Psychotherapie und Seelsorge - Boris Traue - E-Book

Psychotherapie und Seelsorge E-Book

Boris Traue

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Beschreibung

In spätmodernen Gesellschaften sieht sich der Mensch – aus Traditionen weitgehend 'freigesetzt' – auf (s)ein Selbst geworfen, das sich optimieren, inszenieren, vermarkten und dabei noch Sinn generieren muss. Wenn das nicht hinreichend gelingt, ist oft pflegender Beistand vonnöten. Der Bedeutungsschwund von Kirche(n) und christlichem Glauben sowie die Entwicklungen in Psychologie und Psychotherapie lassen jedoch häufig das Interesse an seelsorglicher Begleitung schwinden. Wie Seelsorge auch heute gelingen kann, zeigt Heft 1/2019: Psychotherapie und Seelsorge.

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InhaltsverzeichnisThPQ 167 (2019), Heft 1

Schwerpunktthema:

Psychotherapie und Seelsorge

Andreas Telser / Michael Zugmann

Liebe Leserin, lieber Leser!

Boris Traue

Gemeindliche, reparative und eskalative SorgeÜber individualisierende und kollektive Begleitung in der Beratungsgesellschaft

1 Sorgen als Handlungsform

2 Handlungsfähigkeit und gesellschaftliche Erwartungslagen

3 Gemeindliche, reparative und eskalative Sorge

4 Wie ist kollektive Sorge möglich?

Susanne Heine

Menschenbilder hinter der Psychologie

1 Empirisches und seine Lücken

2 Empirie und Spekulation

3 Erkenntnistheoretisches Intermezzo

4 Zwei Varianten des „Selbst“

5 Cui bono?

Peter Trummer

Jesus als TherapeutNeutestamentliche Streiflichter

1 Der dienende Jesus

2 Die zu Heilenden

3 Und was nun?

Klaus Kießling

Seelsorge und Psychotherapie: unvermischt und ungetrennt

1 Heil und Heilung in Seelsorge und Psychotherapie

2 Ungetrennt: ein historischer Streifzug

3 Unvermischt: eine Auseinandersetzung mit Interdisziplinarität

4 Unvermischt und ungetrennt

Erwin Dirscherl

Die Frage nach dem Heil für Seele und Psyche als Frage nach GottVom liebenden Aushalten der Anderheit und von der Fähigkeit, sich zu verlassen

1 Die Gefahr der Fragmentierung des Menschen: Vom Wagnis, aufs Ganze zu blicken

2 Soteriologie und Theozentrik: Die vorausgehende Liebe und Barmherzigkeit Gottes

3 Der „Psychismus der Seele“ bei E. Levinas: Vom Umgang mit dem Wort Gottes ohne Instrumentalisierung

4 Haltung zeigen: Glaube als Stil der Gastfreundschaft bei Christoph Theobald

5 „Heilsame Haltungen“: Das barmherzige Aushalten der Anderheit als Fähigkeit des Liebens

Adolf Trawöger

Braucht Seelsorge Psychotherapie?Erfahrungen aus der Praxis

1 Vorbemerkungen

2 Gemeinsamkeiten, Differenzen und Übergänge zwischen Psychotherapie und Seelsorge

3 Psychotherapeutische Hilfen für die Seelsorge

4 Zusammenfassung

Abhandlungen

Herbert Haslinger

Das II. Vatikanum und die Pastoraltheologie

1 Lernimpulse des II. Vatikanums für die Pastoraltheologie

2 Monita der Pastoraltheologie gegenüber dem II. Vatikanum

3 Das Problem der Konzilshermeneutik

4 Ein auswertendes Resümee

Eva Plank

„Ich will euch eine Zukunft und eine Hoffnung geben“ (Jer 29,11)Die biblische Prophetengestalt und ihre Rezeption in der dramatischen Dichtung Jeremias von Stefan Zweig

1 Die neun Bilder des Dramas und ihre biblischen Bezüge

2 Fazit

Literatur

Ilse Kögler

Das aktuelle theologische Buch

Besprechungen

Eingesandte Schriften

Aus dem Inhalt des nächsten Heftes

Redaktion

Kontakt

Anschriften der Mitarbeiter

Impressum

Liebe Leserin, lieber Leser!

Lange Zeit standen Psychotherapie und Seelsorge in einem gespannten Verhältnis. In der Psychotherapie herrschten Religionskritik oder gar Pathologisierung von Religion vor, in der seelsorglichen Praxis die Meinung, Psychotherapie sei für Gläubige nicht nötig, oder der Vorbehalt, Psychotherapie gefährde religiöse Überzeugungen und Praxis. Mittlerweile hat sich die Situation stark verändert. Mit Blick auf die Psychotherapie zeigt dies etwa das Positionspapier „Empfehlungen zum Umgang mit Religiosität und Spiritualität in Psychiatrie und Psychotherapie“1 der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Es hält fest, dass aus heutiger Sicht „eine kultur- und religionssensible psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung von Patienten mit unterschiedlichen Hintergründen notwendig“ ist und „Patienten mit psychischen Erkrankungen von ihrem Psychiater und Psychotherapeuten eine ganzheitliche Wahrnehmung ihrer Lebenssituation einschließlich deren existenzieller, spiritueller und religiöser Dimension“ erwarten. Diese Erwartung wird nicht durch Übernahme esoterischer Inhalte, spiritueller Rituale und religiöser Methoden in die Psychotherapie erfüllt, sondern durch einfühlsame Achtung gegenüber den religiösen oder spirituellen Bindungen der Patienten. Dabei sollten die Behandelnden „auf eine respektvolle Weise religiös neutral bleiben, aber aufgeschlossen sein für einen möglichen Transzendenzbezug seines Patienten“. Mit Blick auf die Seelsorge wird deutlich, dass die Vorbehalte gegenüber der Psychotherapie geringer wurden. Und so sind viele Seelsorgerinnen und Seelsorger bestrebt, sich ein psychotherapeutisches Grundwissen anzueignen oder es zu erweitern. Dabei ist für Psychotherapie und Seelsorge wichtig, die professionellen Grenzen zwischen psychotherapeutischen Behandlungen einerseits sowie Seelsorge und spiritueller Führung andererseits zu kennen und zu respektieren. Zugleich kann eine Zusammenarbeit in vielen Fällen sinnvoll, heilsam und – in einzelnen Fällen – gar unverzichtbar sein. Dafür sind immer wieder Reflexion und Dialog notwendig, denen sich die sechs thematischen Beiträge unseres aktuellen Heftes widmen.

Nach dem Verhältnis zwischen Psychotherapie und Seelsorge aus soziologischer Sicht fragt Boris Traue. Er sieht in der Gesellschaft drei Formen des Sorgens und stellt Seelsorge als gemeindliche, kollektive Sorge der Psychotherapie als reparativer Sorge und dem Coaching als eskalativer Sorge gegenüber. Die entscheidende Frage bleibt, wie die Selbstsorge mit der Sorge um den Anderen und die Gesellschaft verbunden werden kann. Hier sieht Traue die Seelsorge als gemeindliche, kollektive Sorge besonders gefordert. Der Dialog zwischen Psychotherapie und Seelsorge braucht einen religionspsychologisch klaren Blick: Susanne Heine macht deutlich, wie voraussetzungsreich die Menschenbilder sind, welche die verschiedenen Schulen der Psychologie prägen, und dass nicht-empirische Annahmen über „das Wesen des Menschen“ offengelegt werden müssen, damit Reflexion und Erfahrungsaustausch zwischen Psychotherapie und Seelsorge gelingen. Ebenso wichtig ist die Offenlegung des biblischen Welt- und Menschenbildes, das im Hintergrund der neutestamentlichen Erzählungen über Jesus als Therapeuten steht. In seiner Analyse der Texte und des biblischen Sprachgebrauchs deutet Peter Trummer so manche Heilungserzählung aus den Evangelien in ungewohnter und überraschender Weise und aktualisiert diese Deutungen auch für die heutige Zeit. Von dem engen Zusammenhang zwischen Heilung und Heil bei Jesus ausgehend, unternimmt Klaus Kießling einen historischen Streifzug, der zeigt, wie sich Seelsorge und Pastoralpsychologie von der Antike bis in die Neuzeit entwickelt haben. Er weist die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Seelsorge, Pastoralpsychologie und Psychotherapie aus und plädiert dafür, dass sich Seelsorge und Psychotherapie zueinander eigenständig, unvermischt und ungetrennt, verhalten können. Die Seelsorge und Psychotherapie gemeinsame Frage nach dem Heil für Seele und Psyche versteht Erwin Dirscherl letztlich als Frage nach Gott. Vor dem Hintergrund fragmentierter Lebenswirklichkeiten plädiert er dafür, theologisch den ganzen Menschen im Blick zu behalten. Die in den Mitmenschen wie in Gott eingetragene Andersheit eröffne einen Zwischen-Raum, der heilsame Haltungen gegenüber anderen ermögliche. Wie solch heilsame Haltungen in psychotherapeutischen Ansätzen und seelsorglichen Beratungskonzepten zum Tragen kommen, zeigt Adi Trawöger auf. Fallbeispiele zeigen, wie Seelsorge von psychotherapeutischen Zugängen profitieren kann, aber auch Psychotherapie von seelsorglichen Konzepten, weil Letztere die Sorge um den ganzen Menschen im Blick haben.

Zwei freie Beiträge bereichern unser erstes Heft des Jahres 2019: Herbert Haslinger ortet in seinem Artikel drei wichtige Lernimpulse des II. Vatikanums für die Pastoraltheologie hinsichtlich der Theologie des Volkes Gottes, der Offenbarung und der Pastoralität, benennt aber auch als Kritikpunkte am Konzil aus heutiger Sicht die Ausblendung der Gemeinde und die Ignorierung der Pastoraltheologie. Eva Plank gibt auf Einladung der Redaktion einen Einblick in ihre 2018 veröffentlichte Dissertation, in der sie nachzeichnet, wie Stefan Zweig in der dramatischen Dichtung „Jeremias“ in neun Bildern die biblische Prophetengestalt auf dem Hintergrund der zeitgeschichtlichen Ereignisse des 1. Weltkriegs rezipiert.

Werte Leserinnen und Leser!

Angesichts von Flucht und Migration steht die in diesem Heft thematisierte, sich verändernde Konstellation von Psychotherapie und Seelsorge vor neuen Herausforderungen: PsychotherapeutInnen, Pfarrer, PsychologInnen, pastorale MitarbeiterInnen und PsychiaterInnen treffen immer öfter auf Menschen, die sich über Erlebtes und Erlittenes, wenn überhaupt, in einer religiös gefärbten Sprache mitteilen – dazu bedarf es mehr denn je einer interreligiösen Kompetenz in beiden Feldern.2 Damit kommt dieser Fragestellung eine besondere Relevanz zu. Wir wünschen eine anregende Lektüre!

Andreas Telser und Michael Zugmann (für die Redaktion)

1Michael Utsch u. a., Empfehlungen zum Umgang mit Religiosität und Spiritualität in Psychiatrie und Psychotherapie, in: Spiritual Care 6:1 (2017), 141–146.

2 Vgl. Jonathan Morgan / Steven J. Sandage, A Developmental Model of Interreligious Competence. A Conceptual Framework, in: Archive for the Psychology of Religion 38 (2016), 129 –158.

Boris Traue

Gemeindliche, reparative und eskalative Sorge

Über individualisierende und kollektive Begleitung in der Beratungsgesellschaft

♦ Der Autor, Soziologe an der TU Berlin, nähert sich der gesuchten Verhältnisbestimmung von Seelsorge und Psychotherapie mittels eines Verständnisses des Sorgens, das für die Ausbildung individueller wie kollektiver Identität maßgeblich ist. Als Handlungsform kann das Sorgen, soziologisch betrachtet, in drei Formen institutionalisiert auftreten und dabei unterschiedliche Funktionen erfüllen. In ausdifferenzierten Gesellschaften und den in ihnen sich zu bewährenden Individuen werden diese Funktionen verschieden nachgefragt. Alle drei Formen des Sorgens sind mit dem Anspruch konfrontiert, die Balance von Selbst und Gesellschaft auszutarieren. (Redaktion)

Die Ausweitung der psychotherapeutischen Angebote seit den 1960er-Jahren1 ist nicht unumstritten. Kulturen der therapeutischen Zuwendung und Selbstzuwendung werden als Ausdruck eines kulturell verankerten Narzissmus2 und als Mitursache einer zu weitgehenden Individualisierung3 kritisiert. Weiter wird moniert, therapeutische und seelsorgerische Praktiken schränken die individuelle Handlungsfreiheit ein4 oder vertiefen die Zwänge einer Gesellschaftsform, die auf die Steigerung von Leistungsfähigkeit und ‚Employability‘ ausgerichtet ist.

Mit der wissenschaftlichen und literarischen Entdeckung des Unbewussten zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert hatte sich allerdings allmählich und schließlich auf breiter Ebene die Ansicht durchgesetzt, dass Selbst- und Weltverhältnisse miteinander zusammenhängen, und dass ein gelingendes Verhältnis zur Mitwelt ein gelingendes Verhältnis zu sich selbst voraussetzt. Der Selbstbezug gilt in der therapeutischen Kultur als durch Expertenhilfe veränderbar. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden die Psychotherapien schließlich verstärkt in die universitäre sowie außeruniversitäre Ausbildung eingebunden und als Teil der Gesundheitsversorgung teilweise auch öffentlich finanziert.

Beide Positionen – die therapiekritische und die klinische – haben ihre Berechtigung. Aus einer soziologischen Perspektive sollte es nicht primär darum gehen, psychotherapeutische und seelsorgerische Angebote zu begrüßen oder zu kritisieren. Vielmehr sollte sie Hinweise darauf gewinnen, welche Kompetenzen und Orientierungen durch unterschiedliche therapeutische Begleitungsangebote vermittelt werden. In diesem Beitrag soll die beraterische Sorge zunächst als triadische Handlungs- und Beziehungsform eingeführt werden, die auf die Steigerung der Handlungsfähigkeit abzielt. Im Rückgriff auf soziologische Handlungstheorien, die auf Spinoza zurückgehende vermögenstheoretische Perspektive sowie die Religionsphilosophie von Josiah Royce werde ich drei Formen des vermögenssteigernden Sorgens unterscheiden. Abschließend wird die Frage aufgeworfen, unter welchen Bedingungen egalitäre und kollektive Formen des Sorgens möglich sind.

Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist die Annahme, dass das Selbst, obwohl im Körper fundiert, ein Produkt von Kultur und Gesellschaft ist.5 Selbste werden durch Instanzen der Subjektivierung6 auf organisierte Art und Weise gebildet: im Elternhaus, in der Schule, der Arbeitswelt, im Sport, in der Beratung, in der Seelsorge und einer Reihe weiterer Felder und Milieus. Wir können also von einem institutionalisierten Selbstverhältnis sprechen. Das Selbst ist in zentralen Aspekten ein gesellschaftliches Produkt, und diese Produktionsweisen werden in spezialisierten Diskursen reflektiert: Medizin, Psychologie, Ökonomie, Soziologie, Theologie etc. unterhalten jeweils eigene Problematisierungen und Interventionsformen. Seelsorge, Psychiatrie, Psychotherapie und Beratung sind also institutionalisierte kommunikative Formen dieser Produktion von Subjektivität.

1 Sorgen als Handlungsform

Die Sorge – bzw. das Sorgen– ist ein Handlungstypus, mit dem ein Individuum (bzw. ein Kollektiv) ein anderes Individuum interpretiert und ihm diese Interpretationen mitteilt, um diesem künftige Handlungen zu erleichtern, indem seine Handlungsvermögen verbessert werden. Die Spezifik des Sorgens besteht darin, dass die Verbesserung der Handlungsvermögen einer anderen Person Ziel der ‚begleitenden‘ Handlung einer sorgenden bzw. beratenden Person ist. Die eigenen Ziele einer Sorge tragenden Person werden dabei zugunsten der Handlungsvermögen der versorgten Person zurückgestellt. Die elterliche Sorge ist ein idealtypisches Beispiel für diese Form des Handelns, bei dem die Erwartungen des Sorgenden zurückgestellt werden zugunsten desjenigen, für den gesorgt wird. Die ‚Frühgeburt‘ des Menschen erfordert, dass die Eltern die Bedürfnisse von Säuglingen interpretieren, ihnen gewissermaßen die Wünsche und Nöte ablesen und diese angemessen befriedigen. Nun geschieht dieses Zurückstellen nur im Grenzfall ganz ohne ‚Hintergedanken‘. Dieser Hintergedanke besteht darin, dass die Verbesserung der Handlungsfähigkeit für die Sorgenden selbst – oder für Dritte – Vorteile hat. Die Sorge zeichnet sich also durch eine dreistellige oder triadische Figuration aus, wie bereits der Soziologe Erving Goffman festgestellt hat:

„Ich weise darauf hin, dass die Ideale, die Dienstleistungen in unserer Gesellschaft zugrunde liegen, ihren Ursprung in folgendem Fall haben: der Dienstleister ist aufgefordert, ein komplexes physikalisches System zu reparieren, wieder herzustellen oder zu flicken – das System ist dabei das persönliche Objekt oder der persönliche Besitz des Klienten […] Wir haben es mit einem Dreieck zu tun – Praktiker, Objekt, Besitzer –, das eine wichtige Rolle in der westlichen Gesellschaft gespielt hat.“7

Goffman wirft damit die provokative Frage auf, wem das Selbst „gehört“.

Beratung, Therapie und Seelsorge sind empirische Formen sorgenden Handelns in triadischen Figurationen.8 Eine Person interpretiert eine andere mit der Absicht, deren Handlungsfähigkeit wiederherzustellen oder zu steigern. Die Sorge steht damit in einem Spannungsverhältnis zwischen zwei untrennbar miteinander verbundenen Polen: dem höchstpersönlichen ‚Verstehen‘ eines Anderen einerseits, der Steigerung seiner Vermögen mit einem Nutzen für Dritte andererseits. Die Interpretation eines anderen Subjekts, die diesem sorgend mitgeteilt wird, kann die Handlungsfähigkeit dieses Subjekts steigern, einschränken und lenken: es handelt sich um eine ‚Führung der (Selbst-)Führung‘.9

2 Handlungsfähigkeit und gesellschaftliche Erwartungslagen

Das Handlungsvermögen ist ein Anliegen, das in allen differenzierten Gesellschaften mit individualisierenden Leistungszuschreibungen Anlass von Erziehungs- und Beratungsbemühungen ist. Wenn der Einzelne etwas leisten können soll, unternimmt die Allgemeinheit – in Gestalt von Unterweisung, Beratung und Sanktion – systematische Bemühungen, diesen durch ‚care work‘ zur künftigen Bereitstellung der von ihm geforderten Leistungen zu befähigen.

Die Frage, wie ein Bedarf nach Seelsorge, Psychotherapie und anderen Formen von Beratung aufkommt, kann also nicht einseitig von den KlientInnen her gedacht werden. Erst die Verschränkung der jeweiligen Anliegen von Individuen, Professionen und Staat kann erklären, wie es zur Herausbildung unterschiedlicher Formen von Sorge kommt. Der Bedarf nach Beratungsangeboten bemisst sich nach den gesellschaftlichen Anforderungsprofilen, die an Subjekte gestellt werden. Unter welchen Bedingungen es den beratenden Professionen gelingt, sich für die Befriedigung des Bedarfs nach diesen Steigerungsformen menschlicher Existenz zuständig erklären zu können, hängt von einer Reihe von Bedingungen ab. Entscheidend sind dabei die in der Professionssoziologie beschriebenen Vorgänge der Mandatierung und Lizensierung: Staatlich oder verbandlich organisierte Agenturen delegieren Aufgaben an Professionelle (LehrerInnen, Geistliche, Ärzte, PsychotherapeutInnen). Diese erhalten also ein Mandat für die Bereitstellung sorgender Praktiken. Im Gegenzug werden berufliche Qualifizierungsmöglichkeiten geschaffen, also Bildungsgänge, die absolviert und erfolgreich abgeschlossen werden müssen – die Lizenz wird zur Voraussetzung für die legitime Ausübung der Tätigkeit, die damit zum Beruf gemacht wird und einer sozialen Schließung unterliegt. Eine gelingende soziale Schließung einer Berufsgruppe verschafft ihr ein besonderes Prestige, das sie ungerne wieder abgibt.10 Im Kern der Aufgaben der beratenden Professionen steht die Steigerung der Handlungsfähigkeit. Der amerikanische Soziologe Talcott Parsons hat bereits in den 1930er-Jahren handlungstheoretische Überlegungen vorgestellt, die für die Einschätzung der Beratung hilfreich sind. Parsons schlägt vor, Handlungen nach kulturellen Mustern der Handlungsorientierung zu unterscheiden („pattern variables“).11 Zwei der insgesamt sechs Variablen sind hinsichtlich der Sorge hilfreich: Parsons unterscheidet erstens zwischen Affektivität und affektiver Neutralität. Affektivität wird mit kurzfristiger Bedürfnisbefriedigung in Verbindung gebracht, affektive Neutralität mit Bedürfnisaufschub. Eine zweite Unterscheidung betrifft die Differenz zwischen einer Orientierung am eigenen Wohl und am Gemeinwohl: Sind die Handlungsvermögen auf die Erreichung individuellen Nutzens oder an der Verwirklichung des Gemeinwohls ausgerichtet?

Parsons übersah allerdings die motivationale Bedeutung unterschiedlicher Affekte: Freude hat andere Wirkungen als Angst, beide unterscheiden sich von der Trauer. Die Affekte hängen außerdem mit der Orientierung auf sich selbst oder auf Kollektive zusammen. Um diesen Besonderheiten gerecht zu werden, soll Parsons Vorschlag erweitert werden.

Die Frage der Handlungsvermögen und ihrem Zusammenhang mit den Affekten wird von Baruch de Spinoza (1632 –1677) in die Philosophie eingebracht. Seit den 1960er-Jahren wird Spinozas Philosophie wieder verstärkt in der sozialtheoretischen Diskussion aufgegriffen,12 um Voraussetzungen für gesellschaftlichen Wandel zu diskutieren: Die vermögenstheoretische Perspektive Spinozas wirft die Frage nach der Entstehungsweise kollektiver Handlungsfähigkeiten auf, der ‚potentia multitudinis‘. Spinozas Affektenlehre ist damit ein wichtiger Bezugspunkt für das philosophische und sozialwissenschaftliche Konzept der Handlungsfähigkeit (engl. agency, frz. agence). Er versteht unter der „agendi potentia“ (Kraft/Fähigkeit zu handeln) ein ‚Selbstbeharrungsvermögen‘ des Körpers und des mit diesem Körper verbundenen Geistes, das als Conatus bezeichnet wird: das, „wodurch jedes Ding in seinem Sein zu beharren strebt“13. In Spinozas vermögenstheoretischer Perspektive beruht das Handeln auf einer Eigendynamik des Begehrens, die in der spätmittelalterlichen Conatuslehre verhandelt wird (conatus lat. für gr. ὁρμή – Trieb, Streben), die Spinoza unter dem Einfluss der Naturwissenschaften reinterpretiert: Ähnlich wie Körper im Rahmen einer Physik ausgedehnter Körper ihre Bewegung aufrechterhalten, strebt das Sein belebter Körper nach Aufrechterhaltung ihres Begehrens. Ob diese Aufrechterhaltung realisiert oder verhindert wird, zeigt sich an leibgebundenen Affekten, die der Geist erfassen kann. Die Affekte wirken auf die Handlungsvermögen des Körpers und dadurch auch auf die des Geistes, insofern der Geist erlebte Freude mit den Ideen in Verbindung bringt, die mit den Affekten einhergingen: „Unter Affekte verstehe ich die Erregungen des Körpers, durch welche die Handlungsvermögen des Körpers vergrößert oder verringert, gefördert oder gehemmt werden, zugleich auch die Ideen dieser Erregungen.“14 Affekte werden zwar erlitten, aber auch in einer Distanzierungsbewegung vom Geist erfahren und werden so zum Erkenntnisinstrument. Das Erlebnis freudiger Affekte ist zunächst spontan, kann aber durch Erinnerung und Einbildungskraft mit bestimmten Konstellationen und ihren Bezeichnungen assoziiert werden, so dass Subjekte Situationen und Beziehungskonstellationen aufsuchen, in denen ihre körperlichen und geistigen Vermögen gesteigert werden: „Was auch immer die Wirkungsmacht unseres Körpers vermehrt oder vermindert, dessen Idee vermehrt unseres Geistes Macht zu denken.“15 Die Sorge bewirkt – folgen wir Spinozas Vorschlag – mit Hilfe der Förderung des Erlebens verschiedener Affekte die Modellierung der Handlungsfähigkeit, vor allem durch Freude, Furcht und Trauer. Freude steigert die Handlungsmacht, Furcht verringert sie. Die Trauer ist komplexer: Sie verringert zunächst – etwa als Melancholie – massiv die Handlungsfähigkeit, um einer anschließenden Wiederherstellung oder sogar Steigerung Platz zu machen.

Für die Soziologie der Beratung16 ist das Problem der Handlungsfähigkeit von zentraler Bedeutung, stellt die Beratung doch eine Institution der Steigerung von Handlungsvermögen dar. Welche Variationen lassen sich beschreiben? Ich möchte mit Bezug auf Goffman, Parsons und Spinoza (bzw. die aktuelle Spinoza-Rezeption) drei Formen unterscheiden: gemeindliche, reparative und eskalative Formen der Sorge.

3 Gemeindliche, reparative und eskalative Sorge

3.1 Gemeindliche Sorge

Die „cura sui“ der Antike ist neben der ärztlichen Kunst als eine der ältesten kodifizierten Formen der Sorge überliefert, die ihren Einfluss noch in der Gegenwart geltend macht. Der Einfluss ihrer Verbindung von gesundheitlichen, pädagogischen und politischen Aspekten17 reicht bis in die psychotherapeutischen und beraterischen Praktiken der Neuzeit. In die christliche Seelsorge werden viele ihrer Elemente übernommen: das Sich-Anvertrauen, die Selbstbefragung und das Wissen, die Exerzitien. Die Besonderheit der christlichen Seelsorge besteht in einer Ausrichtung auf die Gemeinde, die durch eine zweifache Innovation des Christentums möglich wird: die Abwesenheit Gottes wird durch die Verkündigung Jesu Christi in einen Auftrag an die Menschen verwandelt. Der Auftrag, das Evangelium aufrecht zu erhalten und zu verbreiten, ergeht an die Gemeinden. Die christliche ‚Richtungsumkehr‘ des Glaubens ermöglicht zweitens diese Selbstermächtigung der Gemeinden: Die Götter verlangen keine besänftigende Zuwendung mehr, sondern ein Gott wendet sich selbst den Menschen zu. Das Evangelium muss in den Gemeinden selbst realisiert werden. Wie können wir uns diese Realisierung vorstellen?

Der einem europäischen Publikum wenig bekannte pragmatistische Religionsphilosoph Josiah Royce wurde unter anderem als Theoretiker des Gemeindegedankens bekannt. Royce verwirft idealistische und sensualistische Dualismen von Sinnlichkeit und Vernunft. Wahrnehmung (Perzeption) und Erkenntnis (Kognition) sind für ihn letztlich defizitäre dyadische Verhältnisse, in denen Selbst und Welt unvermittelt gegenüberstehen. Die „Interpretation“ sei dagegen ein dritter Modus, der fundamental triadisch sei:

„Interpretation beinhaltet immer eine Relation dreier Glieder. […] Jemand interpretiert jemanden für jemand.“18 Durch das Zusammenwirken der Aktivitäten Dreier entstehen „Gemeinschaften [communities] der Interpretation“19. Die gemeindliche Seelsorge ist in Royces Verständnis also ein Interpretationskollektiv. Es sei für alle geboten und möglich, die Haltung des idealen Interpreten einzunehmen:

„Denn meine Interpretation deiner Person für deinen Nachbarn soll so sein, dass du sie akzeptieren kannst, und dass unser Nachbar sie verstehen kann, als ob jeder von uns bereits in der Position des idealen Beobachters von oben wäre, dessen Vision der leuchtenden Einheit meiner Interpretation und dessen Ziel ich immer zu imitieren versuche, wenn ich versuche, deinen Geist zu interpretieren.“20 Für Royce hat der Interpretationsprozess eine Finalität in der Entstehung der Gemeinde, deren Mitglieder sich in ihrer Zuwendung zueinander den sich dem Menschen zuwendenden Gott imitieren. Für die Beschreibung der Seelsorge hat dieses Modell erstaunliche Aktualität, insofern es Transzendenzbezüge in einem triadischen Interaktionsmodell „Selbst – Anderer – Übersetzender“ verankert.

Die Seelsorge ist also – mit Royce gedacht – eine gemeindliche Sorge: Sie zielt darauf ab, im Einzelnen die Fähigkeit zu steigern, Transzendenzbezüge in der Interpretation von Handlungen für andere lebendig zu machen. Die Rolle der Angst ist dabei umstritten und im Wandel befindlich: Im frühen Christentum wird sie als Angst um die eigene Sündigkeit stark akzentuiert, seit dem 16. Jahrhundert tritt – nicht zuletzt unter dem Einfluss der Reformation – eine Milderung des Angstaffekts ein.

Religiöse Eliten bekommen damit eine neue Rolle zugewiesen: Sie moderieren nicht mehr zwischen launischen, personifizierten Göttern und den Menschen, sondern interpretieren die Gläubigen füreinander. Die Steigerung der Handlungsfähigkeit zielt auf eine angsterfüllte Beherrschung der Sünde einerseits, eine Verwirklichung der Liebesidee zwischen den Mitgliedern der Gemeinde andererseits. Entscheidend ist allerdings die Position der Interpretation: Seelsorger (Professionelle und Laien) übersetzen Gemeindemitglieder füreinander, mit dem Ziel, ein Verständnis für ihre Gemeinsamkeiten zu bewirken: Eine kollektive Partizipation an Transzendenzideen und -erfahrungen und eine kollektive Überwindung von Angst. Gemeindliche Sorge ist damit nicht affektiv neutral, sondern thematisiert Angst und Trauer, die durch eine Orientierung auf das Gemeinwohl bewältigt werden sollen.

3.2 Reparative Sorge

In der Psychotherapie steht dagegen die Heilung, also die individuelle Verbesserung des seelischen Zustandes im Vordergrund. Der psychotherapeutische Diskurs ist im 18. Jahrhundert einerseits eng mit dem Krankenhaus und der Medizin verbunden. Andererseits steht er mit lebensreformerischen Bewegungen in Verbindung; diese Verbindung wird in der Neuzeit etwa von Anton Mesmer hergestellt.21 Reparative Sorge zielt also darauf ab, die psychische und seelische Gesundheit wiederherzustellen. Ich nenne sie reparativ, weil sie – neben dem von Goffman entlehnten Bezug auf die Reparatur – auch Aspekte der Wiedergutmachung enthält: Was einem Patienten vorenthalten wurde – Zuwendung, Liebe, Wunscherfüllung – stellt die Therapie nachträglich bereit oder zumindest in Aussicht. Die individuelle Steigerung von Freude ist ein wichtiges Mittel der psychotherapeutischen Sorge. Sie soll in den meisten psychotherapeutischen Schulen durch eine Verringerung von Angst erreicht werden – etwa in der Therapie von Angststörungen, die zu den meistdiagnostizierten psychischen Störungsbildern der Gegenwart gehören. Der Trauer um die lebensgeschichtliche Vergangenheit wird dabei ebenfalls große Bedeutung eingeräumt. Kollektive Werte und Zusammengehörigkeiten spielen in der Psychotherapie – im Unterschied zur Seelsorge – eine untergeordnete Rolle.

3.3 Eskalative Sorge

Neben die gemeindlichen und reparativen Verständnisse des Sorgens tritt durch eine Verbindung romantischer Bewegungen in der Kunst, naturwissenschaftlichen Diskursen wie der Kybernetik und dem Leistungsethos des Sports, ein Drittes, das ich als „eskalativ“ bezeichnen möchte. Das seit den 1970er-Jahren entstandene Coaching entspricht diesem Typus. Als Beratungsangebot für die ‚worried well‘ lässt es sich auf alle Gebiete anwenden, in denen eine Eskalation der Handlungsvermögen aussichtsreich erscheint.

Im Coaching ist ein projektives Geschehen zwischen BeraterIn und KlientIn, eine wechselseitige freudige affektive Aufladung erwünscht. Als therapeutische Technik wurde diese Projektion von der Psychoanalyse abgelehnt, weil sie die Einsicht in innerpsychische Konflikte verhindere. Dagegen wird die Eskalation freudiger Affekte im Coaching als Mittel der Störung und Durchbrechung von Trauer und Angst verstanden:

„Der Coach fungiert dabei als temporäres Vorbild, gleichsam als temporärer Spiegel. Provokation, Aufforderung, spielerische Herausforderung und Humor sind einige der Gesprächstechniken, die die vitalistischen Steigerungsformeln der systemischen Therapeutik als Subjektivierungsprogramme realisieren. Die ‚proteische‘ Rhetorik der gegenseitigen Abtastung und ‚Programmierung‘ ermöglicht eine Bezugnahme auf ein Gegenüber, welches sich nicht mehr von einer Berücksichtigung der bisherigen Lebenserfahrungen speist, sondern aus der Absicht, eine virtuelle Identität herzustellen.“22 Die Selbstorientierung ist in der eskalativen Sorge auf die Spitze getrieben: Trauer und Angst gelten als gesellschaftliche Einschränkungen der Handlungspotenziale, die abgestreift werden können und sollen.

4 Wie ist kollektive Sorge möglich?

Doch ist das Spektrum des vermögenssteigernden, beratenden Sorgens mit den drei genannten Formen erschöpft? Ist nicht eine Form von Sorge bzw. Sorgen denkbar, welche die Selbstsorge mit der Sorge um den Anderen und die Gesellschaft verbindet, mit Blick auf eine Umgestaltung der Gesellschaft und der Lebensweisen, die im Hinblick auf die ökonomischen, ökologischen und gesundheitlichen Krisen der Gegenwartsgesellschaften eingefordert wird?

Die gemeindliche Sorge kommt diesem Anspruch näher als die reparativen und eskalativen Angebote, verbindet sie doch Selbstsorge und Sorge um andere durch eine Gerichtetheit auf kollektive Ziele, die auf Möglichkeiten einer künftigen Gemeinschaft (oder Gesellschaft) weisen. Die gemeindliche Sorge neigt dabei allerdings zu einer finalistischen Schließung: als ob die Gestalt dieses künftigen Kollektivs schon bestimmt wäre und durch weltliche oder geistliche Autorität abschließend definiert werden könnte. Dieser Finalismus und die dafür erforderliche Autorität stellt im Rahmen der gemeindlichen Sorge ein Dauerproblem dar: Wie kann das gemeindliche kollektive Füreinander-Sorgen mit dem Problem der Macht umgehen, wie kann bestimmt werden, wer die Zielrichtung des gemeindlichen Lebens festlegt?

Auch Josiah Royce kämpft mit diesem Problem: Er räumt zwar ein, dass dem gebildeten Interpreten (etwa dem Intellektuellen oder Priester) die mächtigste Rolle zukommt:

„In einer Gemeinschaft […] nimmt der Interpret offensichtlich und auf bedeutsame Weise den wichtigsten Platz ein. Denn die Gemeinschaft [community] ist eine der Interpretation.“23 Diese Privilegierung ist für ihn dadurch gerechtfertigt, dass die vereinigende „Idee des Christentums“ – so der Titel seines hier zitierten Hauptwerks – nur durch einen definitorischen interpretativen Akt artikuliert werden könne, der bei allen Zustimmung findet – und nicht etwa durch ein Nebeneinander von Ideen oder ihre dialektische Verfeinerung. Da der interpretative Prozess durch Delegation an einen Interpreten aber vorzeitig stillgestellt werden könnte, möchte er die interpretative Macht durch eine Mobilität zwischen den Positionen in der interpretativen Triade begrenzt und verteilt sehen: „Ohne die Eigenheit unserer Gemeinschaft wesentlich zu verändern, können wir unsere jeweiligen Ämter nach unserem Belieben austauschen. Du oder mein anderer Nachbar kann jeden Augenblick die Aufgabe des Interpreten einnehmen; während ich eine neue Position in der neuen Gemeinschaft einnehme.“24

Eine Möglichkeit, diesem Problem der Autorität auszuweichen, besteht darin, von der gemeindlichen Sorge auf das Anbieten psychosozialer Dienstleistungen umzuschwenken, etwa eine „Modernisierung der Kirche zu einer Serviceeinrichtung für individuelle Lebenshilfe zur besseren Bewältigung der Herausforderungen des modernen Lebens“25.

Einrichtungen kollektiver Sorge können aber auch eine andere Aufgabe wahrnehmen: die Einrichtung von Mobilität zwischen kommunikativen Positionen, d. h. der des beratenden Interpreten, des Versorgten und des nutznießenden Anderen. Diese Option hat allerdings verschiedene Voraussetzungen:

Erstens können Praktiken des Sorgens nicht auf dienstleistende Professionen beschränkt werden, wenn eine Mobilität zwischen aktiven und passiven Positionen in Sorgehandlungen möglich sein soll. Vielmehr ist ein breites Spektrum an Laienorganisationen und Selbsthilfebewegungen zu berücksichtigen.

Zweitens müssen die Ressourcen für eine aktive Teilnahme an Praktiken des Sorgens gegeben sein: Wohlfahrtsstaatliche und arbeitsweltliche Rechte gestatten es den Vielen, nicht nur verantwortlich gemacht zu werden, sondern selbst Verantwortung zu übernehmen und von ihr zu profitieren.

Drittens stellt sich die Frage, wie eine Bandbreite an Handlungsvermögen gefördert werden kann. Therapeutische oder beratende Techniken, die ausschließlich auf einen der drei bereits von Spinoza identifizierten Hauptaffekte bauen – Freude, Angst, Trauer – verengen die kollektiv, d. h. wechselseitig erzeugten Handlungsvermögen. Spaß- und Konsumgruppierungen, Achtsamkeits- und Trauergemeinschaften sowie reine Angst- und Wutkollektive verfehlen umfassende Sorgeverhältnisse. Eine Mobilität zwischen den Positionen der Sorge – des Sorgenden, Versorgten und des Nutznießenden – zu erleben ist eine wichtige Erfahrung in demokratischen, egalitären Gesellschaften, die zugleich das Niveau der kollektiv verwirklichten Solidarität hebt.

Der Autor:Boris Traue ist Soziologe und Privatdozent an der Technischen Universität Berlin. Er forscht zu Subjektivierungsweisen und Identitäten, Individualisierung und kollektivem Handeln sowie zur Professionssoziologie. Wichtige Publikationen: Relationale Sozialtheorie und die Materialität des Sozialen. ‚Kontaktmedien‘ als Vermittlungsinstanz zwischen Infrastruktur und Lebenswelt, in: Soziale Welt 68 (2017), 243 – 260; Zur Kritik der Fähigkeiten: Ableism als neue Forschungsperspektive der Disability Studies und ihrer Partner_innen, in: Zeitschrift Für Inklusion 2 (2015) (zus. mit Tobias Buchner / Lisa Pfahl); Medien des Selbst im Coaching und in digitalen Räumen. In: Sozialwissenschaften und Psychotherapie 15, 2 (2013), 67– 91.

Weiterführende Literatur:

Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform (stw 1832), Frankfurt a. Main 2007.

Sabine Maasen / Jens Elberfeld / Pascal Eitler / Maik Tändler (Hg.), Das beratene Selbst. Zur Genealogie der Therapeutisierung in den ›langen‹ Siebzigern (1800 | 2000. Kulturgeschichten der Moderne), Bielefeld 2011.

Jürgen Straub / Alexandre Métraux (Hg.), Prothetische Transformationen des Menschen. Ersatz, Ergänzung, Erweiterung, Ersetzung (Kultur, Gesellschaft, Psyche 9), Bochum 2017.

1Sabine Maasen / Jens Elberfeld / Pascal Eitler / Maik Tändler (Hg.), Das beratene Selbst. Zur Genealogie der Therapeutisierung in den „langen“ Siebzigern, Bielefeld 2011.

2Christopher Lasch, The Culture of Narcissism. American Life in an Age of Diminishing Expectations, London 1979; Richard Sennett, The Fall of Public Man, New York 1974.

3Nikolas Rose, Inventing our selves. Psychology, Power, and Personhood, Cambridge 1998.

4Frank Furedi, Therapy Culture. Cultivating Vulnerability in an Uncertain Age, London 2003.

5George H. Mead, Mind, Self & Society, Chicago 1934; Peter Berger / Thomas Luckmann, The social construction of society, New York 1966.

6Louis Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate. Anmerkungen für eine Untersuchung, in: ders., Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie (Positionen 3), Hamburg 1977, 108 –153; Lisa Pfahl / Lena Schürmann / Boris Traue, Subjektivierungsanalysen, in: Leila Akremi / Nina Baur / Hubert Knoblauch / Boris Traue (Hg.), Handbuch Interpretativ forschen, Weinheim 2018, 858 – 885.

7Erving Goffman, Das ärztliche Berufsmodell und die psychiatrische Hospitalisierung: Einige Bemerkungen zum Schicksal der helfenden Berufe, in: ders. (Hg.), Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt a. M. 1973.

8Boris Traue, Das Subjekt der Beratung, Bielefeld 2010.

9Michel Foucault, Geschichte der Gouvernementalität. 2 Bde., Frankfurt a. M. 2004.

10Boris Traue, Das Subjekt der Beratung, Bielefeld 2010, 111 ff.

11Talcott Parsons, The Social System, New York 1951.

12 Vgl. Martin Saar, Die Immanenz der Macht. Politische Theorie nach Spinoza, Berlin 2013; Katja Diefenbach, Spekulativer Materialismus. Spinoza in der postmarxistischen Philosophie, Wien 2017.

13Baruch de Spinoza, Ethica ordine geometrico demonstrata (1677), Hamburg 1999, Prop. VI., lat. „unaqaeque res, quantum in se est, in suo esse perseverare conatur“.

14 Ebd., E3, p. 3.

15 Ebd., E3 p. 11.

16Rainer Schützeichel / Thomas Brüsemeister (Hg.), Die beratene Gesellschaft. Zur gesellschaftlichen Bedeutung von Beratung, Wiesbaden 2004.; Boris Traue, Das Subjekt der Beratung (s. Anm. 10).

17Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit. Bd. 3: Die Sorge um sich, Frankfurt a. M. 1986.

18Josiah Royce, The Problem of Christianity. Bd. 2, New York 1913, 141.

19 Ebd., 218.

20 Ebd., 214 f. Diese Figur erinnert sehr an George H. Meads „generalisierten Dritten“.

21Boris Traue, Das Subjekt der Beratung (s. Anm. 10), 117 ff.

22 Ebd., 159.

23 Ebd., 216.

24 Ebd., 213.

25Richard Münch, Globale Dynamik, lokale Lebenswelten, Frankfurt a. M. 1998, 247.

Susanne Heine

Menschenbilder hinter der Psychologie

♦ Der Beitrag thematisiert aus einer anthropologischen Perspektive Menschenbilder, die hinter verschiedenen Schulen der Psychologie stehen. Es wird deutlich, wie voraussetzungsreich solche Menschenbilder sein können und wie sehr sie die jeweilige Psychologie prägen. Auch nicht-empirische Annahmen über „das Wesen des Menschen“ werden mitunter nicht benannt (oder erkannt) und müssen deshalb in einem anthropologischen Rekurs zunächst offengelegt werden. Erst dann kann ein Prozess der Reflexion und Diskussion zwischen Theologie und Psychologie sowie ein weiterführender Austausch der Erfahrungen in Therapie und Seelsorge gelingen. (Redaktion)

Die Psychologie ist als eine empirische Wissenschaft angetreten, die ab der Mitte des 19. Jahrhunderts begann, sich zu einer eigenständigen Disziplin zu entwickeln sowie um ihre universitäre Anerkennung zu kämpfen. Dazu war es notwendig, sich von Philosophie und Theologie loszusagen, da beide auf je ihre Weise von nicht-empirischen Voraussetzungen ausgehen, darunter von Anthropologien als Ideen über den Menschen. Schon Ende des 18. Jahrhunderts hatte Friedrich Gentz, ein Schüler und Kritiker Immanuel Kants, der Philosophie vorgeworfen, über die Realität hinwegzusehen und daher keine Relevanz für die Praxis zu haben. Deshalb bedürfe es der Kenntnis „menschlicher Fähigkeiten, Neigungen, Schwachheiten und Leidenschaften“ sowie des „Studiums der gesellschaftlichen Verhältnisse“1. In solcher Kritik liegen die Wurzeln der empirischen Wissenschaften wie der Psychologie und der Soziologie, die sich im Laufe der folgenden Jahrzehnte durchsetzen sollten.

1 Empirisches und seine Lücken

Empirische Wissenschaften gehen von der Erfahrung aus und machen die sinnlich wahrnehmbare Wirklichkeit zu ihrem Objekt durch Beobachtung: „Es ist unmöglich, durch reines Nachdenken und ohne eine empirische Kontrolle (mittels Beobachtungen) einen Aufschluß über die Beschaffenheit und über die Gesetze der wirklichen Welt zu gewinnen.“2 Die Voraussetzungen dafür waren und sind, von normativen, besonders von religiösen3 Voraussetzungen abzusehen, und sich des moralischen Urteils zu enthalten. Empirische Forschung hat mit den Naturwissenschaften begonnen, dann folgte die Anwendung auf andere Gebiete, in der Psychologie auf das innere menschliche Seelenleben, um dessen Funktionsweisen zu erforschen.

Die Psychologie steht freilich vor einer besonderen Schwierigkeit, denn das menschliche Innenleben lässt sich nicht direkt beobachten. Daher wurden empirische Verfahren entwickelt, um Dimensionen wie Gefühle, Vorstellungen, Praktiken oder Kognitionsprozesse zu erheben, zu beschreiben und einen Zusammenhang zwischen ihnen herzustellen. Dies geschieht vor allem quantitativ durch Fragebögen oder qualitativ durch narrative Interviews.4