Professor Unrat - Heinrich Mann - E-Book

Professor Unrat E-Book

Heinrich Mann

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Beschreibung

Der bekannteste Roman Manns ist eine böse Satire auf das Deutsche Kaiserreich und die herrschende Doppelmoral. Der tyrannische Lehrer Raat – von allen nur Professor Unrat geschimpft – ist seinen Schülern in herzlicher Abneigung zugetan. Überkorrekt und überpenibel macht er ihnen das Leben schwer, selbst wenn diese schon die Schule verlassen haben. Das Unheil naht, als sich Raat, in der Absicht, einige Schüler beim Fehltritt zu ertappen, in eine anrüchige Spelunke verirrt, wo er die fortan an nur noch "Künstlerin" genannte Barsängerin Rosa Fröhlich kennenlernt: Ein liederliches Frauenzimmer, wild, unabhängig, ganz und gar nicht schicklich und sich ihrer Wirkung auf die Männer wohl bewusst. Kurz: eine Frau, für die die Zeit noch nicht reif war. Unrat, der ewige Witwer, verliebt sich und öffnet damit einer Lawine von Katastrophen Tür und Tor. Er macht sich zum Gespött, sein gesellschaftlicher Abstieg beginnt. Der Roman war Grundlage für einen der größten deutschen Kinoerfolge überhaupt: "Der blaue Engel" von 1930. Der Film zeigte den ersten starken, unabhängigen und ikonenhaften Frauencharakter überhaupt auf einer Leinwand und bildete das ewige Fundament für die Weltkarriere der Marlene Dietrich. Null Papier Verlag

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Heinrich Mann

Professor Unrat

Oder: Das Ende eines Tyrannen

Heinrich Mann

Professor Unrat

Oder: Das Ende eines Tyrannen

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected] EV: Kurt Wolff Verlag, Leipzig, 1925 2. Auflage, ISBN 978-3-962818-19-7

null-papier.de/angebote

Inhaltsverzeichnis

An­mer­kun­gen zur Be­ar­bei­tung

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

VII.

VIII.

IX.

X.

XI.

XII.

XIII.

XIV.

XV.

XVI.

XVII.

Dan­ke

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Ihr Jür­gen Schul­ze

Anmerkungen zur Bearbeitung

Schreib­wei­se und In­ter­punk­ti­on des Ori­gi­nal­tex­tes wur­den über­nom­men; le­dig­lich of­fen­sicht­li­che Druck­feh­ler wur­den kor­ri­giert.

Die Or­tho­gra­fie wur­de der heu­ti­gen Schreib­wei­se be­hut­sam an­ge­gli­chen.

Grund­la­ge die­ser Ver­öf­fent­li­chun­gen bil­den fol­gen­de Aus­ga­ben:

Al­bert Lan­gen, 1905.

Kurt Wolff Ver­lag, Leip­zig, 1925

I.

Da er Raat hieß, nann­te die gan­ze Schu­le ihn Un­rat. Nichts konn­te ein­fa­cher und na­tür­li­cher sein. Der und je­ner Pro­fes­sor wech­sel­ten zu­wei­len ihr Pseud­onym. Ein neu­er Schub Schü­ler ge­lang­te in die Klas­se, leg­te mord­gie­rig eine vom vo­ri­gen Jahr­gang noch nicht ge­nug ge­wür­dig­te Ko­mik an dem Leh­rer bloß und nann­te sie scho­nungs­los bei Na­men. Un­rat aber trug den sei­ni­gen seit vie­len Ge­ne­ra­tio­nen, der gan­zen Stadt war er ge­läu­fig, sei­ne Kol­le­gen be­nutz­ten ihn au­ßer­halb des Gym­na­si­ums und auch drin­nen, so­bald er den Rücken dreh­te. Die Her­ren, die in ih­rem Hau­se Schü­ler ver­pfleg­ten und sie zur Ar­beit an­hiel­ten, spra­chen vor ih­ren Pen­sio­nären vom Pro­fes­sor Un­rat. Der auf­ge­weck­te Kopf, der den Or­di­na­ri­us der Un­ter­se­kun­da hät­te neu be­ob­ach­ten und noch­mals ab­stem­peln wol­len, wäre nie durch­ge­drun­gen; schon dar­um nicht, weil der ge­wohn­te Ruf auf den al­ten Leh­rer noch so gut sei­ne Wir­kung übte wie vor sechs­und­zwan­zig Jah­ren. Man brauch­te nur auf dem Schul­hof, so­bald er vor­bei­kam, ein­an­der zu­zu­schrei­en:

»Riecht es hier nicht nach Un­rat?«

Oder:

»Oho! Ich wit­te­re Un­rat!«

Und so­fort zuck­te der Alte hef­tig mit der Schul­ter, im­mer mit der rech­ten, zu ho­hen, und sand­te schief aus sei­nen Bril­lenglä­sern einen grü­nen Blick, den die Schü­ler falsch nann­ten, und der scheu und rach­süch­tig war: der Blick ei­nes Ty­ran­nen mit schlech­tem Ge­wis­sen, der in den Fal­ten der Män­tel nach Dol­chen späht. Sein höl­zer­nes Kinn mit dem dün­nen, grau­gel­ben Bärt­chen dar­an klapp­te her­un­ter und hin­auf. Er konn­te dem Schü­ler, der ge­schri­en hat­te, »nichts be­wei­sen« und muss­te weiter­schlei­chen auf sei­nen ma­gern, ein­ge­knick­ten Bei­nen und un­ter sei­nem fet­ti­gen Mau­rer­hut.

Zu sei­ner Ju­bel­fei­er im Vor­jahr hat­te das Gym­na­si­um ihm einen Fa­ckel­zug ge­bracht. Er war auf sei­nen Bal­kon ge­tre­ten und hat­te ge­re­det. Wäh­rend alle Köp­fe, in den Na­cken ge­legt, zu ihm hin­aufsa­hen, war plötz­lich eine un­schö­ne Quetsch­stim­me los­ge­gan­gen:

»Da ist Un­rat in der Luft!«

An­de­re hat­ten wie­der­holt:

»Un­rat in der Luft! Un­rat in der Luft!«

Der Pro­fes­sor dort oben fing an zu stot­tern, ob­wohl er den Zwi­schen­fall vor­aus­ge­sehn hat­te, und sah da­bei je­dem der Schrei­er in den ge­öff­ne­ten Mund. Die an­de­ren Her­ren stan­den in der Nähe; er fühl­te, dass er wie­der ein­mal »nichts be­wei­sen« kön­ne; aber er merk­te sich alle Na­men. Schon tags dar­auf gab der mit der ge­quetsch­ten Stim­me da­durch, dass er das Hei­mat­dorf der »Jung­frau von Or­leans« nicht kann­te, dem Pro­fes­sor Ge­le­gen­heit zu der Ver­si­che­rung, er wer­de ihm im Le­ben noch oft­mals hin­der­lich sein. Rich­tig war die­ser Kie­se­lack zu Os­tern nicht ver­setzt wor­den. Mit ihm blie­ben die meis­ten in der Klas­se zu­rück von de­nen, die am Ju­bi­lä­ums­abend ge­schri­en hat­ten, so auch von Ertz­um. Loh­mann hat­te nicht ge­schri­en und blieb den­noch sit­zen. Die­ser er­leich­ter­te die Ab­sicht Un­rats durch sei­ne Träg­heit und je­ner durch sei­ne Un­be­gabt­heit. Nächs­ten Spät­herbst nun, an ei­nem Vor­mit­tag um elf, in der Pau­se vor dem Klas­sen­auf­satz über die »Jung­frau von Or­leans«, ge­sch­ah es, dass von Ertz­um, der der Jung­frau im­mer noch nicht nä­her­ge­tre­ten war und eine Ka­ta­stro­phe vor­aus­sah, in ei­nem An­fall schwer­fäl­li­ger Verzweif­lung das Fens­ter auf­riss und aufs Ge­ra­te­wohl mit wüs­ter Stim­me in den Ne­bel hin­aus­brüll­te:

»Un­rat!«

Es war ihm un­be­kannt, ob der Pro­fes­sor in der Nähe sei, und es war ihm gleich­gül­tig. Der arme, brei­te Land­jun­ker war nur von dem Be­dürf­nis fort­ge­ris­sen wor­den, noch einen kur­z­en Au­gen­blick sei­nen Or­ga­nen frei­es Spiel zu ge­wäh­ren, be­vor er sich für zwei Stun­den hin­ho­cken muss­te vor ein wei­ßes Blatt, das leer war, und es mit Wor­ten be­de­cken aus sei­nem Kopf her­aus, der auch leer war. Tat­säch­lich aber ging Un­rat gra­de über den Hof. Als der Ruf aus dem Fens­ter ihn traf, mach­te er einen ecki­gen Sprung. Im Ne­bel dro­ben un­ter­schied er von Ertz­ums knor­ri­gen Um­riss. Kein Schü­ler hielt sich drun­ten auf, kei­nem konn­te von Ertz­um das Wort zu­ge­ru­fen ha­ben. »Die­ses Mal«, dach­te Un­rat frohlo­ckend, »hat er mich ge­meint. Dies­mal kann ich es ihm be­wei­sen!«

Er nahm die Trep­pe in fünf Sät­zen, riss die Klas­sen­tür auf, has­te­te zwi­schen den Bän­ken hin­durch, schwang sich, in das Ka­the­der ge­krallt, auf die Stu­fe. Da blieb er be­bend stehn und muss­te Atem schöp­fen. Die Se­kun­da­ner hat­ten sich zu sei­ner Be­grü­ßung er­ho­ben, und äu­ßers­ter Lärm war jäh in ein Schwei­gen ver­sun­ken, das förm­lich be­täub­te. Sie sa­hen ih­rem Or­di­na­ri­us zu wie ei­nem ge­mein­ge­fähr­li­chen Vieh, das man lei­der nicht tot­schla­gen durf­te, und das au­gen­blick­lich so­gar einen pein­li­chen Vor­teil über sie ge­won­nen hat­te. Un­rats Brust ar­bei­te­te hef­tig; schließ­lich sag­te er mit sei­ner be­gra­be­nen Stim­me:

»Es ist mir da vor­hin im­mer mal wie­der ein Wort zu­ge­ru­fen wor­den, eine Be­zeich­nung – ein Name denn also: ich bin nicht ge­willt, ihn mir bie­ten zu las­sen. Ich wer­de die­se Schmä­hung durch sol­che Men­schen, als wel­che ich Sie ken­nen­zu­ler­nen lei­der Ge­le­gen­heit hat­te, nie dul­den, mer­ken Sie sich das! Ich wer­de Sie fas­sen, wo im­mer ich es ver­mag. Ihre Ver­wor­fen­heit, von Ertz­um, nicht ge­nug da­mit, dass sie mir Ab­scheu ein­flö­ßt, soll sie an der Fes­tig­keit ei­nes Ent­schlus­ses wie Glas zer­bre­chen, den ich Ih­nen hier­mit ver­kün­de. Noch heu­te wer­de ich von Ih­rer Tat dem Herrn Di­rek­tor An­zei­ge er­stat­ten, und was in mei­ner Macht steht, soll – traun für­wahr – ge­sche­hen, da­mit die An­stalt we­nigs­tens von dem schlimms­ten Ab­schaum der mensch­li­chen Ge­sell­schaft be­freit wer­de!«

Da­rauf riss er sich den Man­tel von den Schul­tern und zisch­te:

»Set­zen!«

Die Klas­se setz­te sich, nur von Ertz­um blieb stehn. Sein di­cker, gelb punk­tier­ter Kopf war jetzt so feu­er­rot wie die Bors­ten oben dar­auf. Er woll­te et­was sa­gen, setz­te mehr­mals an, gab es wie­der auf. Schließ­lich stieß er her­aus:

»Ich bin es nicht ge­we­sen, Herr Pro­fes­sor!«

Meh­re­re Stim­men un­ter­stütz­ten ihn, op­fer­freu­dig und so­li­da­risch:

»Er ist es nicht ge­we­sen!«

Un­rat stampf­te auf:

»Stil­le! … Und Sie, von Ertz­um, mer­ken Sie sich, dass Sie nicht der ers­te Ihres Na­mens sind, den ich in sei­ner Lauf­bahn – ge­wiss nun frei­lich – be­trächt­lich auf­ge­hal­ten habe, und dass ich Ih­nen auch fer­ner Ihr Fort­kom­men, wenn nicht gar un­mög­lich ma­chen, so doch, wie sei­ner­zeit Ihrem On­kel, we­sent­lich er­schwe­ren wer­de. Sie wol­len Of­fi­zier wer­den, nicht wahr, von Ertz­um? Das woll­te Ihr On­kel auch. Weil er je­doch das Ziel der Klas­se nie er­reich­te und das Rei­fe­zeug­nis für den Ein­jäh­rig-Frei­wil­li­gen-Dienst – auf­ge­merkt nun also – ihm dau­ernd ver­sagt wer­den muss­te, kam er auf eine so­ge­nann­te Pres­se, wo er je­doch eben­falls ge­schei­tert sein mag, so­dass er end­lich nur in­fol­ge ei­nes be­son­de­ren Gna­den­ak­tes sei­nes Lan­des­herrn – doch nun im­mer­hin – den Zu­tritt zur Of­fi­ziers­kar­rie­re er­lang­te, die er dann aber, scheint es, bald wie­der un­ter­bre­chen muss­te. Wohl­an! Das Schick­sal Ihres On­kels, von Ertz­um, dürf­te auch das Ihre wer­den oder doch dem je­nes sich ähn­lich ge­stal­ten. Ich wün­sche Ih­nen Glück dazu, von Ertz­um. Mein Ur­teil über Ihre Fa­mi­lie, von Ertz­um, steht seit fünf­zehn Jah­ren fest … Und nun …«

Hier­bei schwoll Un­rats Stim­me un­ter­ir­disch an.

»Sie sind nicht wür­dig, an der er­ha­be­nen Jung­frau­en­ge­stalt, zu der wir jetzt über­ge­hen, Ihre geist­lo­se Fe­der zu wet­zen. Fort mit Ih­nen ins Ka­buff!«

Von Ertz­um, lang­sam von Ver­ständ­nis, lausch­te noch im­mer. Vor an­ge­streng­ter Auf­merk­sam­keit ahm­te er un­be­wusst mit den Kie­fern die Be­we­gun­gen nach, die der Pro­fes­sor mit den sei­ni­gen voll­führ­te. Un­rats Kinn, in des­sen obe­rem Rand meh­re­re gel­be Grä­ten sta­ken, roll­te, wäh­rend er sprach, zwi­schen den höl­zer­nen Mund­fal­ten wie auf Ge­lei­sen, und sein Spei­chel spritz­te bis auf die vor­ders­te Bank. Er schrie auf:

»Sie ha­ben die Kühn­heit, Bur­sche! … Fort, sage ich, ins Ka­buff!«

Auf­ge­scheucht dräng­te von Ertz­um sich aus der Bank her­vor. Kie­se­lack raun­te ihm zu:

»Mensch, wehr dich doch!«

Loh­mann, da­hin­ter, ver­hieß un­ter­drückt:

»Lass nur, den krie­gen wir noch wie­der kir­re.«

Der Ver­ur­teil­te troll­te sich am Ka­the­der vor­bei, in das Ge­lass, das der Klas­se als Gar­de­ro­be diente, und worin es stock­fins­ter war. Un­rat stöhn­te vor Er­leich­te­rung, als hin­ter dem brei­ten Men­schen sich die Tür ge­schlos­sen hat­te.

»Nun wol­len wir die Zeit nach­ho­len«, sag­te er, »die uns die­ser Bur­sche ge­stoh­len hat. Angst, hier ha­ben Sie das The­ma, schrei­ben Sie es an die Ta­fel.«

Der Pri­mus nahm den Zet­tel vor sei­ne kurz­sich­ti­gen Au­gen und mach­te sich lang­sam ans Schrei­ben. Alle sa­hen mit Span­nung un­ter der Krei­de die Buch­sta­ben ent­stehn, von de­nen so viel ab­hing. Wenn es nun eine Sze­ne be­traf, die man zu­fäl­lig nie »prä­pa­riert« hat­te, dann hat­te man »kei­nen Dunst« und »saß drin«. Aus Aber­glau­be sag­te man, noch be­vor die Sil­ben an der Ta­fel einen Sinn an­nah­men:

»O Gott, ich fall’ rein.«

Schließ­lich stand dort oben zu le­sen:

Jo­han­na: Es wa­ren drei Ge­be­te, die du tatst; Gib wohl acht, Dau­phin, ob ich sie dir nen­ne!

(»Jung­frau von Or­leans«, I. Auf­zug, 10. Auf­tritt.)

The­ma: Das drit­te Ge­bet des Dau­phins.

Als sie dies ge­le­sen hat­ten, sa­hen alle ein­an­der an. Denn alle »sa­ßen drin«. Un­rat hat­te sie »hin­ein­ge­legt«. Er ließ sich mit ei­nem schie­fen Lä­cheln im Lehn­stuhl auf dem Ka­the­der nie­der und blät­ter­te in sei­nem No­tiz­buch.

»Nun?« frag­te er, ohne auf­zu­sehn, als sei al­les klar, »wol­len Sie noch was wis­sen? … Also los!«

Die meis­ten knick­ten über ih­rem Heft zu­sam­men und ta­ten, als schrie­ben sie schon. Ei­ni­ge starr­ten ent­geis­tert vor sich hin.

»Sie ha­ben noch fünf­vier­tel Stun­den«, be­merk­te Un­rat gleich­mü­tig, wäh­rend er in­ner­lich ju­bel­te. Die­ses Auf­satz­the­ma hat­te noch kei­ner ge­fun­den von den un­be­greif­lich ge­wis­sen­lo­sen Schul­män­nern, die durch ge­druck­te Leit­fä­den es der Ban­de er­mög­lich­ten, mü­he­los und auf Esels­brücken die Ana­ly­se je­der be­lie­bi­gen Dra­men­sze­ne her­zu­stel­len.

Man­che in der Klas­se er­in­ner­ten sich des zehn­ten Auf­tritts im ers­ten Auf­zug und kann­ten bei­läu­fig die zwei ers­ten Ge­be­te Karls. Vom drit­ten wuss­ten sie nichts mehr, es war, als hät­ten sie es nie ge­le­sen. Der Pri­mus und noch zwei oder drei, dar­un­ter Loh­mann, wa­ren so­gar si­cher, sie hät­ten es nie ge­le­sen. Der Dau­phin ließ sich ja von der Pro­phe­tin nur zwei sei­ner nächt­li­chen Bit­ten wie­der­ho­len; das ge­nüg­te ihm, um an Jo­han­nas Gott­ge­sandt­heit zu glau­ben. Das drit­te stand schlech­ter­dings nicht da. Dann stand es ge­wiss an ei­ner an­de­ren Stel­le oder er­gab sich ir­gend­wo mit­tel­bar aus dem Zu­sam­men­hang; oder es ging gar ohne wei­te­res in Er­fül­lung, ohne dass man wis­sen konn­te, hier ging et­was in Er­fül­lung? Dass es einen Punkt ge­ben konn­te, wo er nie­mals auf­ge­merkt hat­te, das gab auch der Pri­mus Angst im Stil­len zu. Auf alle Fäl­le muss­te über die­ses drit­te Ge­bet, ja selbst über ein vier­tes und fünf­tes, wenn Un­rat es ver­langt hät­te, ir­gen­det­was zu sa­gen sein. Über Ge­gen­stän­de, von de­ren Vor­han­den­sein man nichts we­ni­ger als über­zeugt war, etwa über die Pf­licht­treue, den Se­gen der Schu­le und die Lie­be zum Waf­fen­dienst, eine ge­wis­se An­zahl Sei­ten mit Phra­sen zu be­de­cken, dazu war man durch den deut­schen Auf­satz seit Jah­ren er­zo­gen. Das The­ma ging einen nichts an; aber man schrieb. Die Dich­tung, der es ent­stamm­te, war ei­nem, da sie schon seit Mo­na­ten dazu diente, einen »hin­ein­zu­le­gen«, auf das gründ­lichs­te ver­lei­det; aber man schrieb mit Schwung.

Mit der »Jung­frau von Or­leans« be­schäf­tig­te die Klas­se sich seit Os­tern, seit drei­vier­tel Jah­ren. Den Sit­zen­ge­blie­be­nen war sie so­gar schon aus dem Vor­jahr ge­läu­fig. Man hat­te sie vor- und rück­wärts ge­le­sen, Sze­nen aus­wen­dig ge­lernt, ge­schicht­li­che Er­läu­te­run­gen ge­lie­fert, Poe­tik an ihr ge­trie­ben und Gram­ma­tik, ihre Ver­se in Pro­sa über­tra­gen und die Pro­sa zu­rück in Ver­se. Für alle, die beim ers­ten Le­sen Schmelz und Schim­mer auf die­sen Ver­sen ge­spürt hat­ten, wa­ren sie längst er­blin­det. Man un­ter­schied in der ver­stimm­ten Lei­er, die täg­lich wie­der ein­setz­te, kei­ne Me­lo­die mehr. Nie­mand ver­nahm die ei­gen wei­ße Mäd­chen­stim­me, in der geis­ter­haf­te, stren­ge Schwer­ter sich er­he­ben, der Pan­zer kein Herz mehr deckt, und En­gel­flü­gel, weit aus­ge­brei­tet, licht und grau­sam da­stehn. Wer von die­sen jun­gen Leu­ten spä­ter ein­mal un­ter der fast schwü­len Un­schuld je­ner Hir­tin ge­zit­tert hät­te, wer den Tri­umph der Schwä­che in ihr ge­liebt hät­te, wer um die kind­li­che Ho­heit, die, vom Him­mel ver­las­sen, zu ei­nem ar­men, hilf­los ver­lieb­ten klei­nen Mä­del wird, je ge­weint hät­te, der wird nun das al­les nicht so bald er­le­ben. Zwan­zig Jah­re viel­leicht wird er brau­chen, bis Jo­han­na ihm wie­der et­was an­de­res sein kann als eine stau­bi­ge Pe­dan­tin.

*

Die Fe­dern krit­zel­ten; Pro­fes­sor Un­rat lug­te, mit nichts wei­ter be­schäf­tigt, über die ge­beug­ten Na­cken hin­weg. Es war ein gu­ter Tag, an dem er einen »ge­fasst« hat­te, be­son­ders wenn es ei­ner war, der ihm »sei­nen Na­men« ge­ge­ben hat­te. Da­durch ward das gan­ze Jahr gut. Lei­der hat­te er schon seit zwei Jah­ren kei­nen der heim­tücki­schen Schrei­er mehr »fas­sen« kön­nen. Das wa­ren schlech­te Jah­re ge­we­sen. Ein Jahr war gut oder schlecht, je nach­dem Un­rat ei­ni­ge »fass­te« oder ih­nen »nichts be­wei­sen« konn­te.

Un­rat, der sich von den Schü­lern hin­ter­rücks an­ge­fein­det, be­tro­gen und ge­hasst wuss­te, be­han­del­te sie sei­ner­seits als Erb­fein­de, von de­nen man nicht ge­nug »hin­ein­le­gen« und vom »Ziel der Klas­se« zu­rück­hal­ten konn­te. Da er sein Le­ben ganz in Schu­len ver­bracht hat­te, war es ihm ver­sagt ge­blie­ben, die Kna­ben und ihre Din­ge in die Per­spek­ti­ve des Er­fah­re­nen zu schie­ben. Er sah sie so nah, wie ei­ner aus ih­rer Mit­te, der un­ver­se­hens mit Macht­be­fug­nis­sen aus­ge­stat­tet und aufs Ka­the­der er­ho­ben wäre. Er re­de­te und dach­te in ih­rer Spra­che, ge­brauch­te ihr Rot­welsch, nann­te die Gar­de­ro­be ein »Ka­buff«. Er hielt sei­ne An­spra­chen in dem Stil, den auch sie in sol­chen Fäl­len an­ge­wen­det ha­ben wür­den, näm­lich in la­ti­ni­sie­ren­den Pe­ri­oden und durch­wirkt mit »traun für­wahr«, »denn also« und ähn­li­chen Häu­fun­gen al­ber­ner klei­ner Flick­wor­te, Ge­wohn­hei­ten sei­ner Ho­mer­stun­de in Pri­ma; denn die leich­ten Um­ständ­lich­kei­ten des Grie­chen muss­ten alle recht plump mit­über­setzt wer­den. Da er sel­ber stei­fe Glied­ma­ßen be­kom­men hat­te, ver­lang­te er das glei­che von den an­de­ren In­sas­sen der An­stalt. Das fort­wäh­ren­de Be­dürf­nis in ju­gend­li­chen Glie­dern und in ju­gend­li­chen Ge­hir­n­en, in de­nen von Kna­ben, von jun­gen Hun­den – ihr Be­dürf­nis zu ja­gen, Lärm zu ma­chen, Püf­fe aus­zu­tei­len, weh zu tun, Strei­che zu be­gehn, über­flüs­si­gen Mut und Kraft ohne Ver­wen­dung auf nichts­nut­zi­ge Wei­se los­zu­wer­den: Un­rat hat­te es ver­ges­sen und nie be­grif­fen. Wenn er straf­te, tat er es nicht mit dem über­le­ge­nen Vor­be­halt: »Ihr seid Ran­gen, wie’s euch zu­kommt, aber Zucht muss sein«; son­dern er straf­te im Ernst und mit zu­sam­men­ge­bis­se­nen Zäh­nen. Was in der Schu­le vor­ging, hat­te für Un­rat Ernst und Wirk­lich­keit des Le­bens. Träg­heit kam der Ver­derb­lich­keit ei­nes un­nüt­zen Bür­gers gleich, Unacht­sam­keit und La­chen wa­ren Wi­der­stand ge­gen die Staats­ge­walt, eine Knall­erb­se lei­te­te Re­vo­lu­ti­on ein, »ver­such­ter Be­trug« ent­ehr­te für alle Zu­kunft. Aus sol­chen An­läs­sen er­bleich­te Un­rat. Schick­te er einen ins »Ka­buff«, war ihm da­bei zu­mu­te wie dem Selbst­herr­scher, der wie­der ein­mal einen Hau­fen Um­stürz­ler in die Straf­ko­lo­nie ver­sen­det und, mit Angst und Tri­umph, zu­gleich sei­ne volls­te Macht und ein un­heim­li­ches Wüh­len an ih­rer Wur­zel fühlt. Und den aus dem »Ka­buff« Zu­rück­ge­kehr­ten und al­len an­de­ren, die ihn je an­ge­tas­tet hat­ten, ver­gaß Un­rat es nie. Da er seit ei­nem Vier­tel­jahr­hun­dert an der An­stalt wirk­te, wa­ren Stadt und Um­ge­gend voll von sei­nen ehe­ma­li­gen Schü­lern, von sol­chen, die er bei Nen­nung sei­nes Na­mens »ge­fasst« oder de­nen er es »nicht hat­te be­wei­sen« kön­nen, und die alle ihn noch jetzt so nann­ten! Die Schu­le en­de­te für ihn nicht mit der Hof­mau­er; sie er­streck­te sich über die Häu­ser rings­um­her und auf alle Al­ter­sklas­sen der Ein­woh­ner. Über­all sa­ßen stör­ri­sche, ver­wor­fe­ne Bur­schen, die »ih­r’s« nicht »prä­pa­riert« hat­ten und den Leh­rer be­fein­de­ten. Ein Neu­er, noch ah­nungs­los, bei dem zu Haus äl­te­re Ver­wand­te über den Pro­fes­sor Un­rat ge­lacht hat­ten wie über eine Ju­gen­derin­ne­rung von freund­li­cher Ko­mik, und der nun mit dem Schub zu Os­tern in Un­rats Klas­se ge­langt war, konn­te sich bei der ers­ten falschen Ant­wort an­fau­chen hö­ren:

»Von Ih­nen habe ich hier schon drei ge­habt. Ich has­se Ihre gan­ze Fa­mi­lie!«

*

Un­rat auf sei­nem er­ha­be­nen Pos­ten über all den Köp­fen ge­noss sei­ne ver­meint­li­che Si­cher­heit; und in­zwi­schen war neu­es Un­heil am Aus­bre­chen. Es kam von Loh­mann.

Loh­mann hat­te sei­nen Auf­satz sehr kurz ab­ge­tan und dann zu ei­ner Pri­vat­be­schäf­ti­gung ge­grif­fen. Die woll­te aber nicht vor­wärts­kom­men, denn der Fall sei­nes Freun­des von Ertz­um wurm­te Loh­mann. Er hat­te sich ge­wis­ser­ma­ßen zum mo­ra­li­schen Schutz­herrn des kräf­ti­gen, jun­gen Edel­manns auf­ge­wor­fen und be­trach­te­te es als ein Ge­bot der ei­ge­nen Ehre, die geis­ti­ge Schwä­che des Freun­des, wo es ging, mit sei­nem so hoch ent­wi­ckel­ten Hirn zu de­cken. Im Au­gen­blick, wo von Ertz­um eine un­er­hör­te Dumm­heit sa­gen woll­te, räus­per­te Loh­mann sich lär­mend und souf­flier­te ihm dar­auf das Rich­ti­ge. Die un­be­greif­lichs­ten Ant­wor­ten des an­de­ren mach­te er den Mit­schü­lern acht­bar durch die Be­haup­tung, von Ertz­um habe den Leh­rer nur »wü­tend är­gern« wol­len.

Loh­mann war ein Mensch mit schwar­zen Haa­ren, die über der Stirn sich bäum­ten und zu ei­ner schwer­mü­ti­gen Sträh­ne zu­sam­men­fie­len. Er hat­te die Bläs­se Lu­zi­fers und eine ta­lent­vol­le Mi­mik. Er mach­te Hei­ne­sche Ge­dich­te und lieb­te eine drei­ßig­jäh­ri­ge Dame. Durch die Er­wer­bung ei­ner li­te­ra­ri­schen Bil­dung in An­spruch ge­nom­men, konn­te er der Schu­le nur we­nig Auf­merk­sam­keit ge­wäh­ren. Das Leh­rer­kol­le­gi­um, dem es auf­ge­fal­len war, dass Loh­mann im­mer erst im letz­ten Quar­tal zu ar­bei­ten be­gann, hat­te ihn trotz sei­ner zum Schluss ge­nü­gen­den Leis­tun­gen sit­zen­las­sen, schon in zwei Klas­sen. So saß Loh­mann, gra­de wie sein Freund, mit sieb­zehn Jah­ren noch un­ter lau­ter Vier­zehn- und Fünf­zehn­jäh­ri­gen. Und wenn von Ertz­um dank sei­ner kör­per­li­chen Ent­wick­lung zwan­zig zu sein schi­en, so er­höh­ten sich Loh­manns Jah­re da­durch, dass ihn der Geist be­rührt hat­te.

Was muss­te nun ei­nem Loh­mann der höl­zer­ne Hans­wurst dort auf dem Ka­the­der für einen Ein­druck ma­chen; die­ser an ei­ner fi­xen Idee lei­den­de Töl­pel. Wenn Un­rat ihn auf­rief, trenn­te er sich ohne Eile von sei­ner der Klas­se fern­ste­hen­den Lek­tü­re, und die brei­te, gelb­blas­se Stirn in be­frem­de­ten Qu­er­fal­ten, prüf­te er aus ver­ächt­lich ge­senk­ten Li­dern die ärm­li­che Ver­bis­sen­heit des Fra­ge­stel­lers, den Staub in des Schul­meis­ters Haut, die Schup­pen auf sei­nem Rock­kra­gen. Schließ­lich warf er einen Blick auf sei­ne ei­ge­nen ge­schlif­fe­nen Fin­ger­nä­gel. Un­rat hass­te Loh­mann bei­na­he mehr als die an­de­ren, we­gen sei­ner un­nah­ba­ren Wi­der­setz­lich­keit, und fast auch des­halb, weil Loh­mann ihm nicht sei­nen Na­men gab; denn er fühl­te dun­kel, das sei noch schlim­mer ge­meint. Loh­mann ver­moch­te den Hass des ar­men Al­ten beim bes­ten Wil­len nicht an­ders zu er­wi­dern als mit mat­ter Ge­ring­schät­zung. Ein we­nig von Ekel be­träu­fel­tes Mit­leid kam auch hin­zu. Aber durch die Krän­kung von Ertz­ums sah er sich per­sön­lich her­aus­ge­for­dert. Er emp­fand, als der ein­zi­ge un­ter drei­ßig, Un­rats öf­fent­li­che Le­bens­be­schrei­bung des von Ertz­um­schen On­kels als eine nied­ri­ge Hand­lung. Zu viel durf­te man dem Schlu­cker dort oben nicht er­lau­ben. Loh­mann ent­schloss sich also. Er stand auf, stütz­te die Hän­de auf den Tisch­rand, sah dem Pro­fes­sor neu­gie­rig be­ob­ach­tend in die Au­gen, als habe er einen merk­wür­di­gen Ver­such vor, und de­kla­mier­te vor­nehm ge­las­sen:

»Ich kann hier nicht mehr ar­bei­ten, Herr Pro­fes­sor. Es riecht auf­fal­lend nach Un­rat.«

Un­rat mach­te einen Sprung im Ses­sel, spreiz­te be­schwö­rend eine Hand und klapp­te stumm mit den Kie­fern. Hier­auf war er nicht vor­be­rei­tet ge­we­sen – nach­dem er noch so­eben ei­nem Ver­wor­fe­nen die Re­le­ga­ti­on in Aus­sicht ge­stellt hat­te. Soll­te er nun auch die­sen Loh­mann »fas­sen«? Nichts wäre ihm er­wünsch­ter ge­kom­men. Aber – konn­te er es ihm »be­wei­sen«? … In die­sem atem­lo­sen Au­gen­blick reck­te der klei­ne Kie­se­lack sei­ne blau­en Fin­ger mit den zer­bis­se­nen Nä­geln in die Höhe, knall­te mit ih­nen und keif­te ge­quetscht:

»Loh­mann lässt einen nicht ru­hig nach­den­ken, er sagt im­mer, hier riecht es nach Un­rat.«

Es ent­stand Ki­chern, und ei­ni­ge scharr­ten. Da ward Un­rat, der schon den Wind des Aufruhrs im Ge­sicht spür­te, von Pa­nik er­grif­fen. Er fuhr vom Stuhl auf, mach­te über das Pult hin­weg ecki­ge Stö­ße nach al­len Sei­ten, wie ge­gen zahl­lo­se An­stür­men­de, und rief:

»Ins Ka­buff! Alle ins Ka­buff!«

Es woll­te nicht ru­hig wer­den; Un­rat glaub­te, sich nur noch durch einen Ge­walt­streich ret­ten zu kön­nen. Er stürz­te sich, ehe je­ner es ver­mu­ten konn­te, auf Loh­mann, pack­te ihn am Arm, zerr­te und schrie er­stickt:

»Fort mit Ih­nen, Sie sind nicht län­ger wür­dig, der mensch­li­chen Ge­sell­schaft teil­haf­tig zu sein!«

Loh­mann folg­te, ge­lang­weilt und pein­lich be­rührt. Zum Schluss gab Un­rat ihm einen Ruck und ver­such­te, ihn ge­gen die Tür des Gar­de­ro­ben­ge­las­ses zu schleu­dern; doch dies miss­lang. Loh­mann staub­te sich ab an der Stel­le, wo Un­rat ihn an­ge­fasst hat­te, und ver­füg­te sich be­son­ne­nen Schrit­tes in das »Ka­buff«. Da­rauf sah der Leh­rer sich nach Kie­se­lack um. Der aber hat­te sich hin­ter sei­nem Rücken an ihm vor­bei­ge­wun­den und drück­te sich schon, mit ei­ner Frat­ze, in das Ar­rest­lo­kal. Der Pri­mus muss­te den Pro­fes­sor dar­über auf­klä­ren, wo Kie­se­lack sei. Un­ver­mit­telt ver­lang­te nun Un­rat, die Klas­se sol­le durch den Zwi­schen­fall kei­nen Au­gen­blick von der Jung­frau ab­ge­lenkt wor­den sein.

»Wa­rum schrei­ben Sie nicht? Fünf­zehn Mi­nu­ten noch! Und die un­fer­ti­gen Ar­bei­ten wer­de ich – im­mer mal wie­der – nicht zen­sie­ren!«

In­fol­ge die­ser Dro­hung fiel den meis­ten über­haupt nichts mehr ein, und es ent­stan­den angst­vol­le Mie­nen. Un­rat war zu er­regt, um eine rech­te Freu­de dar­an zu ha­ben. In ihm war der Drang, je­den je mög­li­chen Wi­der­stand zu bre­chen, alle be­vor­ste­hen­den At­ten­ta­te zu ver­ei­teln, es rings­um­her noch stum­mer zu ma­chen, Kirch­hofs­ru­he her­zu­stel­len. Die drei Re­bel­len wa­ren be­sei­tigt, aber ihre Hef­te, auf­ge­schla­gen auf den Bän­ken, schie­nen ihm noch im­mer den Geist der Em­pö­rung aus­zu­strö­men. Er raff­te sie zu­sam­men und be­gab sich mit ih­nen auf das Ka­the­der.

Von Ertz­ums und Kie­se­lacks Ar­bei­ten wa­ren müh­se­li­ge und un­ge­len­ke Satz­ge­fü­ge, die nur zu sehr von gu­tem Wil­len zeug­ten. Bei Loh­mann war es so­gleich un­be­greif­lich, dass er kei­ne »Dis­po­si­ti­on« ge­macht hat­te, kei­ne Ein­tei­lung sei­ner Ab­hand­lung in A, B, C, a, b, c und 1, 2, 3. Auch hat­te er nur eine ein­zi­ge Sei­te fer­tig­ge­bracht, die Un­rat mit schnell wach­sen­der Ent­rüs­tung zur Kennt­nis nahm. Es stand dort:

Die drit­te Bit­te des Dau­phins (»Jung­frau von Or­leans« I 10).

Die jun­ge Jo­han­na führt sich, ge­schick­ter als ihre Jah­re und ihre bäu­ri­sche Ver­gan­gen­heit es ver­mu­ten lie­ßen, durch ein Ta­schen­spie­ler­kunst­stück bei Hofe ein. Sie gibt dem Dau­phin einen In­halts­aus­zug aus den drei Bit­ten, die er in der letz­ten Nacht an den Him­mel ge­rich­tet hat, und macht durch ihre Fer­tig­keit im Ge­dan­ken­le­sen na­tür­lich star­ken Ein­druck auf die un­wis­sen­den großen Her­ren. Ich sag­te: aus den drei Bit­ten; aber tat­säch­lich wie­der­holt sie nur zwei: die drit­te er­lässt ihr der über­zeug­te Dau­phin. Zu ih­rem Glück: denn sie wür­de die drit­te schwer­lich noch ge­wusst ha­ben. Sie hat ihm bei den bei­den ers­ten ja schon al­les ge­sagt, worum er sei­nen Gott ge­be­ten ha­ben kann, näm­lich: wenn eine noch un­ge­büß­te Schuld sei­ner Vä­ter vor­han­den sei, ihn selbst als Op­fer an­zu­neh­men statt sei­nes Vol­kes; und wenn er schon Land und Kro­ne ver­lie­ren sol­le, ihm we­nigs­tens Zufrie­den­heit, sei­nen Freund und sei­ne Ge­lieb­te zu las­sen. Auf das Wich­tigs­te, auf die Herr­schaft, hat er so­mit schon ver­zich­tet. Was soll er also noch er­be­ten ha­ben? Su­chen wir nicht lan­ge: er weiß es selbst nicht. Jo­han­na weiß es auch nicht. Schil­ler weiß es auch nicht. Der Dich­ter hat von dem, was er wuss­te, nichts zu­rück­be­hal­ten und den­noch ›und so wei­ter‹ ge­sagt. Das ist das gan­ze Ge­heim­nis, und für den mit der we­nig be­denk­li­chen Na­tur des Künst­lers ei­ni­ger­ma­ßen Ver­trau­ten gibt es da­bei nichts zu ver­wun­dern.

Punk­tum. Das war al­les – und Un­rat, den ein Zit­tern be­schlich, kam jäh zu der Er­kennt­nis: die­sen Schü­ler zu be­sei­ti­gen, vor die­sem An­ste­ckungs­stoff die mensch­li­che Ge­sell­schaft zu be­hü­ten, das drän­ge weit mehr als die Ent­fer­nung des ein­fäl­ti­gen von Ertz­um. Zu­gleich warf er einen Blick auf das fol­gen­de Blatt, wo noch ei­ni­ges ge­krit­zelt stand und das üb­ri­gens halb her­aus­ge­ris­sen im Heft hing. Aber plötz­lich, in dem Au­gen­blick, als er ver­stand, über­flog et­was wie eine rosa Wol­ke die ge­win­kel­ten Wan­gen des Leh­rers. Er schloss das Heft, rasch und ver­stoh­len, als wol­le er nichts ge­se­hen ha­ben; öff­ne­te es noch­mals, warf es gleich wie­der un­ter die bei­den an­de­ren, at­me­te im Kampf. Er emp­fand zwin­gend: da wur­de es Zeit, der muss­te »ge­fasst« wer­den! Ein Mensch, mit dem es da­hin ge­kom­men war, dass er die­se – ge­wiss denn frei­lich – Künst­le­rin Rosa – Rosa – Er griff zum drit­ten Mal nach Loh­manns Heft. Da klin­gel­te es schon.

»Ab­lie­fern!« stieß Un­rat aus, in der hef­ti­gen Be­sorg­nis, ein Schü­ler, der bis­her nicht fer­tig ge­wor­den war, kön­ne viel­leicht im letz­ten Au­gen­blick noch zu ei­ner be­frie­di­gen­den Note ge­lan­gen. Der Pri­mus sam­mel­te die Auf­sät­ze ein; ei­ni­ge be­la­ger­ten die Tür nach der Gar­de­ro­be.

»Weg dort! War­ten!« rief Un­rat, in neu­er Angst. Am liebs­ten hät­te er ab­ge­schlos­sen, die drei Elen­den un­ter Ver­schluss be­hal­ten, so­lan­ge, bis er ih­ren Un­ter­gang ge­si­chert ha­ben wür­de. Das ging nicht so rasch, hier muss­te lo­gisch nach­ge­dacht wer­den. Der Fall Loh­mann blen­de­te ihn vor­läu­fig noch durch ein Über­maß von Ver­wor­fen­heit.

Meh­re­re von den Kleins­ten pflanz­ten sich in be­lei­dig­tem Rechts­ge­fühl vor das Ka­the­der hin.

»Un­se­re Sa­chen, Herr Pro­fes­sor!«

Un­rat muss­te das »Ka­buff« frei­ge­ben. Aus dem Ge­drän­ge wi­ckel­ten sich nach­ein­an­der die drei Ver­bann­ten, schon in ih­ren Män­teln. Loh­mann stell­te gleich von der Schwel­le her fest, dass sein Heft in den Hän­den Un­rats sei, und be­dau­er­te ge­lang­weilt den Übe­rei­fer des al­ten Töl­pels. Jetzt muss­te sich mög­li­chen­falls sein Er­zeu­ger in Be­we­gung set­zen und mit dem Di­rek­tor re­den!

Von Ertz­um zog nur die rot­blon­den Brau­en ein Stück hö­her in sei­nem Ge­sicht, das sein Freund Loh­mann den »be­sof­fe­nen Mond« nann­te. Kie­se­lack sei­ner­seits hat­te sich im »Ka­buff« auf eine Ver­tei­di­gung vor­be­rei­tet.

»Herr Pro­fes­sor, es ist nicht wahr, ich hab’ nicht ge­sagt, dass es nach Un­rat riecht. Ich hab’ nur ge­sagt, er sagt im­mer –«

»Schwei­gen Sie!« herrsch­te Un­rat, be­bend, ihn an. Er schob den Hals vor und zu­rück, hat­te sich ge­fasst und setz­te ge­dämpft hin­zu:

»Ihr Schick­sal hängt jetzt nun­mehr im­mer­hin ganz dicht über Ihren Köp­fen. Ge­hen Sie!«

Da­rauf gin­gen die drei zum Es­sen, je­der mit sei­nem Schick­sal über sich.

II.

Auch Un­rat aß, und dann leg­te er sich auf das Sofa. Aber wie es alle Tage ging, warf im rech­ten Mo­ment, als er ein­ni­cken woll­te, ne­ben­an sei­ne Haus­häl­te­rin ein Ge­schirr hin. Un­rat fuhr auf und griff so­fort wie­der nach Loh­manns Auf­satz­heft, wäh­rend er sich rosa färb­te, als läse er das die Scham Ver­let­zen­de, das dar­in stand, zum ers­ten Mal. Da­bei ließ es sich schon gar nicht mehr schlie­ßen, so sehr aus­ein­an­der­ge­bo­gen war es an der Stel­le, wo die »Hul­di­gung an die heh­re Künst­le­rin Fräu­lein Rosa Fröh­lich« sich be­fand. Der Über­schrift folg­ten ei­ni­ge un­le­ser­lich ge­mach­te Zei­len, dann ein frei­er Raum und dann:

Du bist ver­derbt bis in die Kno­chen, Doch bist du ’ne große Künst­le­rin; Und kommst du erst mal in die Wo­chen –

Den Reim hat­te der Se­kun­da­ner noch zu fin­den. Aber der Kon­di­tio­na­le im drit­ten Vers sag­te viel. Er ließ ver­mu­ten, Loh­mann sei an ihm per­sön­lich be­tei­ligt. Dies aus­drück­lich zu be­stä­ti­gen, war viel­leicht die Auf­ga­be des vier­ten Ver­ses ge­we­sen. Un­rat mach­te zur Er­ra­tung die­ses feh­len­den vier­ten Ver­ses gra­de sol­che ver­zwei­fel­ten An­stren­gun­gen, wie sei­ne Klas­se ge­macht hat­te zur Auf­fin­dung der drit­ten Bit­te des Dau­phins. Der Schü­ler Loh­mann schi­en sich, durch die­sen vier­ten Vers, über Un­rat lus­tig zu ma­chen, und Un­rat rang mit dem Schü­ler Loh­mann, in wach­sen­der Lei­den­schaft, voll des drin­gen­den Be­dürf­nis­ses, ihm zu zei­gen, er selbst sei zu­letzt doch der Stär­ke­re. Er woll­te ihn schon hin­ein­le­gen!

Die noch un­förm­li­chen Ent­wür­fe künf­ti­ger Hand­lun­gen be­weg­ten sich in Un­rat. Sie lie­ßen ihn nicht mehr still­hal­ten, er muss­te sei­nen al­ten Rad­man­tel um­hän­gen und aus­gehn. Es reg­ne­te dünn und kalt. Er schlich, die Hän­de auf dem Rücken, die Stirn ge­senkt und ein gif­ti­ges Lä­cheln in den Mund­fal­ten, um die La­chen der Vor­stadt­stra­ße her­um. Ein Koh­len­wa­gen und ein paar klei­ne Kin­der, sonst be­geg­ne­te ihm nichts. Beim Krä­mer an der Ecke hing hin­ter der Tür eine An­kün­di­gung des Stadt­thea­ters: »Wil­helm Tell«. Un­rat, von ei­ner Idee ge­trof­fen, schoss mit ein­ge­knick­ten Kni­en dar­auf zu … Nein, eine Rosa Fröh­lich kam auf dem Zet­tel nicht vor. Trotz­dem konn­te jene Frau­ens­per­son in die­sem Kuns­t­in­sti­tut be­schäf­tigt sein. Herr Drö­ge, der Krä­mer, der das Pro­gramm an sein Fens­ter hing, war ver­mut­lich in den ein­schlä­gi­gen Din­gen be­wan­dert. Un­rat hat­te schon die Hand auf dem Tür­griff; aber er hol­te sie er­schro­cken zu­rück und mach­te sich da­von. Nach ei­ner Schau­spie­le­rin fra­gen, in sei­ner ei­ge­nen Stra­ße! Er durf­te die Klatsch­sucht sol­cher tief­ste­hen­den, in den hu­ma­nis­ti­schen Wis­sen­schaf­ten un­er­fah­re­nen Bür­ger nicht au­ßer acht las­sen. Bei der Ent­lar­vung des Schü­lers Loh­mann muss­te Un­rat ge­heim und ge­schickt zu Wer­ke gehn … Er bog in die Al­lee nach der Stadt.

Ge­lang es ihm, dann zog Loh­mann im Sturz auch von Ertz­um und Kie­se­lack nach sich. Vor­her woll­te Un­rat dem Di­rek­tor kei­ne An­zei­ge er­stat­ten dar­über, dass man ihn bei sei­nem Na­men ge­nannt hat­te. Es wür­de sich von selbst zei­gen, dass sol­che, die das ta­ten, auch je­der an­de­ren Un­sitt­lich­keit fä­hig wa­ren. Un­rat wuss­te es; er hat­te es an sei­nem ei­ge­nen Sohn er­fah­ren. Die­sen hat­te Un­rat von ei­ner Wit­we, die ihn einst als Jüng­ling mit den Mit­teln zu fer­ne­rem Stu­di­um ver­se­hen hat­te, die er da­für ver­trags­mä­ßig, so­bald er im Amt war, ge­hei­ra­tet hat­te, die kno­chig und streng ge­we­sen war, und nun tot war. Sein Sohn sah nicht schö­ner aus als er selbst und war über­dies noch ein­äu­gig. Trotz­dem hat­te er sich als Stu­dent bei Be­su­chen in der Stadt, auf of­fe­nem Markt mit zwei­deu­ti­gen Frau­en­zim­mern bli­cken las­sen. Und wenn er ei­ner­seits in schlech­ter Ge­sell­schaft viel Geld ver­tat, so war er an­de­rer­seits nicht we­ni­ger als vier­mal durch das Ex­amen ge­fal­len, so­dass er zwar im­mer noch ein brauch­ba­rer Be­am­ter hat­te wer­den kön­nen: doch nur auf Grund sei­nes Abi­tu­ri­en­ten­zeug­nis­ses. Ein pein­li­cher Ab­stand schied ihn von dem hö­he­ren Men­schen, der das Staats­ex­amen be­stan­den hat­te. Un­rat, der sich ent­schlos­sen von dem Sohn ge­trennt hat­te, be­griff al­les Ge­sche­he­ne; ja, er hat­te es fast vor­aus­ge­se­hen, seit er einst den Sohn be­lauscht hat­te, wie er im Ge­spräch mit Ka­me­ra­den den ei­ge­nen Va­ter bei sei­nem Na­men ge­nannt hat­te!

Ein ähn­li­ches Ge­schick durf­te er also für Kie­se­lack, von Ertz­um und Loh­mann er­hof­fen, be­son­ders aber für Loh­mann, bei dem es ja, dank der Künst­le­rin Rosa Fröh­lich, im An­zu­ge schi­en. Mit der Ra­che an Loh­mann eil­te es Un­rat. Die bei­den an­de­ren ver­schwan­den fast ne­ben die­sem Men­schen und sei­nen un­be­tei­lig­ten Ma­nie­ren und dem neu­gie­ri­gen Be­dau­ern, wo­mit er zu­sah, wenn der Leh­rer zor­nig war. Was war denn über­haupt das für ein Schü­ler? … Un­rat sann mit gra­ben­dem Hass über Loh­mann nach. Un­ter dem spitz­be­dach­ten Stadt­tor blieb er plötz­lich stehn und sag­te laut:

»Das sind die Al­ler­schlimms­ten!«

Ein Schü­ler war ein maus­grau­es, un­ter­wor­fe­nes und heim­tücki­sches We­sen, ohne an­de­res Le­ben als das der Klas­se und im­mer im un­ter­ir­di­schen Krieg ge­gen den Ty­ran­nen: so war Kie­se­lack; oder ein dum­mer, star­ker Kerl, den der Ty­rann durch sei­ne geis­ti­ge Vor­herr­schaft in fort­wäh­ren­der Ver­stört­heit er­hielt – wie von Ertz­um. Loh­mann aber, der schi­en ja den Ty­ran­nen an­zu­zwei­feln! Un­rat koch­te all­mäh­lich von der De­mü­ti­gung der schlecht be­zahl­ten Au­to­ri­tät, vor der ein Un­ter­ge­be­ner sich in gu­ten Klei­dern spreizt und mit Geld klim­pert. Das wa­ren über­haupt, ward ihm auf ein­mal klar, al­les Un­ver­schämt­hei­ten und nichts wei­ter! Dass Loh­mann nie­mals stau­big aus­sah, im­mer sau­be­re Man­schet­ten trug und sol­che Ge­sich­ter mach­te: Un­ver­schämt­hei­ten. Der Auf­satz von heu­te, die Kennt­nis­se, die die­ser Schü­ler sich au­ßer­halb der Schu­le hol­te, und von de­nen die ver­werf­lichs­te die Künst­le­rin Rosa Fröh­lich war: Un­ver­schämt­hei­ten. Und als Un­ver­schämt­heit stell­te sich nun mit Si­cher­heit her­aus, dass Loh­mann Un­rat nicht bei sei­nem Na­men nann­te!

Da­rauf er­stieg Un­rat den Rest der stei­len Stra­ße zwi­schen den Gie­bel­häu­sern, ge­lang­te an eine Kir­che, wo Sturm herrsch­te, und, den Man­tel um sich her zu­sam­men­ge­rafft, wie­der ein Stück hin­ab. Nun kam ein Sei­ten­weg, und vor ei­nem der ers­ten Ge­bäu­de zö­ger­te Un­rat. Rechts und links ne­ben der Tür hin­gen zwei höl­zer­ne Käs­ten, hin­ter de­ren Draht­git­tern das Pro­gramm stak mit »Wil­helm Teil«. Un­rat las es erst in dem einen Kas­ten, dann in dem an­de­ren. Schließ­lich be­trat er, ängst­lich um­her­spä­hend, den Tor­weg und den of­fe­nen Flur. Hin­ter ei­nem klei­nen Fens­ter schi­en bei ei­ner Lam­pe ein Mann zu sit­zen; Un­rat konn­te ihn in sei­ner Auf­re­gung schlecht er­ken­nen. An die­sem Ort war er seit ge­wiss zwan­zig Jah­ren nicht mehr ge­we­sen; und er litt un­ter der Be­sorg­nis des Herr­schers, der sein Ge­biet ver­las­sen hat: man möch­te ihn ver­ken­nen, ihm aus Un­wis­sen­heit zu nahe tre­ten, ihn nö­ti­gen, sich als Mensch zu füh­len.

Er stand schon eine Wei­le vor dem Fens­ter­chen und räus­per­te sich lei­se. Als nichts er­folg­te, poch­te er an, mit der Spit­ze sei­nes ge­krümm­ten Zei­ge­fin­gers. Der Kopf da­hin­ter schrak in die Höhe und streck­te sich so­gleich aus dem zu­rück­ge­scho­be­nen Schal­ter.

»Sie wün­schen?« frag­te er hei­ser.

Un­rat be­weg­te zu­erst nur die Lip­pen. Sie sa­hen ein­an­der an, er und der ab­ge­dank­te Schau­spie­ler mit den tie­fen, blauschwar­zen Zü­gen, der fla­chen Na­sen­spit­ze und dem Klem­mer dar­auf. Un­rat brach­te her­vor:

»So? Sie ge­ben denn also den ›Wil­helm Tell‹. Das ist recht von Ih­nen.«

Der Kas­sie­rer sag­te:

»Wenn Sie mei­nen, wir tun’s zu un­serm Pri­vat­ver­gnü­gen.«

»Das habe ich Ih­nen nicht un­ter­stel­len wol­len«, ver­si­cher­te Un­rat, voll Angst vor Ver­wi­cke­lun­gen.

»Man ver­kauft ja nischt. Bloß, dass die klas­si­schen Vor­stel­lun­gen in dem Pacht­ver­trag drin­stehn, den wir mit der Stadt ha­ben.«

Un­rat fand es ge­bo­ten, sich be­kannt­zu­ge­ben.

»Ich bin näm­lich der Pro­fes­sor Un… – der Pro­fes­sor Raat, Or­di­na­ri­us der Un­ter­se­kun­da am hie­si­gen Gym­na­si­um.«

»Sehr an­ge­nehm. Mein Name ist Blu­men­berg.«

»Und ich wür­de recht gern mit mei­ner Klas­se die Auf­füh­rung ei­nes klas­si­schen Dich­ter­wer­kes be­su­chen.«

»Ach, das ist aber ganz rei­zend von Ih­nen, Herr Pro­fes­sor. Mit der Nach­richt werd’ ich bei un­serm Di­rek­tor den größ­ten Er­folg ha­ben, da zweifle ich kei­nen Au­gen­blick.«

»Aber«, und Un­rat er­hob den Fin­ger, »es müss­te – wahr­lich doch – das­je­ni­ge von den Dra­men un­se­res Schil­ler sein, das wir in der Klas­se le­sen, näm­lich – im­mer mal wie­der – die ›Jung­frau von Or­leans‹.«

Der Schau­spie­ler ließ die Lip­pen fal­len, senk­te den Kopf und sah von un­ten, mit Trau­er und Vor­wurf, zu Un­rat auf.

»Das tut mir aber fa­bel­haft leid. Weil wir die erst wie­der ein­stu­die­ren müss­ten, wis­sen Sie. Ist Ih­nen wirk­lich mit ’m ›Tell‹ nicht ge­dient? Der ist doch auch ganz hübsch für die Ju­gend.«

»Nein«, ent­schied Un­rat, »das geht auf kei­nen Fall. Wir brau­chen die ›Jung­frau‹. Und zwar käme es – auf­ge­merkt nun also! –«

Un­rat schöpf­te Atem, sein Herz klopf­te.

»– ganz be­son­ders auf die Dar­stel­le­rin der Jo­han­na an. Denn die­se soll eine heh­re Künst­le­rin sein, die den Schü­lern die er­ha­be­ne Ge­stalt der Jung­frau – im­mer mal wie­der – recht na­he­bringt.«

»Al­ler­dings, al­ler­dings«, sag­te der Schau­spie­ler, mit tie­fem Ein­ver­ständ­nis.

»Da habe ich denn nun an eine Ih­rer Da­men ge­dacht, die ich, und hof­fent­lich nicht mit Un­recht, auf das höchs­te habe prei­sen hö­ren.«

»Ach nee.«

»Näm­lich an das Fräu­lein Rosa Fröh­lich.«

»Wie bit­te?«

»Rosa Fröh­lich«, und Un­rat hielt die Luft an.

»Fröh­lich? Ha­ben wir ja gar nicht.«

»Wis­sen Sie das auch ganz ge­nau?« frag­te Un­rat, kopf­los.

»Er­lau­ben Sie, ich bin ja nicht me­schug­ge.«

Un­rat wag­te den Mann nicht mehr an­zu­sehn.

»Dann kann ich mir das aber gar nicht …«

Je­ner kam ihm zu Hil­fe:

»Da muss wohl si­cher ’ne Ver­wechs­lung vor­lie­gen.«

»Ach ja«, sag­te Un­rat, kind­lich dank­bar.

»Ent­schul­di­gen Sie nur.«

Und er die­ner­te, wäh­rend er sich zu­rück­zog.

Der Kas­sie­rer war ver­blüfft. Schließ­lich rief er hin­ter­her:

»Aber Herr Pro­fes­sor, über den Fall lässt sich ja trotz­dem re­den. Wie viel Bil­let­te wür­den Sie denn neh­men? Herr Pro… –«

Un­rat dreh­te sich un­ter der Tür noch ein­mal um, sein Lä­cheln war ver­zerrt vor Angst vor dem Ver­fol­ger.

»Ent­schul­di­gen Sie doch nur.«

Und er war ge­flüch­tet.

*

Ohne es zu mer­ken, kam er die Stra­ße hin­un­ter und an den Ha­fen. Um ihn her wa­ren stamp­fen­de Trit­te von Män­nern, die Sä­cke tru­gen, und brei­te Rufe von an­de­ren, die sie zu Gie­bel­lu­ken hin­auf­wan­den. Es roch nach Fi­schen, Teer, Öl, Spi­ri­tus. Die Mas­ten und Schlo­te da­hin­ten im Fluss ver­wi­ckel­ten sich schon in der Däm­me­rung. In­mit­ten der Be­trieb­sam­keit, die vor Dun­kel­wer­den noch auf­fla­cker­te, ging Un­rat da­hin mit sei­nem boh­ren­den Ge­dan­ken: Loh­mann »fas­sen«, den Auf­ent­halt der Künst­le­rin Fröh­lich nach­wei­sen.

Er ward an­ge­sto­ßen von Her­ren in eng­li­schen An­zü­gen, die mit Fracht­brie­fen um­her­lie­fen, und von Ar­bei­tern, die ihm »Ach­tung!« zu­brüll­ten. Die all­ge­mei­ne Hast er­griff ihn; er drück­te, ehe er’s sich ver­sah, den Griff ei­ner Tür, über der »Heu­er­bas«1 und ir­gend­ei­ne schwe­di­sche oder dä­ni­sche In­schrift stand. Im La­den la­gen ge­roll­te Taue, Schiffs­zwie­back, klei­ne, scharf rie­chen­de Fäs­ser. Ein Pa­pa­gei schrie: »Duhn su­pen!« Meh­re­re Ma­tro­sen tran­ken, an­de­re re­de­ten, die Hän­de in den Ho­sen, auf einen rie­si­gen, rot­bär­ti­gen Mann ein. Der mach­te sich, es dau­er­te eine Wei­le, aus den Ta­baks­wol­ken des Hin­ter­grun­des los, stell­te sich hin­ter den La­den­tisch, so­dass der ble­cher­ne Re­flek­tor der Wand­la­ter­ne sei­nen Kahl­kopf hef­tig be­leuch­te­te, stemm­te die Tat­zen auf die Kan­te und sag­te plump:

»Wol­len Sie was von mich, Herr?«

»Ge­ben Sie mir«, ver­lang­te Un­rat leicht­hin, »eine Ein­tritts­kar­te für das Som­mer­thea­ter.«

»Wat sa­gen Sie?« frag­te der Mann.

»Nun ja, für das Som­mer­thea­ter. Da Sie denn nun ein­mal in Ihrem Schau­fens­ter an­zei­gen, dass Sie Bil­let­te zum Som­mer­thea­ter ver­kau­fen.«

»Wat soll ich door­von den­ken, Herr«, und der Mann be­hielt den Mund of­fen. »Das Som­mer­thea­ter speelt doch nich in ’n Win­ter.«

Un­rat ver­steif­te sich auf sein Recht.

»Aber Sie ha­ben es im Fens­ter, Mann.«

»Door kann ’t jä ook blie­wen!«

Das war her­aus­ge­platzt; aber der Heu­er­bas nahm sei­ne Ach­tung vor dem be­brill­ten Herrn gleich wie­der zu­sam­men. Er such­te nach Grün­den, die den Frem­den über­zeu­gen konn­ten, das Som­mer­thea­ter sei jetzt ge­schlos­sen. Um sei­ner be­hut­sa­men Ge­dan­ken­ar­beit kör­per­lich nach­zu­hel­fen, gab er mit sei­ner fürch­ter­li­chen, rot­be­haar­ten Hand der Tisch­plat­te von der Sei­te ganz vor­sich­ti­ge Strei­che. Schließ­lich hat­te er ge­fun­den: