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Bei der Betrachtung psychischer Spätfolgen von Zweitem Weltkrieg und NS-Zeit stehen eher Opfererfahrungen als eine NS-Täterschaft in der Familie im Fokus. Bei allem heutigen historischen Wissen zum Nationalsozialismus findet sich bis in die Gegenwart häufig eine Meidung dieses Themas im familiären Kontext. Unter Rückgriff auf die Archäologie-Metapher von Sigmund Freud stellt Ulrike Pohl ein psychoarchäologisches Schichtenmodell vor, das den Zugang zu dieser Thematik erleichtern kann. Subjektive Erfahrungen werden hier als aufeinander aufbauende psychische Schichtungen aufgefasst. Auf diese Weise können Komplexität und Widersprüchlichkeit menschlicher Erfahrungen dargestellt werden. Es bietet sich eine Möglichkeit, dem dichotomen Opfer-Täter-Denken zu entgehen und eine engere Verbindung zwischen Familiengeschichte und historischen Fakten herzustellen. Hinweise für das therapeutische Vorgehen und Fallbeispiele geben Anregungen für die praktische Anwendung. Die Autorin: Dipl.-Psych. Ulrike Pohl studierte Psychologie und Sozialwissenschaften. Nach klinischer und wissenschaftlicher Tätigkeit im psychiatrischen Bereich ist sie als Psychologische Psychotherapeutin niedergelassen. Neben ihrer Praxistätigkeit in Bad Krozingen ist sie als Dozentin im Rahmen psychotherapeutischer Fort- und Weiterbildung zu den psychischen Langzeitfolgen von NS-Zeit und Zweitem Weltkrieg tätig. Die Mitautoren: Dr. med. Dipl.-Psych. Peter Streb, Studium der Psychologie und Medizin, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Psychotherapeutische Medizin, ist nach langjähriger Tätigkeit als Oberarzt in den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel und der Psychiatrie Baselland seit 2011 in eigener Praxis in Basel tätig. Schwerpunkt ist die Behandlung von Traumafolgestörungen. Er ist Mitglied der Ethikkommission der DeGPT. Mag. Cristina Budroni ist systemische Familientherapeutin, EMDR-Traumatherapeutin, Leiterin der Kinder- und Jugendabteilung in ESRA. Neben ihrer Tätigkeit in eigener Praxis in Wien mit den Arbeitsschwerpunkten Trauma, transgenerationale Weitergabe von Traumata, Migration, interkulturelle Psychotherapie, Familienaufstellungen, Supervision und Coaching hält sie Vorträge und Seminare zur transgenerationalen Weitergabe von Traumata sowie zu Kinder- und Jugendlichen-Traumapsychotherapie.
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Ulrike Pohl
Ein Schichtenmodellfür die therapeutische Praxis
Unter Mitarbeit von Peter Streb und Cristina Budroni
Mit 3 Abbildungen
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.
© 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG,
Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.
Umschlagabbildung: clivewa/shutterstock.com
Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datametics, Griesheim
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com
ISBN 978-3-647-99494-9
Vorwort
Einführung
1Auswirkungen von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg
1.1Die öffentliche Ebene: Erinnerungskultur
1.2Die individuelle Ebene: Psychische Langzeitfolgen
2Archäologie
2.1Archäologie als Metapher
2.1.1Sigmund Freud
2.1.2Walter Benjamin
2.2Archäologie als Disziplin
2.2.1Ablauf einer Ausgrabung
2.2.2Einige archäologische Begriffe
2.3Zusammenfassung
3Das psychoarchäologische Schichtenmodell
3.1»Schichten« und »Fundstücke« im Rahmen des Modells
3.2Dimensionen
3.2.1Dimension 1: Historische Ereignisse
3.2.2Dimension 2: Positionierungen
3.2.3Dimension 3: Psychische Auswirkungen
3.2.4Zusammenwirken der Dimensionen
3.3Funktionsweise
3.3.1Verbindung von öffentlicher und familiärer Erinnerung
3.3.2Dynamik
3.3.3Perspektiven der Erinnerung: Pompeji und Rom
3.4Transgenerationalität
3.5Zusammenfassung
4Anregungen für die therapeutische Praxis
4.1Mögliche Therapieziele
4.1.1Verhalten/Symptome der Vorfahren im historischen Kontext verstehen und damit sich selbst entlasten
4.1.2Zwischen den Erlebnissen/Gefühlen/Haltungen der Vorfahren und den eigenen differenzieren
4.1.3Reale Schuld anerkennen und die Vorfahren entidealisieren
4.1.4Übermäßiges Verantwortungsgefühl für die Vorfahren verringern
4.1.5Aufträge von Vorfahren erkennen und historisch einordnen
4.1.6Selbstfürsorge und Mitgefühl für sich selbst erhöhen
4.2Therapeutische Haltung
4.2.1Geduld
4.2.2Interesse für historische Zusammenhänge
4.2.3Reflexion der eigenen Familiengeschichte
4.2.4Therapeutische Beziehung als »Grabungsteam«
4.3Vorgehen
4.3.1Das Schichtenmodell als gedankliches Modell verwenden
4.3.2Ein Schichtenmodell erstellen
4.3.3Das Schichtenmodell zur Abbildung von Veränderungen verwenden
4.3.4Schichten als Metapher für ein »Sowohl-als-auch«
4.3.5Sich von der Archäologie anregen lassen
4.3.6Familiengeschichten und -mythen hinterfragen
4.3.7NS-/Kriegsthematik bei Hinweisen direkt ansprechen
4.3.8Nicht auf der NS-/Kriegsthematik insistieren
4.3.9Dialog mit Familienangehörigen anregen und vorbereiten
4.3.10 Weitere Verfahren und Medien einsetzen
5Fallvignetten
5.1Der psychische Schatten der Nazidiktatur – psychoarchäologische Grabungen in der Schweiz (Peter Streb)
5.1.1Vorbemerkung (Ulrike Pohl)
5.1.2Der psychische Schatten der Nazidiktatur – psychoarchäologische Grabungen in der Schweiz
5.1.3Historischer Hintergrund: Die Schweiz im Zweiten Weltkrieg
5.1.4Verschüttete Erinnerungen
5.1.5Großvaters Fotoalbum
5.1.6Die Ängste der Mutter
5.1.7Das »Kriegstagebuch«
5.1.8Psychoarchäologie und Psychotherapie
5.2Wie viel Erinnern bedarf es, um zu vergessen? Die drei Generationen der Familie C. (Cristina Budroni)
5.2.1Vorbemerkung (Ulrike Pohl)
5.2.2Wie viel Erinnern bedarf es, um zu vergessen? Die drei Generationen der Familie C.
5.2.3Die erste Schicht – die erste Geschichte vor der Geschichte
5.2.4Die betrogene Kindheit, die gestohlene Jugend
5.2.5Die psychoarchäologische zeitliche Dynamik: Pompeji versus Rom
5.2.6Der Moment der Erstarrung oder wie Pompeji ein Teil meines Lebens wurde
5.2.7Auswirkungen auf die nächsten Generationen
5.2.8»Saxa loquuntur« – wenn die Vergangenheit zu sprechen beginnt
5.2.9Ausgraben und Loyalität
5.2.10 Arbeit mit der Timeline – »Wo bin ich, wenn ich bin?«
5.3Anmerkung
6Ausblick
Nachtrag: Corona
Literatur
Vorwort
Dieses Buch ist auf dem Hintergrund einer langen Beschäftigung mit den seelischen Folgen von NS-Zeit und Krieg entstanden. Im Verlauf meiner Auseinandersetzung mit dem Thema und meiner beruflichen Tätigkeit als Psychotherapeutin hatte ich immer wieder den Eindruck, dass Nationalsozialismus und Krieg, Opfer- und Täterseiten oft separat behandelt werden. Das kann eine Bearbeitung erschweren. Aus den daran anschließenden Überlegungen entstand im Verlauf der Jahre ein Fortbildungskonzept zu den transgenerationalen Folgen von NS-Zeit und Krieg für den psychotherapeutischen Bereich. Es verfolgt einen integrativen Ansatz, in dem die verschiedenen Seiten miteinander in Beziehung gesetzt werden. Allmählich entwickelte sich dann die Idee, dieses Thema in Form von aufeinander aufbauenden Schichten aufzufassen. Daraus wurde der Gegenstand dieses Buches.
Es thematisiert das ganze Spektrum von Opfer-Täter-Facetten. Der Fokus liegt allerdings, entsprechend meiner familiären Herkunft und dem Schwerpunkt meiner Arbeit, aufseiten der Mehrheitsgesellschaft mit der Täter- und Mitläuferseite. Für die Seite der NS-Verfolgten sind die Beispiele entsprechend spärlicher. Beim Bemühen um Ausgewogenheit wurde mir deutlich, dass diese hier für mich nicht möglich ist. Auch erlebte ich Bedenken, über die Dynamik bei Verfolgten zu schreiben. Ungenauigkeiten oder Fehler, die mir hierbei unter Umständen unterlaufen sind, mögen mir hoffentlich nachgesehen werden.
In den letzten Monaten des Schreibens an diesem Buch entwickelte sich die Corona-Pandemie: Das Virus und seine Folgeerscheinungen beeinflussten den weiteren Verlauf. In der Auseinandersetzung mit der neuen Corona-Realität wurden Bezüge zum Thema des Buches deutlich. Daher werden in einem Nachtrag einige Überlegungen hierzu einfließen.
An dieser Stelle möchte ich mich bei den Menschen bedanken, die zum Entstehen dieses Buches durch Informationen, Diskussionen und Rückmeldungen zum Manuskript beigetragen haben. Sie werden sich an der einen oder anderen Stelle des Textes wiederfinden. Besonders danken möchte ich den Lektorinnen Sandra Englisch und Ulrike Rastin, die das Projekt sehr engagiert und umsichtig begleitet haben.
Ulrike Pohl
Einführung
Angesichts des sich durchsetzenden Nationalsozialismus verlassen Sigmund Freud und seine Familie am 4. Juni 1938 Wien, um ins Exil nach London zu gehen. Auf der Flucht machen sie Halt in Paris bei Marie Bonaparte, einer Schülerin und einflussreichen Gönnerin Freuds. Sie überreicht ihm »die Athene«, Freuds Lieblingsobjekt aus seiner umfangreichen Antikensammlung. Diese Statuette hatte sie für ihn aus Wien herausgeschmuggelt (Jones, 1982, S. 269).
Mit Freud (dem Begründer der Psychoanalyse), der Athenestatuette (einem archäologischen Objekt) und dem Nationalsozialismus (einem kollektiven Geschehen) sind die Koordinaten dieses Buches umrissen. Es geht um seelische Prozesse, um Archäologie und kollektive Ereignisse, vor allem den Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg. Die Verbindung von seelischen Prozessen und Archäologie lässt sich mit dem Begriff der Psychoarchäologie fassen; als Drittes kommt ein kollektives Geschehen hinzu. Die seelischen Folgen von gravierenden kollektiven Ereignissen, wie NS-Zeit und Krieg, sollen hier mithilfe der Archäologie erforscht werden.
Die psychischen Langzeitfolgen der Zeit von 1933 bis 1945 (und der Nachkriegszeit) sind komplex – auf der Opfer- wie auf der Täterseite. Ebenso komplex ist die Frage, wer heute als solches gesehen wird: Wer sind die Täter? Wer sind die Opfer? Dies gilt insbesondere innerhalb von Familien. Umfragen zur Erinnerungskultur weisen darauf hin, dass Menschen ihre Vorfahren weitaus öfter bei den Opfern als bei den Tätern sehen und es in den meisten deutschen Familien nach wie vor schwierig ist, sich mit den Verstrickungen des Nationalsozialismus zu beschäftigen (Papendick, Rees, Wäschle u. Zick, 2019). Es gibt zwar eine Fülle von Publikationen zu dem Thema – neben wissenschaftlicher Literatur auch autobiografische Berichte über die Geschichte der eigenen Familie im Nationalsozialismus (z. B. Lohl u. Moré, 2014; Wrochem, 2016). Diese Offenheit scheint aber auf Einzelne beschränkt zu bleiben und hat sich nicht allgemein durchgesetzt.
Die Erforschung von NS-Verstrickungen oder – allgemeiner – schuldhaftem Handeln in der Familie ist für viele Menschen mit großen Hemmungen verbunden. Dies kann daran liegen, dass das in Deutschland über die Öffentlichkeit vermittelte Unrechtsbewusstsein sich im Individuellen sehr unterschiedlich darstellt und zum Teil nicht vorhanden ist. Selbst erlebtes Leiden steht oft im Vordergrund und kann auch zur Ablenkung von schuldhaftem Tun dienen. Auf der Täterseite gibt es komplexe Opfer-Täter-Verwicklungen. Menschen, die Hitler zugejubelt hatten, konnten etwa bei der Bombardierung von Dresden oder Hamburg schwere Verluste erleben und traumatisiert werden. Historische Erklärungen der Bombardierungen werden individuell erfahrenes Leid oft nur wenig beeinflussen. Erklärung und Erfahrung stehen häufig unverbunden nebeneinander.
Der Boom der »Kriegskinder«- und »Kriegsenkel«-Literatur (z. B. Bode, 2004, 2009; Ustorf, 2008), die Vielzahl von Veranstaltungen und Gruppen zu diesem Thema und die Verbreitung des Traumabegriffs in diesem Zusammenhang verweisen darauf, wie stark aufseiten der Nachkommen der nicht verfolgten Deutschen ein seelisches Bedürfnis besteht, auch Opfererfahrungen Ausdruck zu geben. Dass hier die Gefahr existiert, die Täterseite aus dem Blick zu verlieren und die Leiden von Opfern und Tätern anzugleichen, ist vielfach angemerkt worden (z. B. Welzer, 2009).
In diesem Buch soll versucht werden, beides – Täter- und Opferseite – im Blick zu halten und einen Weg zu zeichnen, wie man Zugang zu dem schwierigen Thema der seelischen Folgen von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg bekommen kann, ohne in ein Entweder-oder, in eine ausschließliche Täter- oder Opfersicht zu verfallen. Die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts nimmt mit der Symbolkraft des Holocaust eine Sonderstellung ein. Das Spannungsverhältnis von Opfer-/Täterfacetten findet sich aber auch dort, wo immer es um kriegerische Auseinandersetzungen, ideologisch motivierte Gewalt oder Unrechtsregime geht. Und auch bei anderen kollektiven Erfahrungen, wie z. B. Naturkatastrophen, können diese Fragen eine Rolle spielen. Damit lassen sich die hier entwickelten Überlegungen auch auf Bereiche jenseits der neueren deutschen Geschichte übertragen.
Bei der Suche nach einem Zugang zur Vergangenheit werden hier Anleihen bei einer Wissenschaft gemacht, die eine langjährige Expertise in der Erforschung der Vergangenheit hat: die Archäologie. Sie hat schon früh die Menschen fasziniert, da sie einen direkten Blick in die Vergangenheit zu versprechen scheint. Sigmund Freud war ein leidenschaftlicher Anhänger der im 19. Jahrhundert äußerst populären Archäologie und verwendete sie als Metapher für seine neue Methode zur Erforschung der Seele.
Die Archäologie im Zusammenhang mit seelischen Prozessen zu sehen, von einer »Psychoarchäologie« zu sprechen, mag heute, mehr noch als zu Freuds Zeiten, zunächst befremdlich erscheinen. In Zeiten der Digitalisierung, der Beschleunigung und (manchmal auch nur vermeintlichen) Allverfügbarkeit von Wissen kann der Rückgriff auf eine in Teilen so manuelle Tätigkeit wie das Ausgraben verschütteter Objekte nahezu anachronistisch wirken. Archäologie verlangt viel Ruhe und ein sehr methodisches Vorgehen. Dann verspricht sie weitreichende Erkenntnisse über die Vergangenheit und erhöht auf diese Weise das Verständnis der Gegenwart.
Wird die Archäologie als Metapher verwendet, stellt sich die Frage nach der Reichweite dieser Metapher. Metaphern vertiefen das Verständnis, reichen aber in der Regel nicht zur vollständigen Erfassung eines Phänomens aus. Es gibt eine ganze Reihe von Parallelen zwischen dem archäologischen und dem psychotherapeutischen Vorgehen. Diese Parallelen finden allerdings ein Ende, wenn der Bereich der therapeutischen Beziehung, die therapeutische Interaktion, angesprochen wird. Ebenso wenig lassen sich wesentliche Konzepte, wie z. B. der psychische Apparat oder die transgenerationale Weitergabe von Erfahrungen, direkt in die Welt der Archäologie übertragen. So wird in dem Kapitel über Freud auch gezeigt, wie er nach Jahrzehnten der Beschäftigung mit der Metapher ihre Reichweite immer weiter eingrenzte.
Die Archäologie-Metapher soll daher im Kontext dieses Buches nicht überstrapaziert werden, sondern nur für einen ausgewählten Bereich gelten, nämlich den der Methode. Das archäologische Vorgehen und einige archäologische Konzepte sollen den Zugang zur eigenen familiären Vergangenheit in spezifischen historischen Epochen, z. B. in NS-Zeit und Krieg, erleichtern. Die Metapher steht damit für die Erforschung der seelischen Spuren der historischen Vergangenheit, z. B. der deutschen Geschichte. Wie konkret dann die psychotherapeutische Arbeit in diesem Rahmen aussieht, welche therapeutische Ausrichtung, welche spezifischen Methoden zum Tragen kommen, bleibt den Einzelnen überlassen. Und eine persönliche Auseinandersetzung mit dem Thema kann natürlich auch ganz ohne psychotherapeutische Begleitung stattfinden.
Das Bild der Archäologie ist in der Öffentlichkeit oft mit der Suche nach wertvollen Objekten, nach Schätzen verbunden. Die tatsächliche Arbeit ist meist weitaus unspektakulärer und langwieriger. Und es stellt sich zunächst immer die Frage, was, wann und ob überhaupt ausgegraben werden soll, ob sich das ganze Unternehmen lohnt. Analog lässt sich bei der Erforschung der Spuren von Nationalsozialismus und Krieg auch fragen, was aufgedeckt werden soll. Ist Erinnern und Wissen immer gut und sinnvoll? Bleibt manches nicht besser unentdeckt im Boden? Welche Risiken geht man ein? Diese Fragen werden an verschiedenen Stellen des Buches aufgegriffen und – das sei jetzt schon vorausgeschickt – es werden sich keine eindeutigen Antworten finden lassen.
Doch, wie so oft, werden mit den gestellten Fragen die zu klärenden Probleme erst deutlicher formuliert. So wird z. B. deutlich, dass es nicht darum geht, »möglichst viel auszugraben«, sondern dass der Prozess des Auswählens, Grabens und Entdeckens im Vordergrund steht. Und der allein kann schon zu mehr Bewusstheit und damit Veränderungen führen. Am Ende steht natürlich immer die Frage, ob sich die Arbeit des Grabens gelohnt hat. Dies muss dann jeder für sich beantworten.
Das Buch verfolgt eine Reihe von Zielen: Einmal soll es den Zugang zu dem für viele Menschen schwierigen Thema »meine Familie in NS-Zeit und Krieg« erleichtern. Hierbei werden explizit Opfer- und Täterseiten angesprochen, wodurch Letztere mehr Raum als sonst häufig bekommen. Auf diese Weise soll eine Verbindung zwischen dem öffentlich verfügbaren Wissen über den Nationalsozialismus und dem familiären Gedächtnis, das meist mehr von Opfererfahrungen geprägt ist, hergestellt werden. Durch Rückgriff auf die Archäologie als Metapher, insbesondere für das methodische Vorgehen, wird eine Haltung des Wahrnehmens und Entdeckens »von was immer kommen mag« gefördert. Für die psychotherapeutische Praxis lassen sich damit neue Ansatzpunkte für das Vorgehen finden. Die Archäologie und die damit verbundenen Vorgehensweisen und Bilder laden dazu ein, spielerisch mit ihr umzugehen und in das je individuelle Vorgehen kreativ einzubinden.
Im ersten Kapitel wird zunächst ein Blick auf die öffentliche Ebene des Umgangs mit NS-Zeit und Krieg geworfen und auf die bundesdeutsche Erinnerungskultur eingegangen, die von einem intensiven Gedenken an die Opfer der NS-Verfolgung geprägt ist. Dargestellt wird, dass sich dies allerdings laut Studien nicht im familiären Gedächtnis der meisten Bundesdeutschen widerspiegelt und man von einer Spaltung des öffentlichen und familiären Gedächtnisses spricht. Danach folgt die individuelle Ebene. Hier wird ein kurzer Überblick über die existierende Literatur zu den psychischen Langzeitfolgen von NS-Zeit und Zweitem Weltkrieg gegeben.
Die Archäologie ist Gegenstand des zweiten Kapitels. Zunächst wird ihre metaphorische Verwendung bei Sigmund Freud dargestellt. Im Anschluss wird die Weiterentwicklung der Freud’schen Gedanken zur Archäologie bei Walter Benjamin skizziert. Dieser formulierte im Unterschied zu Freud, der noch der archäologischen Entdeckerfreude des 19. Jahrhunderts verhaftet war, bereits moderne archäologische Konzepte, wie das der Schicht, das in diesem Buch eine wichtige Rolle spielt. Im zweiten Teil dieses Kapitels folgt ein Abriss der Archäologie als Disziplin, ihrer verbreiteten Vorgehensweisen und einiger wichtiger Begriffe. Hierbei werden immer wieder Bezüge zur therapeutischen Arbeit und zur Auseinandersetzung mit NS-Zeit und Krieg hergestellt.
Im Mittelpunkt des dritten Kapitels steht das sogenannte »psychoarchäologische Schichtenmodell«. Hier werden, abgeleitet aus dem archäologischen Schichtbegriff, »psychoarchäologische Schichten« mit verschiedenen Dimensionen angenommen. Danach folgt eine Beschreibung der Funktionsweise des Modells.
Im vierten Kapitel werden Anregungen für die psychotherapeutische Praxis gegeben. Diese beziehen sich zum einen direkt auf das Schichtenmodell und ein »psychoarchäologisches Vorgehen«, zum anderen aber auch allgemein auf den Umgang mit der NS-/Kriegsthematik in der Psychotherapie. Darüber hinaus finden sich noch einige weiterführende Anmerkungen zum Schichtbegriff.
Im fünften Kapitel stellen Peter Streb aus Basel und Cristina Budroni aus Wien Fallvignetten aus der psychotherapeutischen Praxis dar. Diese sind beeinflusst von der Archäologie-Metapher und einer »psychoarchäologischen« Vorgehensweise und zeigen die Auseinandersetzung mit den Folgen von Nationalsozialismus und Krieg in den Nachfolgegenerationen – einmal für die Täter-/Mitläuferseite, einmal für die Seite der NS-Verfolgten. Damit öffnet sich der Raum über die Geschichte Deutschlands hinaus auf die der Nachbarländer, in denen der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg ihre Spuren hinterlassen haben.
Abschließend wird im sechsten Kapitel ein Ausblick auf weitere mögliche Anwendungen des Schichtenmodells gegeben. Die Grundgedanken des »psychoarchäologischen Schichtenmodells« sind entstanden im Zusammenhang mit den Auswirkungen der deutschen Geschichte, lassen sich aber auch auf andere Länder und historische Epochen übertragen. Den Abschluss bilden allgemeine Gedanken zu Schichten und ihrer Verwendung in diesem Kontext.
In einem Nachtrag werden Überlegungen zu einer möglichen Schichtenbildung im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie dargestellt.
1 Auswirkungen von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg
Die Jahre von 1933 bis 1945 gelten als die dunkelste Zeit der deutschen Geschichte und haben bis in die Gegenwart tiefe Spuren hinterlassen. Die Bundesrepublik ist zutiefst von der Auseinandersetzung mit dieser Zeit geprägt. Nach Jahren der Tabuisierung begannen in den 1960er Jahren mit den Auschwitzprozessen, dem Eichmann-Prozess und der Rebellion der 68er die Konfrontation mit den NS-Verbrechen und eine wachsende historische Forschung dazu. Die Tabuisierung ließ allmählich nach, die Schuld der NS-Verbrechen wurde öffentlich anerkannt und das Wissen um das Ausmaß der Verbrechen und die Verstrickung der »ganz normalen« Deutschen wuchs. Mit wachsendem zeitlichen Abstand und dem schwindenden Einfluss der Tätergeneration wurde den Opfern des Nationalsozialismus eine zunehmende Bedeutung gegeben. Das öffentliche Gedenken, die Entwicklung der deutschen Erinnerungskultur, spielte hier eine zentrale Rolle.
Parallel zu diesen Prozessen rückten auch die seelischen Folgen bei den nicht verfolgten Deutschen zunehmend in den Vordergrund. Nachdem der Schwerpunkt zunächst auf den Auswirkungen des Nationalsozialismus gelegen hatte, traten ungefähr mit der Jahrtausendwende die Folgen von z. B. Bombardierungen und damit auch Opfererfahrungen immer mehr in den Fokus.
Deutlich wurde allmählich ein Spannungsverhältnis: Auf der öffentlichen Ebene wird intensiv der Opfer des Nationalsozialismus gedacht, während auf der privaten Ebene Leiderfahrungen der eigenen Familie oft großen Raum einnehmen.
1.1 Die öffentliche Ebene: Erinnerungskultur
Der Begriff »Erinnerungskultur« ist in den letzten Jahrzehnten sehr populär geworden. Nach Christoph Cornelißen (2012) beinhaltet er die bewusste Erinnerung an historische Ereignisse, Persönlichkeiten und Prozesse, was Formen des kollektiven Gedächtnisses, den geschichtswissenschaftlichen Diskurs sowie private Erinnerungen – soweit sie in der Öffentlichkeit Spuren hinterlassen haben – umfasst. Verbunden damit sei häufig ein funktionaler Gebrauch der Vergangenheit für die Gegenwart in Richtung einer historisch begründeten Identität.
Das Phänomen eines kollektiven Gedächtnisses wurde in den 1920er Jahren von Maurice Halbwachs und Aby Warburg beschrieben, in den 1980er Jahren von Pierre Nora wieder aufgenommen und fand mit den Arbeiten von Aleida und Jan Assmann ab Ende der 1980er Jahre in Deutschland weite Verbreitung (für einen Überblick: Erll, 2011).
An dieser Stelle ist vor allem Halbwachs’ Konzeption von Interesse. Er unterscheidet mehrere Formen des kollektiven Gedächtnisses: zum einen die soziale Bedingtheit des persönlichen Gedächtnisses, d. h. kollektive Einflüsse auf das Gedächtnis des Individuums, zum anderen die Bezugnahme von sozialen Gruppen und Kulturgemeinschaften auf die Vergangenheit, die wiederum in ein Generationengedächtnis und die Tradierung kulturellen Wissens über große Zeiträume hinweg zu untergliedern sind. Zentrale Funktion des kollektiven Gedächtnisses ist für ihn die Identitätsbildung; so zeigt die Teilhabe eine Gruppenzugehörigkeit an (nach Erll, 2011, S. 16–20).
Aufbauend auf den Arbeiten von Halbwachs unterscheiden Aleida und Jan Assmann (1994) beim kollektiven Gedächtnis zwei »Gedächtnis-Rahmen«: das »kommunikative« und das »kulturelle« Gedächtnis. Das »kommunikative Gedächtnis« entsteht durch informelle Alltagskommunikation, konstituiert sich im Umgang mit anderen, die einen Begriff ihrer Eigenart und damit ein Bewusstsein einer gemeinsamen Vergangenheit haben. Damit beinhaltet es einen Zeitraum von ca. 80 bis 100 Jahren (Assmann, 1988). Das »kulturelle Gedächtnis« hingegen meint einen »Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten […], ein kollektiv geteiltes Wissen […] über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewusstsein von Einheit und Eigenart stützt« (Assmann, 1988, S. 15). Hiermit sind mehr formalisierte und institutionalisierte Formen der Erinnerung gemeint, wie z. B. Gedenkstätten oder Gedenktage. Da mittlerweile die meisten jener, die NS-Zeit und Zweiten Weltkrieg erlebt haben und ihre Erinnerungen daran weitertradieren können, verstorben sind, befinden wir uns nach den Assmann’schen Überlegungen vor dem Ende der kommunikativen Erinnerung an diese Zeit (nach Papendick et al., 2019).
Das kollektive Gedächtnis in Form von Erinnerungskultur hat in Deutschland in den letzten Jahren eine große Bedeutung gewonnen. Insbesondere dem öffentlichen Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus wird eine zentrale Rolle eingeräumt, was sich in zahlreichen Gedenkstätten, Mahnmalen, »Stolpersteinen« und Ähnlichem zeigt. Die deutsche Erinnerungskultur gilt international als beispielhaft. Die Bedeutung, Reichweite und Aussagekraft der zugrunde liegenden Konzepte werden allerdings teils kritisch infrage gestellt (z. B. Jureit u. Schneider, 2010; Knigge, 2010). Die Diskussion kreist z. B. um die Fragen, ob Erinnern nicht oft moralisch aufgeladen werde und ob es in der wohlmeinenden Absicht, sich mit den Opfern zu beschäftigen, nicht zu einer Identifizierung mit diesen und auf diese Weise für die Täternachkommen zu einer Entlastung kommen könne (zur Diskussion: Hertfelder, 2019).
Das Familiengedächtnis – als ein Teil des kommunikativen Gedächtnisses – war Gegenstand einer Studie der Arbeitsgruppe um Harald Welzer: Die Mehrgenerationenstudie mit dem sprechenden Titel »Opa war kein Nazi« (Welzer, Moller u. Tschuggnall, 2002) untersuchte Familiengespräche zum Nationalsozialismus. Die Ergebnisse zeigen, dass die Nachkommen ihre Eltern bzw. Großeltern überwiegend als Opfer, Helfer oder im Widerstand sehen – und dies zum Teil im Widerspruch zu explizit geäußerten Informationen. Damit kann ein geschöntes Bild nicht auf eine Verleugnung seitens der Vorfahren zurückgeführt werden, sondern vielmehr auf die Bedürfnisse der Nachfahren. Hiermit wurde eine Kluft zwischen dem öffentlichen und privaten Erinnern gezeigt. Bei allem Wissen um historische Fakten über den Nationalsozialismus fällt es vielen Menschen offensichtlich sehr schwer, dieses auf ihre eigene Familie zu beziehen, vor allem wenn es um eine mögliche Täterschaft geht.
Dass sich dieser Befund in der Zwischenzeit nicht wesentlich geändert hat, ergaben neuere Studien zur Erinnerungskultur in Deutschland. Der »Multidimensionale Erinnerungsmonitor« (MEMO) I, II und III zeigte 2018, 2019 und 2020 im Rahmen einer Vielzahl von Ergebnissen zur Erinnerungskultur, dass die Befragten ihre Vorfahren erheblich öfter zu den Opfern als zu den Tätern (MEMO I: im Zweiten Weltkrieg; MEMO II und III: im Nationalsozialismus) zählen (Zick, Rees, Papendick u. Wäschle, 2018; Rees, Zick, Papendick u. Wäschle, 2019; Zick, Rees, Papendick u. Wäschle, 2020). Zudem zeigte sich, dass in vielen Familien eine Sprachlosigkeit bezüglich des Nationalsozialismus herrscht (für eine Zusammenfassung von MEMO I und II siehe Papendick et al., 2019). Der Transfer der öffentlichen Erinnerung auf das Private, die Beschäftigung mit möglichen familiären Verstrickungen in den Nationalsozialismus bzw. einer Täterschaft in der eigenen Familie, scheint in den meisten Familien bis heute eine heikle Angelegenheit sein.
1.2 Die individuelle Ebene: Psychische Langzeitfolgen
Zu den psychischen Auswirkungen von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg existiert eine Fülle von Literatur. Diese reichen von klinischen Falldarstellungen, qualitativen Interviewstudien, Fragebogenuntersuchungen bis hin zu Studien, die mit einer Vielzahl von Methoden zu Aussagen gelangen. Die Forschung beschäftigte sich zunächst mit den Opfern der Verfolgung, den Holocaustüberlebenden und ihren Nachkommen. Im zweiten Schritt wurden die Kinder der Täter- und später der Mitläuferseite in den Fokus genommen. Danach traten allmählich die Opfererfahrungen der nicht verfolgten Deutschen in den Vordergrund. Unter den Stichworten »Kriegskinder« und später »Kriegsenkel« entstanden hier eine umfangreiche Forschung und Literatur. Im Folgenden sollen einige der wichtigsten Schwerpunkte und Ergebnisse – soweit sie hier von Interesse sind – im Überblick dargestellt werden.
Ab den 1960er Jahren entstanden Arbeiten im Zusammenhang mit Holocaustüberlebenden und NS-Verfolgten (z. B. Niederland, 1980). Zunächst wurden die Überlebenden selbst, die während der Verfolgung Erwachsene (»Survivor«) oder Kind (»Child Survivor«) gewesen waren, in den Blick genommen, später deren Kinder, die »zweite Generation«, und dann wiederum deren Kinder, die »dritte Generation«.
Im Zusammenhang mit der »zweiten Generation«, die hier kurz dargestellt werden soll, wird oft der Begriff der »transgenerationalen Traumatisierung« verwendet (z. B. Kellermann, 2011). Die traumatischen Erfahrungen der Eltern finden auf verschiedene Weise ihren Niederschlag bei den Nachkommen. Mittels Identifizierungsprozessen nicht nur mit der Person, sondern der gesamten Lebensgeschichte, entsteht eine Teilhabe am Leben der Eltern und deren traumatischen Erlebnissen bei der Verfolgung. Das führt dazu, dass die Kinder oft in zwei verschiedenen Realitäten leben und die Welt der Konzentrationslager für sie ständig präsent sein kann. Die Grenzen werden durchlässig, die Trennung von Gegenwart und Vergangenheit, von Selbst und Objekt, Phantasie und Realität wird aufgehoben (Kogan, 2009). Für diese Phänomene wurde z. B. der Begriff »Zeittunnel« (Kestenberg, 1998) eingeführt. Diese Kinder fühlen sich in die unbewussten, verschwiegenen Inhalte des elterlichen Lebens ein, werden von diesen auch zur Regulierung ihres eigenen Selbstwertgefühls benutzt. Häufig haben die Kinder eine Ersatzfunktion bekommen, z. B. die Namen von ermordeten Angehörigen, fühlen sich ganz für die elterlichen Bedürfnisse zuständig, empfinden unter Umständen keine eigene Existenzberechtigung. Die Autonomieentwicklung ist entsprechend oft von Schuldgefühlen behindert. Oft findet sich ein Misstrauen, eine Alarmbereitschaft gegenüber antisemitischen Erfahrungen und anderen möglichen Bedrohungs- und Verfolgungserfahrungen.
Diese Phänomene wurden klinisch vielfach beschrieben. Auf der Symptom- und diagnostischen Ebene finden sich unterschiedliche Befunde. Man geht heute insgesamt davon aus, dass es sich bei dem sogenannten »second generation syndrome« nicht um eine generelle psychopathologische Belastung, sondern eher um eine erhöhte Vulnerabilität für die Entwicklung von psychischen Symptomen handelt. Und daneben zeige sich oft eine erhöhte Resilienz als konstruktive Bewältigung der Vergangenheit (Kellermann, 2011). Im Unterkapitel 5.2 stellt Budroni unter Rückgriff auf diese Arbeiten einen Fall zur »zweiten Generation« dar.
Ab den 1980er Jahren stellte sich allmählich die Frage nach den Kindern der NS-Täter, den »Täterkindern«. Parallel zu den sich entwickelnden historischen Täterstudien entstand eine umfangreiche Forschung zu den seelischen Auswirkungen der NS-Zeit, die bis heute andauert (Eckstaedt, 1992; Bar-On, 1993; Rosenthal, 1997; Müller-Hohagen, 2005; Kindler, Krebs, Wachsmuth u. Gahleitner, 2013). Schuld und Schamgefühle spielen eine zentrale Rolle, der Drang, Buße zu tun, und auch Abwehrstrategien zur Entlastung finden sich häufig. Schwierigkeiten der Identitätsbildung, Distanzierung von der Elterngeneration und Angst vor eigenen Täteranteilen werden beschrieben (Überblick bei Moré, 2013). Zentrales Thema sind Loyalitätskonflikte. Der Wunsch, das kindliche Bild von guten Eltern zu erhalten, führt zur Anerkennung des elterlichen Schweigens, wodurch das bewusste Bemühen um Aufdecken oft konterkariert wird. Der Nationalsozialismus bzw. die elterliche Beteiligung daran sind oft ein Tabu in der ganzen Familie. Das zeigt sich in einer besonderen Form des Sprechens bei diesem Thema, wie z. B. Ablenken, Verweigern, Schweigen. Besonders Letzteres kann sich auf sehr unterschiedliche Weise äußern. Die Aufrechterhaltung des Tabus kann auch aggressiv über Drohungen von Ausschluss eingefordert werden. Über Erziehungsideale von Härte und Stärke, verbunden mit körperlicher Gewalt, wurde die NS-Ideologie oft nahezu unverändert weitergegeben (Bohleber, 2009).