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Sozialkritische Karikatur des wilhelminischen Lehrers, der einer sogenannten Künstlerin verfällt und aus Rache für den Verlust seines gesellschaftlichen Ansehens ehemalige Mitbürger moralisch demütigt. Der brillante Roman von 1905 wurde unter dem Titel 'Der blaue Engel' mit Marlene Dietrich verfilmt und als Kino-/Fernseh-Klassiker einem breiten Publikum bekannt.
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Heinrich Mann
Professor Unrat
oder Das Ende eines Tyrannen
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Kapitel I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
XII
XIII
XIV
XV
XVI
Impressum neobooks
Da er Raat hieß, nannte die ganze Schule ihn Unrat. Nichts konnte
einfacher und natürlicher sein. Der und jener Professor wechselten
zuweilen ihr Pseudonym. Ein neuer Schub Schüler gelangte in die Klasse,
legte mordgierig eine vom vorigen Jahrgang noch nicht genug gewürdigte
Komik an dem Lehrer bloß und nannte sie schonungslos bei Namen. Unrat
aber trug den seinigen seit vielen Generationen, der ganzen Stadt war er
geläufig, seine Kollegen benutzten ihn außerhalb des Gymnasiums und auch
drinnen, sobald er den Rücken drehte. Die Herren, die in ihrem Hause
Schüler verpflegten und sie zur Arbeit anhielten, sprachen vor ihren
Pensionären vom Professor Unrat. Der aufgeweckte Kopf, der den
Ordinarius der Untersekunda hätte neu beobachten und nochmals abstempeln
wollen, wäre nie durchgedrungen; schon darum nicht, weil der gewohnte
Ruf auf den alten Lehrer noch so gut seine Wirkung übte wie vor
sechsundzwanzig Jahren. Man brauchte nur auf dem Schulhof, sobald er
vorbeikam, einander zuzuschreien:
»Riecht es hier nicht nach Unrat?«
Oder:
»Oho! Ich wittere Unrat!«
Und sofort zuckte der Alte heftig mit der Schulter, immer mit der
rechten, zu hohen, und sandte schief aus seinen Brillengläsern einen
grünen Blick, den die Schüler falsch nannten, und der scheu und
rachsüchtig war: der Blick eines Tyrannen mit schlechtem Gewissen, der
in den Falten der Mäntel nach Dolchen späht. Sein hölzernes Kinn mit dem
dünnen, graugelben Bärtchen daran klappte herunter und hinauf. Er konnte
dem Schüler, der geschrien hatte, »nichts beweisen« und mußte
weiterschleichen auf seinen magern, eingeknickten Beinen und unter
seinem fettigen Maurerhut.
Zu seiner Jubelfeier im Vorjahr hatte das Gymnasium ihm einen Fackelzug
gebracht. Er war auf seinen Balkon getreten und hatte geredet. Während
alle Köpfe, in den Nacken gelegt, zu ihm hinaufsahen, war plötzlich eine
unschöne Quetschstimme losgegangen:
»Da ist Unrat in der Luft!«
Andere hatten wiederholt:
»Unrat in der Luft! Unrat in der Luft!«
Der Professor dort oben fing an zu stottern, obwohl er den Zwischenfall
vorausgesehn hatte, und sah dabei jedem der Schreier in den geöffneten
Mund. Die andern Herren standen in der Nähe; er fühlte, daß er wieder
einmal »nichts beweisen« könne; aber er merkte sich alle Namen. Schon
tags darauf gab der mit der gequetschten Stimme dadurch, daß er das
Heimatsdorf der Jungfrau von Orleans nicht kannte, dem Professor
Gelegenheit zu der Versicherung, er werde ihm im Leben noch oftmals
hinderlich sein. Richtig war dieser Kieselack zu Ostern nicht versetzt
worden. Mit ihm blieben die meisten in der Klasse zurück von denen, die
am Jubiläumsabend geschrien hatten, so auch von Ertzum. Lohmann hatte
nicht geschrien und blieb dennoch sitzen. Dieser erleichterte die
Absicht Unrats durch seine Trägheit und jener durch seine Unbegabtheit.
Nächsten Spätherbst nun, an einem Vormittag um elf, in der Pause vor dem
Klassenaufsatz über die Jungfrau von Orleans, geschah es, daß von
Ertzum, der der Jungfrau immer noch nicht nähergetreten war und eine
Katastrophe voraussah, in einem Anfall schwerfälliger Verzweiflung das
Fenster aufriß und aufs Geratewohl, mit wüster Stimme in den Nebel
hinausbrüllte:
»Unrat!«
Es war ihm unbekannt, ob der Professor in der Nähe sei, und es war ihm
gleichgültig. Der arme, breite Landjunker war nur von dem Bedürfnis
fortgerissen worden, noch einen kurzen Augenblick seinen Organen freies
Spiel zu gewähren, bevor er sich für zwei Stunden hinhocken mußte vor
ein weißes Blatt, das leer war, und es mit Worten bedecken aus seinem
Kopf heraus, der auch leer war. Tatsächlich aber ging Unrat grade über
den Hof. Als der Ruf aus dem Fenster ihn traf, machte er einen eckigen
Sprung. Im Nebel droben unterschied er von Ertzums knorrigen Umriß. Kein
Schüler hielt sich drunten auf, keinem konnte von Ertzum das Wort
zugerufen haben. »Dieses Mal«, dachte Unrat frohlockend, »hat er mich
gemeint. Diesmal kann ich es ihm beweisen!«
Er nahm die Treppe in fünf Sätzen, riß die Klassentür auf, hastete
zwischen den Bänken hindurch, schwang sich, in das Katheder gekrallt,
auf die Stufe. Da blieb er bebend stehn und mußte Atem schöpfen. Die
Sekundaner hatten sich zu seiner Begrüßung erhoben, und äußerster Lärm
war jäh in ein Schweigen versunken, das förmlich betäubte. Sie sahen
ihrem Ordinarius zu, wie einem gemeingefährlichen Vieh, das man leider
nicht totschlagen durfte, und das augenblicklich sogar einen peinlichen
Vorteil über sie gewonnen hatte. Unrats Brust arbeitete heftig;
schließlich sagte er mit seiner begrabenen Stimme:
»Es ist mir da vorhin immer mal wieder ein Wort zugerufen worden, eine
Bezeichnung -- ein Name denn also: ich bin nicht gewillt, ihn mir bieten
zu lassen. Ich werde diese Schmähung durch solche Menschen, als welche
ich Sie kennen zu lernen leider Gelegenheit hatte, nie dulden, merken
Sie sich das! Ich werde Sie fassen, wo immer ich es vermag. Ihre
Verworfenheit, von Ertzum, nicht genug damit, daß sie mir Abscheu
einflößt, soll sie an der Festigkeit eines Entschlusses wie Glas
zerbrechen, den ich Ihnen hiermit verkünde. Noch heute werde ich von
Ihrer Tat dem Herrn Direktor Anzeige erstatten, und was in meiner Macht
steht, soll -- traun fürwahr -- geschehen, damit die Anstalt wenigstens
von dem schlimmsten Abschaum der menschlichen Gesellschaft befreit
werde!«
Darauf riß er sich den Mantel von den Schultern und zischte:
»Setzen!«
Die Klasse setzte sich, nur von Ertzum blieb stehn. Sein dicker, gelb
punktierter Kopf war jetzt so feuerrot wie die Borsten oben darauf. Er
wollte etwas sagen, setzte mehrmals an, gab es wieder auf. Schließlich
stieß er heraus:
»Ich bin es nicht gewesen, Herr Professor!«
Mehrere Stimmen unterstützten ihn, opferfreudig und solidarisch:
»Er ist es nicht gewesen!«
Unrat stampfte auf:
»Stille!... Und Sie, von Ertzum, merken Sie sich, daß Sie nicht der
erste Ihres Namens sind, den ich in seiner Laufbahn -- gewiß nun
freilich -- beträchtlich aufgehalten habe, und daß ich Ihnen auch ferner
Ihr Fortkommen, wenn nicht gar unmöglich machen, so doch, wie seinerzeit
Ihrem Onkel, wesentlich erschweren werde. Sie wollen Offizier werden,
nicht wahr, von Ertzum? Das wollte Ihr Onkel auch. Weil er jedoch das
Ziel der Klasse nie erreichte und das Reifezeugnis für den
Einjährig-Freiwilligen-Dienst -- aufgemerkt nun also -- ihm dauernd
versagt werden mußte, kam er auf eine sogenannte Presse, wo er jedoch
ebenfalls gescheitert sein mag, so daß er endlich nur infolge eines
besonderen Gnadenaktes seines Landesherrn -- doch nun immerhin -- den
Zutritt zur Offizierskarriere erlangte, die er dann aber, scheint es,
bald wieder unterbrechen mußte. Wohlan! Das Schicksal Ihres Onkels, von
Ertzum, dürfte auch das Ihre werden oder doch dem jenes sich ähnlich
gestalten. Ich wünsche Ihnen Glück dazu, von Ertzum. Mein Urteil über
Ihre Familie, von Ertzum, steht seit fünfzehn Jahren fest ... Und
nun --«
Hierbei schwoll Unrats Stimme unterirdisch an.
»Sie sind nicht würdig, an der erhabenen Jungfrauengestalt, zu der wir
jetzt übergehen, Ihre geistlose Feder zu wetzen. Fort mit Ihnen ins
Kabuff!«
Von Ertzum, langsam von Verständnis, lauschte noch immer. Vor
angestrengter Aufmerksamkeit ahmte er unbewußt mit den Kiefern die
Bewegungen nach, die der Professor mit den seinigen vollführte. Unrats
Kinn, in dessen oberem Rand mehrere gelbe Gräten staken, rollte, während
er sprach, zwischen den hölzernen Mundfalten wie auf Geleisen, und sein
Speichel spritzte bis auf die vorderste Bank. Er schrie auf:
»Sie haben die Kühnheit, Bursche!... Fort, sage ich, ins Kabuff!«
Aufgescheucht drängte von Ertzum sich aus der Bank hervor. Kieselack
raunte ihm zu:
»Mensch, wehr dich doch!«
Lohmann, dahinter, verhieß unterdrückt:
»Laß nur, den kriegen wir noch wieder kirre.«
Der Verurteilte trollte sich am Katheder vorbei, in das Gelaß, das der
Klasse als Garderobe diente, und worin es stockfinster war. Unrat
stöhnte vor Erleichterung, als hinter dem breiten Menschen sich die Tür
geschlossen hatte.
»Nun wollen wir die Zeit nachholen,« sagte er, »die uns dieser Bursche
gestohlen hat. Angst, hier haben Sie das Thema, schreiben Sie es an die
Tafel.«
Der Primus nahm den Zettel vor seine kurzsichtigen Augen und machte sich
langsam ans Schreiben. Alle sahen mit Spannung unter der Kreide die
Buchstaben entstehn, von denen so viel abhing. Wenn es nun eine Szene
betraf, die man zufällig nie »präpariert« hatte, dann hatte man »keinen
Dunst« und »saß drin«. Aus Aberglaube sagte man, noch bevor die Silben
an der Tafel einen Sinn annahmen:
»O Gott, ich fall' rein.«
Schließlich stand dort oben zu lesen:
»Johanna: Es waren drei Gebete, die du tatst;
Gib wohl acht, Dauphin, ob ich sie dir nenne!«
(Jungfrau von Orleans, erster Aufzug, zehnter Auftritt.)
»Thema: Das dritte Gebet des Dauphins.«
Als sie dies gelesen hatten, sahen alle einander an. Denn alle »saßen
drin«. Unrat hatte sie »hineingelegt«. Er ließ sich mit einem schiefen
Lächeln im Lehnstuhl auf dem Katheder nieder und blätterte in seinem
Notizbuch.
»Nun?« fragte er, ohne aufzusehn, als sei alles klar, »wollen Sie noch
was wissen?... Also los!«
Die meisten knickten über ihrem Heft zusammen und taten, als schrieben
sie schon. Einige starrten entgeistert vor sich hin.
»Sie haben noch fünfviertel Stunden,« bemerkte Unrat gleichmütig,
während er innerlich jubelte. Dieses Aufsatzthema hatte noch keiner
gefunden von den unbegreiflich gewissenlosen Schulmännern, die durch
gedruckte Leitfäden es der Bande ermöglichten, mühelos und auf
Eselsbrücken die Analyse jeder beliebigen Dramenszene herzustellen.
Manche in der Klasse erinnerten sich des zehnten Auftritts im ersten
Aufzug und kannten beiläufig die zwei ersten Gebete Karls. Vom dritten
wußten sie nichts mehr, es war, als hätten sie es nie gelesen. Der
Primus und noch zwei oder drei, darunter Lohmann, waren sogar sicher,
sie hätten es nie gelesen. Der Dauphin ließ sich ja von der Prophetin
nur zwei seiner nächtlichen Bitten wiederholen; das genügte ihm, um an
Johannas Gottgesandtheit zu glauben. Das dritte stand schlechterdings
nicht da. Dann stand es gewiß an einer andern Stelle oder ergab sich
irgendwo mittelbar aus dem Zusammenhang; oder es ging gar ohne weiteres
in Erfüllung, ohne daß man wissen konnte, hier ging etwas in Erfüllung?
Daß es einen Punkt geben konnte, wo er niemals aufgemerkt hatte, das gab
auch der Primus Angst im stillen zu. Auf alle Fälle mußte über dieses
dritte Gebet, ja selbst über ein viertes und fünftes, wenn Unrat es
verlangt hätte, irgend etwas zu sagen sein. Über Gegenstände, von deren
Vorhandensein man nichts weniger als überzeugt war, etwa über die
Pflichttreue, den Segen der Schule und die Liebe zum Waffendienst, eine
gewisse Anzahl Seiten mit Phrasen zu bedecken, dazu war man durch den
deutschen Aufsatz seit Jahren erzogen. Das Thema ging einen nichts an;
aber man schrieb. Die Dichtung, der es entstammte, war einem, da sie
schon seit Monaten dazu diente, einen »hineinzulegen«, auf das
gründlichste verleidet; aber man schrieb mit Schwung.
Mit der Jungfrau von Orleans beschäftigte die Klasse sich seit Ostern,
seit dreiviertel Jahren. Den Sitzengebliebenen war sie sogar schon aus
dem Vorjahr geläufig. Man hatte sie vor- und rückwärts gelesen, Szenen
auswendig gelernt, geschichtliche Erläuterungen geliefert, Poetik an ihr
getrieben und Grammatik, ihre Verse in Prosa übertragen und die Prosa
zurück in Verse. Für alle, die beim ersten Lesen Schmelz und Schimmer
auf diesen Versen gespürt hatten, waren sie längst erblindet. Man
unterschied in der verstimmten Leier, die täglich wieder einsetzte,
keine Melodie mehr. Niemand vernahm die eigen weiße Mädchenstimme, in
der geisterhafte, strenge Schwerter sich erheben, der Panzer kein Herz
mehr deckt, und Engelflügel weit ausgebreitet, licht und grausam
dastehn. Wer von diesen jungen Leuten später einmal unter der fast
schwülen Unschuld jener Hirtin gezittert hätte, wer den Triumph der
Schwäche in ihr geliebt hätte, wer um die kindliche Hoheit, die vom
Himmel verlassen, zu einem armen, hilflos verliebten kleinen Mädel wird,
je geweint hätte, der wird nun das alles nicht so bald erleben. Zwanzig
Jahre vielleicht wird er brauchen, bis Johanna ihm wieder etwas anderes
sein kann als eine staubige Pedantin.
* * * * *
Die Federn kritzelten; Professor Unrat lugte, mit nichts weiter
beschäftigt, über die gebeugten Nacken hinweg. Es war ein guter Tag, an
dem er einen »gefaßt« hatte, besonders wenn es einer war, der ihm
»seinen Namen« gegeben hatte. Dadurch ward das ganze Jahr gut. Leider
hatte er schon seit zwei Jahren keinen der heimtückischen Schreier mehr
»fassen« können. Das waren schlechte Jahre gewesen. Ein Jahr war gut
oder schlecht, je nachdem Unrat einige »faßte« oder ihnen »nichts
beweisen« konnte.
Unrat, der sich von den Schülern hinterrücks angefeindet, betrogen und
gehaßt wußte, behandelte sie seinerseits als Erbfeinde, von denen man
nicht genug »hineinlegen« und vom »Ziel der Klasse« zurückhalten konnte.
Da er sein Leben ganz in Schulen verbracht hatte, war es ihm versagt
geblieben, die Knaben und ihre Dinge in die Perspektive des Erfahrenen
zu schieben. Er sah sie so nah, wie einer aus ihrer Mitte, der
unversehens mit Machtbefugnissen ausgestattet und aufs Katheder erhoben
wäre. Er redete und dachte in ihrer Sprache, gebrauchte ihr Rotwälsch,
nannte die Garderobe ein »Kabuff«. Er hielt seine Ansprachen in dem
Stil, den auch sie in solchen Fällen angewendet haben würden, nämlich in
latinisierenden Perioden und durchwirkt mit »traun fürwahr«, »denn also«
und ähnlichen Häufungen alberner kleiner Flickworte, Gewohnheiten seiner
Homerstunde in Prima; denn die leichten Umständlichkeiten des Griechen
mußten alle recht plump mitübersetzt werden. Da er selber steife
Gliedmaßen bekommen hatte, verlangte er das gleiche von den andern
Insassen der Anstalt. Das fortwährende Bedürfnis in jugendlichen
Gliedern und in jugendlichen Gehirnen, in denen von Knaben, von jungen
Hunden -- ihr Bedürfnis zu jagen, Lärm zu machen, Püffe auszuteilen, weh
zu tun, Streiche zu begehn, überflüssigen Mut und Kraft ohne Verwendung
auf nichtsnutzige Weise loszuwerden: Unrat hatte es vergessen und nie
begriffen. Wenn er strafte, tat er es nicht mit dem überlegenen
Vorbehalt: »Ihr seid Rangen, wie's euch zukommt, aber Zucht muß sein«;
sondern er strafte im Ernst und mit zusammengebissenen Zähnen. Was in
der Schule vorging, hatte für Unrat Ernst und Wirklichkeit des Lebens.
Trägheit kam der Verderblichkeit eines unnützen Bürgers gleich,
Unachtsamkeit und Lachen waren Widerstand gegen die Staatsgewalt, eine
Knallerbse leitete Revolution ein, »versuchter Betrug« entehrte für alle
Zukunft. Aus solchen Anlässen erbleichte Unrat. Schickte er einen ins
»Kabuff«, war ihm dabei zumute, wie dem Selbstherrscher, der wieder
einmal einen Haufen Umstürzler in die Strafkolonie versendet und, mit
Angst und Triumph, zugleich seine vollste Macht und ein unheimliches
Wühlen an ihrer Wurzel fühlt. Und den aus dem »Kabuff« Zurückgekehrten
und allen andern, die ihn je angetastet hatten, vergaß Unrat es nie. Da
er seit einem Vierteljahrhundert an der Anstalt wirkte, waren Stadt und
Umgegend voll von seinen ehemaligen Schülern, von solchen, die er bei
Nennung seines Namens »gefaßt« oder denen er es »nicht hatte beweisen«
können, und die alle ihn noch jetzt so nannten! Die Schule endete für
ihn nicht mit der Hofmauer; sie erstreckte sich über die Häuser
ringsumher und auf alle Altersklassen der Einwohner. Überall saßen
störrische, verworfene Burschen, die »ihr's« nicht »präpariert« hatten
und den Lehrer befeindeten. Ein Neuer, noch ahnungslos, bei dem zu Haus
ältere Verwandte über den Professor Unrat gelacht hatten wie über eine
Jugenderinnerung von freundlicher Komik, und der nun mit dem Schub zu
Ostern in Unrats Klasse gelangt war, konnte sich bei der ersten falschen
Antwort anfauchen hören:
»Von Ihnen habe ich hier schon drei gehabt. Ich hasse Ihre ganze
Familie!«
* * * * *
Unrat auf seinem erhabenen Posten über all den Köpfen genoß seine
vermeintliche Sicherheit; und inzwischen war neues Unheil am Ausbrechen.
Es kam von Lohmann.
Lohmann hatte seinen Aufsatz sehr kurz abgetan und dann zu einer
Privatbeschäftigung gegriffen. Die wollte aber nicht vorwärtskommen,
denn der Fall seines Freundes von Ertzum wurmte Lohmann. Er hatte sich
gewissermaßen zum moralischen Schutzherrn des kräftigen jungen Edelmanns
aufgeworfen und betrachtete es als ein Gebot der eigenen Ehre, die
geistige Schwäche des Freundes, wo es ging, mit seinem so hoch
entwickelten Hirn zu decken. Im Augenblick, wo von Ertzum eine unerhörte
Dummheit sagen wollte, räusperte Lohmann sich lärmend und soufflierte
ihm darauf das Richtige. Die unbegreiflichsten Antworten des andern
machte er den Mitschülern achtbar durch die Behauptung, von Ertzum habe
den Lehrer nur »wütend ärgern« wollen.
Lohmann war ein Mensch mit schwarzen Haaren, die über der Stirn sich
bäumten und zu einer schwermütigen Strähne zusammenfielen. Er hatte die
Blässe Luzifers und eine talentvolle Mimik. Er machte Heinesche Gedichte
und liebte eine dreißigjährige Dame. Durch die Erwerbung einer
literarischen Bildung in Anspruch genommen, konnte er der Schule nur
wenig Aufmerksamkeit gewähren. Das Lehrerkollegium, dem es aufgefallen
war, daß Lohmann immer erst im letzten Quartal zu arbeiten begann, hatte
ihn trotz seiner zum Schluß genügenden Leistungen sitzen lassen, schon
in zwei Klassen. So saß Lohmann, grade wie sein Freund, mit siebzehn
Jahren noch unter lauter Vierzehn- und Fünfzehnjährigen. Und wenn von
Ertzum dank seiner körperlichen Entwicklung zwanzig zu sein schien, so
erhöhten sich Lohmanns Jahre dadurch, daß ihn der Geist berührt hatte.
Was mußte nun einem Lohmann der hölzerne Hanswurst dort auf dem Katheder
für einen Eindruck machen; dieser an einer fixen Idee leidende Tölpel.
Wenn Unrat ihn aufrief, trennte er sich ohne Eile von seiner der Klasse
fernstehenden Lektüre, und die breite, gelbblasse Stirn in befremdeten
Querfalten, prüfte er aus verächtlich gesenkten Lidern die ärmliche
Verbissenheit des Fragestellers, den Staub in des Schulmeisters Haut,
die Schuppen auf seinem Rockkragen. Schließlich warf er einen Blick auf
seine eigenen geschliffenen Fingernägel. Unrat haßte Lohmann beinahe
mehr als die andern, wegen seiner unnahbaren Widersetzlichkeit, und fast
auch deshalb, weil Lohmann ihm =nicht= seinen Namen gab; denn er fühlte
dunkel, das sei noch schlimmer gemeint. Lohmann vermochte den Haß des
armen Alten beim besten Willen nicht anders zu erwidern als mit matter
Geringschätzung. Ein wenig von Ekel beträufeltes Mitleid kam auch hinzu.
Aber durch die Kränkung von Ertzums sah er sich persönlich
herausgefordert. Er empfand, als der einzige unter dreißig, Unrats
öffentliche Lebensbeschreibung des von Ertzumschen Onkels als eine
niedrige Handlung. Zuviel durfte man dem Schlucker dort oben nicht
erlauben. Lohmann entschloß sich also. Er stand auf, stützte die Hände
auf den Tischrand, sah dem Professor neugierig beobachtend in die Augen,
als habe er einen merkwürdigen Versuch vor, und deklamierte vornehm
gelassen:
»Ich kann hier nicht mehr arbeiten, Herr Professor. Es riecht auffallend
nach Unrat.«
Unrat machte einen Sprung im Sessel, spreizte beschwörend eine Hand und
klappte stumm mit den Kiefern. Hierauf war er nicht vorbereitet gewesen
-- nachdem er noch soeben einem Verworfenen die Relegation in Aussicht
gestellt hatte. Sollte er nun auch diesen Lohmann »fassen«? Nichts wäre
ihm erwünschter gekommen. Aber -- konnte er es ihm »beweisen«?.. In
diesem atemlosen Augenblick reckte der kleine Kieselack seine blauen
Finger mit den zerbissenen Nägeln in die Höhe, knallte mit ihnen und
keifte gequetscht:
»Lohmann läßt einen nicht ruhig nachdenken, er sagt immer, hier riecht
es nach Unrat.«
Es entstand Kichern, und einige scharrten. Da ward Unrat, der schon den
Wind des Aufruhrs im Gesicht spürte, von Panik ergriffen. Er fuhr vom
Stuhl auf, machte über das Pult hinweg eckige Stöße nach allen Seiten,
wie gegen zahllose Anstürmende, und rief:
»Ins Kabuff! Alle ins Kabuff!«
Es wollte nicht ruhig werden; Unrat glaubte sich nur noch durch einen
Gewaltstreich retten zu können. Er stürzte sich, ehe jener es vermuten
konnte, auf Lohmann, packte ihn am Arm, zerrte und schrie erstickt:
»Fort mit Ihnen, Sie sind nicht länger würdig, der menschlichen
Gesellschaft teilhaftig zu sein!«
Lohmann folgte, gelangweilt und peinlich berührt. Zum Schluß gab Unrat
ihm einen Ruck und versuchte ihn gegen die Tür des Garderobengelasses zu
schleudern; doch dies mißlang. Lohmann staubte sich ab an der Stelle, wo
Unrat ihn angefaßt hatte, und verfügte sich besonnenen Schrittes in das
»Kabuff«. Darauf sah der Lehrer sich nach Kieselack um. Der aber hatte
sich hinter seinem Rücken an ihm vorbeigewunden und drückte sich schon,
mit einer Fratze, in das Arrestlokal. Der Primus mußte den Professor
darüber aufklären, wo Kieselack sei. Unvermittelt verlangte nun Unrat,
die Klasse solle durch den Zwischenfall keinen Augenblick von der
Jungfrau abgelenkt worden sein.
»Warum schreiben Sie nicht? Fünfzehn Minuten noch! Und die unfertigen
Arbeiten werde ich -- immer mal wieder -- nicht zensieren!«
Infolge dieser Drohung fiel den meisten überhaupt nichts mehr ein, und
es entstanden angstvolle Mienen. Unrat war zu erregt, um eine rechte
Freude daran zu haben. In ihm war der Drang, jeden je möglichen
Widerstand zu brechen, alle bevorstehenden Attentate zu vereiteln, es
ringsumher noch stummer zu machen, Kirchhofsruhe herzustellen. Die drei
Rebellen waren beseitigt, aber ihre Hefte, aufgeschlagen auf den Bänken,
schienen ihm noch immer den Geist der Empörung auszuströmen. Er raffte
sie zusammen und begab sich mit ihnen auf das Katheder.
Von Ertzums und Kieselacks Arbeiten waren mühselige und ungelenke
Satzgefüge, die nur zu sehr von gutem Willen zeugten. Bei Lohmann war es
sogleich unbegreiflich, daß er keine »Disposition« gemacht hatte, keine
Einteilung seiner Abhandlung in A, B, C, a, b, c und 1, 2, 3. Auch hatte
er nur eine einzige Seite fertig gebracht, die Unrat mit schnell
wachsender Entrüstung zur Kenntnis nahm. Es stand dort:
»Die dritte Bitte des Dauphins (Jungfrau von Orleans I 10).
Die junge Johanna führt sich, geschickter als ihre Jahre und
ihre bäurische Vergangenheit es vermuten ließen, durch ein
Taschenspielerkunststück bei Hofe ein. Sie gibt dem Dauphin einen
Inhaltsauszug aus den drei Bitten, die er in der letzten Nacht an den
Himmel gerichtet hat, und macht durch ihre Fertigkeit im Gedankenlesen
natürlich starken Eindruck auf die unwissenden großen Herren. Ich sagte:
aus den drei Bitten; aber tatsächlich wiederholt sie nur zwei: die
dritte erläßt ihr der überzeugte Dauphin. Zu ihrem Glück: denn sie würde
die dritte schwerlich noch gewußt haben. Sie hat ihm bei den beiden
ersten ja schon alles gesagt, worum er seinen Gott gebeten haben =kann=,
nämlich: wenn eine noch ungebüßte Schuld seiner Väter vorhanden sei, ihn
selbst als Opfer anzunehmen statt seines Volkes; und wenn er schon Land
und Krone verlieren solle, ihm wenigstens Zufriedenheit, seinen Freund
und seine Geliebte zu lassen. Auf das Wichtigste, auf die Herrschaft,
hat er somit schon verzichtet. Was soll er also noch erbeten haben?
Suchen wir nicht lange: er weiß es selbst nicht. Johanna weiß es auch
nicht. Schiller weiß es auch nicht. Der Dichter hat von dem, was er
wußte, nichts zurückbehalten und dennoch »und so weiter« gesagt. Das ist
das ganze Geheimnis, und für den mit der wenig bedenklichen Natur des
Künstlers einigermaßen Vertrauten gibt es dabei nichts zu verwundern.«
Punktum. Das war alles -- und Unrat, den ein Zittern beschlich, kam jäh
zu der Erkenntnis: =diesen= Schüler zu beseitigen, vor =diesem=
Ansteckungsstoff die menschliche Gesellschaft zu behüten, das dränge
weit mehr als die Entfernung des einfältigen von Ertzum. Zugleich warf
er einen Blick auf das folgende Blatt, wo noch einiges gekritzelt stand,
und das übrigens halb herausgerissen im Heft hing. Aber plötzlich, in
dem Augenblick als er verstand, überflog etwas wie eine rosa Wolke die
gewinkelten Wangen des Lehrers. Er schloß das Heft, rasch und
verstohlen, als wolle er nichts gesehen haben; öffnete es nochmals, warf
es gleich wieder unter die beiden andern, atmete im Kampf. Er empfand
zwingend: da wurde es Zeit, der mußte »gefaßt« werden! Ein Mensch, mit
dem es dahin gekommen war, daß er diese -- gewiß denn freilich --
Künstlerin Rosa -- Rosa -- Er griff zum drittenmal nach Lohmanns Heft.
Da klingelte es schon.
»Abliefern!« stieß Unrat aus, in der heftigen Besorgnis, ein Schüler,
der bisher nicht fertig geworden war, könne vielleicht im letzten
Augenblick noch zu einer befriedigenden Note gelangen. Der Primus
sammelte die Aufsätze ein; einige belagerten die Tür nach der Garderobe.
»Weg dort! Warten!« rief Unrat, in neuer Angst. Am liebsten hätte er
abgeschlossen, die drei Elenden unter Verschluß behalten, solange, bis
er ihren Untergang gesichert haben würde. Das ging nicht so rasch, hier
mußte logisch nachgedacht werden. Der Fall Lohmann blendete ihn
vorläufig noch durch ein Übermaß von Verworfenheit.
Mehrere von den Kleinsten pflanzten sich in beleidigtem Rechtsgefühl vor
das Katheder hin.
»Unsere Sachen, Herr Professor!«
Unrat mußte das »Kabuff« freigeben. Aus dem Gedränge wickelten sich
nacheinander die drei Verbannten, schon in ihren Mänteln. Lohmann
stellte gleich von der Schwelle her fest, daß sein Heft in den Händen
Unrats sei, und bedauerte gelangweilt den Übereifer des alten Tölpels.
Jetzt mußte sich möglichenfalls sein Erzeuger in Bewegung setzen und mit
dem Direktor reden!
Von Ertzum zog nur die rotblonden Brauen ein Stück höher in seinem
Gesicht, das sein Freund Lohmann den »besoffenen Mond« nannte. Kieselack
seinerseits hatte sich im »Kabuff« auf eine Verteidigung vorbereitet.
»Herr Professor, es ist nicht wahr, ich hab' nicht gesagt, daß es nach
Unrat riecht. Ich hab' nur gesagt, =er= sagt immer --«
»Schweigen Sie!« herrschte Unrat, bebend, ihn an. Er schob den Hals vor
und zurück, hatte sich gefaßt und setzte gedämpft hinzu:
»Ihr Schicksal hängt jetzt nunmehr immerhin ganz dicht über Ihren
Köpfen. Gehen Sie!«
Darauf gingen die Drei zum Essen, jeder mit seinem Schicksal über sich.
Auch Unrat aß, und dann legte er sich auf das Sofa. Aber wie es alle
Tage ging, warf im rechten Moment, als er einnicken wollte, nebenan
seine Haushälterin ein Geschirr hin. Unrat fuhr auf und griff sofort
wieder nach Lohmanns Aufsatzheft, während er sich rosa färbte, als läse
er das die Scham Verletzende, das darin stand, zum erstenmal. Dabei ließ
es sich schon gar nicht mehr schließen, so sehr auseinandergebogen war
es an der Stelle, wo die »Huldigung an die hehre Künstlerin Fräulein
Rosa Fröhlich« sich befand. Der Überschrift folgten einige unleserlich
gemachte Zeilen, dann ein freier Raum und dann:
»Du bist verderbt bis in die Knochen,
Doch bist du 'ne große Künstlerin;
Und kommst du erst mal in die Wochen --«
Den Reim hatte der Sekundaner noch zu finden. Aber der Konditionale im
dritten Vers sagte viel. Er ließ vermuten, Lohmann sei an ihm persönlich
beteiligt. Dies ausdrücklich zu bestätigen, war vielleicht die Aufgabe
des vierten Verses gewesen. Unrat machte zur Erratung dieses fehlenden
vierten Verses grade solche verzweifelten Anstrengungen, wie seine
Klasse gemacht hatte zur Auffindung der dritten Bitte des Dauphins. Der
Schüler Lohmann schien sich, durch diesen vierten Vers, über Unrat
lustig zu machen, und Unrat rang mit dem Schüler Lohmann, in wachsender
Leidenschaft, voll des dringenden Bedürfnisses, ihm zu zeigen, er selbst
sei zuletzt doch der Stärkere. Er wollte ihn schon hineinlegen!
Die noch unförmlichen Entwürfe künftiger Handlungen bewegten sich in
Unrat. Sie ließen ihn nicht mehr stillhalten, er mußte seinen alten
Radmantel umhängen und ausgehn. Es regnete dünn und kalt. Er schlich,
die Hände auf dem Rücken, die Stirn gesenkt, und ein giftiges Lächeln in
den Mundfalten, um die Lachen der Vorstadtstraße herum. Ein Kohlenwagen
und ein paar kleine Kinder, sonst begegnete ihm nichts. Beim Krämer an
der Ecke hing hinter der Tür eine Ankündigung des Stadttheaters: Wilhelm
Tell. Unrat, von einer Idee getroffen, schoß mit eingeknickten Knien
darauf zu ... Nein, eine Rosa Fröhlich kam auf dem Zettel nicht vor.
Trotzdem konnte jene Frauensperson in diesem Kunstinstitut beschäftigt
sein. Herr Dröge, der Krämer, der das Programm an sein Fenster hing, war
vermutlich in den einschlägigen Dingen bewandert. Unrat hatte schon die
Hand auf dem Türgriff; aber er holte sie erschrocken zurück und machte
sich davon. Nach einer Schauspielerin fragen, in seiner eigenen Straße!
Er durfte die Klatschsucht solcher tiefstehenden, in den humanistischen
Wissenschaften unerfahrenen Bürger nicht außer Acht lassen. Bei der
Entlarvung des Schülers Lohmann mußte Unrat geheim und geschickt zu
Werke gehn ... Er bog in die Allee nach der Stadt.
Gelang es ihm, dann zog Lohmann im Sturz auch von Ertzum und Kieselack
nach sich. Vorher wollte Unrat dem Direktor keine Anzeige erstatten
darüber, daß man ihn bei seinem Namen genannt hatte. Es würde sich von
selbst zeigen, daß Solche, die das taten, auch jeder andern
Unsittlichkeit fähig waren. Unrat wußte es; er hatte es an seinem
eigenen Sohn erfahren. Diesen hatte Unrat von einer Witwe, die ihn einst
als Jüngling mit den Mitteln zu fernerem Studium versehen hatte, die er
dafür vertragsmäßig, sobald er im Amt war, geheiratet hatte, die knochig
und streng gewesen war, und nun tot war. Sein Sohn sah nicht schöner aus
als er selbst, und war überdies noch einäugig. Trotzdem hatte er sich
als Student bei Besuchen in der Stadt, auf offenem Markt mit
zweideutigen Frauenzimmern blicken lassen. Und wenn er einerseits in
schlechter Gesellschaft viel Geld vertat, so war er andererseits nicht
weniger als viermal durch das Examen gefallen, so daß er zwar immer noch
ein brauchbarer Beamter hatte werden können: doch nur auf Grund seines
Abiturientenzeugnisses. Ein peinlicher Abstand schied ihn von dem
höheren Menschen, der das Staatsexamen bestanden hatte. Unrat, der sich
entschlossen von dem Sohn getrennt hatte, begriff alles Geschehene; ja,
er hatte es fast vorausgesehen, seit er einst den Sohn belauscht hatte,
wie er im Gespräch mit Kameraden den eigenen Vater bei seinem Namen
genannt hatte!
Ein ähnliches Geschick durfte er also für Kieselack, von Ertzum und
Lohmann erhoffen, besonders aber für Lohmann, bei dem es ja, dank der
Künstlerin Rosa Fröhlich, im Anzuge schien. Mit der Rache an Lohmann
eilte es Unrat. Die beiden andern verschwanden fast neben diesem
Menschen und seinen unbeteiligten Manieren und dem neugierigen Bedauern,
womit er zusah, wenn der Lehrer zornig war. Was war denn überhaupt das
für ein Schüler?.. Unrat sann mit grabendem Haß über Lohmann nach. Unter
dem spitzbedachten Stadttor blieb er plötzlich stehn und sagte laut:
»Das sind die Allerschlimmsten!«
Ein Schüler war ein mausgraues, unterworfenes und heimtückisches Wesen,
ohne anderes Leben als das der Klasse und immer im unterirdischen Krieg
gegen den Tyrannen: so war Kieselack; oder ein dummer, starker Kerl, den
der Tyrann durch seine geistige Vorherrschaft in fortwährender
Verstörtheit erhielt -- wie von Ertzum. Lohmann aber, der schien ja den
Tyrannen =anzuzweifeln=! Unrat kochte allmählich von der Demütigung der
schlecht bezahlten Autorität, vor der ein Untergebener sich in guten
Kleidern spreizt und mit Geld klimpert. Das waren überhaupt, ward ihm
auf einmal klar, alles Unverschämtheiten und nichts weiter! Daß Lohmann
niemals staubig aussah, immer saubere Manschetten trug und solche
Gesichter machte: Unverschämtheiten. Der Aufsatz von heute, die
Kenntnisse, die dieser Schüler sich außerhalb der Schule holte und von
denen die verwerflichste die Künstlerin Rosa Fröhlich war:
Unverschämtheiten. Und als Unverschämtheit stellte sich nun mit
Sicherheit heraus, daß Lohmann Unrat =nicht= bei seinem Namen nannte!
Darauf erstieg Unrat den Rest der steilen Straße zwischen den
Giebelhäusern, gelangte an eine Kirche, wo Sturm herrschte, und den
Mantel um sich her zusammengerafft, wieder ein Stück hinab. Nun kam ein
Seitenweg, und vor einem der ersten Gebäude zögerte Unrat. Rechts und
links neben der Tür hingen zwei hölzerne Kästen, hinter deren
Drahtgittern das Programm stak mit Wilhelm Tell. Unrat las es erst in
dem einen Kasten, dann in dem andern. Schließlich betrat er, ängstlich
umherspähend, den Torweg und den offenen Flur. Hinter einem kleinen
Fenster schien bei einer Lampe ein Mann zu sitzen; Unrat konnte in
seiner Aufregung schlecht erkennen. An diesem Ort war er seit gewiß
zwanzig Jahren nicht mehr gewesen; und er litt unter der Besorgnis des
Herrschers, der sein Gebiet verlassen hat: man möchte ihn verkennen, ihm
aus Unwissenheit zu nahe treten, ihn nötigen, sich als Mensch zu fühlen.
Er stand schon eine Weile vor dem Fensterchen und räusperte sich leise.
Als nichts erfolgte, pochte er an, mit der Spitze seines gekrümmten
Zeigefingers. Der Kopf dahinter schrak in die Höhe und streckte sich
sogleich aus dem zurückgeschobenen Schalter.
»Sie wünschen?« fragte er heiser.
Unrat bewegte zuerst nur die Lippen. Sie sahen einander an, er und der
abgedankte Schauspieler mit den tiefen, blauschwarzen Zügen, der flachen
Nasenspitze und dem Klemmer darauf. Unrat brachte hervor:
»So? Sie geben denn also den Wilhelm Tell. Das ist recht von Ihnen.«
Der Kassierer sagte:
»Wenn Sie meinen, wir tun's zu unserm Privatvergnügen.«
»Das habe ich Ihnen nicht unterstellen wollen«, versicherte Unrat, voll
Angst vor Verwickelungen.
»Man verkauft ja nischt. Bloß, daß die klassischen Vorstellungen in dem
Pachtvertrag drinstehn, den wir mit der Stadt haben.«
Unrat fand es geboten, sich bekannt zu geben.
»Ich bin nämlich der Professor Un-- der Professor Raat, Ordinarius der
Untersekunda am hiesigen Gymnasium.«
»Sehr angenehm. Mein Name ist Blumenberg.«
»Und ich würde recht gern mit meiner Klasse die Aufführung eines
klassischen Dichterwerkes besuchen.«
»Ach, das ist aber ganz reizend von Ihnen, Herr Professor. Mit der
Nachricht werd' ich bei unserm Direktor den größten Erfolg haben, da
zweifle ich keinen Augenblick.«
»Aber«, und Unrat erhob den Finger, »es müßte -- wahrlich doch --
dasjenige von den Dramen unseres Schiller sein, das wir in der Klasse
lesen, nämlich -- immer mal wieder -- die Jungfrau von Orleans.«
Der Schauspieler ließ die Lippen fallen, senkte den Kopf und sah von
unten, mit Trauer und Vorwurf, zu Unrat auf.
»Das tut mir aber fabelhaft leid. Weil wir die erst wieder einstudieren
müßten, wissen Sie. Ist Ihnen wirklich mit 'm Tell nicht gedient? Der
ist doch auch ganz hübsch für die Jugend.«
»Nein,« entschied Unrat, »das geht auf keinen Fall. Wir brauchen die
Jungfrau. Und zwar käme es -- aufgemerkt nun also! --«
Unrat schöpfte Atem, sein Herz klopfte.
»-- ganz besonders auf die Darstellerin der Johanna an. Denn diese soll
eine hehre Künstlerin sein, die den Schülern die erhabene Gestalt der
Jungfrau -- immer mal wieder -- recht nahe bringt.«
»Allerdings, allerdings«, sagte der Schauspieler, mit tiefem
Einverständnis.
»Da habe ich denn nun an eine Ihrer Damen gedacht, die ich, und
hoffentlich nicht mit Unrecht, auf das höchste habe preisen hören.«
»Ach nee.«
»Nämlich an das Fräulein Rosa Fröhlich.«
»Wie, bitte?«
»Rosa Fröhlich«, und Unrat hielt die Luft an.
»Fröhlich? Haben wir ja gar nicht.«
»Wissen Sie das auch ganz genau?« fragte Unrat, kopflos.
»Erlauben Sie, ich bin ja nicht meschugge.«
Unrat wagte den Mann nicht mehr anzusehn.
»Dann kann ich mir das aber gar nicht --«
Jener kam ihm zu Hilfe:
»Da muß wohl sicher 'ne Verwechslung vorliegen.«
»Ach ja«, sagte Unrat, kindlich dankbar.
»Entschuldigen Sie nur.«
Und er dienerte, während er sich zurückzog.
Der Kassierer war verblüfft. Schließlich rief er hinterher:
»Aber Herr Professohr, über den Fall läßt sich ja trotzdem reden.
Wieviel Billette würden Sie denn nehmen? Herr Pro --«
Unrat drehte sich unter der Tür noch einmal um, sein Lächeln war
verzerrt vor Angst vor dem Verfolger.
»Entschuldigen Sie doch nur.«
Und er war geflüchtet.
* * * * *
Ohne es zu merken, kam er die Straße hinunter und an den Hafen. Um ihn
her waren stampfende Tritte von Männern, die Säcke trugen, und breite
Rufe von andern, die sie zu Giebelluken hinaufwanden. Es roch nach
Fischen, Teer, Öl, Spiritus. Die Masten und Schlote dahinten im Fluß
verwickelten sich schon in Dämmerung. Inmitten der Betriebsamkeit, die
vor Dunkelwerden noch aufflackerte, ging Unrat dahin mit seinem
bohrenden Gedanken: Lohmann »fassen«, den Aufenthalt der Künstlerin
Fröhlich nachweisen.
Er ward angestoßen von Herren in englischen Anzügen, die mit
Frachtbriefen umherliefen, und von Arbeitern, die ihm »Achtung!«
zubrüllten. Die allgemeine Hast ergriff ihn; er drückte, ehe er's sich
versah, den Griff einer Tür, über der »Heuerbas« und irgendeine
schwedische oder dänische Inschrift stand. Im Laden lagen gerollte Taue,
Schiffszwieback, kleine, scharf riechende Fässer. Ein Papagei schrie:
»Duhn supen!« Mehrere Matrosen tranken, andere redeten, die Hände in den
Hosen, auf einen riesigen, rotbärtigen Mann ein. Der machte sich, es
dauerte eine Weile, aus den Tabakswolken des Hintergrundes los, stellte
sich hinter den Ladentisch, so daß der blecherne Reflektor der
Wandlaterne seinen Kahlkopf heftig beleuchtete, stemmte die Tatzen auf
die Kante und sagte plump:
»Wollen Sie was von mich, Herr?«
»Geben Sie mir,« verlangte Unrat leichthin, »eine Eintrittskarte für das
Sommertheater.«
»=Wat= sagen Sie?« fragte der Mann.
»Nun ja, für das Sommertheater. Da Sie denn nun einmal in Ihrem
Schaufenster anzeigen, daß Sie Billette zum Sommertheater verkaufen.«
»Wat soll ich doorvon denken, Herr,« und der Mann behielt den Mund
offen. »Das Sommertheater speelt doch nich in 'n Winter.«
Unrat versteifte sich auf sein Recht.
»Aber Sie haben es im Fenster, Mann.«
»Door kann 't jä ook bliewen!«
Das war herausgeplatzt; aber der Heuerbas nahm seine Achtung vor dem
bebrillten Herrn gleich wieder zusammen. Er suchte nach Gründen, die den
Fremden überzeugen konnten, das Sommertheater sei jetzt geschlossen. Um
seiner behutsamen Gedankenarbeit körperlich nachzuhelfen, gab er mit
seiner fürchterlichen, rotbehaarten Hand der Tischplatte von der Seite
ganz vorsichtige Streiche. Schließlich hatte er gefunden:
»Das weiß jä woll de dümmste Schooljong,« sagte er gutmütig, »daß in 'n
Winter kein Sommertheater is.«
»Erlauben Sie, Verehrter,« machte Unrat, überlegen abwehrend.
Der Mann rief zu Hilfe:
»Hinnerich! Laurenz!«
Die Matrosen kamen näher.
»Ick weit nich, wat mit em los is, hei will mit alle Macht in 'n
Willemsgorten.«