Protestantische Unternehmer in der Schweiz des 19. Jahrhunderts - Marcel Köppli - E-Book

Protestantische Unternehmer in der Schweiz des 19. Jahrhunderts E-Book

Marcel Köppli

0,0

Beschreibung

Die rasante Industrialisierung im 19. Jahrhundert führte auch in der Schweiz zu einschneidenden Veränderungen: wirtschaftliche Entwicklung und Wohlstand auf der einen, Verelendung auf der anderen Seite. Um die gravierenden sozialen Auswirkungen der Industrialisierung zu bekämpfen, propagierte eine Gruppe protestantischer Unternehmer unter der Leitung des Basler Seidenbandindustriellen und Ratsherrn Karl Sarasin (1815-1886) einen 'christlichen Patriarchalismus'. Auf dem Hintergrund der kontroversen Auseinandersetzungen der Kirchen mit der sozialen Frage erforscht Marcel Köppli das sozialpolitische Anliegen dieser protestantischen Unternehmer und ergründet, wieso die Konzeption des 'christlichen Patriarchalismus' letztlich scheitern musste.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 451

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Marcel Köppli

Protestantische Unternehmer in der Schweiz des 19. Jahrhunderts

Christlicher Patriarchalismus im Zeitalter der Industrialisierung

Basler und Berner Studien zur historischen Theologie herausgegeben von Martin Sallmann und Martin Wallraff Band 74 – 2012

TVZ Theologischer Verlag Zürich

Gedruckt mit Unterstützung des Emil Brunner-Fonds, der Lang-Stiftung und des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-290-17621-1 (Buch) ISBN 978-3-290-17739-3 (E-Book)

|XX| Seitenzahlen des E-Books verweisen auf die gedruckte Ausgabe.

© 2012 Theologischer Verlag Zürichwww.tvz-verlag.ch

Alle Rechte vorbehalten

|5|

Vorwort

Die vorliegende Studie ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation «Protestantische Unternehmer in der Schweiz des 19. Jahrhunderts. Eine Untersuchung über den schweizerischen Ausschuss für die Bestrebungen der Bonner Konferenz», die im Frühjahrssemester 2011 von der Theologischen Fakultät der Universität Bern angenommen wurde. Mein Doktorvater Prof. Dr. Martin Sallmann hat die Entstehung und das Schreiben dieser Arbeit wohlwollend und kritisch begleitet und das Erstgutachten erstellt, wofür ich ihm herzlich danke. Auch Prof. Dr. Traugott Jähnichen danke ich für seine wertvolle Unterstützung und das Verfassen des Zweitgutachtens.

Dank gebührt darüber hinaus dem Emil Brunner-Fonds, der Lang-Stiftung und dem Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung für ihre Beteiligung an den Druckkosten sowie Prof. Dr. Martin Sallmann und Prof. Dr. Martin Wallraff für die Aufnahme dieser Arbeit in die von ihnen herausgegebene Reihe.

Frau Lisa Briner und dem Theologischen Verlag Zürich danke ich für die konstruktive und sorgfältige Betreuung der Drucklegung und die freundliche Zusammenarbeit. |6|

|7|

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Inhalt

1. Einleitung

1.1 Ziele der Untersuchung und These

1.2 Forschungsstand

1.3 Forschungstradition

1.4 Aufbau der Arbeit

1.5 Quellen

2. Die soziale Frage im 19. Jahrhundert

2.1 Die soziale Frage

2.2 Die soziale Frage und die Kirchen

2.3 Vier sozialpolitische Haltungen

2.3.1 Die sozialpatriarchale Haltung

2.3.2 Die sozialdiakonische Haltung

2.3.3 Die sozialkonservative Haltung

2.3.4 Die sozialliberale Haltung

2.4 Die soziale Frage in der Schweiz

2.5 Die soziale Frage und der schweizerische Protestantismus

2.5.1 Zürcher Kirche

2.5.2 Schweizerische Predigergesellschaft

2.5.3 Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft

2.5.4 Theologische Richtungen (Reformer, Bekenntnistreue, Vermittler)

a) Reformer

b) Vermittler

c) Bekenntnistreue

2.6 Katholizismus und soziale Frage

2.7 Fazit

3. Christliche Unternehmer im 19. Jahrhundert

3.1 Was ist ein «christlicher Unternehmer»?

3.2 Gründe für die Erforschung christlicher Unternehmer|8|

3.3 Beispiele christlicher Unternehmer in Deutschland

3.4 Beispiele christlicher Unternehmer in der Schweiz

3.5 Fazit

4. Impulse aus der Inneren Mission für die Auseinandersetzung mit der sozialen Frage in der Schweiz

4.1 Innere Mission und soziale Frage

4.2 Kongress für Innere Mission 1869 in Stuttgart

4.3 Vorbereitungstreffen für die Bonner Konferenz im Winter 1870 in Berlin

4.4 Bonner Konferenz für die Arbeiterfrage (14./15. Juni 1870)

4.5 Die Gründung der Zeitschrift Concordia

4.6 Ausrichtung und Aufgabe der Zeitschrift Concordia

4.7 Schweizerischer Ausschuss für die Bestrebungen der Bonner Konferenz

4.8 Aufnahme des SABBK durch die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft

4.9 Fazit

5. Der christliche Unternehmer Karl Sarasin (1815–1886)

5.1 Die Stadt Basel im 19. Jahrhundert

5.2 Biographische Skizze

5.3 Sarasins Schriften

5.4 Sarasins Einstellung zur sozialen Frage

5.5 Veränderungen in Sarasins Einstellung zur sozialen Frage

5.6 Sarasins Auseinandersetzung mit der sozialen Frage in weiteren Handlungsfeldern

5.6.1 Kommission für Fabrikarbeiterverhältnisse in der Gesellschaft zur Beförderung des Guten und Gemeinnützigen (GGG) in Basel

5.6.2 Der erste Basler Klassenkampf, das Basler Fabrikgesetz (1869) und eine Konferenz im christlichen Vereinshaus zur sozialen Frage

5.6.3 Industriekommission der Basler Mission

5.7 Fazit

6. Johann Caspar Brunner, Victor Böhmert und Henri DuPasquier

6.1 Johann Caspar Brunner (1813–1886)

6.1.1 Der Kanton Aargau im 19. Jahrhundert|9|

6.1.2 Biographische Skizze

6.1.3 Brunners Einsatz für das aargauische Fabrikpolizeigesetz und das eidgenössische Fabrikgesetz

6.1.4 Brunners Schriften zur sozialen Frage

6.1.5 Brunners Einstellung zur sozialen Frage

6.2 Victor Böhmert (1829–1918)

6.2.1 Böhmerts Einsatz für die Auseinandersetzung des liberalen Protestantismus in Deutschland mit der sozialen Frage

6.2.2 Biographische Skizze

6.2.3 Böhmerts Schriften zur sozialen Frage

6.2.4 Böhmerts Einstellung zur sozialen Frage

6.3 Henri DuPasquier (1815–1875)

6.3.1 Der Kanton Neuenburg im 19. Jahrhundert

6.3.2 Biographische Skizze

6.3.3 DuPasquiers Schriften zur sozialen Frage

6.3.4 DuPasquiers Einstellung zur sozialen Frage

6.4 Fazit

7. Schlussbetrachtung

7.1 Bedeutung der Ergebnisse für den Forschungsstand

7.2 Diskussion der Ausgangsthese

7.3 Forschungsdesiderat

7.4 Wirtschaftsethischer Ausblick

Anhang

Einladung zu einer Konferenz über die soziale Frage ins christliche Vereinshaus, unterzeichnet von Adolf Christ, Ernst Staehelin und Karl Sarasin

Abkürzungsverzeichnis

8. Bibliographie

8.1 Ungedruckte Quellen

8.2 Gedruckte Quellen

8.3 Sekundärliteratur

9. Register

9.1 Personen

9.2 Orte

9.3 Sachen

9.4 Bibelstellen

Fußnoten

Übersicht über die bisher erschienenen Bände der Reihe

Seitenverzeichnis|10|

|11|

1. Einleitung

Unter der Überschrift «christlicher Patriarchalismus in der Industrie» beschreibt William Oswald Shanahan 1962, wie sich eine lose Gruppe protestantischer Unternehmer – einige von ihnen aus der Schweiz – im 19. Jahrhundert im Rahmen der Inneren Mission mit der sozialen Frage beschäftigte und welche Konzepte sie zu deren Lösung propagierte.1 In der Forschung wurde immer wieder betont, wie wichtig das Ringen dieser protestantischen Unternehmer in der Auseinandersetzung der Kirchen mit der sozialen Frage gewesen sei; gründlich erforscht wurde diese Gruppe jedoch bislang nicht. In der vorliegenden Arbeit wird nun deren Entstehung genauer untersucht und insbesondere nach der sozialpolitischen Einstellung der Schweizer Unternehmer dieser Gruppe gefragt.

Insofern leistet diese Arbeit einen Forschungsbeitrag zur Auseinandersetzung des schweizerischen Protestantismus mit der sozialen Frage in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie fokussiert dabei auf diese Gruppe mehrheitlich protestantischer Schweizer Unternehmer, die gemeinsam die sozialen Folgen der industriellen Revolution analysierte und verschiedene Ansätze zur Lösung der sozialen Frage beisteuerte. Der Patriarchalismus spielte in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle. Die Anfänge des Zusammenschlusses liegen in der Inneren Mission in Deutschland, insbesondere am Kongress für Innere Mission in Stuttgart (1869) und an der Bonner Konferenz für die Arbeiterfrage (1870). Der Basler Unternehmer und Ratsherr Karl Sarasin (1815–1886) war nicht nur an beiden Zusammenkünften eine zentrale Person, sondern hat auch versucht, die propagierten Ideen in der Schweiz zu verbreiten, indem er einen schweizerischen Ausschuss für die Bestrebungen der Bonner Konferenz (SABBK) initiierte. Mitglieder dieses Ausschusses waren zum Teil sehr bekannte Schweizer Unternehmer, wie beispielsweise der Textilfabrikant und |12| Schöpfer der Jungfraubahn Adolf Guyer-Zeller (1839–1899) oder der Schuh­fabrikant Carl Franz Bally (1821–1899).

Damit wird ein bislang kaum untersuchter Zusammenschluss protestantischer Schweizer Unternehmer historisch nachgezeichnet, im zeitgeschichtlichen Kontext situiert und mit der bestehenden Forschung zum sozialen Protestantismus in Verbindung gebracht. Es soll zudem der Frage nachgegangen werden, inwiefern es sich bei diesen «protestantischen Unternehmern» auch um «christliche Unternehmer» handelte, welche die soziale Frage mit ihrem Engagement und durch den christlichen Glauben zu lösen versuchten. Während einerseits die Trägerschaft als Ganzes sichtbar gemacht wird, werden andererseits an ausgewählten Persönlichkeiten sozialpolitische Haltungen, konkretes Handeln und religiöse Begründungsmuster nachgezeichnet.

1.1 Ziele der Untersuchung und These

Mit der vorliegenden Arbeit sollen primär zwei Ziele verfolgt werden. Zum einen soll die Entstehung des bislang weitgehend unerforschten SABBK geschichtlich rekonstruiert, zum anderen sollen die darin involvierten protestantischen Unternehmer sozialpolitisch charakterisiert werden. Zur geschichtlichen Rekonstruktion der Entstehung des SABBK gehört dessen Verortung innerhalb des Themas «Kirchen und soziale Frage im 19. Jahrhundert», insbesondere in der Auseinandersetzung des schweizerischen Protestantismus mit der sozialen Frage. Für die sozialpolitische Charakterisierung der involvierten Unternehmer werden diese protestantischen Unternehmer und ihre sozial­politischen Haltungen mit der Forschung zum Thema «Christliche Unternehmer» und zur «Inneren Mission» in Beziehung gebracht.

Weiter besteht das Ziel der Untersuchung darin, das Verhältnis von religiösem Denken und sozialpolitischem Handeln zu beleuchten. Dabei soll geklärt werden, was unter dem Projekt der «Christianisierung» respektive der «Humanisierung der Industrie», verstanden wurde und wie die untersuchten protestantischen Unternehmer dieses Projekt umzusetzen versuchten.

Die dieser Arbeit zugrunde liegende These lautet folgendermassen: Die protestantischen Unternehmer des SABBK kamen aus dem theologisch konservativen, erwecklich-pietistischen Lager und wollten die soziale Frage als christliche Unternehmer mit Hilfe eines betrieblichen Patriarchalismus lösen. Die zentrale Motivation ihres Patriarchalismus lag dabei in ihrem christlichen Glauben. Zum Patriarchalismus kommen jedoch auch Ansätze der sozialkonservativen Haltung hinzu, indem auch staatliche Interventionen zur Lösung der sozialen Frage als notwendig erachtet wurden. Zudem propagierten einzelne Unternehmer auch die sozialdiakonische Haltung zur Lösung der sozialen |13| Frage. Grundsätzlich führte die mehrheitlich sozialpatriarchale Haltung zwar zu eindrücklichen sozialen Initiativen, eine angemessene und wirkmächtige Strategie zur umfassenden Lösung der sozialen Frage stellte dieses Handeln jedoch nicht dar.

1.2 Forschungsstand

Wie bereits angedeutet, liegt zum SABBK bislang keine gründliche historische Untersuchung vor, obwohl verschiedentlich darauf hingewiesen wurde, dass eine solche gerade aufgrund des dürftigen Forschungsstandes zu begrüssen wäre. Josef Mooser schreibt dazu: «Die Ursachen für diese deutsch-schweizerische Verbindung [des SABBK] in der konservativ-protestantischen, grossindustriellen Sozialreform harren noch der Aufklärung.»2 Auch wenn der SABBK und insbesondere die Ursachen für dessen Entstehung noch nie gründlich aufgearbeitet wurden, so finden sich dennoch einige Monographien und Aufsätze, in denen der SABBK dargestellt wurde. Der ausführlichste Beitrag zum SABBK, insbesondere zu seiner Entstehung innerhalb der Inneren Mission, bietet die bereits erwähnte Monographie Shanahans.3 Martin Gerhardt berichtet über die Hintergründe, die zur Bonner Konferenz geführt haben.4 Unter der Überschrift «Die Bonner Industriekonferenz von 1871 und ihr Ableger in der Schweiz»5 beschreibt Erich Gruner den SABBK und seine Bedeutung für die sozialpolitische Diskussion in der Schweiz. Arthur Bernet verweist in zwei seiner Publikationen auf den Einfluss des SABBK auf die Entwicklung der betrieblichen Sozialpolitik in der Schweiz.6 Da Sarasin das wichtigste Mitglied des SABBK war, finden sich auch in Beiträgen zu seiner Person Hinweise auf diesen Ausschuss.7 In sämtlichen Untersuchungen wird betont, dass die Unternehmer des SABBK in der schweizerischen Debatte um die soziale Frage eine zentrale Rolle spielten. Worin diese Rolle bestand und welche |14| sozialpolitischen Haltungen der SABBK favorisierte, blieben allerdings bislang weitgehend unbeantwortete Fragen.

Von zentraler Bedeutung für die Darstellung des gegenwärtigen Forschungsstandes ist aber nicht allein diejenige Forschung, in welcher der SABBK explizit diskutiert wird. Es gilt auch nach dem gegenwärtigen Stand der Erforschung des sozialen Protestantismus, insbesondere der Inneren Mission und Johann Hinrich Wichern (1808–1881), zu fragen. Vereinfachend sieht Jochen-Christoph Kaiser drei Phasen: «Eine herkömmliche Sichtweise, die noch heute nachwirkt, eine revisionistische, die mit dem Aufbruch der 1968er Jahre verknüpft ist, und eine noch vergleichsweise junge, die seit etwa 15 Jahren zu diesen Fragen arbeitet und die Methodenvielfalt der Sozial-, Religions- und Kirchengeschichte integrieren will».8 Die «revisionistische» Phase macht Kaiser in der Forschung um den Bochumer Sozialethiker Günter Brakelmann aus. In dieser Phase sei herausgearbeitet worden, dass das reaktionäre und antidemokratische Politikverständnis des Protestantismus «letztlich für das Scheitern des Protestantismus vor den Herausforderungen der sozialen Frage mit verantwortlich gewesen sei».9 In der dritten Phase beobachtet Kaiser eine Wegbewegung von den «Revisionisten». Er schreibt zu dieser jüngsten Phase: Sie «entdeckt das innovative Handlungspotential Wicherns für die Entfaltung des sozialen Protestantismus und seiner gesellschaftlichen Wirkungen wieder neu. Sie argumentiert nicht auf der Folie von heute aus wünschbarer Entwicklungen, sondern nimmt zeitgenössische Aussagen ernst und ordnet die Quellen in ein gesellschafts- respektive kulturgeschichtliches Gesamttableau ein».10 Stephan Sturms Forschung zu Wichern kann dieser jüngsten Phase zugeordnet und soll hier als Beispiel angeführt werden. In seiner Dissertation betont Sturm vehement, die Innere Mission habe zeitgemäss und adäquat auf die soziale Frage reagiert. Gerade in Bezug auf die Zeit der |15| Bonner Konferenz kommt Sturm zu einer äusserst positiven Einschätzung der Inneren Mission: «Die Analyse der in der einschlägigen Forschungsliteratur häufig nur sporadisch oder gar nicht berücksichtigten Spätphase der Wichernschen Wirksamkeit zeigt darüber hinaus deutlich, dass Wichern die Spezifika der Industrialisierung durchaus erkannt und die Arbeiterfrage zu einem eigenständigen Thema der Inneren Mission erhoben hat.»11

Die vorliegende Arbeit knüpft an Brakelmanns Forschung, also gemäss Kaiser an die zweite Phase an, indem einerseits nämlich gewürdigt wird, dass der SABBK mit seiner sozialpatriarchalen, sozialdiakonischen und ansatzweise sozialkonservativen Haltung die soziale Frage als Problem erkannte. Zudem wird auch – wiederum im Anschluss an Brakelmann – kritisch davon ausgegangen, dass in der Inneren Mission die sozialpolitische Dimension der sozialen Frage nicht genügend erkannt wurde, da ihre Vorschläge sich an einem veralteten patriarchalischen Gesellschaftsmodell orientierten und deshalb die grundlegenden Veränderungen der Industrialisierung unberücksichtigt blieben. Ob die jüngste Phase und insbesondere Sturms Forschung tatsächlich wesentlich neue und nachvollziehbare Aspekte in die Diskussion eingebracht hat, soll schliesslich am Ende der Untersuchung diskutiert werden.12

1.3 Forschungstradition

Die vorliegende Arbeit schliesst in mancherlei Hinsicht an die Forschungstradition an, die unter dem Begriff «sozialer Protestantismus» zusammengefasst wird. Dabei umschreibt der soziale Protestantismus «die Vielzahl derjenigen Initiativen des neuzeitlichen Protestantismus, welche die seit den Prozessen der Industrialisierung und Demokratisierung erforderliche Neuorientierung der sozialen Gestaltung sowohl theoretisch wie auch praktisch in Angriff genommen haben. Waren es im 19. Jahrhundert zunächst Einzelne und freie Verbände, die sich dieser Aufgabe gestellt haben, wurde zu Beginn dieses Jahrhunderts [des 20. Jahrhunderts] die Bedeutung und Berechtigung dieses Arbeitsfeldes von der verfassten Kirche anerkannt und schliesslich auch unterstützt.»13 In diesem Sinn soll in dieser Untersuchung danach gefragt werden, |16| wie der SABBK und die assoziierten Unternehmer theoretisch und praktisch auf die Industrialisierung und teilweise auch auf die Demokratisierung reagiert haben und welche Lösungsansätze sie propagierten und umzusetzen versuchten. Im Zentrum steht insbesondere die Frage nach den sozialpolitischen Haltungen der involvierten Unternehmer.

1.4 Aufbau der Arbeit

Der Aufbau der Arbeit spiegelt die Ziele der Untersuchung wieder, indem nämlich eine historische Rekonstruktion der Entstehung des SABBK und eine sozialpolitische Charakterisierung der involvierten Unternehmer angestrebt und diese mit der Auseinandersetzung des schweizerischen Protestantismus und der Inneren Mission mit der sozialen Frage in Verbindung gebracht wird.

Das vorliegende 1. Kapitel bot nach einer Zusammenfassung vorerst einen Überblick über die Ziele der Untersuchung und die These. Daran schloss eine Einführung in den Forschungsstand an, worin insbesondere auch die verschiedenen Phasen der Erforschung des sozialen Protestantismus genannt wurden. Des Weiteren wurde die Forschungstradition und die Methode sowie der Aufbau der Arbeit vorgestellt und schliesslich werden die benutzten Quellen diskutiert.

Im folgenden 2. Kapitel wird die Auseinandersetzung des schweizerischen Protestantismus mit der sozialen Frage im 19. Jahrhundert dargestellt.

Das 3. Kapitel gibt einen Überblick über die Forschungsergebnisse, die bereits zum Thema «christliche Unternehmer» existieren. Es beinhaltet ebenfalls die Diskussion der möglichen Gründe, die zur intensivierten Erforschung des Verhältnisses von Religion und Wirtschaft, insbesondere auch der Analyse christlicher Unternehmer, geführt haben. Ferner wird erörtert, welche Definitionen christlicher Unternehmer in der Forschung gegeben worden sind.

Hieran anschliessend schildert das 4. Kapitel, welche Impulse zur Aus­einandersetzung mit der sozialen Frage von der Inneren Mission kamen. Es zeigt, wie protestantische Unternehmer innerhalb der Inneren Mission zusammenfanden, um die soziale Frage gemeinsam zu analysieren und Lösungsstrategien zu deren Überwindung zu entwickeln. Auch die zentrale Rolle, die der Basler Karl Sarasin am Kongress für Innere Mission in Stuttgart (1869) sowie später auch an der Bonner Konferenz und im SABBK spielte, soll näher ausgeführt werden. Zudem wird jedes einzelne Mitglied des SABBK kurz porträtiert, |17| indem insbesondere seine Haltung zur sozialen Frage beleuchtet wird. Es soll aufgezeigt werden, welche sozialpolitischen Haltungen die Unternehmer des SABBK vertraten und die Frage beantwortet werden, ob über die gängige Auseinandersetzung der Inneren Mission mit der sozialen Frage hinausgehende Konzepte propagiert wurden.

Das 5. Kapitel wendet sich dem Porträt des Basler Unternehmers und Politikers Karl Sarasin zu, wobei seine Haltung gegenüber der sozialen Frage besonders ausführlich thematisiert und insbesondere nach seinem gelebten Patriarchalismus und nach seinem Konzept der «Christianisierung der Industrie» gefragt wird. Sarasin wird darin vor dem Hintergrund des «Frommen Basel» gezeichnet und seine sozialdiakonischen und betriebspatriarchalen Initiativen werden ausführlich diskutiert. Um Sarasins praktischen Umgang mit der sozialen Frage zu illustrieren, wird beispielhaft diskutiert, wie er in seiner Fabrik sowie in Politik, Gesellschaft und Kirche konkret auf die soziale Frage reagierte.

Das 6. Kapitel porträtiert mit Johann Caspar Brunner und Henri DuPasquier zwei weitere protestantische Unternehmer und Mitglieder des SABBK sowie ihre Auseinandersetzung mit der sozialen Frage und der Sozialpolitik. Dazu wird insbesondere nach Gemeinsamkeiten der beiden Unternehmer mit Sarasin und Unterschiede zu ihm gefragt. Zusätzlich stellt das Kapitel mit dem Nationalökonomen Victor Böhmert das zweitwichtigste Mitglied des SABBK und einen zentralen und originellen Vertreter des sozialen Kulturprotestantismus vor. Anhand des Vergleichs von Sarasin mit diesen drei Persönlichkeiten soll gleichzeitig die Frage beantwortet werden, wieso sich der SABBK kurze Zeit nach seiner Gründung bereits wieder auflöste.

Im 7. Kapitel sollen die Resultate und Erkenntnisse in einer Schlussbetrachtung reflektiert und in den grösseren Zusammenhang gestellt werden. Dabei wird die Bedeutung der Ergebnisse für den Forschungsstand aufgezeigt, die Ausgangsthese diskutiert und nach dem Forschungsdesiderat gefragt. Zuletzt sollen schliesslich Anschlussmöglichkeiten an die Ergebnisse aufgezeigt werden.

Im Anhang wird eine Quelle ediert, die Aufschluss über die Auseinandersetzung des «Frommen Basel», insbesondere von Sarasin, mit der sozialen Frage gibt. In der Forschung wird regelmässig auf diesen Text verwiesen, ediert wurde er bislang jedoch nicht. Eine Hinführung zu diesem Text findet sich im 5. Kapitel, speziell unter Abschnitt «5.6.2 Der erste Basler Klassenkampf, das Basler Fabrikgesetz (1869) und eine Konferenz im christlichen Vereinshaus zur sozialen Frage». |18|

1.5 Quellen

Wie das Literaturverzeichnis und die Liste der Archive mit den Quellen zeigen, wurde für die Untersuchung sehr unterschiedliches Quellenmaterial miteinbezogen. Der Centralausschuss für die Innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche verstand sich lediglich als Initiator, nicht aber als Träger der Bonner Konferenz und des SABBK.14 Deshalb ist in den «Fliegenden Blättern», dem offiziellen Publikationsorgan der Inneren Mission, nur die erste Phase der Bewegung beschrieben. Da sich der SABBK nicht in einem Verein organisierte, sondern einen losen Zusammenschluss darstellte, konnte beim Nachzeichnen der Bewegung nicht auf offizielle Sitzungsprotokolle zurückgegriffen werden. Zur Rekonstruktion der geschichtlichen Entwicklung des SABBK wurden deshalb neben ungedruckten Archivalien in verschiedenen Archiven (ADW, StABS und AdRH) Veröffentlichungen wie die Zeitschrift Concordia, die «Schweizerische Zeitschrift für Gemeinnützigkeit» sowie die Korrespondenz der Mitglieder des SABBK herangezogen. Auch die Hinführung zum Thema der sozialen Frage im 2. Kapitel, insbesondere die Darstellung der Haltung des schweizerischen Protestantismus zur sozialen Frage, basiert auf Primärquellen, wie beispielsweise auf den veröffentlichten Synodeprotokollen der Zürcher Kirche, den publizierten Reden der schweizerischen Predigergesellschaft oder auf Zeitschriftartikeln aus den Publikationsorganen der verschiedenen theologischen Richtungen. Die Überzeugungen der SABBK-Mitglieder sind gut zugänglich, da diese ihre Meinungen in Publikationen kundtaten oder in diversen Zeitschriften veröffentlichten. Um die sozialpolitische Bedeutung der jeweiligen Mitglieder präzis beschreiben zu können, wurde zusätzliches Archivmaterial (aus den Archiven ABM, StAAG, BAR und UBBS) herbeigezogen.

Da die Primärquellen aus verschiedenen Bibliotheken und Archiven stammen und deshalb teilweise nicht einfach zugänglich sind, habe ich mich bemüht, viele Zitate in der Arbeit abzudrucken, damit der Leser die Quellen zumindest ausschnittweise zur Verfügung hat und so meiner Argumentation besser folgen kann. Die Quellentexte habe ich dabei wenn möglich immer in ihrer ursprünglichen Schreibweise stehenlassen und das «[sic!]» um der besseren Lesbarkeit Willen bewusst nur selten eingesetzt. Zentrale Zitate der Sekundärliteratur sollen jeweils ebenfalls helfen, meine Argumentation und Einschätzung nachvollziehbar und transparent zu machen.

|19|

2. Die soziale Frage im 19. Jahrhundert

In der vorliegenden Arbeit wird untersucht, wie die protestantischen Unternehmer des schweizerischen Ausschusses für die Bestrebungen der Bonner Konferenz die soziale Frage analysierten, wie sie auf diese reagierten und welche sozialpolitischen Lösungsvorschläge sie propagierten. Dieses Kapitel führt in das Thema der sozialen Frage ein, insbesondere in die Auseinandersetzung des schweizerischen Protestantismus mit der sozialen Frage im 19. Jahrhundert. Dazu wird zunächst diskutiert, was gemeinhin unter der sozialen Frage im 19. Jahrhundert verstanden wird. Im Anschluss daran wird der Frage nachgegangen, wie die Kirchen auf die soziale Frage reagierten und welche sozialpolitischen Haltungen sich im Protestantismus herausgebildet haben. Um die Einstellung des schweizerischen Protestantismus und auch der protestantischen Unternehmer gegenüber der sozialen Frage systematisieren zu können, werden die vier idealtypischen sozialpolitischen Haltungen – Patriarchalismus, Sozialkonservativismus, Sozialdiakonie und Sozialliberalismus – vorerst skizziert. Ein besonderer Akzent liegt dabei auf dem Patriarchalismus, besonders seiner Herkunft und Verankerung in der Reformationszeit sowie seinen Stärken und Schwächen. Nach der Diskussion sozialpolitischer Haltungen wird in einem weiteren Abschnitt gezeigt, wie sich die soziale Frage speziell in der Schweiz äusserte. Daran anschliessend soll ausführlich das Verhältnis des schweizerischen Protestantismus zur sozialen Frage behandelt werden. Dazu wird gezeigt, wie sich die Zürcher Kirche, die schweizerische Predigergesellschaft, die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft sowie die theologischen Richtungen (Reformer, Vermittler und Bekenntnistreue) zur sozialen Frage äusserten. Ausgehend von der Annahme, dass die Unternehmer vor allem aus dem theologisch-konservativen und erwecklich-pietistischen Lager kamen, wird dabei besonders auch die Haltung der Bekenntnistreuen zur sozialen Frage thematisiert. Darüber hinaus soll kurz auf das Verhältnis des Katholizismus zur sozialen Frage eingegangen werden, bevor schliesslich in einem Fazit die Resultate diskutiert werden und nach deren Relevanz für die weitere Untersuchung gefragt wird. |20|

2.1 Die soziale Frage

Das «lange 19. Jahrhundert»15 war gekennzeichnet durch tiefgreifende politische, kirchliche und gesellschaftliche Auf- und Umbrüche.16 Ausgehend von der Französischen Revolution war der Beginn des 19. Jahrhunderts geprägt durch den Kampf zwischen rationalistischen Modernisierern und konservativen Traditionalisten – um hier nur gerade die beiden grössten rivalisierenden politischen Weltanschauungen zu nennen. Kirchlich gesehen war das 19. Jahrhundert gekennzeichnet von der beginnenden Entkirchlichung, dem Kulturkampf sowie den verschiedenartigen Versuchen der Kirchen, sich in der neuen Situation zurechtzufinden. Gesellschaftlich schliesslich war das 19. Jahrhundert geprägt durch Veränderungen, die gemeinhin unter dem Begriff «soziale Frage» subsummiert werden. Unter diesem Begriff werden «Krisendiagnosen und entsprechende Bewältigungsstrategien seit der Herausbildung der Industriegesellschaft»17 zusammengefasst. An Stelle des Begriffs «soziale Frage» wird häufig auch der Ausdruck «Arbeiterfrage» verwendet, da sich in jenem Zeitraum die soziale Frage vornehmlich in der Verarmung |21| der Lohnarbeiter manifestierte.18 Die Voraussetzungen, welche die Herausbildung der Industriegesellschaft ermöglichten und insofern zur sozialen Frage führten, sind vielschichtig und äusserst komplex miteinander verwoben. Im Folgenden werden die zentralen Voraussetzungen diskutiert.

Eine erste wichtige Voraussetzung, die zur sozialen Frage führte, ist in der Industrialisierung zu sehen.19 Die Anfänge der Industrialisierung liegen im England des 18. Jahrhunderts, als diverse Erfindungen den Übergang von der Handarbeit zur maschinellen Fertigung einleiteten und der Antrieb mit Wasserkraft und Dampfmaschinen möglich wurde. In der Folge transformierte die Industrialisierung eine mehrheitlich landwirtschaftlich und handwerklich geprägte in eine von der maschinellen Produktion geprägte Gesellschaft. Die ökonomischen und sozialen Folgen der Industrialisierung für die Gesellschaft waren einschneidend und tiefgreifend. Eine der Konsequenzen war der rasante Anstieg der Anzahl Lohnarbeiter, die vielfach unter schrecklichen hygienischen und sozialen Bedingungen in den neuen Zentren der Industrie arbeiteten.

Eine weitere Voraussetzung für die Herausbildung der sozialen Frage bildete das rasante Bevölkerungswachstum.20 Dieses verursachte gravierende wirtschaftliche Nöte und trieb eine grosse Anzahl Menschen in der Hoffnung auf Arbeit in die bereits früh industrialisierten städtischen Zentren. Innerhalb einer äusserst kurzen Zeitspanne führte dies zu einer grossen Urbanisierung und damit zur Herausbildung eines Proletariates, das heisst zu einer grossen Konzentration von Lohnarbeitern auf sehr engem Raum. Da diese Lohnarbeiter nicht mehr in eine dörfliche oder landwirtschaftlich geprägte Sozialstruktur eingebettet waren, besassen sie keinerlei soziale Absicherung und waren der wirtschaftlichen Konjunktur und ihren Arbeitgebern schutzlos ausgeliefert.

Schliesslich führte die Aufhebung der Stände- und Zunftordnung zusätzlich zu einer Auflösung der herrschaftlichen Fürsorge und der mit ihr verbundenen sozialen Sicherung.21 Die Folge war schliesslich eine stark ungleiche ­Verteilung wirtschaftlicher, sozialer und politischer Rechte, was für die Lohnarbeiter mit massiven existentiellen Risiken verbunden war. Dies führte zu einer Verelendung breiter Bevölkerungsschichten, zu sozialen und politischen Konflikten, kurz zu all dem, was mit dem Begriff «soziale Frage» bezeichnet wird. |22|

2.2 Die soziale Frage und die Kirchen

Die soziale Frage forderte auch die Kirchen in Europa heraus, sich in der ökonomisch, gesellschaftlich und politisch vielfältig veränderten Situation neu zurechtzufinden.22 Vor allem die verfassten Kirchen bekundeten grosse Mühe, kreativ und innovativ auf die Herausforderung der sozialen Frage zu reagieren.23 Doch auch wenn die verfassten Kirchen der sozialen Frage vorerst meist ohnmächtig und hilflos gegenüberstanden, so waren die kirchlichen Reaktionen doch durch vielfältige Versuche gekennzeichnet, auf die soziale Frage mit praktischem, karitativem und diakonischem Handeln zu reagieren. In einer «unüberschaubaren, verwirrenden Vielfalt» engagierten sich unzählige Personen und Institutionen aus christlichem Verantwortungsbewusstsein in privatem Rahmen und in kirchlichen Vereinen, um die Miseren der sozialen Frage zu bekämpfen.24

Auch der deutsche Protestantismus des 19. Jahrhunderts zeigt diese unüberschaubare, verwirrende Vielfalt, wobei bei der Bewältigung der sozialen Frage die Innere Mission eine zentrale Rolle spielte.25 Traugott Jähnichen schreibt zur zentralen Bedeutung der Inneren Mission: «Der deutsche Protestantismus hat auf die soziale Frage des 19. Jhs. vorrangig durch eine Neukonzeptualisierung der christlichen Liebestätigkeit reagiert. Das traditionelle christliche Motiv der ‹Barmherzigkeit› wurde unter den Bedingungen einer tief greifenden Veränderung der Sozial- und Wirtschaftsstruktur, die man im Protestantismus weithin als Krisenphänomen im Sinne eines gesellschaftlichen Verfalls interpretierte, mit dem Ziel einer Rechristianisierung der Bevölkerung verknüpft und als ‹Innere Mission› zu einer effizienten und öffentlichkeitswirksamen |23| Einrichtung sozialer Hilfe entwickelt. Auch wenn sich die Innere Mission weithin auf die an den Rand gedrängten Opfer gesellschaftlicher Umbrüche konzentrierte, bildete ihre Arbeit den Ausgangspunkt der sozialethischen Verantwortung des neuzeitlichen Protestantismus.»26 Unter dem Namen «Innere Mission» wird die protestantische Sozialarbeit zusammengefasst, die vom Hamburger Theologen Johann Hinrich Wichern (1808–1881) initiiert und koordiniert wurde.27

2.3 Vier sozialpolitische Haltungen

Zur genaueren Systematisierung der vielfältigen sozialpolitischen Haltungen des Protestantismus des 19. Jahrhunderts, die sich teilweise auch als Reaktion auf die soziale Frage herausgebildet haben, wird eine von Jähnichen vorgeschlagene Typologie herangezogen.28 Auch wenn sich diese Typologie auf die Verhältnisse und die Diskussion des Protestantismus in Deutschland bezieht, soll sie dennoch der besseren Einordnung und Systematisierung des schweizerischen Protestantismus, des SABBK und der involvierten Unternehmer dienen. Selbstverständlich birgt die Reduktion des Protestantismus auf vier idealtypische Haltungen die Gefahr einer zu starken Vereinfachung einer äusserst komplexen geschichtlichen Entwicklung. Im Sinne einer besseren Verständlichkeit soll jedoch damit gearbeitet werden. Jähnichen unterscheidet vier idealtypische Haltungen, die im Folgenden diskutiert werden. Dabei soll die sozialpatriarchale Haltung am ausführlichsten dargestellt werden, da diese sowohl im schweizerischen Protestantismus wie auch bei den Unternehmern stark verbreitet war. |24|

2.3.1 Die sozialpatriarchale Haltung

Die erste Einstellung bezeichnet Jähnichen als die sozialpatriarchale Haltung, diese sei in der Kirche vor allem in ländlichen Gegenden weit verbreitet gewesen, im Verlaufe des 19. Jahrhunderts jedoch immer mehr an den Rand gedrängt worden.29 Sie manifestierte sich sowohl in der landeskirchlichen Verflechtung mit dem Feudalsystem in der Tradition eines sozialen Patriarchalismus wie auch in der konservativen Reaktion auf die 1848er-Revolution. Jähnichen charakterisiert diese Haltung folgendermassen: «Im Horizont dieses Einstellungstyps wird das Schema der durch Autoritätsbeziehungen geprägten Über- und Unterordnungen im Blick auf die sozialen Verhältnisse als unwandelbare Ordnung Gottes sanktioniert. Der bedingungslosen Pflicht zur Unterordnung und Treue der Untergebenen entsprach im Rahmen der patriarchalischen Sozialauffassung eine ganzheitliche Fürsorge- und Schutzverpflichtung der übergeordneten Stände. Zwar ist in diesem Sinn in den Predigten und in kirchlichen Verlautbarungen immer wieder an die Verantwortlichkeit der übergeordneten Stände appelliert worden, der deutliche Akzent lag jedoch in der Einschärfung einer gläubigen Ergebenheit in das gesellschaftliche Los, verknüpft mit einer religiös begründeten Wertschätzung von Arbeitsfleiss und Treue sowie der Bereitschaft, das dadurch bedingte Leid anzunehmen und im Glauben zu tragen.»30 Im Protestantismus des 19. Jahrhunderts war die sozialpatriarchale Haltung, die auch oft einfach als «Patriarchalismus» bezeichnet wird, die vorherrschende Haltung, durch die alle anderen Einstellungen geprägt worden sind und die auch im schweizerischen Protestantismus sowie bei den untersuchten Unternehmern vorherrschend anzutreffen war.31

In der Untersuchung des Patriarchalismus waren Ernst Troeltschs (1865–1923) und Max Webers (1864–1920) Analysen des Protestantismus besonders einflussreich. Troeltsch diskutierte in seiner Untersuchung «Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen» den «Typus des christlichen Patriarchalismus» |25| gleich in verschiedenen Passagen.32 Weber führte in seinem Aufsatz «Wirtschaft und Gesellschaft» den Patriarchalismus unter der Überschrift «Patriarchale und patrimoniale Herrschaft»33 aus. Im Anschluss an Troeltsch und Weber bezeichnen Jähnichen und Friedrich den Patriarchalismus als «soziale Ordnungsstruktur, die – basierend auf der Hausgemeinschaft als dem ganzheitlich den entsprechenden Personenkreis und Besitzstand umfassenden Rechtsverband – dem Hausherrn eine einzig auf Tradition normierte, grundsätzlich schrankenlose Herrschaftsausübung einräumte, die unlösbar mit fundamentalen Fürsorgepflichten gekoppelt war.»34

Die Ursprünge des Patriarchalismus reichen zurück in das neutestamentliche Schrifttum. Während der Zeit der Reformation erfuhr der Patriarchalismus zudem einen starken Auftrieb und eine erneute theologische Legitimation. Besonders deutlich ist dies in Martin Luthers grossem Katechismus, insbesondere in seiner Auslegung des vierten Gebotes, in dem der Gehorsam gegenüber Vorgesetzten und der staatlichen Obrigkeit mit dem Gehorsam gegenüber den Eltern gleichgesetzt wird, was zur Folge hatte, dass der Patriarchalismus zur vorherrschenden Haltung in der lutherischen Sozialethik wurde. Selbstverständlich wurde dabei jedoch nicht nur allein der Gehor­­­sam gegenüber den Vorgesetzten eingefordert, sondern auch betont, dass von den Vorgesetzten die Wahrnehmung von Fürsorgepflichten erwartet wird. ­Troeltsch spricht in diesem Zusammenhang auch von einer «patriarchalischen, agrarisch-kleinbürgerlichen Ethik»35.

Es ist offensichtlich, dass der Patriarchalismus in einer feudalen Agrargesellschaft eine durchaus adäquate sozialpolitische Haltung darstellte. So liegt die Stärke des Patriarchalismus – wenn er denn ernst genommen wurde – auch darin, dass er zu einer sozialeren Gestaltung der Machtausübung verhalf und |26| so «zu einer personalen Humanisierung der Herrschaftsverhältnisse»36 führte. Ob der Patriarchalismus allerdings auch eine adäquate Antwort auf die Industrialisierung und die soziale Frage im 19. Jahrhundert war, muss bezweifelt werden und ist Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. Im 19. Jahrhundert werden angesichts der sozialen Frage auch zunehmend die Schwächen und Grenzen des Patriarchalismus sichtbar. Derweil nämlich auf dem agrarisch geprägten Land der Patriarchalismus durchaus noch seine positiven Auswirkungen zeigen konnte, versagte er angesichts der sozialen Frage in den stark anonymisierten und säkularisierten Städten. Auch die protestantischen Unternehmer des SABBK thematisierten diesen unumkehrbaren Trend zumindest ansatzweise. Denn die Beziehung zwischen den Unternehmern und ihren Arbeitern war vermehrt der Anonymisierung unterworfen, so dass eine patriarchale Lösung der sozialen Frage je länger desto weniger möglich war.

2.3.2 Die sozialdiakonische Haltung

Als zweite Haltung bezeichnet Jähnichen die sozialdiakonische der Inneren Mission.37 Den Ursprung dieser Haltung sieht er im Konzept der In­ne­ren Mission Wicherns. Theologisch und politisch sei Wichern zwar konservativ geprägt gewesen, er habe jedoch durch sein volksmissionarisches An­liegen sozialreformerische Überlegungen mit einbezogen. Als «konservativer Mo­­­dernisierer»38 habe Wichern konkrete sozialdiakonische Arbeits­fel­der aufge­baut, indem er das Vereinswesen als zeitgemässe Handlungsform aufgegriffen habe. Ihm sei es vor allem um die Förderung einer intakten Familienstruktur gegangen. Mit seiner sozialdiakonischen Haltung habe Wichern die soziale Frage lösen wollen, indem «er eine Reintegration der neu entstandenen proletarischen Fabrikarbeiter in eine reformierte patriarchalische Sozialordnung angestrebt»39 habe.

2.3.3 Die sozialkonservative Haltung

Als dritte Einstellung führt Jähnichen die sozialkonservative Haltung an.40 Diese sei im Anschluss an die Reichsgründung entwickelt und mit dem Begriff «Kathedersozialismus» bezeichnet worden. Wichtigster Vertreter dieser Position sei der Berliner Nationalökonom Adolph Wagner (1835–1917).41|27| Die sozialkonservative Haltung kennzeichnet Jähnichen mit folgenden Worten: «Als der entscheidende, über das auf freiwilliger Basis organisierte Handeln der Inneren Mission hinausgehende Schritt dieses Typs des sozialen ­Protestantismus ist das Bemühen um planmässiges sozialstaatliches Handeln zu nennen.»42 Der Staat solle nicht mehr nur als Macht- und Kulturstaat, sondern auch als Sozialstaat verstanden werden, der sich zugunsten der sozial Schwächeren einsetzt. Ziel ist deshalb der «Aufbau von sozialstaatliche[n] Sicherungssysteme[n], die Entwicklung eines sozialen Steuerrechts, die Ausweitung des gesetzlichen Arbeitsschutzes sowie der Aufbau öffentlich-­recht­­licher Interessenvertretungsorgane der Arbeiterschaft»43. Der sozialkonser­vativen Haltung ordnet Jähnichen auch den Juristen Theodor Lohmann (1831–1905)44, den Pfarrer Rudolf Todt (1838–1887)45 und den Hofprediger in Berlin, Adolf Stoecker (1835–1909)46 zu.

2.3.4 Die sozialliberale Haltung

Die vierte Haltung sieht Jähnichen im sozialliberalen Protestantismus, der sich um den 1880 gegründeten Evangelisch-sozialen Kongress47 heraus­bildete.48 Wichtigster Vertreter des sozialliberalen Protestantismus sei Friedrich Naumann (1860–1919). Die sozialliberale Haltung versteht er als Kor­rektur zu der «Staatszentrierung des sozialkonservativen Protestantismus», sie sei skeptisch gegenüber allen «Versuchen und einer direkten kirchlichen Einwirkung auf soziale Problemlagen oder gar einer Rechristianisierung der Gesellschaft».49 Die sozialliberale Haltung sei zudem getragen von einer positiven Einstellung zur Wirtschaft: «Wirtschaftspolitisch würdigten die sozial­liberalen Protestanten die Effizienzsteigerung kapitalistischen Wirt­schaf­tens und grenzten sich entschieden gegen sozial-romantische, gegen ­einseitig staats­zentrierte und insbesondere gegen sozialistische Gesell­schaftskonzep­tionen ab.»50 Ziel sei eine «Transformation des Kapitals als einer einseitigen Herrschaftsordnung» in eine «‹Wirtschaftsdemokratie› mit weitreichenden |28| Par­tizipationsrechten der Arbeitnehmerschaft und einer Verrechtlichung der Arbeitsbeziehungen».51 Die sozialliberale Haltung ziele somit auf eine «Ethisierung des Wirtschaftslebens», dadurch hoffe man die «Effizienzgewinne des Kapitalismus mit sozialpolitischer Verantwortung» auszugleichen.52

2.4 Die soziale Frage in der Schweiz

Selbstverständlich war die Schweiz von den weiter oben genannten Voraussetzungen, Ursachen und Auswirkungen der sozialen Frage nicht aus­genommen.53 Die Schweiz des 19. Jahrhunderts war ebenfalls durch In­dus­trialisierung, Bevölkerungswachstum und Auflösung der Stände und Zunft­ord­nungen geprägt. Doch die Voraussetzungen und Ursachen, die in der Schweiz zur sozialen Frage geführt haben, zeichnen sich durch spezifische Kennzeichen aus, auf die im Folgenden eingegangen werden soll.

Die entstehende Industrie der Schweiz war in hohem Mass geprägt durch die Rohstoffarmut und die Distanz der Schweiz zu Handelswegen mit günstigen Produkten.54 In der Schweiz gab es deshalb keine nennenswerte Schwerindustrie, |29| die Industrie musste sich auf die maschinelle Weiterverarbeitung eingekaufter Rohstoffe konzentrieren.

Ein weiteres Charakteristikum der Industrie in der Schweiz war die dezentrale Industrialisierung der vorwiegend ländlichen Gebiete.55 Die Rohstoffarmut und die damit einhergehende Spezialisierung auf die Weiterverarbeitung der Rohstoffe brachten es mit sich, dass sich die Industrien entlang von Flüssen in ländlichen Gebieten ansiedelten, um so die Wasserkraft zu nutzen. Die dezentrale Industrialisierung ermöglichte es den Menschen, in ihren angestammten Orten zu bleiben. Dies hatte den Vorteil, dass die Arbeiter neben dem Fabriklohn meist noch ein zweites Einkommen, ein sogenanntes Subsidiäreinkommen, in der Landwirtschaft hatten und somit nicht ausschliesslich von der wirtschaftlichen Konjunktur der Industrie abhängig waren. Durch diesen zusätzlichen Erwerb und die Beheimatung in den dörflichen Strukturen empfanden sich die Arbeiter in der Schweiz nicht als Proletarier, sondern als Kleinbürger.56 Aus diesem Grund erfolgten die Urbanisierung und die immense Ansammlung von Arbeitern auf kleinstem Raum in der Schweiz nur in abgeschwächter Form und es bildete sich kein eigentliches Massenproletariat.57 Weil sowohl die Arbeiter als auch die Unternehmer – trotz der fortschreitenden Industrialisierung an vielen Orten der Schweiz – weiterhin in die ländliche Sozialstruktur eingebunden waren, unterblieb eine Polarisierung der beiden Gruppen, wie sie beispielsweise in Frankreich oder Deutschland zu beobachten war, weitgehend.

Ausserdem kennzeichnete die Schweiz ein relativ hohes Bildungsniveau. Um konkurrenzfähig zu sein, war die rohstoffarme Schweiz nämlich gezwungen, ihren Wettbewerbsnachteil durch Spezialisierung der Arbeit, Erfindergeist und konsequente Rationalisierung zu kompensieren.58 Dieses Bildungsniveau ermöglichte der Industrie den Einsatz qualifizierter Arbeitskräfte, was für die Spezialisierung der Arbeit eine wichtige Voraussetzung war.59

Gesellschaftspolitisch charakterisierte die Schweiz ein früh demokratisiertes Staatswesen. Durch die radikalen und demokratischen Bewegungen sowie die Bundesverfassung von 1848 waren die Volksrechte bereits früh stark |30| entwickelt. Die Schweizer Arbeiter hatten daher nicht nur vielerorts einen bescheidenen Bodenbesitz, sondern besassen auch weitgehend demokratische Rechte.60 Aus diesem Grund entstanden in der Schweiz Arbeiterorganisationen erst vergleichsweise spät, um 1870. Da die soziale Frage jedoch bereits in den 1830er Jahren als Problem erkannt wurde, folgert Markus Mattmüller «dass die nichtsozialistischen Kreise eine Möglichkeit zur Besprechung der sozialen Frage und zu Lösungsversuchen hatten, bevor die Arbeiterbewegung selbst einsetzte. In diesem Zeitraum traten die ersten Bemühungen kirchlicher Kreise um die soziale Frage auf.»61

Ein weiteres, diesmal politisches Kennzeichen war schliesslich der stark ausgeprägte Föderalismus der Schweiz.62 Die einzelnen Kantone der Eidgenossenschaft entwickelten bezüglich der sozialen Frage sehr unterschiedliche und voneinander unabhängige politische Umgangsformen, ein weiterer Grund, weshalb eine gesamtschweizerische Polarisierung der Arbeiter und Unternehmer weitgehend unterblieb. Im Vergleich zum umliegenden Europa unterschied sich die Schweiz politisch jedoch nicht nur durch den ausgeprägten Föderalismus, sondern auch durch die unterschiedliche Machtstellung der Konservativen. Der aufstrebende Bundesstaat der Schweiz war vom Radikalismus bestimmt, die Konservativen gerieten deshalb zunehmend in die Minderheit und Opposition.

Ein weiterer zentraler Aspekt bei der Betrachtung der sozialen Frage in der Schweiz ist die Entwicklung der Fabrikgesetzgebung, die bis zur Bundesverfassung von 1874 in der Kompetenz der Kantone lag. Aufgrund der bereits angesprochenen dezentralen und föderalistischen politischen Organisation der Schweiz lagen die Anfänge der Arbeiterschutzgesetzgebung in den einzelnen Kantonen. So war auch die Entwicklung der Fabrikgesetzgebung durch den ausgeprägten Föderalismus gekennzeichnet und markierte den Anfang des modernen, schweizerischen Wohlfahrtsstaates.63 Zusätzlich führte der unterschiedliche Industrialisierungsgrad der einzelnen Kantone zu sehr unterschiedlichen |31| Versuchen, die Fabrikarbeit zu regulieren. Die Anfänge dieser Versuche liegen im beginnenden 19. Jahrhundert und betrafen meist die Kinderarbeit. In der Fabrikgesetzgebung spielte der stark industrialisierte und auch politisch weitgehend demokratisierte Kanton Glarus eine Pionierrolle.64 Das «Gesetz über das Arbeiten in Spinnereien» (1848) sowie das «Gesetz über die Verwendung schulpflichtiger Kinder in industriellen Etablissements» (1856) verboten die Fabrikarbeit für schulpflichtige Kinder und setzten eine Maximaldauer eines Arbeitstages fest. 1858 wurde schliesslich in den Fabriken die Arbeit an Sonn- und allgemeinen Feiertagen verboten. Pfarrer Bernhard Becker (1819–1879)65 spielte in der öffentlichen Diskussion dieser Gesetze eine zentrale Rolle, wobei er sich jeweils für eine arbeiterfreundliche Regelung engagierte. In der Glarner Landsgemeinde von 1864 wurde schliesslich demokratisch – gegen den Willen der Kantonsregierung – eine allgemeine Normierung der Arbeitszeit auf 12 Stunden und ein Verbot der Nachtarbeit angenommen. Dieses Glarner Fabrikgesetz war ein Meilenstein in der schweizerischen Sozialpolitik. Die direkte Demokratie prägte damit die soziale Gesetzgebung wesentlich. 1872 wurde schliesslich die Länge eines Normalarbeitstages auf 11 Stunden reduziert. Viele andere Kantone, wie beispielsweise Aargau, Basel-Stadt und Schaffhausen, führten schliesslich ebenfalls kantonale Fabrikgesetze ein. Dank der frühen Entwicklung seines Fabrikgesetzes spielte Glarus eine Pionierrolle und hatte einen nachhaltigen Einfluss auf die Gesetzgebung dieser anderen Kantone und des Bundesstaates. Die ersten kantonalen Fabrikgesetze entstanden also vor der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die einzelnen Kantone versuchten anfangs durch interkantonale Regelungen andere Kantone ebenfalls für eine Fabrikgesetzgebung zu gewinnen, um eine Benachteiligung eines Kantons im wirtschaftlichen Konkurrenzkampf zu verhindern. Die Initiative für eine interkantonale Gesetzgebung und die Schaffung eines Konkordates ging ebenfalls von Glarus aus. In den Jahren 1859, 1864 und 1872 fanden drei Treffen statt, die zwar zu keinem direkten Resultat führten, dafür aber das Anliegen eines eidgenössischen Fabrikgesetzes bekräftigten und wichtige Punkte der eidgenössischen Fabrikgesetzgebung bereits vorwegnahmen. Erst mit der Bundesverfassung von 1874 (Art. 34) erhielt der Bund schliesslich gesetzgeberische Kompetenz. Das eidgenössische Fabrikgesetz wurde am 21. Oktober 1877 mit 51,5 % und insgesamt 181 204 Ja-Stimmen angenommen.66|32|

2.5 Die soziale Frage und der schweizerische Protestantismus

Die Auseinandersetzung des schweizerischen Protestantismus67 mit der sozialen Frage ist vielschichtig und uneinheitlich.68 Die Gründe hierfür liegen in den oben dargelegten Kennzeichen der sozialen Frage in der Schweiz sowie der organisatorischen, theologischen und personellen Vielfalt des schweizerischen Protestantismus. Organisatorisch war dieser ein Konglomerat aus unterschiedlich organisierten Kantonalkirchen, Vereinen und kirchlichen Gruppierungen. Theologisch charakterisierte den schweizerischen Protestantismus nach der Mitte des 19. Jahrhunderts zusehends der Kampf um das sich entfaltende sogenannte Richtungswesen. Je nach theologischer Richtung entwickelte |33| sich so eine unterschiedliche Diskussion und Deutung der sozialen Frage. Personell prägten einige Persönlichkeiten und Institutionen die Auseinandersetzung des schweizerischen Protestantismus mit der sozialen Frage. Ein Beispiel ist der bereits erwähnte Glarner Pfarrer Becker, der sich unermüdlich mit der sozialen Frage beschäftigte und mit zahlreichen Publikationen versuchte, eine christliche Antwort auf die soziale Frage zu geben. Ob, und wenn ja inwiefern der schweizerische Protestantismus angesichts der sozialen Frage versagt habe, wird in der Forschung kontrovers diskutiert; Albert Hauser schreibt zum Forschungsstand: «Diese Meinung, das heisst die Auffassung, dass die Kirche nicht oder jedenfalls mit grosser Verspätung sich der sozialen Frage und Umwälzungen angenommen habe, ist noch heute weit verbreitet, und sie wird immer wieder verkündet, wenn es gilt, die wirkliche oder angebliche religiöse oder kirchliche Passivität der Arbeitermassen zu ergründen und zu erklären.»69 Verbreitet ist die kritische Einschätzung wie sie beispielsweise Christine Nöthiger-Strahm äussert: «Lange Zeit hatte die offizielle Kirche die gewaltigen Umbrüche im Sozial- und Wirtschaftsleben des 19. Jahrhunderts nicht wahrgenommen, sie lehnte es ab, zu anderen als den bisher üblichen, nämlich karitativen Massnahmen zu greifen, um die soziale und wirtschaftliche Not grosser Bevölkerungsteile zu mildern.»70 Nach meiner Einschätzung hat im schweizerischen Protestantismus zwar tatsächlich – wie im Folgenden ausgeführt wird – eine frühe und intensive Debatte um die soziale Frage stattgefunden. Doch – und da spricht Nöthiger-Strahm einen zentralen Schwachpunkt an – in der Debatte bestanden die favorisierten Ansätze tatsächlich vielfach lediglich in «karitativen Massnahmen» und an Stelle eines reflektierten sozialpolitischen Handelns war die sozialpatriarchale Haltung vorherrschend. Diese karitativen Massnahmen und die sozialpatriarchale Haltung sollten jedoch nicht unterschätzt werden, denn häufig bereiteten sie indirekt eine sozialpolitische Lösung der sozialen Probleme vor.

Für eine differenzierte Darstellung und Klärung der Debatte des schweizerischen Protestantismus über die soziale Frage wird im Folgenden die Auseinandersetzung in ihrer organisatorischen und theologischen Heterogenität dargestellt. Dazu wird der Umgang zentraler kirchlicher Institutionen mit der sozialen Frage nachgezeichnet und den vier sozialpolitischen Haltungen zugeordnet. Konkret wird diskutiert, wie sich die Zürcher Kirche, die schweizerische Predigergesellschaft und die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft mit der sozialen Frage auseinandersetzten und welche sozialpolitischen Haltungen sie einnahmen. Wie bereits angesprochen, beschäftigte sich der |34| schweizerische Protestantismus seit Mitte des 19. Jahrhunderts leidenschaftlich mit theologischen Richtungskämpfen. Um die sich anbahnende theologische Heterogenität in der Wahrnehmung und Deutung der sozialen Frage ebenfalls zu beleuchten, soll deshalb auch die Debatte um die soziale Frage in den verschiedenen theologischen Richtungen (Reformer, Vermittler und Bekenntnistreue) dargestellt werden, wobei auch hier wieder nach den propagierten sozialpolitischen Haltungen gefragt wird.

2.5.1 Zürcher Kirche

Wie der Bundesstaat so war auch der Protestantismus föderalistisch organisiert und die einzelnen Kantonalkirchen deshalb nur lose miteinander verbunden. Auch das Verhältnis von Kirche und Staat war in den einzelnen Kantonen unterschiedlich ausgestaltet. Dies hatte zur Folge, dass in den verschiedenen Kantonalkirchen viele unterschiedliche Interpretationsmuster und Lösungsansätze zur sozialen Frage nebeneinander existierten. Aus diesem Grund kam es weder zu einer gesamtschweizerischen Polarisierung noch lassen sich einheitliche Konfliktlinien erkennen. So ergab sich auch keine schweizweite Front mit der Staatsmacht, den Unternehmern und den Kirchen auf der einen und den Arbeitern auf der anderen Seite. Beispielhaft soll nun im Folgenden anhand der Evangelisch-reformierten Kirche des Kantons Zürich die Auseinandersetzung mit der sozialen Frage auf der Grundlage von Synodeprotokollen analysiert werden.71 Die Zürcher Kirche bietet sich als Untersuchungsgegenstand an, weil ihre Beratungen in den Synodeprotokollen gut zugänglich sind und ausserdem bereits eine gründliche Untersuchung vorliegt.72 Zudem ist der Kanton Zürich besonders interessant, weil er aussergewöhnlich stark durch die wachsende Industrialisierung geprägt war und Zürcher Unternehmer bei der Industrialisierung der Schweiz eine zentrale Rolle spielten.73

Mitte des 19. Jahrhunderts liess sich in der Pfarrerschaft des Kantons Zürich eine erhöhte Sensibilität für die mit der sozialen Frage einhergehenden |35| Krisenphänomene beobachten. Zahlreiche Publikationen über den vermeintlich bedrohlichen sittlichen und religiösen Zustand geben davon Zeugnis. Im Januar 1848 thematisierte die Synode ein erstes Mal die um sich greifende Verarmung der Gesellschaft.74 Ein erstes Referat zum «Pauperismus»75 – wie damals die mit der sozialen Frage einhergehende Krisenphänomene genannt wurden – hielt der Zürcher Theologieprofessor Johann Peter Lange (1802–1884)76. Lange deutete den Pauperismus als eine Folge der Sünde, als eine zeichenhafte und prophetische Erscheinung, die, ebenso wie die Kometenerscheinungen, die Menschen zu «heilsam[er] Zucht des sündigen Lebens» rufe. Er forderte die Kirche zu einer intensiven Auseinandersetzung mit diesem Thema auf, denn die «Kirche ist zuvörderst ebenso stark verpflichtet, den Pauperismus zu studieren, als ihm abzuhelfen».77 Um dem Pauperismus «abzuhelfen», schlug Lange zehn Massnahmen vor. So machte er sich beispielsweise für eine Stärkung der Eigentumsrechte, die er bedroht fand, stark, schlug die Auswanderung grosser Bevölkerungsgruppen vor und verwies darauf, dass das Problem erst im Jenseits wirklich gelöst werde. Im Anschluss an Lange hielt Hans Rudolf Waser (1790–1878)78 von Bäretswil, der Dekan des Kapitels von Hinwil im Zürcher Oberland, das Korreferat. Er kritisierte seinen Vorredner scharf und betonte, dass es bei diesem Thema keinen Raum für wissenschaftlich abstrakte Studien gebe. Er propagierte dann aber denselben Lösungsansatz wie Lange. Nach Wasers Vorstellung sollte die Kirche den Feind namens Pauperismus durch einen steten Kampf eindämmen, denn «so – Hand in Hand – mit dem Hause, der Schule und dem Staate, und sie alle durchdringend mit dem Geiste von oben, dem Geiste des Christenthums, wirkt die Kirche dem Pauperismus entgegen».79 Zusätzlich zu diesem Kampf sollten die Geistlichen den Pauperismus durch ihr Vorbild eliminieren: «Wir, wir seien zunächst die Stadt, die auf dem Berge liegt [Mt 5,14], auf die jeder Vorübergehende freudig hinaufblicken darf; bei uns, in unseren Haushaltungen, |36| an uns selbst sollen sie Vorbilder finden jeder häuslichen, jeder bürgerlichen Tugend.»80 Mit der Rede von «wir» und «ihnen» machte Waser deutlich, dass die Kirche aus der Perspektive der Besitzenden und Privilegierten sprach. Dem Kommunismus und Sozialismus erteilte Waser eine entschiedene Absage. Im sozialpatriarchalen Sinn empfahl er zur Überwindung des Pauperismus Ehrlichkeit und Sparsamkeit des Arbeiters und väterliche Fürsorge des Arbeitgebers.

Um das Problem der Verarmung besser verstehen zu können und um «häusliche und bürgerliche Tugenden zu stärken»81, wurde 1852 eine «Synodalkommission für innere Mission» ins Leben gerufen, die anhand eines von den Pfarrern beantworteten Frageschemas die «Nothstände unseres Volks­lebens»82 in einem Bericht zusammenstellen sollte und dem Regierungsrat Empfehlungen zur Linderung der «Nothstände» vorzuschlagen hatte. Dieser Bericht der Synodalkommission beanspruchte für sich, einen differenzierten Umgang mit der durch die Fabrikarbeit ausgelösten sozialen Frage zu pflegen: «Wir müssen uns hüten das Fabrikwesen für an sich und absolut schädlich zu betrachten; auch ist es ein Material, aus dem der fromme und gute Mensch Gutes und der böse Böses sich bildet […].»83 Als Ursache der Notstände bezeichnete der Bericht aber schliesslich nicht mehr nur die Moral der Arbeiter,84 sondern auch die Fabrikarbeit als solche.85 Zur Lösung der sozialen Frage wurden die Unternehmer in sozialpatriarchaler Tradition in die Pflicht genommen: «Die Fabrikherren könnten auf die Arbeiter sehr wohltätig wirken, wenn sie nicht bloss ihre Arbeit oder den Gewinn, den sie ihnen bringt, sondern auch das sittliche Wohl ihrer Untergebenen ins Auge fassten.»86 Das |37| Fabrikwesen wurde in den Vorschlägen der Synodalkommission nicht grundsätzlich kritisiert und es wurden auch keine grundsätzlichen Veränderungen gefordert. Um die «Nothstände unseres Volkslebens» zu beseitigen, unterbreitete der Kirchenrat dem Regierungsrat lediglich Vorschläge, welche die Moral betrafen. Diese Vorschläge reichten von Verminderung der Wirtschaften über Verhinderung leichtsinniger Eheschliessungen bis zu strikterer Handhabung des Sonntagspolizeigesetzes.87 Zwei Jahre später wurde an der Synode wiederum die fehlende Frömmigkeit der Arbeiter bemängelt, die Industrialisierung jedoch nicht als Grund der sozialen Frage angesehen: «Daher verhalten sich die Armen, allerdings mit einzelnen rühmlichen Ausnahmen, passiv gegen die Kirche und besuchen den Gottesdienst selten oder nie, ausser wo sie etwa als Bewohner eines Armenhauses dazu angehalten werden.»88

Nach dieser ersten Auseinandersetzung der Synode mit der sozialen Frage wurde das Thema erst wieder 1868 aufgegriffen. Johann Ulrich Oschwald (1814–1886)89 trug eine Synodalproposition – eine Art Grundsatzrede vor der Synode – mit dem Titel «Das Christenthum und die soziale Frage» vor. Nach einem Schnelldurchgang durch die Weltgeschichte folgte ein sorgfältiges Abwägen der Vor- und Nachteile der «Grossindustrie». Die Nachteile der Industrialisierung, insbesondere diejenige des sozialen Ungleichgewichts, wollte Oschwald durch die drei Strategien Selbsthilfe, Staatshilfe und Mithilfe der Unternehmer lösen. Von den Unternehmern erhoffte er sich dabei am meisten, denn ein «grosser Theil dessen, was auf wirthschaftlichem Wege zur allmäligen Lösung des sozialen Problems zu thun ist, liegt sodann in den Händen der Arbeitgeber».90 Das anschliessende Korreferat hielt Heinrich Knus (1832–1897)91. Selbstkritisch ging er mit der Kirche ins Gericht und warnte vor einer Vereinnahmung der Kirche durch die Unternehmer: «Es herrscht bei den unteren Klassen der Verdacht, dass die Kirche in stillschweigendem Einverständnis mit der Klasse der Besitzenden das Werkzeug sei, die Massen zu zügeln, in Gehorsam, Botmässigkeit und Unterthänigkeit zu erhalten. Wenn wir als Diener der Kirche keineswegs gewillt sind, dieser Anschauung Vorschub zu leisten, im Gegentheil einmüthig und energisch dagegen protestieren, so dürfen wir nicht vergessen, dass bei der besitzenden Klasse die Neigung |38| vorhanden ist, der Kirche diese wenig beneidenswerthe Stellung eines Zuchtmeisters und Bändigers der Masse anzuweisen.»92 Die umsichtige Warnung Knus’ diskutierte die Synode jedoch nicht weiter.

1874 wurde Oschwalds Synodalproposition von einer gewissen Haager Gesellschaft zur Vertheidigung der christlichen Religion93 als gelungene apologetische Preisschrift gekrönt und erneut publiziert.94 Im Vergleich zu seinem Vortrag vor der Zürcher Synode verstärkte Oschwald in dieser überarbeiteten Schrift die zentrale Bedeutung der Unternehmer und verwies zustimmend auf die in der Zwischenzeit erfolgten Bestrebungen der Bonner Konferenz. Oschwald führte zwar nicht konkret aus, worin die Anstrengungen der Unternehmer bestehen sollten, betonte aber an verschiedenen Stellen, was «der Grund und Boden» sei, auf dem das soziale Ungleichgewicht ins Lot gebracht werden könne: «Es ist kein anderes als die wahrhaft universelle, welterlösende Macht des Christenthums.»95 Der Antistes (Vorsteher) der Zürcher Kirche Diethelm Georg Finsler (1819–1899)96, empfahl Oschwalds gekrönte Synodalproposition zur Lektüre und illustrierte die Qualität der Schrift damit, dass ein Industrieller gleich 30 Exemplare bestellt habe, um sie zu verteilen.97 Finsler brachte also die Solidarität der Zürcher Pfarrerschaft mit den Unternehmern zum Ausdruck und sprach ihnen bei der Lösung der sozialen Frage eine zentrale Rolle zu: «Ganz besonders begrüssen wir es, wenn die Arbeitgeber selber mit freiwilligen Leistungen vorgehen […].»98 Eine staatliche Intervention zur Lösung der sozialen Frage wurde in der Zürcher Kirche nicht diskutiert.

Während also die Zürcher Kirche anfänglich die soziale Frage lediglich moralisch als eine Folge der Sünde deutete,99 sah sie diese mit der Zeit zusehends als eine Folge der Industrialisierung. Sie sträubte sich hartnäckig gegen jegliche Vorstösse mit kommunistischem und sozialistischem Gedankengut |39| und propagierte eine sozialpatriarchale Lösung durch die moralisch-sittliche Erneuerung der Arbeiter sowie eine vermehrte Fürsorge durch die Unternehmer. Eine Sozialpolitik wurde jedoch nicht entwickelt. Zu Recht notiert Robert Barth kritisch, die Zürcher Kirche habe «weder ein eigentliches Sozialprogramm noch eine grundsätzliche Definition der kirchlichen Aufgaben in der industrialisierten Umwelt erlassen»100. Die Unternehmer – und nicht die Arbeiter! – wurden im Kampf um eine Lösung der sozialen Frage ganz selbstverständlich als Verbündete angesehen.101 Eine sozialpolitische Lösung, beispielsweise mittels eines Fabrikgesetzes, wurde im untersuchten Zeitraum in der Zürcher Kirche nicht besprochen, obwohl man damals in Zürich über ein kantonales Fabrikgesetz debattierte. Vielmehr macht es den Anschein, dass die Pfarrer jener Zeit mehr über das Fernbleiben der Arbeiter vom Sonntagsgottesdienst besorgt waren als über deren teilweise katastrophalen Arbeitsbedingungen in den Fabriken. Es muss deshalb der Schluss gezogen werden, dass sich die Zürcher Kirche nur aufgrund eines apologetischen Interesses um die soziale Frage kümmerte und erst dort ihre Stimme kritisch erhob, wo sie ihre eigene Existenz durch die Folgen der sozialen Frage bedroht sah. In Jähnichens Typologie kann das Verhalten der Zürcher Kirche lediglich der sozialpatriarchalen Haltung zugeordnet werden, auch sozialdiakonische Ansätze sind nicht zu beobachten.

2.5.2 Schweizerische Predigergesellschaft

Die in der schweizerischen Predigergesellschaft organisierte evangelische Pfarrerschaft der Schweiz traf sich ab 1839 jedes Jahr für zwei Tage, um sich über aktuelle kirchliche, theologische oder soziale Themen auszutauschen.102 Diese jährlichen Treffen der Predigergesellschaft waren eine zentrale Institution für die theologische Meinungsbildung des schweizerischen Protestantismus des 19. Jahrhundert. Im Zentrum der Versammlungen standen jeweils Referate von Pfarrern, die als Diskussionsgrundlage dienten.

Anlässlich der neunten Jahresversammlung (1847) befasste sich die schweizerische Predigergesellschaft erstmals mit der sozialen Frage. Pfarrer |40| Johann Peter Romang (1802–1875)103 sprach zum Thema «Bedeutung des Communismus».104 Das Referat, eingeteilt in die drei Abschnitte «Dar­stellung», «Würdigung» und «Folgerung», beleuchtete den Kommunismus gründlich und wies auf diejenigen Überzeugungen hin, die im Konflikt mit dem Christentum standen. Dabei betonte Romang aber, dass sich die Kirche deswegen nicht einfach ablehnend gegenüber dem Kommunismus verhalten solle, sondern die Anliegen, die dahinterstünden, ernst nehmen müsse: «Nichts ist unchristlicher, als die diesen Erscheinungen zu Grunde liegende Gesinnung, doch die Bedürfnisse sind anzuerkennen. Und die Aufgabe wäre, durch Herstellung eines wahrhaft christlichen Zustandes diese hässliche Karikierung der christlichen Liebesgemeinschaft zu verdrängen.»105 Ähnlich wie Waser, der in der Zürcher Kirche den Pauperismus durch das Vorbild der Geistlichen überwinden wollte, schlug Romang vor, den Kommunismus durch eine überzeugende «christliche Liebesgemeinschaft» zu verdrängen. In der Predigergesellschaft wurde in der Folge immer wieder propagiert, die soziale Frage solle gelöst werden, indem die Kirche und insbesondere die Pfarrer als gute Vorbilder überzeugend auf die Arbeiter einwirkten.

Selbstbewusst wirkt auch das Referat beim Treffen der Predigergesellschaft von 1853. Heinrich Hirzel (1818–1871)106 sprach im damals bereits stark industrialisierten Glarus zum Thema «Ueber die Wechselwirkung zwischen der protestantischen Kirche und dem sozial-bürgerlichen Leben mit besonderer Rücksicht auf die Fabrikindustrie».107 Einige Jahrzehnte vor Max Weber und Ernst Troeltsch stellte Hirzel stolz eine Verbindung zwischen dem Protestantismus und der wachsenden und «segensreichen» Industrie her. Euphorisch zeichnete er ein optimistisches Bild der Zukunft, in der die negativen Auswirkungen der Industrialisierung bald in den Hintergrund treten würden: «Nun – auch an vielfachen ganz direkten Beziehungen der Industriegeschichte und der Kirchengeschichte fehlt es keineswegs: wir mögen zurückblicken in vergangene Jahrhunderte, oder vorwärts schauen auf die gesegneten Einwirkungen, welche die grossen Ergebnisse der Industrie, schon den Zeichen der |41| Gegenwart nach zu schliessen, auf die Ausbreitung des Reiches Gottes auf Erden ausüben werden. Unser Thema betont mit allem Rechte das Protestantischsein unsrer Kirche, und unleugbar hat der Protestantismus so viel Lebenssaft aus der Industrie gezogen, noch viel mehr aber Lebenssaft ihr gegeben, dass er die Industrie als eine ihm nicht gar von ferne verwandte Lebensmacht wird anerkennen müssen.»108 Optimistisch sah Hirzel auch einer baldigen sozialpatriarchalen Lösung der sozialen Frage entgegen. Durch Predigt und Seelsorge sollten die Unternehmer zu humaner Fürsorge bewegt werden, damit aus der Fabrik eine christliche Gemeinschaft würde: «Der Fabrikherr soll seine Arbeiterschaft als die Erweiterung seiner Familie betrachten und Freud und Leid, das ihm in seinem Hause widerfährt, seine Arbeiter dadurch miterleben lassen, dass er bei Hochzeits-, Tauf- und Traueranlässen seiner Untergebenen mit Gaben in die Ersparnis- und Krankenkasse eingedenk ist.»109 In der Diskussion im Anschluss an das Referat wurde jedoch Hirzels Euphorie nicht geteilt. Heftig wurde gegen den Sozialismus geschimpft. Dabei wurde nicht, wie in Langes Proposition in der Zürcher Synode, die soziale Not, sondern der Sozialismus als Folge der Sünde angesehen. Einige Pfarrer stimmten jedoch auch versöhnliche Töne an und der Präsident der Predigergesellschaft setzte sich – sozialpolitisch durchaus fortschrittlich – für eine staatliche Arbeitszeitbeschränkung in den Fabriken ein: «Wenn auch Hr. Pfarrer Hirzel uns gewarnt hat, Fleisch für unseren Arm zu halten, so wird er doch damit einverstanden sein, dass der Staat durch seine Gesetze und Verordnungen da eingreifen muss, wo auf anderem Weg nicht geholfen werden kann.»110

Beim darauffolgenden Treffen der Predigergesellschaft in Genf (1855) sprach Pfarrer Jean-Samuel Chappuis (1809–1870)111 zur sozialen Frage. In seinem Referat bezeichnete er den «Paupérisme» als eine Manifestation des Antichristen.112 Er führte zwar ekklesiologische Überlegungen an, wie der Pauperismus bekämpft werden solle, warnte die Kirche jedoch davor, in diesem Kampf ihre Kräfte zu sehr zu binden. Die Aufgabe der Kirche sei eine geistliche, |42| sie sei vor allem das Hoffen auf den Tag, an dem der Heilige Geist erneut ausgegossen und an dem das Problem des Pauperismus gelöst werde.113

Nach dem Referat an der Genfer Tagung schwieg sich die Predigergesellschaft einige Jahre über die soziale Frage aus, theologische Richtungskämpfe begannen zunehmend die Verhandlungen zu dominieren. Beispielsweise werden in einem Referat über die Ursachen der Spannungen unter den Christen lediglich die theologischen Richtungskämpfe thematisiert, die zunehmenden sozialen Unterschiede bleiben jedoch unerwähnte114

Erst 1871 thematisierte der bereits erwähnte Pfarrer Bernhard Becker (1819–1879)115 beim Treffen der schweizerischen Predigergesellschaft in Schaffhausen wieder die soziale Frage.116 Als Pfarrer des im Vergleich zu anderen Kantonen der damaligen Zeit weit industrialisierten Glarus hatte sich Becker sein Leben lang intensiv mit der sozialen Frage befasst und einige bis in die Gegenwart beachtete Aufsätze und Predigten dazu publiziert.117