass sie das größte Ungeheuer im Meer ist, einen meiner Freunde getötet und die Seele von Alegria ausgesaugt hat. Gar kein Problem. Gut, vielleicht war meine Erzeugerin das alles nicht persönlich, aber ihre Sekte hat es getan.
Natürlich kann ich Tante Carla nichts davon erzählen und vergrabe stattdessen mein Gesicht in den Händen.
Der Anblick von Noahs schockgeweiteten Augen verfolgt mich jedes Mal, wenn ich meine schließe. Selbst beim Blinzeln schiebt sich sein traumatisiertes Gesicht vor meinen Geist.
Ich kann ihr nicht in die Augen sehen und gestehen, was für ein Monster ich bin. Sie hat sich eine schreckliche Kreatur ins Haus geholt und hatte keinen blassen Schimmer davon.
Ich weiß nicht, wie mein Gesicht nach der Verwandlung ausgesehen hat, aber der Anblick meiner mit Schuppen überzogenen Hände hat mir gereicht. Zwischen meinen Fingern haben sich schreckliche Schwimmhäute gebildet und die Fingernägel verwandelten sich in Krallen.
Meine Wut verraucht langsam, dafür steigen mir wieder die Tränen in die Augen, während ich auf meine menschlichen Finger starre. Sie sind jetzt normal, ja, aber in mir schlummern schreckliche Gene.
»Señorita, es bricht mir das Herz, dich so zu sehen. Du kannst mir doch alles sagen.« Beruhigend umfasst sie meine Hände.
Sofort entziehe ich sie ihr wieder, ich will nicht, dass sie diese Klauen berührt. Ein verletzter Ausdruck huscht über Tante Carlas Züge und augenblicklich bereue ich meine Reaktion. Dabei will ich sie doch nur bewahren – vor mir.
»Es tut mir leid, es ist so viel komplizierter, als du es dir ausmalen kannst.«
Ihre Augen nehmen diesen gütigen Ausdruck an, den sie immer haben, wenn sie mir zu verstehen geben will, dass sie das auch alles schon einmal durchgemacht hat. Normalerweise würde ich ihr zustimmen. Ginge es nur um das gesamte Drama rund um die große Liebe, würde ich ihr das erzählen. Oder wenn es mein einziges Problem wäre, dass Noah mich angesehen hat, als wäre ich der Teufel höchstpersönlich. Dann wären ihre Arme ein willkommener Zufluchtsort. Aber es ist der Grund, warum er mich so angesehen hat.
»Ich bin sicher, egal was es ist, du schaffst das. Du bist so viel stärker, als es andere sind.«
Jetzt muss ich mich doch wie ein kleines Mädchen auf ihren Schoß flüchten. Sie lacht auf und schließt ihre Arme um mich. Ich mache mich so klein wie möglich. Sanft wiegt sie mich hin und her, ich vergrabe mein Gesicht an ihrer Schulter und schluchze einmal auf. Tante Carla streicht mir über meine wirren Locken und beginnt dabei zu summen.
So sitzen wir eine Weile da, bis ich mich wieder beruhigt habe. Zaghaft greife ich nach einer Paprika. »Jetzt ist dein Essen kalt.«
»Das ist okay, ich kann noch viel mehr davon machen.«
Sie lässt mich wieder los und ich rutsche von ihrem Schoß. Die Wärme ihrer Hand überträgt sich auf meine Wange, als sie mir eine letzte Träne wegstreicht.
»Du schaffst das schon, Mayla«, sagt sie und steht auf, um in der Küche die letzten Vorbereitungen für die Nachmittagsgäste zu tätigen. Ben müsste auch bald kommen. Also wische ich mir mit dem Handrücken über die Augen und atme einige Male tief durch.
Ein Klopfen an einer der Fensterscheiben lässt mich zusammenzucken.
Normalerweise liebe ich den Charme der schmalen Tür, die zu drei Vierteln verglast ist und ansonsten aus dunklem Holz besteht. Daneben ist ein riesiges Fenster in die Fassade eingelassen, genauso aufgebaut wie die Eingangstür. Deshalb können viele unserer Kunden in unsere Tapasbar schauen, wenn wir bereits die Rollläden hochgezogen haben. Doch jetzt ist es mir peinlich, dass jemand mich auf dem Schoß von Carla gesehen haben könnte.
Ich habe große Lust, den ungeduldigen Besucher stehen zu lassen. Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass wir noch eine halbe Stunde haben, bis die Bar geöffnet wird. Allerdings hat mich der Besucher bestimmt schon gesehen. Mit einem letzten tiefen Atemzug straffe ich meine Schultern und wende mich der Eingangstür zu.
»Atlan?«, hauche ich atemlos.
Er steht leibhaftig vor dem Fenster unserer Tapasbar und betrachtet mich mit einem leichten Lächeln, dabei winkt er sogar ein wenig unbeholfen. Seine braunen Haare sind feucht. Die Spitzen hängen ihm im Gesicht, was ihn noch besser aussehen lässt. Ich stürze zur Tür und drehe den Schlüssel einmal herum, um sie zu öffnen. Er breitet die Arme aus und ich drücke ihn fest an mich.
»Was machst du denn hier?«
»Dich suchen«, sagt er mit seiner dunklen Stimme und drückt mir einen Kuss auf die Stirn. Ich lasse Atlan los und betrachte ihn eingehend.
Meine Gefühle für ihn sind nicht verschwunden, sie sind nur kein Vergleich zu denen für Noah.
Noah!
Die Erinnerung an gestern will sich wieder nach oben kämpfen, doch ich ringe sie nieder, zwinge mich an etwas völlig anderes zu denken. Aber wie könnte ich so egoistisch sein und nicht mehr an Noah denken. Ich bin wirklich ein Monster geworden. Mein Herz wird augenblicklich schwer und presst mir allen Sauerstoff aus der Lunge.
Wenn Atlan hier ist, dann ist Noah vielleicht nicht weit. Sie haben ihn doch freigelassen und er hält jetzt sein Versprechen, zu mir zurückzukommen, oder? So muss es sein!
In den paar Tagen hat Atlan sich so gut wie nicht verändert, nur der Ausdruck in seinen Augen wirkt beunruhigt. Kein gutes Zeichen. Ein mieses Gefühl macht sich in meiner Magengegend breit. Noah muss hier sein – er muss einfach!
»Wie hast du mich gefunden?« Ich kann mich nicht erinnern ihm erzählt zu haben, wo sich Tante Carlas Tapasbar befindet, und Barcelona ist nicht so klein, dass man sich mal eben durchfragen kann.
»Seelenverwandtschaftsding.«
Skeptisch betrachte ich ihn, bis er die Augen verdreht.
»Lucia hat mir gesagt, wo du wohnst.«
Natürlich, das hier ist Lucias zweites Zuhause. Direkt nach der Schule sind wir drei Freundinnen – Alegria, sie und ich – fast jeden Tag hierher gekommen.
Ich freue mich zwar Atlan zu sehen, aber das komische Gefühl will einfach nicht verschwinden. Vor allem sieht er sich derart suchend um, als rechnete er damit, dass noch jemand bei mir ist.
Da wird mir ganz anders. Sie haben Noah nicht freigelassen. Deshalb hält Atlan bei mir nach ihm Ausschau. Mit dieser Erkenntnis ebbt meine Freude über unser Wiedersehen augenblicklich ab. Mein Herz stolpert aus seinem Rhythmus, als wäre ihm jetzt schmerzlich bewusst geworden, wie sehr es die Gegenwart von Noahs Lachen vermisst. Noch immer versuche ich die Erinnerung an gestern zu verdrängen. Sie von mir wegzuschieben, als wäre es nie passiert. Wenn ich auch nur für einen Moment unaufmerksam bin, dann sehe ich Noahs schockierten Gesichtsausdruck vor meinem inneren Auge.
»Er ist nicht hier«, wispere ich und lasse von Atlan ab.
»Du weißt, dass Noah verschwunden ist?«
»Er wollte zu mir nach Gran Canaria zurückkehren. Wie du siehst, bin ich hier bei dir, also ist er nicht gekommen.«
Ich könnte mich ohrfeigen, warum sage ich ihm nicht die Wahrheit? Aber dann müsste ich ihm beichten, was ich erfahren habe. Und solange es niemand weiß, ist es auch nicht wahr, oder? Aber trotzdem kann ich Noah nicht diesen Bestien überlassen.
»Komm erst mal rein.« Ich ziehe ihn an seinem schwarzen Shirt, das seine Muskeln betont, in die Bar. Seine Haare zeugen davon, dass er vermutlich erst vor Kurzem aus dem Wasser gestapft ist. »Wo hast du so schnell die Kleidung hergeholt? Du musst doch gerade erst aus Aquarta kommen. Oder?«
Ich bugsiere ihn an den runden Holztisch, der direkt in der Mitte des Raumes steht. Es ist mein Lieblingstisch, an dem ich immer sitze, außer ich esse mit meiner Tante.
»Ist jemand gekommen?« Tante Carla steckt ihren Kopf aus der Küche, alarmiert von der kleinen Glocke über unserer Tür.
Die Neugierde blitzt sofort in ihren Augen auf, als sie ihre Hände an einem Geschirrhandtuch abtrocknet. Atlan kommt nicht dazu, mir zu antworten, denn Tante Carla steht schon vor uns.
»Wer ist das denn?«
Dabei strahlt sie so breit, wie ich es selten gesehen haben. Ihr Ausdruck wirkt auf einmal viel jugendlicher.
»Tante Carla, das ist Atlan. Ein Freund von mir«, stelle ich ihn artig vor.
Er reicht ihr die Hand. »Es freut mich, Sie kennenzulernen. Mayla hat schon viel von Ihnen erzählt.«
Ihre Wangen färben sich rot und das sehe ich sonst nur, während sie ihren Lieblingsfilm schaut und ganz aufgeregt ist. Ich kann es nicht fassen, was für eine Wirkung Atlans Sirenengene auf sie haben.
Das erklärt allerdings auch seine Angst davor, dass ich als Mensch keine echten Gefühle für ihn aufbringen könnte. Nur dumm, dass genau dieser Punkt mittlerweile außer Frage steht. Meerhexen werden wohl eher weniger von den Sirenengenen beeinflusst. Eine bittere Erkenntnis.
Dennoch bin ich froh, dass Atlan mit mir Schluss gemacht hat, sonst hätte ich Noah niemals mit anderen Augen gesehen. Bei jedem Gedanken an ihn sticht es in meiner Brust. Er ist immer noch bei ihnen dort draußen. Hätten sie ihn freigelassen, dann wäre dieses Wiedersehen heute anders abgelaufen. Noah hätte mich in die Arme genommen und versprochen, dass wir unsere Liebe hinbekommen, egal was uns im Weg steht. Er hat mir doch gesagt, dass er mich liebt. Kann er mich dann auch mit all meinen Facetten lieben? Ich wage es zu hoffen.
»Mayla?« Atlans Stimme holt mich aus meinem Gedankenkarussell. Tante Carla ist wieder in der Küche verschwunden und er berührt mich vorsichtig an der Schulter. »Ich hatte wirklich gehofft, dass Noah bei dir ist. Ich mache mir langsam echt Sorgen.«
Natürlich macht er sich Sorgen, schließlich ist Noah sein bester Freund. Ich kann hier nicht rumsitzen und mein altes Leben wieder aufnehmen. Dabei wünsche ich mir im Moment nichts sehnlicher, als alles zu vergessen und wegzulaufen. Aber nicht, wenn Noah in Gefahr ist.
»Ich werde dir helfen, ihn zu finden.«
Atlan betrachtet mich skeptisch und seine dunkelblauen Augen verdüstern sich noch eine Spur mehr.
»Du kannst mir nicht helfen, Mayla. Du bist ein Mensch.«
Ach ja, sein Lieblingssatz. Ich funkle ihn böse an, doch er zuckt nur mit den Schultern. Mit einem Blick in Richtung Küche senke ich meine Stimme, damit Tante Carla uns nicht hört. »Ich befürchte, leider doch. Lass uns gehen.«
Ohne Protest steht Atlan auf und folgt mir in Richtung Ausgang. Noah hätte ich zuerst überreden müssen, unsere Bar, ohne etwas zu essen, wieder zu verlassen. Ich vermisse ihn.
»Ich bin noch mal weg«, rufe ich in Richtung Küche und ziehe dann schnell die Tür hinter uns ins Schloss, damit Tante Carla uns nicht aufhalten kann.
Es ist immer noch warm, die kleinen Straßen von Barcelona haben die Mittagshitze gespeichert. Unser Lokal liegt in der Altstadt, nicht weit entfernt vom Meer. Früher habe ich genau das an unserer Lage geliebt, aber seit gestern bin ich mir nicht mehr so sicher, ob ich nicht doch weiter vom Ozean entfernt leben möchte. Denn ich höre sie flüstern. Ich kann es nur mit meinen Wutausbrüchen übertönen oder wenn ich mich auf etwas anderes konzentriere.
»Du bist seltsam geworden.«
Atlan geht neben mir durch die schmale Straße. Sie ist gerade mal breit genug für ein Auto. Bisher hat er geschwiegen und ist mir einfach über die Steinplatten gefolgt. Die Straße geht nach nur einem Block in eine enge Gasse über. Wenn wir nebeneinander her laufen, müsste jeder von uns nur den Arm ausstrecken und unsere Finger würden das kühle Gestein der Wände berühren. Nichts für Leute mit Platzangst.
Auch am Tag verirren sich keine Sonnenstrahlen zwischen die hohen Mauern und lassen die Gegend düster wirken. Zwei Häuserblocks dauert es, bis wir auf eine der Hauptstraßen, die Ronda Litoral, treten können und uns die Sonne wieder empfängt. Augenblicklich ist auch der Straßenlärm präsent. Die innere Unruhe von Atlan überträgt sich auf mich und ich kann seine Sorge verstehen.
»Mayla, ich freue mich, dass es dir gut geht«, er seufzt und schirmt seine Augen gegen die plötzliche Helligkeit ab, »dass du zurück in deinem alten Leben bist … Aber ich habe keine Zeit, mit dir hier herumzulaufen.«
In seinen Augen muss ich mich wirklich wie eine Verrückte aufführen. Wie sollte ihm ein einfacher Mensch schon helfen können? Vermutlich gar nicht.
»Es ist etwas passiert, Atlan.«
Er wird hellhörig und bleibt stehen. Seufzend ziehe ich ihn am Arm weiter über die viel befahrene Straße, die sich über insgesamt sieben Spuren erstreckt. Auf der anderen Seite angekommen ist es nicht mehr so weit zum Meer, man kann es schon sehen. Zum Strand ist es aber noch ein Stück, da wir erst am Hafen von Barcelona angelangt sind.
»Ich kann dir nicht sagen, warum genau, aber ich spüre die Meerhexen. Es könnte sein, dass wir Noah auf diese Weise finden.«
»Was?« Er bleibt wieder stehen. Direkt vor einem Restaurant am Hafen. Wenn wir mit den vielen Unterbrechungen weitermachen, brauchen wir ewig zum Strand. »Warum kannst du es mir nicht sagen? Seit wann verheimlichst du mir etwas?«
Ich verschränke die Arme vor der Brust und ziehe die Augenbrauen hoch. »Ich denke, das Recht auf meine Geheimnisse hast du abgegeben, als du mich verlassen hast.«
Wenigstens hat er den Anstand, betroffen auszusehen. Er schließt wieder zu mir auf und folgt mir an den vielen Buden entlang.
»Hat es etwas mit Mayim zu tun?«, fragt Atlan und ich nicke. Es ist nicht gelogen, schließlich hat mir das Wesen vorenthalten, dass ich eine Meerhexe bin, und mich ins offene Messer laufen lassen. Ein weiterer Punkt auf meiner Liste, der meine Wut wieder hochkochen lässt. Mayim hat von Anfang an gewusst, dass ich nicht die Sirenenprinzessin bin. Als das Wesen mir das erste Mal in Sirenengestalt begegnet ist, hat es gesagt, ich wäre sein Kind. Nur blöd, dass es damit kein Sirenenkind gemeint hat.
Aber am meisten stört es mich, dass Mayim Noah hätte retten können und nichts unternommen hat.
»Du und Mayim, ihr habt doch so eine merkwürdige Verbindung.« Atlans Gemurmel wäre fast im Geschnatter der Touristen untergegangen.
Ich lache trocken auf und stoße ihn mit der Schulter an. »Ich bin Expertin für merkwürdige Verbindungen.«
Fahrig gehe ich mir durch meine Locken und bleibe mit der Hand an einigen Strähnen hängen. Das Rauschen des Meeres sollte noch zu weit entfernt sein, um es zu hören, und doch hallt es überdeutlich in meinen Ohren wider.
Für die nächsten Minuten schweigen wir, bis wir endlich den Hafen hinter uns gelassen haben und am Strand stehen. Von der Bar bis hierher hat es nur zehn Minuten gedauert, aber der Weg kam mir endlos lang vor.
Wir ziehen unsere Schuhe aus und gehen langsam in Richtung Wasser. Doch bevor ich es erreichen kann, bleibe ich wie angewurzelt stehen und starre es nieder.
»Okay, was ist los, Mayla?« Atlan will mir eine Hand auf die Schulter legen, doch ich mache ruckartig einen Schritt nach hinten.
Ich kann nicht. Ich kann das Wasser nicht berühren, denn die Angst, mich wieder in ein Monster zu verwandeln, droht mich zu verschlingen.
Mir ist Atlans kritischer Blick mehr als bewusst. Aber ich kann keinen Schritt näher zum Meer gehen. Was ist, wenn ich mich bei der Berührung augenblicklich wieder in dieses Ungetüm verwandle? Direkt hier vor allen Leuten? Der Strand ist nicht überragend besucht, für die meisten Touristen ist es Zeit für das Abendbrot und für uns Einheimische bedeutet es Arbeit. Einige Jugendliche in meinem Alter hängen noch auf dem Sand ab und trinken warmes Bier. Auch eine absolut widerwärtige Angelegenheit.
»Ich will dich ja nicht drängeln, aber selbst Kelvin würde bemerken, dass hier etwas nicht stimmt. Seit wir uns kennen, war es immer ein Problem, dich aus dem Meer zu bekommen und nicht hinein«, sagt Atlan und hat damit verdammt recht.
Ich muss mich überwinden.
Für Noah. Wir können herausfinden, wo er gefangen gehalten wird, und das sollte das Einzige sein, was mich jetzt interessiert. Ich war früher nie so ein Angsthase, warum versagt mein Mut jetzt?
Das Flüstern in meinem Kopf wird immer lauter. Ich kann nur kein Wort verstehen, es ist mehr ein Rauschen – wie von einem alten Fernseher, aus dem einzelne Wortfetzen dringen. Atlan wird keine Ruhe geben, wenn ich mich weiterhin so verhalte. Er denkt sowieso schon, dass ich eine Schraube locker habe.
Ich lege meine schwarzen Turnschuhe in den Sand und stopfe meine kurzen Socken hinein. Es wird doch zur Kontaktaufnahme mit dem Meer reichen, wenn ich nur mit den Füßen reingehe. Meine roten Shorts sind kurz genug, um nicht nass zu werden.
»Und seit wann redest du nicht mehr mit mir?«
Atlan lässt aber auch nicht locker. Ich trage hier gerade einen inneren Kampf aus und er kann einfach nicht still sein. Immer noch mit mir ringend stehe ich auf dem nassen Sand und warte, dass eine Welle sich weit genug herauswagt, um mich zu umspülen.
»Mayla!«
Mit einem erfreuten Aufschrei reißt mich eine Gestalt von den Füßen direkt ins Wasser. Ich sehe nur noch einen roten Haarschopf, dann den blauen wolkenlosen Himmel.
Kelvin hat mich übermütig umgeworfen und ich bin dabei rücklings ins Wasser gefallen, mitten auf die kleinen spitzen Kieselsteine.
»Autsch«, entfährt es mir, als ich mich wieder aufrichten will und sich weitere Steinchen in meine Haut bohren. Panisch schaue ich auf meine Hände, aber diese sind unverändert menschlich. Mein weißes Shirt ist durchsichtig und ich trage zum ersten Mal keinen Bikini drunter. Danke an dieser Stelle an meine Trotzreaktion von heute Morgen, weshalb ich mich ausnahmsweise für einen BH entschieden habe.
Wenigstens ist der innere Kampf jetzt unnötig geworden. Ich atme erleichtert aus. Innerlich spüre ich allerdings kleinere Veränderungen – so wird der Drang, weit nach draußen zu schwimmen, immer größer. Nur meine Angst, was mir dann blüht, ist übermächtig.
»Habe ich dich überrascht?« Kelvin stemmt sich vom Boden hoch und grinst mich breit an.
»Ja, so kann man es auch nennen.« Ich strecke eine Hand zu ihm empor, damit er mich wieder auf die Beine zieht. Am besten direkt aus dem Wasser. Kelvin schüttelt sich wie ein Hund, seine roten Haare fliegen und verteilen Salzwassertropfen auf meinem Gesicht. Erst dann hilft er mir hoch.
Das Meerwasser läuft aus meinen Locken und die Tropfen bahnen sich einen Weg über meine Kleidung nach unten. Überall auf meiner Haut spüre ich den Ozean. Besonders deutlich fühle ich die Verbindung an meinen Füßen, die noch immer im Wasser stehen.
Zu den vielen aufgeregt wispernden Stimmen in meinem Kopf gesellt sich eine Präsenz, die so ruhig und übermächtig ist wie Mayim selbst. Das Meer spricht zu mir, so bescheuert es auch klingt.
Meine Beinmuskeln zucken. Sie sind bereit zur Flucht, treiben mich sogar dazu. Doch wenn ich herausfinden will, wo Noah ist, dann darf ich diese Verbindung nicht verlieren. Mein Herz schlägt so schnell in meiner Brust, dass sich mein Atem beschleunigt.
»Ist mit ihr alles in Ordnung?« Kelvin gesellt sich zu Atlan und hat mich nicht direkt gefragt, so weggetreten wirke ich also.
»Ich habe keine Ahnung. So habe ich sie noch nie erlebt.«
Die Stimmen von Atlan und Kelvin blende ich aus, dafür konzentriere ich mich auf die Präsenz des Meeres.
Wo ist Noah?
Diesen Satz denke ich immer wieder mit Nachdruck – eine Botschaft an Mayim. Ich weiß nicht, ob das Wesen mich auch dieses Mal anhören wird, aber ich versuche es. Alles ist mir recht, wenn ich dafür nicht selbst schwimmen muss.
Eine größere Welle schlägt gegen meine Knie und bringt mich ins Wanken. Das Meer wird unruhig und Wolken bauschen sich am blauen Himmel auf, die unheilvoll nach Regen aussehen.
»Spüre ich da etwa Wut in dir, kleine Mayla?«, raunt mir die überhebliche Stimme von Mayim entgegen. Oder wirkt sie nach all diesen Ereignissen nur so arrogant auf mich?
Ich drehe mich zu Atlan und Kelvin herum, doch sie betrachten nur mit sorgenvollen Blicken den Himmel. Die Wellen türmen sich größer auf und die letzten Strandbesucher packen hastig ihre Sachen zusammen.
»Kommst du nicht mehr zu mir?«
Höre ich da Trauer in Mayims Tonlage?
Ich bin mir nicht sicher. »Du weißt, wo Noah ist. Gib ihn frei.«
»Kleine Mayla, nicht ich habe Noah gefangen, sondern deine Familie.«
Ich keuche auf, als hätte das Wesen mir ein Messer in die Brust gerammt.
»Nenn sie nicht so!«
Atlan greift nach meinem Arm und lässt meine Konzentration abreißen. »Sprichst du mit Mayim?«
Er kann nur meine Worte hören, aber nicht Mayims Antworten. Das erklärt jedenfalls seine sorgenvoll gerunzelte Stirn und Kelvins unsicher umherschweifenden Blicke.
»Komm doch wieder zu mir, kleine Mayla«, säuselt Mayim.
Der Wind frischt auf und bläst mir die Locken ins Gesicht. Mit Mühe halte ich sie aus meinem Gesicht fern. Die schweren Regenwolken bedecken den Himmel und verstecken die Sonne hinter sich. So ein plötzlicher Wetterumschwung ist ungewöhnlich und sicherlich nicht natürlich. Der Wind kriecht unter meine nassen Sachen und jagt mir einen Schauer über den Rücken.
»Nein.« Ein kurzes Wort mit einer unvorhergesehenen Wirkung. Zunächst ist es mucksmäuschenstill, die Wellen flachen augenblicklich ab, als wäre ihnen jegliche Energie genommen worden. Ein Donner grollt näher, als mir lieb ist, und peitschender Regen prasselt innerhalb von einer Sekunde auf die andere auf uns nieder.
Da nimmt jemand meine Ablehnung aber persönlich.
Der Drang, vor dem Wasser so weit wegzulaufen wie möglich, ist übermächtig. Aber an Flucht ist nicht zu denken, solange ich nicht weiß, wo Noah gefangen gehalten wird. Ich werde alles daran setzen, ihn zu retten, auch wenn es für mich weitreichende Konsequenzen haben wird.
Da regt sich etwas in mir, ein unbestechliches Gefühl. So logisch, wie ich weiß, wo mein Zuhause liegt oder wie ich weiß, wie man schwimmt. Ich muss es nicht nachprüfen, sondern weiß es einfach. Auch der Sturm kann mich nicht davon ablenken. Die ersten größeren Wellen rauschen auf uns zu und klatschen hart gegen meinen Bauch.
Ich hebe den Arm und deute nach Südosten. »Noah wird in dieser Richtung gefangen gehalten.« Diese Gewissheit kommt ganz tief aus meinem Unterbewusstsein.
»Woher willst du das wissen?«, fragt Kelvin und richtete seine Aufmerksamkeit auf den unsichtbaren Punkt, auf den ich deute.
»Ich weiß es einfach.«
Ich spüre die anderen Meerhexen. Sie müssen wissen, wo ich mich befinde. Ein unangenehmer Schauer jagt mir über meine nackte Haut und hinterlässt eine Gänsehaut. Sie beobachten mich.
Schwer atmend stolpere ich rückwärts aus dem Wasser, direkt in die Arme von Atlan. Mich beschleicht das Gefühl, ihn zu verraten, weil ich ihm nicht erkläre, weshalb ich wegen Noahs Aufenthaltsort so sicher bin. Ihn und Noah. Ich schüttle seine Hände ab und beobachte ihn dabei, wie er selbst ins Wasser geht.
»Lass uns die anderen zusammentrommeln, Kelvin. Wir werden in dieser Richtung nach ihm suchen.«
Kelvin nickt zwar auf seine Anweisung hin, aber seine Stirn ist in Falten gelegt. »Dort liegt Menorca. Was wollen die denn da?«
Er hat recht und ich verstehe es ebenso wenig.
Warum haben sich die Meerhexen im Mittelmeer niedergelassen? Vom nordatlantischen Ozean rund um Gran Canaria bis nach Menorca ist es ein ganzes Stück.
Mein Shirt klebt unangenehm an mir und der tosende Wind macht es nicht besser.
Atlan dreht sich noch mal um, während Kelvin schon wieder in voller Bekleidung im Meer verschwindet.
»Bist du dir sicher, Mayla?«
Ich nicke und reibe mir über meine Arme, um die Gänsehaut zu vertreiben. »Bin ich, aber ich kann dir nicht genau sagen, wo sie sind. Nur in dieser Richtung.«
Ich muss gegen den Wind anschreien. Mayim ist wirklich sauer, ich kann mir nur nicht vorstellen, wie ich das Wesen so verärgert haben könnte.
Nach wie vor ist Atlan skeptisch, völlig zu Recht. Ich wäre es auch. Doch dann folgt er Kelvin und sie verschwinden hinter der nächsten Welle. Der Regen prasselt auf mich nieder und ich will keine Sekunde länger als nötig hier verbringen.
Erleichterung durchflutet mich und ich werfe keinen Blick zurück, als ich mir meine Schuhe schnappe und mich in Sicherheit vor Mayims Einfluss bringe.
Noch nie in meinem Leben hatte ich solche Angst vor dem Meer oder vor dem, was darin lauert. Auch der direkte Augenkontakt mit den Meerhexen konnte mich nicht davon abbringen, jede freie Minute im Meer zu verbringen. Doch jetzt laufe ich wie ein Feigling davon.
Ich verstecke mich im Stadtinneren von Barcelona, renne durch die kleinen Gassen der Altstadt, bis ich auf den breiten Straßen des neueren Teils ankomme. Durch den plötzlichen Wetterumschwung haben sich viele Menschen untergestellt und lugen immer wieder unter den Markisen der Cafés hervor. Ich laufe wie ein begossener Pudel im Regen und wenn ich ehrlich bin, fehlt mir nur noch dramatische Filmmusik, um diese Situation perfekt zu machen.
Der Sand reibt unangenehm zwischen meinen Fußsohlen und den Schuhen. Es war eine absolut grandiose Idee, diese direkt nach dem Strandbesuch wieder anzuziehen. Aber scheinbar bin ich heute ein Profi in Selbstgeißelung.
Ich finde mich im Parc de la Ciutadella vor dem großen Brunnen wieder. Durch das Unwetter ist er menschenleer, was mir gelegen kommt. Die Architektur des sandsteinfarbenen Monuments hat mir schon immer zugesagt. Er ist mit vielen Statuen verziert, die alle einen Bezug zum Wasser haben, direkt neben ihm führt eine lange Treppe hinter den Brunnen, wo ein aus Stein gebauter Pavillon mir Schutz vor dem Regen bietet. Allerdings ist mir nicht nach Unterstellen, denn auch wenn ich erschreckende Angst vor dem Meer habe, fehlt mir der Kontakt zum Ozean. Der Brunnen besteht aus zwei großen Becken. Ich laufe zum unteren. Trotz der ungesunden grünen Färbung des Wassers setze ich mich an den Rand und tauche meine nackten Füße hinein.
Um mein Selbstmitleid perfekt zu machen, schwemmt der Regen meine gut versiegelte Erinnerung wieder an die Oberfläche.
Wie konnte es nur so weit kommen?
***
Zwei Tage zuvor
»Ich wusste es, sie ist meine Tochter.«
Einen Satz, den ich mein Leben lang hören wollte, nur nicht hier und nur nicht von ihr und vor ihrer gesamten Sippe. Die Meerhexe mit dem völlig verfilzten Zopf schaut beinahe entzückt auf mich herunter, wobei dieser Gesichtsausdruck mit ihren Haifischzähnen nicht harmoniert. Wie haben die anderen sie genannt? Aquila?
Noch immer bin ich wie betäubt von den Schmerzen, die dieses Monster mir mit ihrer komisch leuchtenden Hand zugefügt hat. Ich sehe nur verschwommen. Obwohl wir unter Wasser sind, bekomme ich merkwürdigerweise Luft. Sogar ziemlich gut. Meine Sicht klärt sich, als die Schmerzen allmählich abklingen. Sind wir wirklich noch unter der Oberfläche?
Alles ist so scharf, als wären wir an Land. Schon zuvor habe ich mich beim Tauchen außerordentlich gut zurechtgefunden, aber das hier ist ein neues Level.
Jede Luftblase, die aufsteigt, kann ich mit bloßem Auge verfolgen.
Es wirkt alles überdeutlich. Sogar einzelne Sandkörner unter meinen Händen kann ich ausmachen. Moment, meine Hände … Hektisch atme ich aus. Denn ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich meine sind.
Sie sind von hässlich schimmernden Schuppen überzogen und meine kurzen Fingernägel haben sich in Krallen verwandelt.
Aquila kommt auf mich zu, ihre Klauen nach mir ausgestreckt. Es sind die gleichen wie meine.
»Nein, nein, alles, nur das nicht!«, kreische ich und rutsche über den Sand, versuche vor ihr zu fliehen. Doch vergebens, die Meerhexen haben uns umringt. Ich kann nicht wegschwimmen. Noahs Augen sind vor Schreck geweitet, ihm sind sämtliche Gesichtszüge entglitten. Er ist immer noch gefesselt und verfolgt jede meiner Regungen.
»Schau an. Aquila, du hattest recht. Sie ist tatsächlich eine von uns.«
Das Gezische der größten Meerhexe hat sich zuvor wie kleine Stiche in mein Trommelfell angehört, doch jetzt verstehe ich jedes Wort.
»Deine verlorene Tochter, wie rührend.« Sie legt sich eine Hand auf die Brust, wo bei normalen Wesen das Herz schlagen würde. Ich bezweifle, dass sie eines besitzt.
»Aber wie zum Geier kann das sein, Sybell?! Hat der Fluch sie nicht erwischt? Warum ist sie nicht schon vor Jahren aufgetaucht, als wir sie erwartet haben?«, fragt eine andere Meerhexe und betrachtet mich mit großen Augen.
Ihre Worte sind mir egal, es ist mir egal, wie das hier möglich sein kann. Ich will nur, dass es aufhört.
»Noah.« Sein Name klingt nicht so, als hätte ich ihn ausgesprochen. Meine Zunge stößt auf merkwürdige Weise gegen meine Zähne und lässt alles gezischt klingen.
Der geschockte und versteinerte Ausdruck will nicht von Noahs Gesicht verschwinden. Seine Hände sind zu Fäusten geballt, doch ansonsten hängt er regungslos in seinen Fesseln.
»Bringt ihr einen Spiegel, damit sie ihr neues Antlitz bewundern kann«, befiehlt Sybell selbstgefällig und zwei Meerhexen eilen davon, ohne auf meine Reaktion zu warten. Denn diese wäre gewiss nicht zu ihren Gunsten ausgefallen.
Ich will es nicht sehen, will mich nicht sehen.
Kraftlos ziehe ich mich über den Sand, denn ich habe Angst, an mir hinunterzuschauen. Der Anblick meiner mit Schuppen bedeckten Arme reicht mir. Sie glitzern sogar ein wenig. Ich könnte kotzen.
»Noah.«
Doch er reagiert immer noch nicht. Mein Gesicht verzieht sich zu einer Grimasse, als ich zu heulen beginne. Meine Tränen vermischen sich mit dem Meerwasser.
»O Aquila, deine Tochter ist eine Heulsuse.«
Es ist mir egal, was dieses Monster von mir hält. Ihr wirrer Blick hat mich viel zu lange verfolgt. Ich bin ihr schon zweimal entwischt, da sollte es mich nicht kümmern, was sie von mir denkt.
»Halt die Fresse, Morgiana,« zischt Aquila.
Ich bin auf halber Strecke zu Noah, meine Glieder schmerzen wie vom schlimmsten Muskelkater meines Lebens. Kleine Nadeln piksen in jeden Muskelstrang. Und doch ziehe ich mich Stück für Stück heran.
»Wie armselig«, sagt Morgiana und beobachtet mich aus ihren echsenartigen Augen. Sie steht vor mir, ihre Flossen im Sand vergraben und die Arme vor der Brust verschränkt, den Kopf schief gelegt.
»Lasst ihn frei!«, zische ich mit einigen Schluchzern und schaffe es, meinen Oberkörper hochzustemmen. Dabei erhasche ich einen Blick auf meine Brust. Meine Kleidung ist wie von Zauberhand verschwunden. Glatte Schuppen bedecken meine Brüste wie einen BH, der Rest vom Dekolleté ist menschliche Haut. Die Schuppen lassen tatsächlich einen Ausschnitt frei.
»Jetzt jammert sie auch noch rum, fleht um sein abscheuliches Leben.« Die Meerhexe vor mir schnaubt verachtend. »Das ist so armselig.«
»Morgiana, ich schwöre beim Teufel persönlich, ich verfluche dich, wenn du nicht deine Fresse hältst.«
Der raue Umgangston zwischen den Meerhexen überrascht mich nicht mehr. Aquila und Morgiana scheinen mir nicht den Preis für die besten Freundinnen des Jahres zu gewinnen.
Mit Mühe unterdrücke ich weitere Schluchzer. »Lasst Noah frei.«
Sybell geht vor mir in die Hocke und legt eine ihrer langen Krallen unter mein Kinn, sodass ich in ihr hässliches Gesicht sehen muss. Besonders die Narbe, die ihre Lippen spaltet, hält meinen Blick gefangen, aber nicht auf die gute Art und Weise. Von Nahem betrachtet scheinen ihre Adern unter ihrer durchschimmernden Haut zu pulsieren.
»Du musst wohl erst noch die Rangordnung lernen. Und als Neuling bist du nicht in der Position, Forderungen zu stellen.«
Sie zischt mir die Worte ins Ohr, als wären sie ein Geheimnis nur unter uns beiden. Doch ich verzichte auf irgendwelche Verbindungen und entreiße ihr mein Kinn. Der Schmerz folgt kurz darauf. Die Kralle hat mir die Haut aufgeritzt.
»Eure Rangordnung interessiert mich nicht. Ich will nur, dass Noah frei ist.«
Ich brauche eine Reaktion von Noah, etwas, das mir verspricht, dass er mich noch liebt. Dass ich hier nicht ausweglos kämpfe, sondern für ein Wir. Doch er hat den Kopf gesenkt und sein Körper ist erschlafft.
Aber ich bin nicht bereit aufzugeben.
Die zwei Meerhexen kehren mit einem Spiegel zwischen ihren Klauen zurück. Er sieht aus, als wäre er aus einem Schiffswrack geborgen. Algen und Salzwasser haben seinem hölzernen Rahmen ordentlich zugesetzt, aber seine Oberfläche ist noch glatt. Sie rammen ihn direkt vor meiner Nase in den Sand und versperren mir die Sicht auf Noah. Ich will nicht sehen, was mit mir passiert ist. Bewusst wende ich den Blick ab. Sybell greift in meinen Nacken und zieht mich daran nach oben.
»Sag Hallo zu deinem neuen Ich.«
Nein, ich kann das nicht. Was, wenn es so schlimm ist, wie ich befürchte?
»Tu es lieber nicht«, wispert Noah.
Es sind die ersten Worte aus seinem Mund, seit mich dieses unfassbare Elend ereilt hat. Dann schreit er schmerzhaft auf, mein Kopf ruckt herum und ich blicke direkt in mein Spiegelbild. Eigentlich will ich sehen, was sie mit Noah machen, wenn er solche Laute von sich gibt. Aber ich bin zu geschockt.
Vor mir steht das hässlichste Wesen, das ich je gesehen habe. Meine widerspenstigen Locken sind im Wasser normalerweise seidig und umranden mein Gesicht, doch jetzt wirken sie so unheilvoll wie die Haare von Medusa. Wie Schlangen, die aus meinem Kopf sprießen, geneigt, jeden in meiner unmittelbaren Umgebung zu beißen. Spitze Ohren blitzen zwischen den Strähnen hervor. Schuppen bedecken die Stirn und den größten Teil der Wangen, nur die Mitte ist verschont geblieben. Es ist noch mein Gesicht, irgendwie, aber auch irgendwie nicht. Ich japse nach Luft und in diesem Moment sehe ich die spitzen Haifischzähne, die meinen Mund verunstalten und ihn wie eine Waffe wirken lassen.
Das Schlimmste sind meine sonst so katzenartigen grünen Augen, die sich in Echsenglubscher verwandelt haben und mich anstarren. Ich bekomme es selbst mit der Angst zu tun. Der Körper ist mit Schuppen überdeckt, bis auf den Ausschnitt auf der Brust. Die Klauen habe ich bereits gesehen – was ihrer Abscheulichkeit keinen Abbruch tut –, doch meine Füße sind ebenfalls verschwunden und haben Platz für Flossen gemacht. Keine schönen Flossen wie die der Sirenen. Eher wie die einer Ente, nur länger und sie schimmern durchsichtig, sodass man die Adern erkennen kann.
Ich kann nicht atmen, denn mein Fleck am Hals, den ich so sehr hasse, hat sich in Kiemen verwandelt. Gerade diese sollten mir das Atmen ermöglichen, aber ich bekomme keinen Sauerstoff mehr. Ich blicke direkt in die Augen eines Monsters, einer Killermaschine und des hässlichsten Geschöpfes im Meer. Nichts an mir ist schön.
Nie habe ich mich für überaus hübsch gehalten. Aber ich liebte mich und war im Reinen mit mir. Noch nicht einmal diese typischen Teenagerprobleme mit meiner Figur hatte ich. Aber jetzt. Alles an mir stößt mich ab. Der Vergleich zu Lucias Verwandlung schiebt sich in meine Gedanken und setzt sich fest. Sie ist die Prinzessin und ich bin nicht nur ein bloßer Sidekick, nein, ich bin das Böse in Person, ein Monster – zu hässlich, um auf der guten Seite zu stehen.
So bin ich nicht. So will ich nicht sein.
»Nein.« Ich werfe mich gegen den Spiegel, lege meine Klaue gegen die glatte Oberfläche. Das Monster mir gegenüber tut dasselbe. Das bin tatsächlich ich.
Und das ist der Moment, wo eine Panikattacke über mich kommt.
»Ich kriege keine Luft«, ächze ich mehr schlecht als recht und meine Klauen greifen an meinen Hals. Röchelnd versuche ich nach Atem zu ringen, doch ich versage. Die Panik hat mich fest im Griff. Wenn nichts geschieht, werde ich ertrinken. Dieses Monster bin nicht ich. Ich will damit nichts zu tun haben.
»Ich glaube, sie ersäuft wirklich.« Eine mir fremde Meerhexe tritt hervor und betrachtet mich wie ein wildes Tier. »Ihre Schuppen gehen zurück.«
»Wir müssen sie nach oben bringen! Sie verwandelt sich.« Aquila ist vor mich getreten und nimmt mein Gesicht in ihre Hände, dreht meinen Kopf zur Seite, um einen besseren Blick auf den Hals zu haben.
»Das ist unmöglich und faszinierend. Noch nie hat sich eine Meerhexe ohne meine Hilfe zurückverwandelt«, sagt Sybell und mustert mich mit deutlich mehr Interesse als zuvor.
Wer auch immer für das hier verantwortlich ist, wer dafür gesorgt hat, dass ich so aussehe: Bitte gib mir mein Leben als Mensch zurück! Ich will hier nicht als hässliche Kreatur verenden.
Aquila greift nach meiner Hand und zieht energisch daran. »Dafür ist jetzt keine Zeit. Wir brauchen doch alle Meerhexen für den Krieg. Morgiana, hilf mir.«
»Ich denke nicht mal dran, soll sie endlich verrecken.«
Sybell wirft Morgiana einen wütenden Blick zu, dann deutet sie nach oben. »Los, schafft sie an die Meeresoberfläche.«
Morgiana faucht wie eine Katze, dann zischt sie leise vor sich hin und packt mich grob an der anderen Hand. »Wie ich die Oberfläche hasse.« Sie reißt an mir, meine Flossen lösen sich aus dem Sand.
»Nein, lasst mich Noah mitnehmen.«
»Auch noch Forderungen stellen, ich hasse diese Göre jetzt schon.«
Beruht auf Gegenseitigkeit, keine Frage.
Aber Morgiana bleibt erbarmungslos, sie und Aquila zerren an mir wie an einem nassen Sack und ich muss dabei zusehen, wie Noah kleiner und kleiner wird. Der Meeresboden entfernt sich mit beachtlicher Geschwindigkeit. Wir sind unglaublich tief unten gewesen. Wie kann es sein, dass der Druck meinen Körper nicht zerschunden hat? Ach ja, meine Gene.
Mir wird schon ganz schummrig vor Augen, meine Sicht verändert sich abermals. Mein Körper fühlt sich auf einmal so schwer an.
»Beeil dich doch mal, Morgiana. Wegen dir wird sie noch ersaufen. Ihre Kiemen sind verschwunden.«
Aquila scheint etwas daran zu liegen, dass ich überlebe.
Ich muss Luft holen, ich kann nicht anders, der Reflex setzt unvermittelt ein. Doch ich atme keinen Sauerstoff, sondern Wasser. Es strömt in meine Lunge und lässt alles in mir verkrampfen. Das Salz brennt so sehr. Wie wild trete ich um mich, versuche schneller in Richtung Oberfläche zu kommen. Aber noch immer kann ich kein Licht sehen. Wie weit waren wir unten? Ich will kämpfen, überleben. So kann ich mein Leben nicht enden lassen.
»Halt still!«
Ich weiß nicht, wer es gesagt hat. Es tut weh, aber nicht so sehr wie diese abstruse Verwandlung. Es ist mehr mein Urvertrauen, was grundsätzlich erschüttert wird. Niemals hätte ich gedacht, dass das Meer mich töten würde. Es gab Momente, wo ich es für einen Augenblick erschreckend fand. Doch nicht eine Sekunde ist mir in den Sinn gekommen, es nicht mehr zu lieben.
Ich kann nicht sprechen, zu viel Wasser hindert mich daran.
»Du schuldest mir etwas. Ihr beide!«, faucht Morgiana und mit einem Ruck zieht sie an meinem Arm.
Meine Gedanken werden leer. Vielleicht ist es doch zu spät.
»Atme.«
Ich huste und pruste. Selbst das dumpfe Licht, das sich durch die grauen Wolken kämpft, lässt mich blinzeln. Meine Locken kleben mir unangenehm im Gesicht und mein gesamter Körper fühlt sich so kraftlos an. Bin ich eben fast ertrunken?
»Ich will hier raus«, krächze ich. »Bitte, holt mich aus dem Wasser raus.« Mein Flehen bleibt unerhört. Denn ich bin mit Aquila allein an der Wasseroberfläche, Morgiana hat sich aus dem Staub gemacht.
»Wir sind mitten auf dem Ozean, ich kann dir nur damit helfen.« Sie erzeugt einen Strudel, welcher mich über den Meeresspiegel hebt. Ich kann ein wenig aufatmen, huste immer noch und mein Hals fühlt sich an wie Schmirgelpapier.
Ihre Worte sind zwar gezischt, aber mich beschleicht das Gefühl, dass sie nun wesentlich sanfter spricht als zuvor. Das Wesen vor mir ist meine Mutter. Diese Meerhexe hat mich geboren. Ich habe viele Fragen und doch will ich keine Antworten.
»Ich muss hier weg.«
Aquila sieht mich verstört an, dabei war ich mir sicher, Meerhexen wären zu Gefühlen nicht fähig. Ich versuche etwas Liebevolles in ihren Gesichtszügen zu erahnen, doch da ist nur diese Fratze, die mich betrachtet. Interessiert und kühl. Aber sie hat sich für mich eingesetzt. »Du bist eine Meerhexe, Mayla.«
»Nein, das bin ich nicht.«
Sie greift grob nach meinem Arm und ihre Krallen bohren sich in meine Haut. Ich verziehe das Gesicht, doch es kümmert sie nicht.
»Du kannst es noch so sehr verleugnen, wir werden dich holen, dafür sorge ich.«
Hier kommen ja richtige Muttergefühle auf.
Mir geht es miserabel. Ein kleiner Trost sind meine menschlichen Hände. War das alles nur eine böse Illusion? Mit der Zunge fahre ich meine Zähne nach und auch hier ist alles beim Alten.
»Gib mir Noah zurück.« Trotz meines erschöpften Körpers muss ich an ihn denken – an Noah, der unten auf dem Meeresgrund gefangen gehalten wird.
Aquila ringt mit sich, ehe sie einen Entschluss fasst.
»Ich werde nach unten schwimmen und mir die Lage anschauen. Warte hier, bis du dich beruhigt hast, dann werden wir dich erneut verwandeln.«
Alles, nur das nicht. Ich nicke, aber nur, um sie in Sicherheit zu wiegen. Sie erwidert die Geste und taucht dann ab.
Nur über meine Leiche werde ich mich denen noch einmal ausliefern. Ich bin keine Meerhexe. Mit allem habe ich mich abfinden können. Ich bin nicht die Prinzessin – in Ordnung. Atlan verlässt mich – kann ich akzeptieren. Meine beste Freundin bekommt die Hauptrolle in dieser Geschichte – damit kann ich irgendwie leben. Aber das hier? Ich werde nicht das Monster sein. Nicht mit mir.
Bedacht beuge ich mich über den Rand des Strudels, der wie eine Art Plattform meinen Körper über den Meeresspiegel hält. Ich werde schwimmen müssen, um dem hier zu entkommen. Welche Furcht ist größer? Noch mal zu ertrinken oder ein Ungetüm zu werden? Keine Sekunde muss ich überlegen. Kopfüber stürze ich mich wieder ins Wasser, ringe meine Angst nieder und beginne zu schwimmen. Sobald jemand meine Flucht bemerkt, werden sie mich im Handumdrehen finden. Schließlich sind Meerhexen wesentlich schneller als Menschen. Die Erinnerung an Daxtons und meine Verfolgung von Morgiana kommt mir wieder ins Gedächtnis. Beide Spezies sind unfassbar geschwind im Wasser unterwegs.
Ein Zug nach dem anderen. Ich versuche mich nur auf das Schwimmen zu konzentrieren und die Angst im Nacken nicht zuzulassen.
»Kleine Mayla«, säuselt eine Stimme.
Ich atme viel zu schnell und weiß nicht, ob ich es schaffen kann. Aber solche negativen Gedanken habe ich zuvor nie zugelassen. Und bisher habe ich alle Herausforderungen gemeistert. Egal wie, ich werde entkommen.
»Lass mich dir helfen.«
»Du hast mich fast ertränkt, Mayim!«, fauche ich und schlucke dabei wieder Wasser. Bitte nicht noch einmal.
»Du hast gesagt, du wirst die Konsequenzen tragen.«
»Aber doch nicht solche, verdammt.«
»Ich kann nicht alles tun. Auch ich habe Regeln, kleine Mayla. Ich sehe doch, dass du nicht mehr kannst.«
Mayim hat recht, ich kann nicht mehr und ich weiß noch nicht mal, wohin ich schwimme. Denn ich sehe kein Land, kein Anzeichen für Menschen. Ich bin hier draußen auf dem offenen Meer, der Willkür von Meerhexen und Mayim ausgesetzt. Doch in diesem Moment wähle ich lieber Mayim, auch wenn es dieses Wesen war, das mich erst in diese Situation gebracht hat.
»Gut, hilf mir bitte.«
»Feines Kind.«
Ich bin kein Kind mehr, aber ich habe keine Kraft, um zu widersprechen. Aus diesem Wesen werde ich nicht schlau, was ist das Ziel? Warum ich? Warum muss das alles mir passieren? Vor wenigen Tagen hätte ich gejubelt, wenn diese Frage in Bezug auf die Prinzessin aufgekommen wäre.
Mayim hebt mich auf einer Welle empor, sanft und vorsichtig. Wäre all das nicht passiert, könnte ich es sogar genießen. Aber so versuche ich, meine Panik zu bekämpfen. Ich muss nichts tun, von ganz allein werde ich oben gehalten und in die entgegengesetzte Richtung getragen.
Ohne Mayim wäre ich vermutlich niemals irgendwo angekommen. Ich muss dem Wesen dankbar sein.
»Mayim, gibt es eine Möglichkeit, wieder an meinen Badeanzug zu kommen?«
Mir ist nicht kalt, aber ich bin völlig nackt und würde mich gern bedecken.
Eine zweite Welle türmt sich hinter meiner auf und braust über mich hinweg – und danach trage ich einen schwarzen Badeanzug.
»Danke«, murmle ich.
»Ich verlasse dich nun, immerhin brauchen noch mehr meiner Geschöpfe meine Hilfe. Ruh dich aus, kleine Mayla.«
Ich würde ihrer Aufforderung so gern nachkommen, mich einfach hinzulegen und zu schlafen. Aber ich kann Mayim nicht vertrauen. Also bleibe ich wach, gefühlte Ewigkeiten, bis die Sonne ihren Weg über den Horizont gewandert ist.
Dann sehe ich endlich Land. Kurz vor der mir nur allzu bekannten Bucht ebbt die Welle ab und lässt mich zurück ins Wasser plumpsen. Ohne es zu wollen, bekomme ich Panik. Was ist, wenn ich mich nicht oben halten kann? Wenn ich erneut untergehe?
Eine zweite Welle erfasst mich, wirbelt meinen Körper herum und spuckt mich erst wieder auf dem mir wohlbekannten schwarzen Sand von Gran Canaria aus. Es sind nur noch wenige Besucher am Strand und diese beobachten mich skeptisch. Sandkörner hängen in meinen Haaren, es wird Ewigkeiten dauern sie von meiner Kopfhaut zu bekommen. Das Salzwasser ist mir in die Nase gestiegen und ich kann nicht aufhören zu schniefen. Mühsam kämpfe ich mich auf meine Unterarme, um mich wieder aufzurichten.
Ein merkwürdiges Wispern setzt sich in meinem Ohr fest. Vielleicht ist es der Sand, der selbst in mein Trommelfell gespült wurde.
»Mayla?«
Ruckartig hebe ich den Kopf, sehe aber nur in das Gesicht eines ehemaligen Kollegen von mir, der ebenfalls als Rettungsschwimmer arbeitet. Ich hatte so gehofft, dass es Noah ist.
»Geht es dir gut?«
»Nein, ehrlich gesagt nicht. Ich denke, ich habe genug vom Meer.«
»Na komm.«
Er hilft mir auf und versorgt mich weitestgehend. Meine Sachen sind ebenfalls in der Rettungsstation, er hat sie aus der Grotte geholt und für mich aufbewahrt. Entschlossen nehme ich mein Handy in die Hand und schreibe Tante Carla eine WhatsApp.
Komme nach Hause. Der nächste Flieger ist meiner.