Punk - Eckhart Nickel - E-Book

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Eckhart Nickel

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Beschreibung

Karen sucht ein WG-Zimmer und landet in einer Band, von der nur der Name existiert. Mit PUNK wollen Lambert und Ezra beweisen, dass das immer noch geht: mit drei Akkorden ohne groß Aufhebens Musik machen und dabei eine coole Figur abgeben. Ein Wettbewerb steht an und Karen soll dem rauen Duo mit ihrer Kopfstimme intellektuellen Schliff verleihen. Lambert, klassischer Nerd, ist für technische Details zuständig, während der romantische Analogiker Ezra Original-Instrumente aus der Punk-Zeit beisteuert. Karen spielt keines davon, droht aber, mit ihrem Gefühlsüberschwang alles aus dem Konzept zu bringen. PUNK ist ihre persönliche Geschichte der Band, und noch nie wurde von den Verheißungen der Musik so unwiderstehlich erzählt. Ein Allheilmittel! »Nickel ist ein wortgewandter Fabulierer.« DLF

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Impressum ePUB

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© Piper Verlag GmbH, München 2024

Covergestaltung: zero-media.net, München

Coverabbildung: unter Verwendung des Gemäldes »The Sigh« von Karyn Lyons

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Zitate

1

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Kapitel-Playlist

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Widmung

Für Lola Jette und Susan Ann

Zitate

If you think the world is / A clutter of existence / Falling through the air / With minimal resistance / You could be right, how would I know? / Colossal youth is showing the way to go.

Young Marble Giants

Übrigens wirkt fast jede Musik erst von da an zauberhaft, wo wir aus ihr die Sprache der eigenen Vergangenheit reden hören.

Friedrich Nietzsche

The young need discipline and a full bookcase.

Vivienne Westwood

1

Brand-New-Life

Die ersten beiden Sätze waren perfekt gelungen. Gleich am Anfang des dritten aber begann es zu hapern. Obwohl das Motiv nur zweimal in leichter Variation wiederholt werden sollte, fing sie immer wieder von Neuem an. Sie schaffte einfach nicht den Sprung in den nächsten Takt, und ich begann zu zittern. Das Vorspiel war ausverkauft, und Kirsten durfte den Anfang machen mit Mozart, Klaviersonate Nr. 1 in C-Dur, Köchelverzeichnis 279.

Weil ich in der ersten Reihe saß, konnte ich mich schlecht umsehen, ob sich schon Unruhe auszubreiten begann. Ich starrte auf ihre fliegenden Hände, die mit gleichbleibender Perfektion den Beginn des Allegros in die Tasten hämmerten, aber immer an der gleichen Stelle kamen sie nicht weiter und begannen erneut von vorn wie eine Platte, die hängt.

Unsere Klavierlehrerin, Madame Framboisée, saß rechts, und ich versuchte unauffällig, zu ihr hinüberzuschauen. Kirsten hatte am Vorabend bis spät in die Nacht geübt, zuletzt in atemberaubendem Tempo und völlig fehlerlos, sodass alles auf einen großen Erfolg deutete. »Fast so schnell wie Glenn Gould«, hatte sie mich freudestrahlend angegrinst, bevor wir zu Bett gingen, »aber den hole ich morgen auch noch ein, versprochen.« Ihre feingliedrigen Hände in der Luft, unser High Five; Falcos »Rock Me Amadeus« aus den Boxen; wir stotterten Er-war-ein-Pun-ker-und-er-leb-te-in-der-gro-ßen-Stadt: All das schien mir jetzt ewig lang her zu sein, wie aus einem anderen, unerreichbar gewordenen Leben.

Die Klavierlehrerin hatte die Augen geschlossen. Ihr Mund, bei der feierlichen Ansprache der Jugendmusikschulleiterin noch fröhlich vor Aufregung bebend, war zu einem schmalen Strich verblasst. Plötzlich hörte die Musik ganz auf. Als ich mich wieder zu meiner Schwester drehte, war sie völlig in sich zusammengesunken, ihr Kinn berührte den Hals. Ein Schlag ließ alle wie aus hypnotischer Starre aufschrecken. Es war der Tastendeckel, den Kirsten mit Effet zugeklappt hatte. Sie drehte sich um und stand auf. Während sie mit erstaunlich klarer Stimme zu sprechen anhob, blickte Kirsten starr in den Lichtkegel über alle weg, nur am Schluss schlug sie die Augen kurz nieder, zu Madame Framboisée.

»Ich kann es nicht mehr. Das war’s. Tut mir leid. Entschuldigen Sie bitte, es hat nicht sollen sein. Sorry, Mozart, an dir hat’s nicht gelegen.« Dann verbeugte sie sich artig, bevor sie zur Seite abging.

Gespenstische Stille erfüllte den Saal, niemand traute sich, auch nur einen Finger zu rühren. Irgendwann aber begann wie bei einem dieser modernen Stücke, wenn das Publikum sich nicht ganz sicher ist, ob der letzte gewaltige Ton auch wirklich den Schluss der Partitur bedeutet, jemand weit hinten zaghaft zu klatschen. Der Applaus entwickelte sich erst zögerlich, wuchs aber bald zu einem immer stärker anschwellenden Tosen, das, wie ich eingetrübt durch meine Tränen sehen konnte, selbst unsere Klavierlehrerin nicht unbewegt zu lassen schien. Obwohl ihre Lider immer noch ruhten, begann sie langsam und beständig zu nicken. Wahrscheinlich aus Angst davor, was nach dem Klatschen kommen würde, hörte das Publikum lange nicht auf. Keiner wollte der Letzte sein, und so ging es immer wieder von vorne los, nur in ständig schwächer werdenden Wellen, bis es wirklich vorbei war.

Madame Framboisée erhob sich und ging getragenen Schrittes zum Pult mit Mikrofon, das auf ihrer Seite der Bühne stand. Sie richtete den Blick nach oben über die Menge hinweg, als könnten in einer derartig kompromittierenden Situation nur noch die Götter selbst als adäquate Ansprechpartner dienen. Ihre Stimme zitterte, der französisch eingefärbte Tonfall, der sonst eher streng klang wie die Betonung eines höfischen Rituals, wirkte nun trotz des sarkastischen Tons fast schon zerbrechlich: »Wir bleiben mit unserem nächsten Kandidaten nach Mozart, von dem man, wie sie ja sehen und hören durften, nie genug bekommen kann, direkt beim Thema: Erik ist nicht nur der Vorname des Schülers, nein, auch des Komponisten, den er uns vorstellt mit seinen Vexations, zu Deutsch in etwa Quälereien, ein Werk, dessen Motiv der endlosen Wiederholung und Variation schönste Erinnerungen an meine eigenen Klavierstunden weckt und als absolutes Meisterwerk, ja als Vorreiter der seriellen Musik gilt. Viel Vergnügen mit Satie!« Sie schaute fahrig in die Menge, als ob sie Ihren Schüler mitten im grellen Gegenlicht entdecken könnte. Ich fragte mich, ob sie schon vor dem Konzert zu trinken angefangen hatte.

Nach jeder Stunde geriet ich mit Kirsten tierisch aneinander, weil wir uns nie einig werden konnten, was sich hinter dem speziellen Odeur von Madame Framboisée verbarg. War es ein exklusives Eau de Parfum aus Paris, das sich einfach nur sehr unglücklich mischte mit ihrem Make-up, dessen Puder nach Moschus und Vanille duftete, dem kokoslastigen Haaröl ihrer Dauerwellen-Mähne und der Schweißbildung unter den Kunstfaser-Ärmeln ihrer schreibunten Blumenblusen, mit denen sie ihre Leibesfülle so elegant kaschierte? Oder stammte der alkoholische Geruch, der an vergessene lila Schulmatrizen erinnerte, doch direkt aus der Flasche Eau de Vie, die wie eine alte Ziervase ihren festen Platz auf dem Teetisch ihres Musikzimmers hatte, von wo aus sie uns ihre köstliche Infusion Verveine anreichte, wenn wir vom vielen Klavierüben durstig geworden waren?

Das Lebensunglück, nicht selbst die berühmte Pianistin geworden zu sein, die sie aus all ihren Schülerinnen machen wollte, stand unausgesprochen hinter ihrem brutalen Regime und den eingestreuten Ausbrüchen von Zärtlichkeit, wenn uns ein Stück ausnahmsweise gelungen war. Dann nahm sie beide Hände an den Mund und schleuderte uns schmatzend einen imaginären Kuss zu. »Exzellent, meine Täubschen!« Das »ch« im Deutschen hatte sie nie wirklich gemeistert. »Ganz ausgezeichnet. Genau so, wie ich es mir vorgestellt hatte in meinem Kopf.« Dann nahm sie ihren winzigen abgekauten weichen Bleistift zwischen die Zähne und spielte das Stück noch einmal genau so nach, wobei sie mit ihrer hellen Kopfstimme mitsummte.

Man konnte ihr trotz der schweren Stunden nie wirklich gram sein, weil sie in solchen glückvergessenen Momenten des Klavierspiels, zumeist Debussy, dessen Images sie über alle Maßen liebte, selbst wie ein Kind war, unschuldig und unangreifbar für den Rest der Welt in ihrer liebenswerten Überlegenheit. »Fast möchte ich sagen, es kommt alles auf die richtige Haltung an. Wie ihr sitzt, ist euer Spiel. Geradeaus und aufrecht wie die Linien des Notenblattes mit seinem Violinschlüssel davor.« Die Ratschläge, die sie wohlmeinend in Zeiten guter Laune gab, habe ich mir alle gemerkt, weil sie so klar und besonders waren wie ihre Handschrift, mit der sie unsere Übungspartituren vollkritzelte. Sie war ausgesprochen leserlich, aber mit hinreißenden Schnörkeln versehen, die ich bildlich als Zierrat ihres Wesens verstand, die barocken Verlustierungen einer gebeutelten Seele.

Am Abend des Vorspiels war sie jedenfalls in keiner guten Verfassung, die sich noch verschlechterte, als Erik Niehardt tatsächlich nicht im Saal aufzufinden war, sondern mehrfach ausgerufen und auch noch gesucht werden musste, weil er sich, wie ich erst später erfuhr, nach Kirstens jähem Abgang auf der Damentoilette verschanzt hatte. Als er dann endlich mit seiner dioptrienschweren Hornbrille und dem unvermeidlichen dunkelblauen Nicki unter Applaus des Publikums wie ein verschrecktes Tier von seiner um Contenance ringenden Mutter zur Bühne gebracht wurde, nutzte ich die allgemeine Aufregung, um aufzustehen und Kirsten zu suchen.

Hinterher ergab alles Sinn: der Umstand, dass mein Beitrag zum Abend, die späten Nocturnes von Chopin, wegen der Länge von Eriks Stück auf das nächste Frühjahrsvorspiel verschoben wurde, was mir völlig recht war, weil ich totales Lampenfieber hatte. Dann der Zeitpunkt des Abends genau am kalendarischen Herbstanfang, also Äquinoktium, dem fantastischen Phänomen der Tagundnachtgleiche, eine Zäsur von absolut astronomischen Ausmaßen. Auch so gesehen war es verständlich, dass Kirsten und ich uns auf der Holzbank im Park hinter der Musikschule ein für alle Mal gegenseitig schworen, nie wieder im Leben freiwillig aufzutreten. Wobei es ein Witz war, bei einem öffentlichen Foltergang dieser Art überhaupt von freiem Willen zu reden.

Ich hatte sie schnell gefunden, weil die Bank schon immer unser Treffpunkt war, wo wir nach dem Unterricht aufeinander warteten, wenn wir ausnahmsweise nicht bei Madame Framboisée zu Hause spielten. Von der leichten Anhöhe, hinter der ein kleineres Stück Laubwald begann, hatten wir einerseits einen perfekten Ausblick auf den gesamten Gebäudekomplex und konnten sofort sehen, wann immer sich jemand von dort dem »Berg«, wie er zwischen uns hieß, näherte. Andererseits lag die Bank im Schatten des umgebenden Hains, sodass wir sogar aus kürzester Entfernung kaum zu sehen waren und Spaziergänger selbst am helllichten Tag manchmal fast erschraken, wenn sie plötzlich zwei Silhouetten wie aus dem Nichts vor sich auftauchen sahen.

Von der konspirativen Bank aus, wie Kirsten sie nannte, weil wir hier immer die besten Gedanken hatten und alle wichtigen gemeinsamen Pläne für die Zukunft schmiedeten, hörten wir, wie Erik sich angestrengt durch die Vexations schleppte. Zuerst war ich absolut gebannt von seinem Spiel, weil er diesmal das Tempo so perfekt hinbekam, geradezu unheimlich abgeklärt. Genau très lent, wie Satie es wollte, der dem Klavierspieler für gewünschte 840 Wiederholungen absolute Stille als Vorbereitung anempfahl und ernsthafte Regungslosigkeit dazu. Madame hatte zum Glück die letzten Stellen vor dem Komma weggelassen und lediglich 8,4 Durchgänge verlangt.

Ganz anders als bei der Generalprobe, während der er wie ein verfolgter Dieb durch das mäandernde Stück geeilt war, was extra gemartert klang, weil es an sich ja immer noch unglaublich langsam war, aber mit vergeblicher Eile, wie jemand, der mit angeschossenem Bein zu rennen versucht und immer wieder einhalten muss, weil er nicht mehr weiterkann vor lauter Schmerzen. Die Ungeduld, nur rasch das Ende zu erreichen, wich jetzt in der Aufführung gelähmter Lethargie, vorbildlich werktreu, gewiss, aber vor allem ein Resultat seiner namenlosen Panik nach Kirstens Drop-out im Konzert. In diesem Moment wurde Erik zwar vor dem geschulten Ohr und Auge von Madame Framboisée endgültig zu ihrem einzigen Meisterschüler. Für uns aber verkörperte er von da an unweigerlich alles, was wir in der Musik nie sein oder werden wollten: gelehrige Interpreten der Werke anderer, die zwar durch die Leidenschaft, die wir für sie entwickelten, in uns schön fortlebten, auch mithilfe der Fantasie, mit der wir sie auszulegen verstanden. Was aber nie über die Abhängigkeit von den Genies der Vergangenheit hinwegtäuschen konnte.

Es war natürlich absolut unfair, eine unschuldige, am Ende gar ernsthaft tragische Existenz wie Erik als Fußabstreifer unserer arroganten Spießerverachtung zu missbrauchen, aber so waren wir als Schwestern eben, wenn wir gemeinsam an einem Strang zogen und uns der Tragweite unseres Tuns nicht bewusst waren. Kirsten sagte es auf der Bank: »Das Ideal ist der Anti-Erik, ein Mensch, der gar keine Ambitionen hat, nicht sklavisch in den Mustern anderer denkt und immer selbst entscheidet, was gut für ihn ist und was nicht. Unabhängig, überlegen, smart und furchtlos.«

Als schon fast alles Licht geschwunden war und wir bald völlig im Dunkel saßen und noch dazu die Kälte vom Boden aus in unsere Beine zu kriechen begann, fragte ich, ob ihr das auf der Bühne vorher schon mal in irgendeiner Form passiert war.

»Das ist der Punkt, Karen. Ab-so-lut nie. Ich bin kein einziges Mal vorher an der Stelle hängen geblieben. Deswegen war ich ja auch so verzweifelt und habe immer wieder versucht, weiterzuspielen. Es war so, als ob meine Hände gar nicht mehr zu mir gehörten und irgendjemand anderes spielte. Kennst du das Gefühl? Okay, Schwesterherz, großes Geheimnis, totales herkos odontōn. Bitte kein Wort zu niemand. Stumm wie ein Grab.«

Wir hatten uns vor einiger Zeit diese Macke von Schulze und Schultze, den Detektivzwillingen aus Tim und Struppi, angeeignet, bei der einer jeweils das, was der andere sagt, wiederholt, aber falsch und lustig.

»Dumm wie das Gras«, sagte ich also wie aus der Pistole geschossen. Und Kirsten begann unkontrolliert zu kichern.

»Genau, und sogar in jeder Hinsicht. Ich habe nämlich neulich mit diesem Typ aus dem Leistungskurs, von dem ich dir erzählt habe, das erste Mal gekifft.«

Ich konnte es nicht fassen. »Was, du hast echt Gras geraucht?«

Kirsten schüttelte den Kopf und rang nach Luft, immer noch außer sich vor Lachen.

»Nein, lass mich erklären. Emil hat doch so einen komischen Hippie-Onkel auf dem Land, der baut das in seinem Garten an, und da hat er sich neulich auf Besuch einfach heimlich was abgemacht.«

Kirsten, die unter ihrem Dufflecoat immer noch das Kostüm vom Vorspiel mit dem dünnen Faltenrock trug, zog die Beine zu sich heran und schlang ihre Arme um die Knie.

»Jedenfalls hatte ich da auch irgendwann den Eindruck, als ob meine Hände irre groß wären, fremde Wesen, die man nicht versteht, weil sie so Sachen machen, mit denen man gar nichts zu tun hat.«

Das Kichern ging wieder von vorne los, noch schlimmer als vorher. Plötzlich war ich extrem traurig, weil ich gerade noch das Gefühl gehabt hatte, dass wir uns irgendwie über das Malheur bei dem Konzert wieder nähergekommen waren. Aber jetzt war Kirsten wieder ganz die Alte, voller Geheimnisse, die sie nur teilt, wenn sie muss oder will, und nicht, weil es eben unser Schicksal ist, unzertrennlich zu sein und für immer zusammenzugehören.

»Aber du hast jetzt nicht allen Ernstes vor dem Konzert gekifft, oder?« Eigentlich wollte ich natürlich nur wissen, ob sie was mit Emil hatte, aber sie sollte auf keinen Fall denken, dass ich wegen ihm in irgendeiner Weise eifersüchtig war.

»Spinnst du, natürlich nicht. Kann ich mir nicht im Traum vorstellen, wie das funktionieren soll. Was ich damit nur sagen wollte, ist, dass mir das Gefühl, meine Hände würden nicht mehr zu mir gehören, an sich nicht fremd war. Aber irgendwie war es gleichzeitig auch wie ein Tick, so eine zwanghafte Handlung, die man einfach nicht unterdrücken kann. Ich bin fast automatisch immer wieder zu dem ersten Takt im Allegro zurückgesprungen, weißt du, wie verrückt das ist? Hast du schon mal über Aliens nachgedacht, jetzt lach nicht gleich, ich meine es wirklich ernst!«

In dem Moment begann ich mir ernsthaft Sorgen zu machen um Kirsten. Aber ich wollte es mir nicht anmerken lassen, also drängte ich zum Aufbruch.

»Ehrlich gesagt nein, außer nach dem Film natürlich. Den haben wir doch damals zusammen gesehen, im Nachmittagskino am Sonntag im Zoo. Nach Planet der Affen, oder? Wenn ich nur an die schleimigen Monster denke, schüttelt’s mich. Apropos, mir ist echt saukalt, wollen wir gehen? Erik müsste inzwischen in der allerletzten Runde Qualen sein, der Arme. Und ich will auf jeden Fall hier weg, bevor sie alle für die Pause nach draußen kommen.«

Kirsten stand betont langsam auf, als müsste sie sich erst einmal ausgiebig strecken, trat dann direkt auf mich zu und umarmte mich überraschend innig und lang.

»Ach. Wenn ich dich nicht hätte, ich wüsste wirklich nicht, was ich machen würde. Danke, dass du immer für mich da bist, wenn ich dich brauche.«

Dann drückte sie mich noch mal besonders fest, und ich drückte zurück.

»Ist doch klar.«

Sie schüttelte spürbar empört ihren Kopf.

»Gar nicht klar. Ich weiß, dass du normalerweise, um Madame Framboisée nicht komplett zu enttäuschen, im Saal geblieben wärst. Sei ehrlich!«

Ich löste mich sanft aus der Umarmung, nahm ihr kaltes Gesicht in meine beiden Hände und schaute ihr direkt in die Augen: »Ich liebe dich, Kirsten. Du bist doch mein Lebensmensch. Wir gegen alle. KK: wie immer, für immer. Versprich mir nur bitte, dass du auf dich aufpasst. Ich mach mir echt Sorgen.«

Sie lächelte mit zusammengepressten Lippen und blies erleichtert Luft durch ihre Nase.

»Danke, Schwesterschatz. War einfach alles zu viel für mich. Morgen ist ein völlig neuer Tag. Und heute wird endlich gestern, zum Glück!«

Wie recht sie damit hatte, konnte keiner von uns beiden wissen, denn am nächsten Morgen war die Welt nicht mehr wie zuvor und noch dazu alles andere als in Ordnung. Und dass ich mich ausgerechnet heute, Jahre später, an diesen Tag erinnere, hat nicht nur damit zu tun, dass wieder Äquinoktium ist, aber statt dem Herbst der Frühling beginnt, wir also auf dem Weg ins Licht sind, was ich als gutes Omen für das Vorstellungsgespräch in der Wohnung empfand. Der Beginn der kürzeren Tage und der dunklen Jahreszeit im Allgemeinen hätte kaum noch all der Zeichen bedurft, die damals wie gesagt zusammenkamen: Kirstens Scheitern und die Aliens, Eriks maßlose Furcht, mein »verschobener, nicht aufgehobener« Chopin. Denn an diesem nächsten Tag erschien zum ersten Mal ein Phänomen, das nach und nach alles ersetzt hat, was wir vorher unter Musik verstanden haben, und noch einiges andere mehr: DERWEISSELÄRM.

2

Karen

Ganz harte Tür. Drei Worte, die nicht aufhören, in meinen Ohren zu klingen. Anna wiederholt sie unentwegt, ihr neues Mantra, denke ich.

»Gaanz harte Tür!«, sagt sie sofort noch mal, aber viel lauter, als würde ich sie nicht richtig hören. »Ach, Liebs, du kannst es eigentlich gleich vergessen.«

Unfassbar, was für ein Bohei um dieses Zimmer gemacht wird. Warum ist mir die ganze Geschichte mit dem Vorspiel-Trauma von Kirsten ausgerechnet in diesem Moment wieder eingefallen? Vielleicht, weil Anna genau das Gegenteil von alldem ist. Mit ihr zusammen ist schon ein ganz normaler Girlstalk wie Musik. Und das vorlaute Geräusch von ganz oben? Kann man bei ihr wenigstens kurz vergessen. Stille, Harmonie und unsere perfekt wie ein Medikament eingestellte Welt? Keine Spur davon in ihrer Anwesenheit.

Ich schüttele den Kopf, dabei will ich ihre Warnung gar nicht in den Wind schlagen. Aber im selben Moment ahne ich, dass sie diese Geste sofort falsch versteht. Und bei Anna, meiner neuen besten Freundin, irre ich mich schon jetzt trotz der kurzen Zeit, die wir uns kennen, so gut wie nie.

Und, siehe da, sie fixiert mich mit aufgerissenen Augen: »Gaaanz harte Tür! Glaub’s mir, bitte. Eine Festung. Uneinnehmbar. Wie früher so ein It-Club, in den keiner reinkam, ohne den fiesen Türsteher zu kennen. Ach. Iwo, Quatsch. Nicht mal dann, weil der natürlich immer so tat, als ob er sich nie an irgendjemand erinnern konnte.«

Anna imitiert seine Pose gleich, nimmt ihr Kinn in die Hand und legt dazu die Stirn in Falten.

»Keine Ahnung, was in die fiesen Brüder gefahren ist, aber sie haben sich anscheinend eingeredet, dass alle Mädchen dieser Stadt nur diesen einen Traum haben: bei zwei so weirden Spacken einzuziehen.«

Anna echauffiert sich gern, und sie sieht ausgesprochen gut dabei aus, weil dann ihre Wangen so schön rot werden, als wäre sie gerade in der Kälte laufen gewesen.

»Ich meine, ich habe jetzt drei beste Freundinnen wegen akutem Wohnungsbedarf dahin geschickt, und jedes Mal das Gleiche. Alle sind sie hinterher heulend bei mir angerannt gekommen. Wenn du mich fragst: Lass es sein. Erspar dir das Drama. Hör doch mal genau hin: Die Spatzen pfeifen es schon von den Dächern, dass nie irgendjemand in diese ach so schöne, tolle Altbauwohnung einziehen wird. Und was heißt schon toll? Ganz schön heruntergekommen soll die Bude sein, richtig asselig und eklig.« Sie reißt wieder wild die Augen auf und verzieht ihren Mund zur Schnute wie eine Comicfigur. »Jetzt mal echt: Du würdest dich da nie wohlfühlen mit deinem unerträglich guten Geschmack. Grins.«

 

Ich mag Anna sehr, weil sie einerseits Miss Bossy Pants ist und mit ihrer ohnehin tiefen und chronisch aufgerauten Stimme die leicht komische Präsenz eines angeschlagenen Feldwebels besitzt. Auf der anderen Seite aber so unbedingt den »Allerliebsties« zugetan, wie sie die täglich größer werdende Schar ihrer girlfriends nennt, dass man ihr das Kommando eigentlich sofort und mit Kusshand überlässt, wenn es um Kaffeetrinken, Ausgehen oder andere Aktivitäten außerhalb der Uni geht. Sie trägt Lidschatten extrem, und ihr auffälligster Tick besteht im schnellsten Wimperklimpern, das ich je gesehen habe. Zuerst dachte ich, es sei nur einer dieser Tricks, um Jungs, die ihr für irgendetwas nützlich zu sein scheinen, von sich einzunehmen. Aber dann merkte ich, dass sie es mit mir genauso machte. Und zwar immer mit diesem neckischen Blick von unten, während sie langsam eine besonders lange Strähne ihrer verstrubbelten Frisur um den Zeigefinger wickelt. Dann lacht sie laut auf, und ich staune, was für einen großen Mund sie hat und wie perfekt ihre weißen Zähne sind. Ich frage mich, ob sie gemacht sind und wenn ja, wie viel sie dafür bezahlt hat, traue mich aber nicht, sie darauf anzusprechen, weil ich befürchte, sie könnte das falsch verstehen. Sie sehen so gut und gerade aus, dass ich, wenn ich mit ihr rede, gar nicht woanders hinschauen kann, ich muss mich fast dazu zwingen, meinen Blick auf ihre Augen zu richten. Schließlich will ich ihr ja das Gefühl geben, mich ganz auf sie einzulassen, wenn sie mit mir redet, um tief »in ihre Seele einzutauchen«. Noch so ein Begriff von ihr, den ich vorher noch nie gehört habe.

Ich kenne Anna zwar erst seit ein paar Wochen, weil sie die Einzige war, die beim Einzug ins Wohnheim gleich mit mir geredet und mit den entscheidenden Sachen geholfen hat (Wo steht die Waschmaschine? Was ist die beste Zeit im Bad morgens? Wie bediene ich die Kaffeemaschine? Und so weiter!), aber sie ist in kürzester Zeit auch gleich so etwas wie meine beste Freundin geworden. Halt, fast noch mehr. Wie heißt es manchmal so kitschig? Anna ist die Schwester, die ich nie hatte, aber gern gehabt hätte. Und ich darf das sagen, weil ich ja sogar eine habe – mein Zwilling für immer –, die aber immer noch zu nichts zu gebrauchen ist. Da hat sich seit dem Vorspiel nicht wirklich was getan.

 

Kirsten! Ich meine, hallo? Mussten Mama und Papa uns als Zwillingen wirklich so ähnliche Namen geben? Bis in die Pubertät waren wir ohnehin kaum zu unterscheiden. Wie oft habe ich nachts im Bett gelegen und Stoßgebete gen Himmel geschickt, ich möge am nächsten Morgen bitte ganz normal aufwachen, aber mit anderem Vornamen. Charlotte vielleicht. Oder Sophie, Nina, irgendwas. Nur nicht Karen, »die ist wie Kirsten mit a, nur ohne ist«, hahaha. Was haben die in der Schule gelacht, wann immer unsere Lehrerin das gesagt hat. Wenn sie wüssten, wie nah dran diese absurde Beschreibung war, hätten sie vielleicht noch mehr gelacht. Oder das Lachen wäre ihnen im Hals stecken geblieben, hätten sie nur einen Moment in meiner Haut gesteckt. Kirsten, die Schöne. Die immer die coolsten Jungs um sich hatte und freie Auswahl, mit wem sie gerade zusammen sein wollte. Kirsten, die Faule. Die nie lernen musste, um gute Noten zu schreiben. Kirsten, die Gnadenlose. Die ohne jede Hemmung ihre Launen an mir ausließ: »Ich werde immer eine halbe Stunde länger als du auf der Welt sein, das holst du nie mehr ein. Ätschi! Dafür holst du mir jetzt ein Eis!« Kirsten, die Genervte. Die schon morgens mit Kaugummi im Mund aufwacht und nun seit neunzehn Jahren dauerfluchend und dauervergeblich versucht, halbwegs ordentliche Bubbles hinzubekommen. Trotzdem wird sie immer mein Allerliebstie sein, wie Anna.

Anna ist zwar ganz anders, aber wenn sie Kirsten einmal richtig kennenlernen würde, wäre sie vielleicht sogar noch besser mit ihr befreundet als mit mir. Aber das ist totaler Unsinn, den ich mir sicher nur einbilde, wegen meinem »mangelnden Selbstwertgefühl«.