Propaganda 4.0 - Johannes Hillje - E-Book

Propaganda 4.0 E-Book

Johannes Hillje

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Beschreibung

In den ersten vier Jahren der AfD im Bundestag ist klar geworden: Rechtspopulisten mäßigen sich nicht im Parlament, sie machen ihre Propaganda mit den Ressourcen des Parlaments noch effektiver. Die AfD ist die erste digitale Propagandapartei in Deutschland. Der Kommunikationsexperte Johannes Hillje analysiert ihre Strategie, bilanziert ihre erste Legislaturperiode in der Herzkammer der Demokratie und skizziert Gegenstrategien. Die Propaganda 4.0 der Rechtsaußen-Partei zielt einerseits darauf ab, das Sag- und Machbare in der Mehrheitsgesellschaft zu verändern, und andererseits darauf, eine radikal rechte "Desinformationsgesellschaft" in der eigenen Echokammer zu schaffen. Das Parlament wird zur Bühne für Inszenierungen und Diskriminierungen, die Gesellschaft wird polarisiert und die Debatte in den sozialen Medien manipuliert – mit schwerwiegenden Folgen für die Demokratie.

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Seitenzahl: 246

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8012-7039-1

Vollständig überarbeitete Neuausgabe 2021

Copyright © 2021 by

Verlag J. H. W. Dietz Nachf. GmbH

Dreizehnmorgenweg 24, 53175 Bonn

Gesamtgestaltung + Satz: Ralf Schnarrenberger, Hamburg

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Besuchen Sie uns im Internet: www.dietz-verlag.de

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Vorwort zu dieser Ausgabe

Intro

TEIL 1 DAS RENNEN NACH RECHTS

Das etablierte Anti-Establishment

Es gibt keinen guten Populismus

Frames für das Volk!

Das neue Normal

Die AfD als Nachrichtenwert

Erlösmodell AfD

Andere Parteien schieben mit an

Wie die AfD mitregiert

Die Eskalationsspirale

TEIL 2 PROPAGANDA 4.0

Delegitimierung der Medien

Polarisiertes Medienvertrauen

Die Wahrheitspartei

Digitale Gegenmacht

Virtuelles Volk

Das Neuland der anderen

Das »Wir« der AfD

Die grosse Bestätigung

Extreme Polarisierung der Gesellschaft

Bundestagswahlkampf 2017: Perfekte Propaganda 4.0

TEIL 3 DEMOKRATIE 4.0

Grenzen zum Populismus ziehen

Frame Checking

Tabubrüche nicht den Populisten überlassen

Den Feinden der Populisten eine Stimme geben

Positives Framing und Reframing

Demokratisierung des Digitalen

Anmerkungen

Über den Autor

VORWORT ZU DIESER AUSGABE

In einem internen Strategiepapier formuliert der AfD-Bundesvorstand unter der Überschrift »Der Kampf um die Meinungs- und Deutungshoheit« folgendes Vorhaben: »Da die AfD weiterhin wachsen will, muss sie sich systematisch mit Framing, Priming, Virtue Signalling, Nudge, dem Negative oder Dirty Campaigning, Astroturfing und Beeinflussung des Wahrnehmungsfenster befassen. Sie muss immer wieder neu versuchen, selbst Begriffe zu bilden und zu besetzen sowie Meinungskampagnen zu initiieren.« Einige Zeilen weiter unten ist in dem Papier, das den Titel »Strategie 2019–2025: Die AfD auf dem Weg zur Volkspartei« trägt, von der »subtilen Manipulation der bürgerlichen Gesellschaft« die Rede. Das Repertoire der Instrumente, das der Parteivorstand zur Erreichung dieses Ziels aufgelistet hat, ist ein Novum in der Kommunikationskultur der deutschen Parteienlandschaft. Gewiss nicht mit Blick auf Strategien wie »Framing« oder »Negative Campaigning«, sehr wohl aber hinsichtlich anderer genannter Methoden wie dem »Astro Turfing«. Das ist eine Taktik, bei der ein Massenphänomen vorgetäuscht wird, zum Beispiel eine gefakte Bürgerbewegung. Wie die AfD eine derartige Kampagne in die Praxis umsetzen könnte? Dazu ein (sehr) kurzes Gedankenexperiment: In den kommenden Jahren muss das Land unweigerlich die Transformation hin zu einer klimaneutralen Gesellschaft bewältigen. Dieser Prozess betrifft nicht nur industrielle Vorgänge, sondern auch das Verhalten jedes Einzelnen. Schon heute deutet die AfD die klima- und umweltpolitischen Maßnahmen als Angriff auf den Lebenstil ihrer Anhängerschaft, gut ersichtlich beispielsweise an der Debatte über den Diesel. Vorstellbar wäre nun eine Orchestrierung zahlreicher lokaler, vermeintlich spontaner »Gelbwesten«-Proteste quer durch die Republik. Derartige Bilder, massenhaft verbreitet über die reichweitenstarken Digitalkanäle der Partei, könnten wie ein Brandbeschleuniger in der öffentlichen Debatte über Klimapolitik wirken, die sich noch schneller als die Erde zu erhitzen scheint. Polarisierung würde dort verstärkt werden, wo nur ein gemeinsamer Weg zum Ziel der Klimaneutralität führt.

Diese aktualisierte Ausgabe von »Propaganda 4.0« erscheint just zu dem Zeitpunkt, an dem die erste Legislaturperiode im Bundestag jener Partei zu Ende geht, die den Konsens über das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte und die allseits beschworene »Brandmauer« zum Rechtsextremismus im bundesrepublikanischen Parlamentarismus aufgebrochen hat. Und die Neuausgabe erscheint kurz nachdem ein radikaler Rechtspopulist mit einer Schneise der Verwüstung das Weiße Haus in Washington D. C. verlassen hat. Es ist ein Zeitpunkt, an dem allerspätestens eine oft in den öffentlichen Diskurs eingeworfene Beruhigungspille aus dem rhetorischen Arzneischrank verbannt werden sollte: Rechtspopulisten mäßigen sich nicht an der Macht, sie entzaubern sich nicht durch den »Zauber« ehrwürdiger demokratischer Institutionen. Im Gegenteil: Sie nutzen die Institutionen, um ihre Propagandamaschinerie mit zusätzlichem Treibstoff zu betanken, den sie direkt aus den Kassen der Demokratie finanzieren. Und sie vergrößern ihr Arsenal für den von ihnen ausgerufenen »Informationskrieg«, wie an den eingangs zitierten Plänen der AfD abzulesen ist.

Propaganda 4.0 ist eine kommunikative Strategie, die einerseits darauf abzielt, das Sagbare im öffentlichen Diskurs der Mehrheitsgesellschaft zu verändern, andererseits eine digital konstituierte, radikal rechte »Desinformationsgesellschaft« mittels eines eigenen Medienapparats und verbündeter rechter Alternativmedien zu schaffen. Ein Zusammenspiel aus »earned media« (Aufmerksamkeit durch Polarisierung in Massenmedien) und »owned media« (Aufmerksamkeit durch Emotionalisierung in Parteimedien), mit dem die AfD als digitale Propagandapartei einen schnellen Aufstieg hingelegt hat. Mit den Ressourcen des Bundestags hat die AfD ihre Propagandakapazitäten in den letzten Jahren ausgebaut: Sie nutzt ihre Rechte im Parlament, um es verächtlich zu machen (Delegitimierung) – etwa mit Fotos ihrer Abgeordneten im leeren Plenarsaal vor Sitzungsbeginn, die sie als Beleg für die Faulheit der anderen Fraktionen in sozialen Medien präsentiert. Sie setzt ihre zusätzlichen finanziellen Mittel dafür ein, um als Partei zum Medium zu werden und den unabhängigen Journalismus durch Partei-PR zu ersetzen zu wollen (Medienproduktion). Sie sendet über ihre Parteimedien in erster Linie identitätspolitische Botschaften aus, dadurch wird ihre Propaganda zu einem Vehikel für die Sozialisierung in eine rechtspopulistische Gruppenidentität, die sich gleichermaßen als Wut- und Mut-Gemeinschaft versteht (virtuelles Volk). Sie nutzt die Bühne des Parlaments, um sich zu inszenieren, Menschen zu diskriminieren und die anderen Parteien zu provozieren, den parlamentarischen wie auch gesellschaftlichen Diskurs in dem Sinne zu zerstören, als dass die beiden Lager nicht mehr in der Sache argumentieren, sondern sich nur gegenseitig delegitimieren (extreme Polarisierung). Diese vier strategischen Bausteine, die bereits in der ersten Auflage dieses Buches im Jahr 2017 entwickelt wurden, konnte man bei der AfD in den letzten Jahren in Dauerschleife beobachten. Die vorliegende Neuausgabe wurde daher mit neuer Empirie aktualisiert, etwa einer quantitativen Auswertung der Social-Media-Kommunikation der Partei in ihrer ersten Legislaturperiode im Bundestag sowie um eine qualitative Analyse des »Wir« in den Botschaften der AfD komplementiert.

Offenkundig ist heute auch: Die AfD hat eine sprachliche Gewalt in Parlament und Öffentlichkeit gebracht, die ihr Echo in physischer Gewalt auf den Straßen gefunden hat. In Kassel, in Halle, in Hanau. Die Täter beziehen sich auf das Narrativ vom »großen Bevölkerungsaustausch«, das von AfD-Politikern reichenweitenstark mit verbreitet wird. Die AfD sendet immer wieder Signale mit der Hundepfeife, wenn sie von einer »Tat-Elite«, von »Wehrhaftigkeit«, vom »Aufräumen« spricht. Rechtsextremisten haben diese Parolen mit ihren Methoden umgesetzt. Die AfD hat somit nicht nur das Sagbare verändert, sondern längst auch das Machbare. Da die Partei mittlerweile auch im Visier des Verfassungsschutzes ist, wird häufig die Frage gestellt, ob man die AfD überhaupt noch »rechtspopulistisch« nennen könne. Das kann man. Denn Rechtspopulismus ist ein Kontinuum von noch demokratischen zu eindeutig extremistischen Positionen. Das politische Geschäftsmodell der AfD besteht genau darin, die Grenze des demokratischen Spektrums nach rechts zu verwischen, einen grenzfreien Verkehr für Ideen aus dem nicht demokratischen in das demokratische Gelände zu organisieren und auf dieser neu gelegten Strecke zwischen rechtsradikaler Szene und bürgerlicher Mitte ein möglichst großes Stimmenpotenzial zu mobilisieren. Mit einer Mobilisierungsstrategie, die Propaganda 4.0 heißt.

INTRO

Die Demokratie lebt von Voraussetzungen, die der Staat nicht schaffen kann. Dieses Diktum des Verfassungsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde, das er 1964 in Bezug auf das Verhältnis von Staat und Religion in etwas anderem Wortlaut formulierte1, ging mir an einem Abend im Herbst 2016 im Berliner Gorki-Theater durch den Kopf. Auf der Bühne trugen zwei Schauspielende Reden aus den Reihen der Alternative für Deutschland (AfD) vor. Gauland, Höcke, von Storch, Bystron, Hampel: 75 Minuten lang »Rechte Reden« (so der Titel der »Performance«). Das Stück hatte keine Dramaturgie, keine Handlung, keine Helden oder Bösewichte – es war eine Aneinanderreihung von Originalreden des AfD-Personals. Den beiden Schauspielenden, Mely Kiyak und Thomas Wodianka, gelang es dabei, die Mimik, Gestik und Rhetorik der Politiker, etwa den »Führer«-Duktus von Björn Höcke, originalgetreu und kaum übertrieben nachzuahmen. Das Publikum war jung, urban und divers – aber nur äußerlich, politisch stand es geschlossenen in maximaler Distanz zur AfD. Als sich Mely Kiyak in der für Beatrix von Storch typischen hohen Stimmlage über »Gender Mainstreaming« in Rage redete, ging meine Sitznachbarin vor Lachen zu Boden. Überhaupt wurde sehr viel gelacht an diesem Abend. Es wirkte zu wahnsinning, um wahr zu sein. Für Menschen auf dem Erfurter Domplatz oder in der Essener Grugahalle beschreiben diese Reden die politische Lage in unserem Land ziemlich zutreffend. Für das hippe Berliner Publikum waren sie in erster Linie Comedy. Eine gute Abendunterhaltung. Ich musste an diesem Abend an das Böckenförde-Diktum denken, weil ich mir nicht sicher war, ob der Konsum von Rechtspopulismus als Entertainment uns eine Haltung ermöglicht, die es erlaubt, die von Böckenförde eingeforderte »moralische Substanz des Einzelnen«, das demokratische Ethos der Bürgerinnen und Bürger, zu praktizieren. Ohne eine solche Grundeinstellung, Aristoteles nannte sie im Jahr 332 vor Christus »die Tugend der Bürger«, kann ein demokratischer Staat auf lange Sicht nicht überleben, mahnte Böckenförde. Denn wenn er seine freiheitlichen Ziele, zum Beispiel Toleranz und die Anerkennung von Andersartigkeit seiner Bürgerinnen und Bürger, mit Zwang durchsetzen müsste, wäre er kein freier Staat mehr, sondern ein autoritärer.

Mir scheint, als wäre das demokratische Ethos des Einzelnen heute besonders gefordert. Vier Jahre lang haben wir die Präsidentschaft von Donald John Trump wie eine Realityshow konsumiert. Trump ist ein Entertainer. Mit seinem Bühnentalent zog er stets die Aufmerksamkeit von Menschen auf sich, ganz egal, ob sie seine Politik unterstützten oder nicht. Diejenigen, die Wut und Frust über die für sie ausbleibende demokratische Dividende verspüren und denen Trump eine Ausgleichszahlung versprach, klatschten euphorisch. Diejenigen, die Trump ablehnen, konnten sich trotz aller Abscheu ein Lachen oftmals nicht verkneifen. Zu maßlos, zu abgedreht und wahnwitzig erscheint ein autoritärer Populist wie der 45. Präsident der Vereinigten Staaten für die liberalen Kreise.

Während Trumps Präsidentschaft hieß es häufig, was er tue und sage, hätten sich nicht mal die Autoren der amerikanischen Polit-Soap »House of Cards« in fiktiver Form gewagt. Überhaupt wurde die Parallele zum Show-Format bei Trumps Regierungsstil oft gezogen. Sie ist auch nicht ganz falsch, erinnert man sich etwa an die allererste Sitzung seines Kabinetts. Die Presse durfte entgegen der Gepflogenheiten auch nach dem offiziellen Sitzungsbeginn im Raum bleiben, um Zeuge der Eingangsstatements der Ministerinnen und Minister zu werden. Diese trieften nur so vor Lob, Heuchelei und Unterwürfigkeit gegenüber dem Präsidenten. Eine Inszenierung, die aus Russland oder Nordkorea hätte stammen können. Oder als sich Trump am Ende seiner Amstzeit mit Covid-19 infiziert hatte: Seine Rückkehr mit dem Helikopter aus dem Krankenhaus ins Weiße Haus verfilmte er so opulent wie das große Finale eines Hollywoodfilms, bei dem das Gute doch wieder über das Böse gesiegt hat. Dramatische Musik, 15 Kamereinstellungen in nur 37 Sekunden, Trump gefilmt aus der Untersicht. Die Botschaft: Der Held hat das böse Virus bezwungen, mit seiner Immunität kehrt er stärker zurück als er jemals war. Den Clip veröffentlichte Trump auf Twitter. Zahlreiche journalistische Medien verbreiteten später mindestens Ausschnitte aus dem PR-Video. Die Bilder waren zu stark, um nicht gezeigt zu werden. Doch ein Entertainer kann nur dann erfolgreich sein, wenn sich sein Publikum auch unterhalten lässt. Wenn wir also im Modus der Unterhaltung auf Populismus reagieren, zum Beispiel mit Gelächter oder Erstaunem – statt mit inhaltlicher Kritik. Wenn wir uns in sozialen Netzwerken die Mühe machen, Bilder zu persiflieren, auf denen Trump stolz seine Unterschrift unter Dekreten präsentiert, die Muslimen die Einreise in die USA verbieten oder Beratungseinrichtungen für Abtreibung die Hilfsgelder streichen. Wenn seriöse Medien in ihrem Politik(!)-Ressort über Trumps Tippfehler auf Twitter (»covfefe«) berichten. Oder DER SPIEGEL einen Bühnenkritiker das selbstheroisierenden Video von Trump zu seiner Krankenhaus-Entlassug nach cineatischen Kriterien analysieren lässt. Dann spielen wir die Reality-Show mit, erlauben Politikern Clowns zu sein, sehen einen Rassisten wie Trump primär als fleischgewordenes Wut-Emoji, seine das Kapitol stürmenden Anhänger als kuriose »Büffel-Männer« statt gemeingefährliche Verschwörungsideologen. Dann verhalten wir uns selbst wie Besucher eines Mitmachzirkus, nicht wie Bürgerinnen und Bürger einer Demokratie. Doch Clowns sind keine Anführer, sondern Verführer. Sie schaffen eine Fiktion und schaffen Fakten ab, machen aus der Demokratie eine Popcorn-Autokratie. Die absolut verrückt anmutenden Handlungen von Rechtspopulisten entpuppen sich daher als absolut strategisch, um Bilder zu schaffen, Themen zu setzen und von anderen abzulenken, um vorher undenkbare Deutungsrahmen und politische Maßstäbe in den Diskurs einzuschleusen, die – ob wir wollen oder nicht – im Unterbewusstsein ihre Wirkung entfalten.

Wenn man sich dem radikalisierten Rechtspopulismus entgegenstellen möchte, dann muss man analysieren, was die Ursachen für und die Mittel zum Erfolg dieser Kräfte sind. Mit Blick auf die Ursachen werden in der wissenschaftlichen Debatte etwa die ökonomischen, sozialen und kulturellen Folgen der Modernisierungs- und Transformationsprozesse der heutigen Zeit verhandelt. Michael Sandel, Philosophieprofessor in Harvard, macht unter anderem die steigende Einkommensungleichheit, die stark abnehmende Würdigung traditioneller Arbeitsformen im Zuge der Digitalisierung sowie das mangelnde Angebot eines Gemeinschaftsgefühls durch liberale Kräfte für Trumps Wahlsieg in den USA verantwortlich.2 Der Soziologe Didier Eribon beschreibt in seinem Roman »Rückkehr nach Reims«, wie weite Teile des französischen Arbeitermilieus beim Front National (heute: Rassemblement National) eine neue politische Heimat gefunden haben, weil sie sich von den linken »Arbeiterpateien« nicht mehr vertreten fühlten. Oliver Nachtwey, deutscher Soziologe, diagnostiziert in seinem Essay »Abstiegsgesellschaft« eine unter Druck stehende Mittelschicht, die zwar selbst noch mehrheitlich in Normalarbeitsverhältnissen steht, aber den Schweiß der Leiharbeiter und anderer prekär Beschäftigter am eigenen Arbeitsplatz schon riechen kann. All das sind lesenswerte Analysen, die sich den Ursachen für den Erfolg von Rechtspopulisten in westlichen Gesellschaften widmen.

Das vorliegende Buch lenkt den Fokus auf die Frage, mit welchen Mitteln es den Populisten gelingt, aus den heutigen gesellschaftlichen Verhältnissen politisches Kapital zu schlagen. Schließlich ist es kein Naturgesetz, dass rechte Populisten gewinnen, wenn moderate Kräfte Vertrauen verlieren. Erfolgreiche rechtspopulistische Bewegungen haben eine Sache gemein: Sie sind die Spitzenverdiener der Aufmerksamkeitsökonomie. Das heißt, ihnen gelingt es am erfolgreichsten, mitunter völlig überproportional zu ihrer politisch-institutionellen Bedeutung, das knappe Gut der Aufmerksamkeit in der medial und digital vermittelten Öffentlichkeit an sich zu reißen. Sie kommunizieren und inszenieren auf eine Weise, die perfekt mit den journalistischen wie auch algorithmischen Auswahl- und Darstellungslogiken unserer heutigen Öffentlichkeit korrespondiert. Deshalb bemühten sich mehr Journalistinnen und Journalisten um eine Akkreditierung für den AfD-Bundesparteitag 2017 in Köln als für den CDU-Parteitag im Dezember 2016 in Essen. Deshalb kamen zum Wahlkampfauftakt von Geert Wilders in den Niederlanden am 18. Februar 2017 fast genauso viele Medienschaffende wie Parteianhänger. Und deshalb wurde Donald Trump im US-Wahlkampf 2016 Gratissendezeit im Gegenwert von knapp 5,8 Milliarden Dollar für seine provokanten Äußerungen zuteil – mehr als doppelt so viel wie bei Hillary Clinton. Zusätzlich bauen rechtspopulistische Akteure mit großem Erfolg digitale Kommunikationskanäle auf und werden dabei selbst zum Medium. Sie produzieren ihre eigenen Talkshows und Dokus, erreichen unter Umgehung journalistischer Einordnungen Millionen Menschen mit ihrer Version der »Wahrheit« und versorgen sie gleichzeitig mit Emotionen und einem Identitätsangebot, das ein starkes Wir-Gefühl auf Grundlage der Abgrenzung zu »den Anderen« befördert. Stark verdichtet lautet die Grundthese dieses Buches: Der elektorale Erfolg rechtspopulistischer Kräfte hängt direkt mit ihrem kommunikativem Erfolg in den Strukturen der massenmedialen und digitalen Öffentlichkeit zusammen. Der gesellschaftliche Kontext wie die ökonomischen, sozialen und kulturellen Folgen der Globalisierung – nachzulesen bei Sandel, Eribon oder Nachtwey – waren für den Aufstieg der Rechtspopulisten eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung. Doch weil die Rechtspopulisten Politik durch Propaganda machen, sich selbst in einem »Informationskrieg« wähnen und Teile der Gesellschaft in eine Gegenöffentlichkeit mobilisiert haben, entfaltet sich ihr immenser politischer Einfluss. Das Machtprinzip lautet: power through propaganda.

Dieser Erfolg lässt sich nur unzureichend durch den Blick auf ihre Wahlergebnisse erfassen. Es greift analytisch und normativ zu kurz, wenn der Einzug der AfD in den Bundestag als bloßes »Nachholen einer europäischen Normalität« gedeutet wird, wozu sich viele Kommentatoren nach der Bundestagswahl 2017 angesichts der zum Teil jahrzehntelangen Präsenz von rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteien in den Parlamenten zahlreicher europäischer Länder hinreißen ließen. Aus normativer Sicht eignet sich dieser Zustand nicht als »Normalität«, weil dem Rechtspopulismus ein antipluralistischer und damit demokratischen Prinzipien widerstrebender Charakter innewohnt, wie später noch ausführlicher erörtert wird. Zu oberflächlich ist diese Analyse, weil sie die zentrale Einflusssphäre dieser Akteure übersieht: Denn Politik machen die Rechtspopulisten mittels Sprache im öffentlichen Diskurs, nicht mit Sitzen im Parlament. Ganz im Sinne des französischen Philosophen Michel Foucault konstruieren Rechtspopulisten durch ihre extreme Sprache eine andere Version der Wirklichkeit. Kriegsflüchtlinge werden zu »Invasoren«, die Diskriminierung von Minderheiten zur »Meinungsfreiheit«, die Willkommenskultur zur »Volksverhetzung« und kritische Berichterstattung zur »Zensur«. Die Kategorien »normal« und »problematisch« werden mit völlig neuen Inhalten gefüllt. Rechtspopulisten verändern die Realität vielmehr durch Sprache als durch Gesetze – doch ihre Umdeutungen schlagen sich dennoch in politischen Entscheidungen nieder.

Wie wenig sie hingegen an ihren parlamentarischen Aufgaben interessiert sind, zeigen die Fraktionen der AfD in deutschen Landtagen. Fünf Jahre nach ihrer Gründung saß die Partei bereits im Bundestag und allen Landesparlamenten der Republik. Politikwissenschaftler des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB) kamen in einer Studie über die AfD-Landtagsfraktionen zu dem Schluss: »Die Arbeit im Plenum wird weniger zur konstruktiven Kontrolle der Regierung genutzt als vielmehr als Bühne für Protest und Provokation, die über Social-Media-Kanäle gestreut werden können.«3 Und auch die ersten vier Jahre der AfD im Bundestag lassen sich so resümieren: Inszenierung geht über Inhalte.

Dem Phänomen der diskursiven Einflussnahme auf die Politik durch Rechtspopulisten widmet sich der erste Teil dieses Buches. An dieser Stelle sei angemerkt, dass sich der analytische Schwerpunkt dieses Buch zwar auf die AfD konzentriert, aber Rechtspopulismus vor allem als ein europäisches Phänomen verstanden wird, dessen nationalistisch orientierte Protagonisten – so widersprüchlich das klingen mag – so europäisch vernetzt sind wie nie zuvor. Dieser erste Teil des Buches trägt den Titel »Das Rennen nach rechts«, weil es Rechtspopulisten durch die Verschiebung des Diskurses gelingt, dass sich andere Parteien rhetorisch, aber auch in einzelnen Positionen dem rechten Rand des politischen Spektrums nähern. Mehr noch, Rechtspopulisten verschieben diesen Rand bei jedem Schritt ihrer Mitbewerber nach rechts gleichzeitig einen Stückchen weiter. Es geht im Gleichschritt nach rechts. Welche sprachlichen Techniken Rechtspopulisten anwenden und wie Medien und andere Parteien mit ihrem Umgang mit rechtem »Framing« und Jargon dabei mithelfen, dass sich Diskurse verschieben, ist der Schwerpunkt des ersten Kapitels. Hierbei zeigt sich einerseits für die AfD, dass sie durch ihr medial-diskursives Gewicht schon vor dem Einzug in den Bundestag die Bundespolitik in konkreten Sachfragen beeinflusste, sodass in ihrem Stimmenanteil von 12,6 Prozent letztlich nur elektoral nachvollzogen wurde, was an politischem Einfluss längst vorhanden war. Andererseits wurde sie nicht durch den Parlamentarismus gemäßigt, sondern sie nutzt dessen Ressourcen, um ihn durch Inszenierungen verächtlich zu machen.

Während der erste Teil des Buches den Einfluss der AfD auf Öffentlichkeit und Politik beschreibt, widmet sich der zweite Teil der Medienstrategie der Partei, die diesem Einfluss zugrunde liegt. Die Kernthese lautet hierbei, dass die AfD und andere Rechtspopulisten eine neuartige Form der Propaganda etabliert haben. Diese Propaganda 4.0 ist einerseits durch ein doppeldeutiges, aber nicht widersprüchliches Verhältnis zu journalistischen Medien gekennzeichnet und andererseits durch den intensiv betriebenen Aufbau eigener Kommunikationskanäle, und damit einer alternativen Öffentlichkeit, einem alternativen Wahrheitssystem im digitalen Raum.

Im dritten und letzten Teil möchte ich eine Reihe von Denkanstößen zur Beschränkung des rechtspopulistischen Einflusses in unserer Gesellschaft anbieten. Dazu plädiere ich zunächst für ein Verständnis von Populismus als Ideologie, nicht als Stilmittel, um demokratiegefährdende Rechtspopulisten von nicht populistischen Kräften im politischen Diskurs isolieren zu können. Eine demokratisch gewählte Partei wie die AfD kann man nicht ausgrenzen, man muss sich von ihr abgrenzen. Und weil die repräsentative Demokratie eine kommunikative Demokratie sein muss, wie der Politologe Heinrich Oberreuter einst formulierte, beziehen sich meine Vorschläge vor allem darauf, wie eine Sprachlosigkeit zwischen Politik und Bevölkerung überwunden werden kann, die der Rechtspopulismus in eine Feindschaft überführen will. Statt Begriffe von Rechtspopulisten zu übernehmen, sollten demokratische Akteure sich viel stärker darauf konzentrieren, eine eigene positive Sprache für ihre Agenda zu entwickeln und verlorengegangene Deutungsfelder zurückzugewinnen (Framing und Reframing). Manche Reaktion auf den Einzug der AfD in den Bundestag deutet aber genau in die entgegengesetzte Richtung: Sigmar Gabriel übernahm im Dezember 2017 in einem Essay mit dem Titel »Sehnsucht nach Heimat« in vielen Teilen die Erzählung der Neuen Rechten über die Nicht-Schließung der deutschen Grenzen im Jahr 2015. Der ehemalige SPD-Vorsitzende sprach vom »Verlust jeglicher Ordnung« und »Extremform von Multikulti«. Gerade mit der Diskussion des Migrationsthemas auf einer kulturellen Ebene begeben sich Gabriel und andere Politiker auf das Diskursfeld, das von der AfD zugleich angelegt und bestellt wird – wo es folglich für die anderen Parteien kaum etwas zu ernten gibt und außerdem die Wurzeln der Migrationsherausforderung nicht einmal angesiedelt sind. Gabriel analysierte ferner, dass die SPD die Ehe für alle »emphatischer« gefeiert habe als die Durchsetzung des Mindestlohns. Hier tobt sich Gabriel in einer Interpretation aus, die der US-Politologe Mark Lilla als »linke Identitätspolitik« bezeichnet (»Gender-Toiletten«, »Black Lives Matter«, etc.) und als Ursache für Trumps Wahlerfolg populär gemacht hat.4 Statt die Gleichstellung von Minderheiten als Solidarität mit Marginalisierten und Unterpriveligierten zu verstehen, wird sie als Schlechterstellung von Mehrheiten gesehen. Auch wenn Gabriel in erster Linie seine eigene Wahlklientel im Blick haben mag, gibt er den Rechtspopulisten zumindestens indirekt recht und stützt ihre Einteilung der Gesellschaft in relevantere und irrelevantere Mitglieder. Die Aufwertung der einen Gruppe wird also gleichzeitig als Abwertung einer anderen gedacht. Die Gesellschaft als Paternoster. Nein, anders wird für die Sozialdemokraten ein Schuh draus: Sie hat Minderheiten nicht zu viel Aufmerksamkeit geschenkt, sondern Geringverdienern, Alten und Alleinerziehenden zu wenig. Politik, gerade die einer »Volkspartei«, muss beides leisten können. Gleichstellung von Minderheiten im singulären Sinne und Besserstellung von Schlechtergestellten im allgemeinen Sinne. Ein Gegeneinanderausspielen von gesellschaftlichen Gruppen sollte eine Volkspartei in ihrer Rhetorik vermeiden. Im Zentrum muss die Gleichheit aller stehen.

Neben dem Umgang anderer Parteien und Medien mit Rechtspopulismus wird das Thema der politischen Meinungsbildung im digitalen Raum einen prominenten Platz im letzten Kapitel einnehmen. Es scheint, als haben dort in den letzten Jahren antidemokratische Kräfte die Oberhand gewonnen. Teilweise mit dem Einsatz unlauterer Mittel wie Meinungsrobotern (Social Bots) oder der systematischen Verbreitung von Desinformation. Ich plädiere in diesem letzten Kapitel deshalb für die konsequente Durchsetzung demokratischer Prinzipien auf digitalen Plattformen, zum Beispiel sollten für digitale Wahlwerbung ähnliche Regeln wie für Wahlwerbung in traditionellen Medien und öffentlichem Raum greifen. Gleichzeitig muss das Böckenförde-Diktum genauso im Netz gelten: Ein demokratisches Ethos ist auch im digitalen Raum gefragt. Grundvoraussetzung für die Ausübung einer »digitalen Bürgerpflicht« ist die flächendeckende Ausbildung einer Informationskompetenz in unserer Gesellschaft, die mindestens drei Dinge umfassen sollte: digitale Zivilcourage und digitales Rechtsbewusstsein, etwa im Umgang mit »Hatespeech« und Desinformation, Basiskenntnisse über Algorithmen und die Mechanismen digitaler Informationsauswahl sowie eine kritische und aufgeklärte Haltung gegenüber Geschäftsmodelle, die auf der Monetarisierung privater Daten beruhen. Die Ansätze für eine bessere kommunikative Demokratie nenne ich im dritten Teil dieses Buches Demokratie 4.0.

Eine letzte Vorbemerkung: Als hauptberuflicher Kommunikationsberater verstehe ich unter politischer Kommunikation nicht allein die Vermittlung von Politik, sondern Politik an sich. Der demokratische Wettbewerb ist im Kern ein kommunikativer Wettbewerb, kein physischer oder militärischer. Ein Wettbewerb um Themen, Argumente, Deutungen, Aufmerksamkeit, Identitäten, Vertrauen, Allianzen und ganz wichtig: Werte. Sprache in der Politik bedeutet sprachliches Handeln. Und wer Politik für das Gemeinwohl machen möchte, muss diese Politik ansprechend ausbuchstabieren. Nach dem Prinzip: Worte wirken und Werte entscheiden. Schlussendlich gilt es ein kommunikatives Gegengift zum Rechtspopulismus zu entwickeln.

TEIL 1

DAS RENNEN NACH RECHTS

Der 15. März und der 7. Mai 2017 dürfen als Tage der kollektiven Trauma-Bewältigung in der europäischen Politik dokumentiert werden. Die Parlamentswahlen in den Niederlanden und die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen in Frankreich waren seltene Momente europäischer Innenpolitik. Ganz Europa hielt an diesen Abenden den Atem an. Denn anders als bei der im Herbst folgenden Bundestagswahl, drohte in diesem europäischen Frühling alles von innen zusammenzubrechen. Insbesondere die französischen Wählerinnen und Wähler stimmten nicht nur über das Schicksal ihres Landes, sondern über nicht weniger als die Zukunft des Kontinents ab: Gewinnt Le Pen, stirbt Europa. Im Jahr zuvor war Europa zweimal mit einem Schock aufgewacht – mit der Wahl von Donald Trump zum 45. Präsidenten der USA und der Abstimmung für den Brexit in Großbritannien. Nun endlich sollten die Wunden geheilt werden. Vermeintlich kam es so auch: Im März gewann Mark Rutte die holländischen Parlamentswahlen, sieben Wochen später wurde Emmanuel Macron zum neuen Präsidenten der französischen Republik gewählt. Europa atmete auf. Doch die Erleichterung lösten eigentlich nicht die Kandidaten aus, die gewonnen hatten, sondern diejenigen, die nicht gewonnen hatten: Geert Wilders und Marine Le Pen.

Würde man eine Psychologin fragen, wie man ein Trauma am besten bewältigt, würde diese vermutlich so etwas sagen wie: »Finden Sie zur Ruhe, bewegen Sie sich in gewohnten Bahnen und ganz wichtig: Denken Sie an Erfolge!« Es schien als hätten viele Kommentatoren vor diesen beiden Wahlen mit einem Psychologen gesprochen. Oder einem Motivationscaoch. Denn in der Bewertung der Ergebnisse wurde immer wieder in Fußballmetaphern gesprochen, die sich vorzüglich zur Benennung von Gewinnern und Verlierern eignen. Es war Mark Rutte persönlich, der das europäische Superwahljahr 2017 zu einem »Match« gegen den Populismus ausgerufen hatte. Nach der Wahl in den Niederlanden schrieb DIE ZEIT, dass der Populismus ein »Abstiegskandidat« sei. »EU 1, Nationalisten 0« hieß es bei POLITICO. »Die rechtspopulistische Welle in Europa ist gebrochen« stand in der Süddeutschen Zeitung nach der Wahl in Frankreich. DER SPIEGEL beschwor die »Kraft der Demokratie« – wenige Monate zuvor sah man noch das »Ende der Demokratie«. Nun aber war das Spiel offenbar gedreht. Das beruhigt!

Allein, die Rechtspopulisten verlieren nicht. Marine Le Pen erzielte 2017 das beste Wahlergebnis in der Geschichte ihrer Partei, bei den anschließenden Parlamentswahlen im Juni vervierfachte sie die Sitze ihrer Partei in der Nationalversammlung. Geert Wilders wurde erstmals zweitstärkste Kraft in seinem Land. 2021 gewannen radikal rechte Parteien in den Niederladen ein weiteres Mal Sitze hinzu. Bei den Europawahlen 2019 erreichten rechtspopulistische Kräfte so viele Sitze im Europäischen Parlament wie nie zu vor. Und auch nach dieser Wahl verabreichten Medien und demokratische Parteien sich gegenseitig verbale Beruhigungspillen. In Wahrheit sind rechtspopulistische Kräfte heute fest in den Parlamenten Europas etabliert. Das bedeutet zuallererst, dass sie eine zuverlässige Quelle für öffentliche Ressourcen zum Ausbau ihrer politischen Aktivitäten haben. Noch wichtiger ist aber, und darum soll es in diesem ersten Kapitel gehen: Die Rechtspopulisten haben nicht nur nicht verloren, sie haben gar nicht richtig mitgespielt. Denn für Populisten ist die Wahlkabine nicht das wichtigste Spielfeld. Stattdessen ist der öffentliche Diskurs ihre bevorzugte Arena, um gesellschaftliche Veränderungen zu erreichen. Nicht Sitze im Parlament sind – wie eingangs erwähnt – ihr Mittel zur Einflussnahme, sondern Sprache in der öffentlichen Debatte. Dazu brauchen sie zwischenzeitlich gute Umfragewerte, um sich interessant zu machen, Wahlergebnisse können dagegen auch durchwachsen ausfallen. In diesem Kapitel wird es darum gehen, welche Techniken der politischen Kommunikation die Rechtspopulisten anwenden – vornehmlich realitätsumdeutende »Frames« und polarisierende »Soundbites« –, um gesellschaftliche Realitäten zu verändern. Es soll gezeigt werden, dass die Art und Weise, wie Rechtspopulisten kommunizieren, besonders gut mit der Auswahl- und Darstellungslogik der Massenmedien korrespondieren und sowohl der Journalismus als auch andere Parteien durch ihren Umgang mit dem populistischen Jargon mithelfen, dass Populisten durch ihre Sprache die gesellschaftliche »Normalität« verändern können. Bevor ich zu der Wirkung populistischer Sprache komme, wird in diesem Kapitel das dem Buch zugrunde liegende Verständnis von Populismus erläutert und die noch junge, aber wirksame Allianz rechtspopulistischer Parteien in Europa beschrieben.

Diese Allianz rechter Kräfte hatte schon vor dem Brexit-Referendum in Großbritannien die politische Diskurslage in Europa in einem wesentlichen Punkt verändert. Denn die trügerische Erleichterung über die Wahlergebnisse in Frankreich, den Niederlanden und der Europawahl 2019 offenbart, dass es heute in der Europäischen Union in erster Linie um die politische Existenz Europas geht.5 Emmanuel Macron nannte die Europawahl 2019 (bei der seine Partei schlechter abschnitt als die von Le Pen) eine »existenzielle Frage« für Europa und sprach von einer Entscheidung zwischen »Proeuropäern« und »Antieuropäern«.6 Allein diese Zuspitzung ist ein Erfolg für Europafeinde wie Geert Wilders, Marine Le Pen, Nigel Farage, aber auch die AfD in Deutschland. Sie üben so viel Druck auf die Parteien aus, die sich mehr oder weniger für Europa aussprechen, dass diese Parteien sich auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner »grundsätzlich für Europa« zusammenrotten müssen. So wie es links und rechts im politischen Spektrum gibt, haben die Rechtspopulisten »Ja« und »Nein« zur europäischen Integration als eine neue Konfliktlinie etabliert. Eine enorme Verschiebungsleistung im politischen Diskurs. Denn proeuropäisch wurden einst nur solche Kräfte genannt, für die Europa mehr als nur ein Binnenmarkt ist; die für eine vollständige politische Union eintreten, in der Europa stärkere Kompetenzen etwa auch in der Sozial- oder Steuerpolitik bekommt. Die Vereinigten Staaten von Europa sind für manche von ihnen das anvisierte Zukunftsmodell. Solche Stimmen hörte man lange Zeit vor allem aus liberalen, grünen und, mit Einschränkung, auch aus sozialdemokratischen Parteien. Heute ist jeder ein Proeuropäer, der nicht den Austritt seines Landes aus der EU befürwortet. Der zentrale Konflikt ist nicht mehr wie eine gemeinsame Politik in Europa aussieht, sondern ob es überhaupt diese gemeinsame Politik gibt. Diese Verschiebung führte die Tagesschau am Tag nach der Wahl in den Niederlanden eindrucksvoll vor: »Die Niederlande bleiben auf Pro-Europa-Kurs« verlas Susanne Daubner als erste Nachricht. Doch Mark Rutte ist kein Proeuropäer im klassischen Sinne. Genauso wenig wie der österreichische Kanzler Sebastian Kurz, der sich trotzdem unentwegt so bezeichnet. Im Gegenteil, ihre Parteien wollen, allgemein gesprochen, weniger gemeinsame europäische und mehr nationale Politik. »Brüssel mischt sich in zu viele Bereiche ein« heißt es im Wahlprogramm von Ruttes VVD. »Die EU sollte sich auf ihr Kerngeschäft konzentrieren. Dieses Kerngeschäft bezieht sich in erster Linie auf die Wirtschaft. Alles andere können die Mitgliedsstaaten viel besser für sich selbst regeln.«7 Das ist keine Umarmung, sondern zuallererst eine Distanzierung von Europa. Wäre Geert Wilders nicht als Konkurrent zu Mark Rutte bei der Wahl angetreten, hätte die Tagesschau bei gleichem Wahlausgang mit dem Satz »Die Niederlande wählt EU-kritisch« aufmachen müssen.

Nach einem Beinahe-Grexit und tatsächlichem Brexit ist »pro« nicht mehr »progressiv-europäisch«, sondern schlichtweg »contra Exit«.

DAS ETABLIERTE ANTI-ESTABLISHMENT

In dem europäischen Superwahljahr 2017 war nicht nur die »irgendwie für Europa«-Allianz neu. 2017 war auch das erste Jahr, in dem rechtspopulistische Parteien gemeinsam in die jeweiligen nationalen Wahlkämpfe gezogen sind. Zum Wahlkampfauftakt trafen sich am 21. Januar in Koblenz die Anführer und Claqueure jener Parteien, die im Europaparlament in der Fraktion Europa der Nationen und der Freiheit