Querbrater - Rupert Schöttle - E-Book

Querbrater E-Book

Rupert Schöttle

4,8

Beschreibung

Die Wiener Chefinspektoren Kajetan Vogel und Alfons Walz übernehmen den ungeklärten Mord an einer Dolmetscherin, die sich kurz vor ihrem Tod mit einigen Männern aus einer Online-Seitensprungagentur getroffen hatte. Während sich der leidenschaftliche Fremdgeher Vogel mit Begeisterung den Unwägbarkeiten einer Mitgliedschaft aussetzt und dabei überraschende Erkenntnisse gewinnt, sucht Walz in der persönlichen Umgebung des Mordopfers nach dem Mann, der Brigitte Neuberger den finalen Besuch abgestattet hatte.

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Rupert Schöttle

Querbrater

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2015 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Benjamin Arnold

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © shot99 / photocase.de

ISBN 978-3-8392-4650-4

Widmung

Für Karin und Mariam

Prolog

Warum nur hatte er dieser Versuchung nachgegeben?

Sein bisheriges Leben war doch im Großen und Ganzen in ordentlichen Bahnen verlaufen.

Natürlich hätte es in mancherlei Hinsicht Verbesserungsbedarf gegeben. Aber seine Ehe war nicht weniger harmonisch als der Großteil anderer so genannter »glücklicher« Ehen nach 20 Jahren, in deren Verlauf man immerhin so viel zusammen aufgebaut hatte, dass die gemeinsam gesetzten Ziele allesamt erreicht worden waren: Ein schönes Haus am Stadtrand, zwei wohlgeratene Kinder und keinerlei finanzielle Sorgen.

Was war ihm da nur eingefallen?

Wie ein pubertierender Jüngling, der verschämt um einen Sexshop herumstreicht, hatte er sich der Versuchung hingegeben!

Dabei wäre es in seiner Position und bei seinem Äußeren ein Leichtes gewesen, dieses Bedürfnis auf elegantere Art und Weise zu lösen. Zumal seine beiden Töchter, 16 und 18 Jahre alt, unterdessen aus dem Ärgsten raus waren, und seine Frau ihm genügend Raum für seine Freizeitbeschäftigungen zugestand.

Aber nein, bequem wollte er es sich machen, gemütlich von zu Hause aus, ohne seinen Arsch aus dem Sessel heben zu müssen.

Schuld daran war allein das miserable Zeitmanagement seiner Zahnärztin gewesen, die ihn wieder einmal viel zu lange warten ließ. Nur deshalb war er überhaupt auf ein Wochenmagazin aufmerksam geworden, dessen Lektüre nicht zu seinen Gewohnheiten zählte. Und was passierte? Eine reißerisch aufgemachte Titelstory und sein bislang geruhsames Leben wurde völlig aus den Angeln gehoben.

Dabei hätte er es doch besser wissen müssen, zumal das Magazin bei solchen Themen üblicherweise jeglicher Seriosität entbehrte.

Trotzdem eilte er unmittelbar nach der Behandlung in die nächste Trafik, um sich ein eigenes Exemplar zu besorgen, das er sorgsam vor seiner Frau verborgen hielt, um sich dann, nachdem sie zu Bett gegangen war, eingehender damit zu befassen. Tatsächlich kamen in dem Artikel paarungswillige Damen und Herren in eindrucksvoller Weise zu Wort, die sich dank der Kontakte, die sie auf der Domain schaudochmal.at gefunden hatten, glücklich durchs Leben rammelten.

Und er glaubte das auch noch.

Das gewisse Prickeln, das jedes Mal einsetzte, bevor er in verbotene sexuelle Gefilde eintrat, befiel ihn schon, als er sich an den Computer setzte, um sich einfach einmal in diesem Klub umzusehen. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis eine eigentlich viel zu junge Frau Kontakt zu ihm aufnahm und sich durch ein symbolisches Herz sogleich als seine Verehrerin ausgab, obwohl er noch gar nichts von sich preisgegeben hatte. Noch in derselben Minute sendete sie ihm darüber hinaus eine Nachricht, in der sie bekundete, ihn »kennenlernen zu wollen«. Garniert war das Ganze mit einem durchaus reizvollen Bild ihres Hinterteils, das von einem String-Tanga mehr betont als verhüllt wurde.

Entgegen jeglicher Vernunft verstärkte sich das Prickeln spürbar.

Da der Kontakt jedoch erst durch die Anmeldung und Zahlung eines gar nicht so unbedeutenden Beitrags ermöglicht wurde, drückte er den Knopf, der ihm, nach genauer Abfrage seiner Kreditkartendaten, den Eintritt in diese neue Welt gestattete.

Diese Dame, dessen war er sich inzwischen gewiss, war natürlich ein Lockvogel gewesen, auf den er, ungeachtet seiner üblichen Vorsicht mit solchen Dingen, sofort herein­fiel. Klarerweise hörte er niemals mehr etwas von ihr. Tja, das passierte eben, wenn das Blut im Hirn fehlte, weil es gerade andernorts dringender benötigt wurde.

Da er jetzt nun einmal Mitglied geworden war, füllte er sorgfältig sein Profil aus, mit besonderem Schwerpunkt auf die sexuellen Vorlieben, die auch Gebiete umfassten, von denen er bislang gedacht hatte, dass sie nur spezialisierten Randgruppen vertraut waren. Doch glücklicherweise war auch ein Glossar angeführt, in dem er etwa die genaue Bedeutung von BDSM erfuhr, einer Praxis, die ihm bislang als Sado-Masochismus bekannt war. Diese klickte er nicht an, ebenso wenig wie Intim-Piercing, was ihn regelrecht abstieß, oder Fisting, bei dem der männliche Sexualpartner anstelle seines Geschlechtsteiles eine Faust in den Unterleib seiner Gespielin schob, ganz zu schweigen von Kaviar, das laut Glossar die menschlichen Exkremente zur Luststeigerung benutzte. Schon der Gedanke an die damit verbundene Geruchsentwicklung ließ ihn doch bedenklich schlucken.

Das Prickeln zeigte sich selbst davon völlig unbeeindruckt.

Und verstärkte sich beträchtlich, als nach kurzer Zeit 25 Kontaktvorschläge in seiner Mailbox einlangten, die nach Übereinstimmungspunkten bezüglich der Figur, dem Alter und der sexuellen Vorlieben gestaffelt waren.

Es war nicht unbedingt das Schlimmste daran, dass er seine sexuellen Vorlieben dem Forum preisgegeben hatte – immerhin hatte er ja einen Decknamen gewählt – aber seitdem er Mitglied in diesem Klub war, betrachtete er die Frauen mit ganz anderen Augen. War dieses Mädchen, das ihn vielleicht gerade anlächelte, auch Mitglied bei schaudochmal und verbrachte seine Freizeit damit, sich von einem ihr bislang unbekannten Mann lustvoll die Faust in den Unterleib rammen zu lassen?

Seine Sicht auf die Frauen war eine andere geworden.

Das Virus hatte ihn gepackt.

So schaute er jede freie Minute auf seinem Smartphone nach, ob ihm vielleicht nicht doch eine Dame eine Nachricht hinterlassen hatte. Denn Mitglieder des weiblichen Geschlechts mit seinen Vorlieben gab es anscheinend genug, schließlich hatte ihm der Anbieter ausreichend Angebote unterbreitet, die seinen Vorgaben in vielen Punkten entsprachen.

Theoretisch jedenfalls.

Anfangs hatte er sich noch den Empfehlungen des Portals gebeugt und die Aspirantin ausgesucht, die die höchste Anzahl an »Übereinstimmungspunkten« vorwies, die von der Agentur nach einer vollmundig gepriesenen »anerkannten wissenschaftlichen Methode« aufgrund ihrer Profile errechnet worden waren.

Genüsslich schrieb er ihr einen, wie er meinte, raffinierten Brief, der sich mitnichten an die vorgegebenen Textbausteine hielt, in denen die potenzielle Partnerin nach ihren erotischen Fantasien befragt wurde oder schildern sollte, ob sie es schon einmal mit einem wildfremden Mann getrieben habe.

Das schien ihm doch zu platt und seinen Ansprüchen nicht angemessen.

Also verfasste er einen mit Anspielungen gespickten Text, in dem er gerade so viel von sich preisgab, dass seine Identität geschützt blieb. Immerhin verfügte er als alteingesessener praktischer Arzt über eine Vielzahl von Klienten. Alleine der Gedanke, eine Patientin erotisch zu umwerben, die sich tags zuvor vertrauensvoll bei ihm über die sexuellen Unzulänglichkeiten ihres Mannes beklagt hatte, war für ihn schwer vorstellbar. Auch aus diesem Grunde missachtete er die Empfehlung der Agentur und fügte seinem Profil kein persönliches Foto bei.

Doch der ach so liebevoll verfasste Brief blieb trotz all seiner Kunstfertigkeit unbeantwortet.

Anstatt einzusehen, dass ein solches Portal seinen Ansprüchen eben nicht genügen konnte, schrieb er die nächstgereihte Dame an. Diesmal verwendete er keine so große Mühe darauf, sondern offenbarte reichlich unverblümt seine erotischen Avancen, schließlich wollte er wirklich nicht mehr als einen Seitensprung oder höchstens eine lose Bettbeziehung. Seine Ehe wollte er keinesfalls gefährden, denn er liebte seine Frau noch immer, wenn sich auch ihre Beziehung in den letzten Jahren mehr und mehr zu einem platonischen Beisammensein entwickelt hatte.

Auch diese Nachricht blieb ohne Reaktion.

Doch anstatt nun endlich seine Lehre daraus zu ziehen, machte er es sich zur Gewohnheit, jeden Abend eine andere Dame anzuschreiben, stets in variierendem Stil und Inhalt, um seine Wirksamkeit zu erproben.

Als all seine dichterischen Ergüsse unbeachtet blieben, streifte ihn der Gedanke, möglicherweise auf einem falschen Portal gelandet zu sein.

So schaute er sich im Netz andere Anbieter solcher Agenturen an und suchte schließlich eine aus, die ihm seriös genug erschien. Auch dieses Mal wollte er zunächst nur einen unverbindlichen Blick hineinwerfen.

Die dort vorgestellten Damen hielten sich mit der Preisgabe ihrer sexuellen Vorlieben doch eher zurück und gaben allenfalls an, »ein wenig versaut« zu sein, was ihm, Kavalier der alten Schule, auch angemessener schien, als etwa eine zu deutliche Leidenschaft für einen Ring durch die Eichel, der übrigens, wie er herausgefunden hatte, Prince Albert hieß. Dem armen Prinzgemahl von Queen Victoria wurde doch tatsächlich unterstellt, sich einen Ring durch die Eichel gezogen und sein bestes Stück mithilfe einer Kette durch die Beine nach hinten hochgebunden zu haben, damit seine Untertanen nicht den Abdrücken des prinzlichen Gemächts ansichtig wurden, wenn er als Oberbefehlshaber des Heeres in engen Breeches vor ihnen stand.

Wie auch immer, diese Website schien ihm doch gleich sympathischer zu sein, und da ihn schon wieder so ein Prickeln befiel, beschloss er kurzerhand, das heißt mit einem kurzen Mausklick, auch diesem Klub beizutreten. Nachdem er wiederum Angaben zu seinem Geburtsjahr und seiner Gestalt eingegeben hatte, erschien ein Fragebogen, auf dem er vermerken konnte, wie seine Wunschfrau beschaffen sein sollte.

Kaum hatte er seine Zahlung geleistet, als schon 50 Frauenprofile auf seinem Rechner erschienen, die offenbar allesamt nur darauf gewartet hatten, dass er endlich diesem Verein beitrat.

Und tatsächlich – bereits nach einem Tag meldete sich die erste Dame bei ihm.

Die Absenderin, eine Lady 1972, schrieb ihm, dass sie »ein kleines Experiment mache«, und »anstatt auf Männer zu warten«, die sie anschreiben würden, wolle sie »zum ersten Mal in ihrem Leben selbst die Jägerin sein«.

Mit der Aufforderung, etwas von sich zu erzählen, endete die kurze Mitteilung.

Der Anschaulichkeit halber hatte sie ein Bild von sich mitgesendet, das ihm durchaus zusagte. Lady war offensichtlich eine sehr gepflegte etwa 40-jährige Dame mit blonder Löwenmähne, die eigentlich nicht ganz seinem Beuteschema entsprach. Diese kleine Unzulänglichkeit trat jedoch in den Hintergrund, war er doch höchst erfreut darüber, nach so vielen vergeblichen Versuchen endlich einmal angeschrieben worden zu sein.

Mit ihrer Mitteilung konnte er sich identifizieren, schrieb darüber, dass die Götter der Jagd sowohl bei den Griechen wie auch bei den Römern stets weiblich gewesen seien, und sie sich darüber also keineswegs zu grämen brauche, da die Frauen ohnehin das stärkere Geschlecht wären und so fort.

Doch auf Frauenversteher war die Lady offensichtlich nicht aus, daher blieb seine Mühe unbelohnt und der kunstvolle Brief ohne Antwort.

Die nächste Nachricht kam bereits am folgenden Tag, leider jedoch nicht von der so hochgeistig umworbenen Lady 1972, sondern von einer Helena, die ihn damit lockte, dass sie selbst »nicht ganz glauben konnte, dass sie sich hier eingeklinkt hatte« und ihn ebenfalls dazu aufforderte, etwas von sich zu erzählen.

Auch sie hatte ein Bild mitgeschickt, das eine asiatisch aussehende Dame von Anfang 30 zeigte.

Obwohl auch sie nicht unbedingt zu dem Typ Frau gehörte, der ihn unmittelbar ansprach, sandte er ihr eine Nachricht zu.

In diesem Falle wollte er sich nicht so intellektuell geben. Ganz davon abgesehen, dass sie möglicherweise des Deutschen nicht allzu mächtig war, interessierte sich die Dame wahrscheinlich nicht deshalb für ihn, dass er seinen Geist versprühte. So schrieb er gerade heraus, was ihn in erster Linie dazu bewog, sie treffen zu wollen und gab gleich die Abende der nächsten Woche an, an denen er frei war.

Leider war auch dieser Vorgang nicht vom Glück begünstigt, denn auch von ihr hörte er nichts mehr.

Etwas frustriert von seinen sinnlosen Versuchen sah er sich weiter im Netz um und stieß auf eine Website, die von den Kunden dieser Agentur eingerichtet worden war. Darin beschwerten sich zahlreiche Geschlechtsgenossen über die »reine Abzocke«, die auf diesem Portal stattfände. Viele zweifelten überhaupt daran, es dort mit realen Menschen zu tun zu haben.

Das gab ihm zu denken.

Sollte er seine wertvollen Abendstunden tatsächlich damit vergeudet haben, irgendwelchen Phantomen hinterherzujagen oder waren diese Beiträge nur von den Männern verfasst worden, die nicht zum Zug gekommen waren?

Zur Sicherheit beschloss er, sich fortan des Zwinkerns zu bedienen, das das Portal den Männern anbot, die ihr Interesse an einer der Damen ohne große Umstände bekunden wollten.

Und tatsächlich brachte dieser völlig unverbindliche Werbungsversuch gleich am nächsten Tag den gewünschten Erfolg. Eine, den Bildern nach zu schließen, außerordentlich attraktive junge Dame äußerte in ihrem Brief, der in etwas holprigem Deutsch abgefasst war, Interesse an einem Treffen mit ihm, falls ihr das Foto zusagen sollte, das sie ihn zu schicken bat.

Das Schreiben ließ keinen Zweifel daran erkennen, was die Dame dazu bewog, den Kontakt mit ihm aufzunehmen, war doch eines ihrer Fotos alleine ihren nackten Brüsten gewidmet, die in ihrer üppigen, der Gravitation fast gänzlich trotzenden Pracht den unvorbereiteten Betrachter zu einem erstaunten Ausruf bewegen mussten.

Doch dabei blieb es naturgemäß nicht.

Sogleich schrieb er ihr zurück, legte dem Mail ein schmeichelhaftes Bild von sich bei und gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass sie ihrerseits auch Gefallen an ihm fände. Er jedenfalls wolle sie sehr gerne kennenlernen.

Er hielt diesen Brief bewusst kurz und bemühte sich um eine einfache Ausdrucksweise, um jeglichem Missverständnis vorzubeugen.

Die Antwort kam binnen Minutenfrist.

Ja, auch ihr gefalle sein Bild sehr, schrieb sie zurück, wann er sie denn zu sehen wünsche.

Man einigte sich auf den folgenden Mittwochnachmittag, wobei sie den Treffpunkt vorschlug, ein kleines Café im 7. Wiener Gemeindebezirk, das auch ihm bekannt war und den unbestreitbaren Vorteil in sich trug, dass es von außen nur schwer einzusehen war.

An diesem Mittwochnachmittag sollte sich sein Leben ändern.

1.Kapitel (Dienstag, 14. November)

Selbst seine obligate Morgenpfeife wollte ihm heute nicht schmecken.

Ungehalten trommelte Chefinspektor Kajetan Vogel mit den Fingern seiner rechten Hand an die Fensterscheibe seines Büros, das sich im dritten Stock des Polizeikommissariats Josefstadt befand. Missmutig betrachtete er die trostlosen, regennassen Fassaden der gegenüberliegenden Häuser, während sein langjähriger Kollege Alfons Walz, mit welchem er sich das Dienstzimmer teilte, am Computer saß und sich mit dem Verfassen eines »leicht« geschönten Berichts über ihren letzten Fall redlich abmühte, was unschwer an dem gelegentlichen Klappern der Tastatur und den wiederholten, leisen Flüchen zu erkennen war.

Dass sie ausgerechnet jetzt, gerade zu Chefinspektoren ernannt, in ihrem ersten Fall gescheitert waren, ärgerte die Kriminalisten in höchstem Maße. Zwar war diese schon längst fällige Beförderung nicht ihren Verdiensten geschuldet gewesen, sondern lediglich zwei zufällig frei gewordenen Planstellen, dennoch hätten sie diese Sache nur allzu gerne zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht.

Was ja im Grunde genommen auch schon geschehen war.

Der Sachverhalt war ganz offensichtlich gewesen, die beiden Zeugen waren einvernommen worden und hatten übereinstimmende Aussagen getroffen, kurz, die Beweislage gegen den Übeltäter war erdrückend, und so war einem erfolgreichen Abschluss eigentlich nichts mehr im Wege gestanden.

Doch just in dem Moment, als alles geklärt schien, waren die Kriminalisten von ihrem Vorgesetzten von diesem eigentlich völlig harmlosen Fall ohne nähere Erklärungen abgezogen worden.

Aus gutem Grund, wie sich bald herausstellen sollte.

Dabei hatte das Ganze ursprünglich nach einer reinen Routinesache ausgesehen.

Im Maurer Wald hatte ein Jäger namens Maximilian Huber am vorletzten Sonntagnachmittag, ohne dass sich das Tier etwas hatte zuschulden kommen lassen, einen frei laufenden Hund erschossen. Als Besitzer eines jagdfreudigen Greyhounds verstand Vogel den verzweifelten Hundebesitzer Herbert Mühlbacher nur allzu gut, der sich nach dem Vorfall mit dem Jäger ein erhitztes Wortgefecht geliefert und ihn in Folge als »schießwütiges Arschloch‹«und »besoffenen Idioten« tituliert hatte. Huber fühlte sich daraufhin nicht nur in seiner Waidmannsehre, sondern auch in seiner Existenz bedroht und hielt seinen rasenden Widerpart mit angelegtem Gewehr in Schach. Das Ganze wurde letztlich von zwei Polizisten beigelegt, die von Passanten zu Hilfe gerufen worden waren, als sie das brisante Geschehen beobachteten. Was die Streithähne nicht davon abhielt, sich gegenseitig bei den hinzugeeilten Kräften der Exekutive anzuzeigen. Der Hundebesitzer, ein bei der Gemeinde angestellter Jurist, beschuldigte den Waidmann der Sachbeschädigung in einem besonders schweren Fall, des Schusswaffenmissbrauchs und der gefährlichen Bedrohung mit einer Schusswaffe, woraufhin dieser nicht zurückstehen wollte und Mühlbacher wegen gefährlicher Drohung und Beleidigung anzeigte.

Nach der Einvernahme der beiden Kontrahenten und der Anhörung der zwei Zeugen sah es tatsächlich gar nicht gut für Huber aus, hatte sich der »streunende« Hund doch höchstens drei Meter von seinem Herrn entfernt befunden, was von dem Standpunkt des Jägers allerdings nicht leicht zu erkennen gewesen war, da ihm die Sicht auf den Hundeeigner versperrt war, der sich just in dem Moment seinen Schuh zuband, als der Waidmann des frei laufenden Hundes gewahr wurde. Zudem hatte es sich bei dem Tier um einen sogenannten Therapiehund gehandelt, der dank seiner Ausbildung jederzeit abrufbar und daher dem Leinenzwang nicht unbedingt unterworfen war. Als erschwerend wurde gewertet, dass durch die Streuung der Schrotkugeln auch Mühlbacher selbst hätte verletzt werden können, unter Umständen sogar lebensgefährlich, da er sich im Augenblick des Schusses unweit seines vierbeinigen Gefährten in hockender Haltung befunden hatte. Nach dem Treffer, infolgedessen sein Hund winselnd zusammengebrochen war, war der Eigner des Opfers erbost auf den Waidmann zugelaufen und hatte ihn unflätig beschimpft, woraufhin sich Huber bedroht fühlte und seine Waffe auf den Tobenden hielt.

Dieser Tatbestand war von den anwesenden Zeugen geschildert worden, zudem hatte der Jäger auf sie einen alles andere als nüchternen Eindruck gemacht, was anhand einer sogleich durchgeführten Alkoholkontrolle mehr als bestätigt wurde.

Insoweit war die Sachlage geklärt und Huber erwartete aller Wahrscheinlichkeit nach eine Anklage wegen der genannten Delikte, was neben einer saftigen Geldstrafe aller Wahrscheinlichkeit nach auch zur Einziehung seines Jagdscheins geführt hätte, zumal bei den gemessenen 1,8 Promille die Führung einer Waffe schon längst nicht mehr erlaubt war.

Dies war freilich für einen Waidmann vom Zuschnitt Hubers gänzlich unvorstellbar, und so machte er sich offensichtlich seine Erfahrung zunutze, die er mit Politikern aller Couleur im Laufe der Jahre gesammelt hatte.

Denn als Obmann des Wiener Landesjagdverbandes verfügte Huber über die besten Beziehungen, sodass kein Geringerer als der Wiener Landespolizeikommandant die beiden Inspektoren von dem Fall abzog und die Untersuchung kurzerhand zur Chefsache erklärte.

Womit sie erwartungsgemäß zum Erliegen kam.

Denn wenn Justitia ein Auge zudrückt, ist sie gänzlich blind.

»Kannst du mir eigentlich erklären, warum ich plötzlich unter die Märchenerzähler gehen soll und über einen Fall fantasieren muss, mit dem wir überhaupt nichts mehr zu tun haben?«, fragte Walz ungehalten und schlug entnervt auf die Tastatur. »Soll er ihn doch selber schreiben, unser feiner General.«

»Das ist die alte Geschichte, wenn der General befiehlt, hat die Truppe zu gehorchen, und selbst wenn es der größte Irrsinn ist«, brummte Vogel, während er ungerührt ins trostlose Novemberwetter schaute. »Du solltest froh sein dass er von dir nicht verlangt hat, den ganzen Sachverhalt umzudrehen und den Mühlbacher zum Schuldigen zu machen. Wär’ der ein gewöhnlicher Mitbürger und kein ausgebildeter Jurist, hätte das sehr wohl so ausgehen können. Aber da er ja bei der Gemeinde angestellt ist, wird seine Nachgiebigkeit vielleicht sogar mit einer vorzeitigen Beförderung belohnt. So hat sich doch alles bestens gefügt. Der Mühlbacher wird eine Entschädigung für seinen Hund bekommen und kann sich damit sogar einen ganz neuen kaufen, der hält ja viel länger … davon kann doch jeder Autofahrer nur träumen.«

»Sei nicht so zynisch, Kajetan. Denk dir doch nur, der Huber hätte deine Emily erschossen …«, entgegnete Walz verständnislos.

»Das will ich mir lieber gar nicht vorstellen, sonst geht mir gleich das Feitel in der Tasch’n auf«, erwiderte Vogel mit verächtlichem Schnauben. »Im Ernst, ich wüsste wirklich nicht, was ich in einem solchen Fall tät’. Nur eines kann ich dir mit Sicherheit sagen:«, rief er und wandte sich endlich seinem Gegenüber zu, während er drohend seinen Zeigefinger hob. »Es wär sicherlich besser, wenn ich in einem solchen Fall meine Puff’n nicht dabei hätt’, sonst könnt’ ich für nix garantieren.«

»Glücklicherweise scheint der Mühlbacher ja im Gegensatz zu dir ein besonnener Mensch zu sein, sonst wär womöglich der der Schuldige und der Huber das Opfer, was nichts anderes als ein Jammer wäre«, seufzte Walz und drehte sich von seinem Schreibtisch weg. »Es ist leider nicht zu ändern, die Sache wurde wie so vieles andere auch auf Altösterreichisch gelöst. Da unsere Herren Politiker so korrupt sind, wie sie in der zweiten Republik halt immer schon waren, können wir gar nichts ausrichten. Ein generelles Umdenken müsste halt stattfinden, aber so lange solche Wappler an der Macht sind, wird sich leider nichts ändern … Vielleicht weiß der Huber auch zu viel über diese Herrschaften und genießt deshalb ihren besonderen Schutz.«

Langsam ging Vogel zu seinem Kollegen, um sich dessen literarisches Elaborat anzuschauen, wobei er ihn in eine riesige Rauchwolke hüllte.

»Das wird’s wohl sein, eine Sexorgie mit Minderjährigen in der Jagdhütte vielleicht oder was ähnlich Unappetitliches. Denen da oben trau’ ich inzwischen alles zu. Wer geht denn überhaupt noch in die Politik heutzutage? Genau die, die zu blöd sind, um es in der Wirtschaft oder in der Forschung zu etwas zu bringen. Früher hat man den Dümmsten der Familie ins Kloster abgeschoben, damit der dort was für seine Verwandtschaft ausrichten kann. Heutzutage schickt man das Depperl halt in die Politik, dass es intervenieren kann, wenn der kleine g’scheite Bruder wieder einmal besoffen am Steuer erwischt worden ist, nachdem ihm leider ein unvorsichtiger Passant ins Auto gelaufen war. Und wenn das Depperl sich dann noch brav der Parteiräson gebeugt hat und den Alten immer brav hinten einikrochen ist, dann wird aus dem armen Depperl, das in seiner Jugend schon immer Probleme mit dem großen Einmaleins g’habt hat, plötzlich ein Sektionschef im Finanzministerium, Minister oder sogar Kanzler. Und da ja keiner g’scheiter sein darf als der Oberste, werden dann die noch größeren Trotteln rekrutiert! Das ist nicht einmal mehr das Mittelmaß, das bei uns das Sagen hat, das ist der Ruß, der nirgendwo anders unterkommt. Und wir haben auch noch die heilige Pflicht, diesem Abschaum den Rücken zu decken. Vielleicht sollte ich doch auf Elektrorasur umsteigen, da brauch ich mir morgens net so lang ins G’sicht schaun. Manchmal könnt’ ich mich nur noch anspeiben.«

Diese durchaus angespannt zu nennende Lage wurde plötzlich durch ein zögerliches Klopfen unterbrochen.

»Ja, herein«, brüllte Vogel, dessen Laune sich durch den unangekündigten Gast nur unwesentlich zu bessern schien.

Langsam öffnete sich die Tür, durch dessen Spalt der Kopf eines Mittvierzigers sichtbar wurde.

»Entschuldigen Sie bitte die Störung, aber man hat mir unten gesagt, ich soll mich an Sie wenden«, sagte der Besucher schüchtern, den die barsche Begrüßung Vogels offensichtlich erschreckt hatte.

»Na, so kommen’s schon rein«, rief Vogel, ungeduldig mit dem linken Arm winkend, während er mit seiner Rechten rasch seine Pfeife in den bereitstehenden Aschenbecher legte, was ihn sichtlich noch mehr verdross.

Vorsichtig kam der Unbekannte der Einladung nach. Mit leicht gebeugtem Kopf und schier auf Zehenspitzen balancierend betrat er, seine schwarze Aktentasche brav unter den Arm geklemmt, scheu lächelnd diesen Hort der Gesetzesmacht, dessen Gewalt er sich scheinbar widerstandslos zu beugen bereit war.

So schien es wenigstens den Inspektoren, die sich angesichts dieses seltsamen Auftritts wohl nicht gewundert hätten, wenn ihr Besucher ihnen plötzlich gestanden hätte, gerade auf einem abgelegenen Kinderspielplatz ahnungslosen Müttern sein unverhülltes Geschlecht dargeboten zu haben.

»Doktor Wolfram Kolb«, stellte er sich mit einer kleinen Verbeugung vor, nachdem er in der Mitte des Raumes angekommen war.

»Was können wir für Sie tun?«, fragte Walz freundlich.

»Das ist eine ziemlich heikle Angelegenheit, von der mein ganzes Leben abhängt«, antwortete Kolb plötzlich mit ungewöhnlichem Ernst.

Es hatte fast den Anschein, als würde er gleich in Tränen ausbrechen.

»Da es sich in diesem Falle um einen längeren Besuch handeln dürfte, wäre es vielleicht sinnvoll, wenn Sie erst einmal Ihren Mantel ablegten, bevor Sie Platz nehmen«, unterbrach ihn Vogel ungerührt und signalisierte ihm mit einer Handbewegung, dass er sich damit gefälligst beeilen sollte.

»Ach ja, natürlich«, murmelte Kolb, während er vorsichtig seine Aktentasche auf den Boden stellte und mit verlegenem Lächeln und unter leisem Ächzen seinen cremefarbenen Staubmantel aufknöpfte, unter dem ein grau kariertes Tweed-Sakko zum Vorschein kam, das sich schon länger in seinem Besitz zu befinden schien, da es um die Hüften schon bedenklich spannte. Darunter trug er ein weißes Hemd mit einer völlig nichtssagenden Krawatte.

Nachdem Kolb es sich bequem gemacht hatte, begann er leise und ziemlich verworrenen seine Geschichte zu erzählen.

»War sie wenigstens gut?«, wollte der unverbesserliche Vogel wissen, nachdem der Besucher mit seinen Ausführungen zu Ende gekommen war.

»Entschuldigen Sie?«, Kolb, nach seiner Lebensbeichte ohnehin den Tränen nahe, legte seinen Kopf schief, als ob er nicht richtig verstanden habe.

»Mein Kollege äußert sich manchmal etwas unüberlegt«, beeilte sich Walz die Situation zu entschärfen, während er seinen Schreibblock zur Hand nahm, »also, jetzt rekapitulieren wir noch einmal das Ganze in aller Ausführlichkeit, damit ich mir genaue Notizen machen kann. Sie haben sich also vor etwa zwei Wochen auf einer Website mit dem Namen finallylove.at eingeloggt – ist das soweit richtig?«

»Ja«, antwortete Kolb artig und nestelte verlegen an der auf seinem Schoß liegenden Aktenmappe herum.

»Wie sind Sie überhaupt auf die Idee gekommen, solch eine Agentur zu kontaktieren?«

Kolb räusperte sich und richtete seinen Krawattenknoten.

»Wissen Sie, das war beim Zahnarzt. Dort lag so eine Zeitschrift auf, die üblicherweise nicht zu meiner Lektüre gehört. Auf dem Titel wurde in reißerischer Manier angekündigt, dass Österreich fremdgehe oder so ähnlich. Dadurch bin ich überhaupt erst auf diese Agenturen aufmerksam geworden und habe den Artikel überflogen. Zum genauen Lesen bin ich dann nicht mehr gekommen, weil die Sprechstundenhilfe mich in den Behandlungsraum gerufen hat. Ich habe davor gar nicht gewusst, dass es so etwas überhaupt gibt.«

»Und nach der Behandlung haben Sie sich dann diese Zeitschrift besorgt«, rekapitulierte Walz über seinen Schreibblock gebeugt. »Bezog sich dieser Artikel auf diese bestimmte Agentur?«

»Nein, nein, überhaupt nicht. Er handelte von einem ganz anderen Portal. In einem Kästchen waren aber auch weitere Anbieter genannt, unter anderem eben dieses finallylove. Als meine Frau zu Bett gegangen war, habe ich die Reportage noch einmal genauer studiert und mich für dieses Portal entschieden, in das ich mich gleich eingeloggt habe. Ich dachte mir, wenn ich schon einmal so etwas versuche, dann doch lieber in einer weniger beworbenen Umgebung, schließlich will man dort nicht plötzlich einer Patientin begegnen, die man gerade noch vormittags untersucht und ihr zu einem gemäßigteren Lebenswandel geraten hat.«

»Sie sind also Arzt?«

Kolb nickte.

»Meine Praxis befindet sich in der Hermanngasse im 7. Bezirk.«

»Gut, was passierte dann?«, fragte Walz weiter, während er sich fleißig Notizen machte.

Kolb atmete tief durch, bevor er fortfuhr.

»Zuerst habe ich mir einige Profile von den dort angebotenen Mädchen angeschaut, das kann man ja, ohne Mitglied zu sein. Doch schon nach wenigen Minuten ging eine Nachricht bei mir ein, dass sich eine 25-Jährige für mich interessiere. Zwar wunderte ich mich darüber, da ich das Alter der Damen meiner Wahl eigentlich zwischen 30 und 40 angegeben hatte. Weil ich die Nachricht jedoch nicht lesen konnte, ohne dort Mitglied zu sein, musste ich mich erst einmal anmelden und den Aufnahmebeitrag erlegen. Heute ist mir natürlich klar, dass genau dies der Zweck dieser Mitteilung war. Aber in dem Moment war ich viel zu aufgeregt, und, offen gestanden auch viel zu neugierig, um auf diesen eigentlich naheliegenden Gedanken zu kommen.«

Kolb lächelte verlegen.

»Ein klassischer Fall von Bauernfängerei«, brummte Vogel dazwischen.

»Ja, da haben Sie wohl recht«, nickte Kolb, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. »Von dieser 25-Jährigen habe ich auch nie mehr etwas gehört, obwohl ich ihr gleich geantwortet habe, nachdem ich dem Klub beigetreten war. Dann habe ich mir die übrigen Damen etwas genauer angeschaut.«

»Wie ist das zu verstehen? Wie sieht denn eine solche Seite überhaupt aus?«, erkundigte sich Walz ruhig.

»Ich weiß nicht, wie es bei den anderen Agenturen ist, aber bei finallylove ist die Seite in verschiedene Abteilungen gegliedert. Zuerst gibt man seine äußerlichen Kennzeichen, wie Alter, Größe, Gewicht, Augenfarbe und Haarfarbe ein. Dann kann man seine persönlichen Vorlieben und bevorzugten Sexualpraktiken eintragen. Im nächsten Abschnitt kommen dann, wenn ich mich richtig erinnere, die Dinge dran, die ich beim anderen besonders reizvoll finde. Schließlich kann man noch seine Hobbys angeben. Und ganz unten gibt es noch ein Bewertungsschema, wo man den Partner beurteilt, nachdem man ihn getroffen hat.«

»No servus«, brach es aus Vogel heraus, »da wird dann beschrieben, wie sich diejenige im Bett angestellt hat?«

»Ja, so in etwa«, erwiderte Kolb mit einem kurzen Seitenblick auf den Inspektor.

Anscheinend hatte er ihm seine despektierliche Frage noch immer nicht verziehen.

»Und wie ging es dann weiter, Herr Doktor?«, mischte sich Walz wieder ein.

»Um einen Kontakt aufzunehmen gibt es verschiedene Möglichkeiten. Wenn man nur sein Interesse bekunden will, kann man ein so genanntes Zwinkern schicken. Das ist relativ unverbindlich und kostet nichts …«

»Moment, das heißt, wenn Sie einer Dame, an der Sie interessiert sind, eine Nachricht senden, müssen Sie dafür bezahlen?«, unterbrach ihn Vogel erstaunt.

»Ja, zumindest beim ersten Kontakt. Auch wenn Sie eine Nachricht von einer Ihnen noch unbekannten Frau erhalten, müssen Sie bezahlen, wenn Sie sie lesen wollen.«

»Das geht ja ganz schön ins Geld. Da ist ein Besuch in einer Bar doch sicherlich billiger …«

»Na ja, es kostet nicht allzu viel, außerdem muss man nur beim ersten Kontakt bezahlen«, wiederholte Kolb. »In einer Bar ist die Gefahr doch viel größer, dass man von jemandem gesehen wird. Sie dürfen nicht vergessen, ich bin Arzt und treffe daher eine ganze Menge Leute, die natürlich auch meine Frau kennen, die in meiner Praxis mitarbeitet.«

»Und wie ging es dann weiter?«, fragte Walz, dessen Interesse an dieser Agentur bei Weitem nicht so ausgeprägt zu sein schien wie bei seinem Kollegen Vogel, der den Ausführungen Kolbs mit größter Aufmerksamkeit folgte.

»Am nächsten Tag bekam ich eine Nachricht von einer Dame, die dieses Mal der Altersgruppe angehörte, die ich als die Bevorzugte angegeben hatte. Ich antwortete ihr, leider ohne Erfolg. Am folgenden Tag wiederholte sich diese Prozedur mit einer anderen Frau, diesmal von orientalischem Aussehen. Auch von ihr hörte ich nichts mehr, obwohl ich ihr sofort zurückgeschrieben hatte. Unterdessen bin ich übrigens der festen Überzeugung, dass diese Damen ebenfalls Lockvögel waren, um den Kunden an die Agentur zu binden. Denn diese hohe Frequenz an Briefen ist später niemals wieder erreicht worden.«

»Wie lange waren Sie denn Mitglied in diesem Klub?«, erkundigte sich Walz.

Kolb, der im Laufe des Gesprächs immer mehr an Selbstsicherheit gewonnen hatte und zuweilen sogar den Blickkontakt von Walz erwiderte, fiel plötzlich wieder in sich zusammen.

»Offen gestanden, ich bin noch immer dabei, da meine Mitgliedschaft noch nicht abgelaufen ist«, gab er leise zu und schaute reumütig auf seine Aktentasche, »in meiner anfänglichen Euphorie hab’ ich mich gleich für ein ganzes Jahr eingeschrieben.«

»Ja, das ist doch nur allzu verständlich«, räumte Walz rasch ein, um seinem Kollegen zuvorzukommen, der gerade zu einer sicherlich nicht eben harmoniefördernden Entgegnung ansetzen wollte, »wenn man für etwas bezahlt hat, ist es doch nur recht und billig, dass man es auch konsumiert. Und was passierte dann weiter?«

Dankbar schaute Kolb seinen Gesprächspartner an, bevor er fortfuhr.

»Nachdem diese Versuche so frustrierend verlaufen waren, habe ich dann selbst die Initiative ergriffen und erst einmal einige Damen angezwinkert, um zu sehen, was dann passiert. Und tatsächlich meldete sich schon am nächsten Tag ein Mädchen und schickte mir sogar einige Bilder von sich, ohne dass ich es darum gebeten hatte …«

»Ach so, man muss also keine Fotos von sich ins Netz stellen, wenn man sich dort anmeldet?«, unterbrach ihn Vogel abermals.

»Nein, das können Sie halten, wie Sie wollen. Die meisten Profile sind ohne Bilder, wobei allerdings angezeigt ist, ob Sie über ein so genanntes Fotoarchiv verfügen. Dieses können Sie dann der von Ihnen ausgewählten Person zeigen.«

»Gut, und weiter?«, fragte Walz mit einem ostentativen Blick auf seine Armbanduhr.

»Da mir ihre Bilder gefielen, antwortete ich ihr und schlug ihr ein Rendezvous vor, dem sie sogleich zustimmte. Nach meinem heutigen Erfahrungsstand hätte mich das schon stutzig machen müssen, denn zu solch spontanen Treffen kommt es, wie ich unterdessen weiß, nur äußerst selten. Am nächsten Tag, der zufällig ein Mittwoch war, an dem meine Praxis am Nachmittag geschlossen ist, traf ich sie dann tatsächlich in einem Kaffeehaus im 7. Bezirk, das sie vorgeschlagen hatte. Und nach etwa einer Stunde beschlossen wir, gemeinsam in ein unweit gelegenes Hotel zu gehen. Auch dieser Vorschlag kam von ihr.«

»Um welches Hotel handelte es sich da?«

»Zum goldenen Mondschein heißt es und befindet sich in der Mondscheingasse.«

»Das kenne ich gar nicht, du, Kajetan?«

Vogel schüttelte den Kopf.

»Das ist eine ganz kleine und ziemlich heruntergekommene Absteige. Aber mir war es recht, die haben gegen Vorkasse wenigstens keine Fragen gestellt.«

»Handelte es sich bei dieser Person um eine Österreicherin?«

»Nein, sie erzählte mir, dass sie aus Temeswar in Rumänien stammt.«

»Und Sie haben wirklich keinen Verdacht geschöpft?«, erkundigte sich Walz ungläubig, zumal Kolb nicht gerade den Typus Mann darstellte, für den eine junge, attraktive Frau ihre ganze Erziehung vergaß, so marginal sie vielleicht auch gewesen sein mag.

»Nein, ich konnte mein Glück nicht fassen! Damals war ich ja noch ein völliger Neuling auf diesem Gebiet und so naiv, der Werbung für finallylove Glauben zu schenken, die ja unterschwellig behauptet, dass alle Frauen nur von dem Gedanken besessen wären, sich dem nächstbesten Mann hinzugeben. Mein Gott, was war ich blöd!«

Kolb schlug die Hände vors Gesicht.

»Und dann sind Sie mit ihr auf dem Hotelzimmer intim geworden«, resümierte Walz nach einer kurzen Pause, die er mit Rücksicht auf den Zustand des Arztes eingelegt hatte. »Ist Ihnen da etwas Außergewöhnliches aufgefallen?«

»Ja, im Nachhinein ist man halt immer klüger … Schon unten beim Portier hatte ich bemerkt, dass die beiden sich anscheinend kennen, habe dem aber keine große Bedeutung beigemessen. Und oben sah es aus wie in einem ganz normalen Hotelzimmer. Aber heute sind die Kameras ja so klein, die können überall gesteckt haben. Allerdings ist mir dann später eingefallen, dass sie mich immer auf die Mitte des Doppelbetts geschoben hat, wahrscheinlich, damit ich besser im Bild bin.«

»Können Sie uns den Portier beschreiben?«

»Was soll ich sagen? Das war ein richtiger Schlurf mit Stirnglatze und langen Haaren, ziemlich untersetzt, etwa Mitte 40 und ausgesprochen ungepflegt. Außerdem roch er.«

Angewidert verzog Walz sein Gesicht.

»Trug er eine Uniform?«

»Wo denken Sie hin? Nein, ein ganz normales Hemd, das er ziemlich weit aufgeknöpft hatte, alles ziemlich halbseiden und schmutzig, genau wie das ganze Hotel.«

»Und blieb es bei diesem einen sexuellen Beisammensein?«

Bitter lachte Kolb auf.

»Material hatte sie ja genug von dem einen Mal. Das, was ich damals für pure Geilheit hielt, war nichts weiter als der Plan, mich in möglichst vielen Stellungen zu filmen … Unter uns gesagt«, verschwörerisch senkte er seine Stimme und beugte sich zu Walz, »die Maria hat Sachen draufgehabt, von denen ich nicht einmal wusste, dass man die miteinander machen kann. Ja, wir haben damals wirklich nichts ausgelassen«, fügte er leise hinzu, wobei er sogar ein wenig lächelte und sich seine Lippen genießerisch kräuselten.

So unschuldig naiv, wie er sich im Gespräch mit den Inspektoren gerierte, war er offensichtlich doch nicht.

»Und wann konfrontierte sie Sie zum ersten Mal mit dem Filmmaterial?«

»Das war drei Tage später, am Samstag. Da hatten wir wieder ein Rendezvous in demselben Kaffeehaus ausgemacht, wo wir uns das erste Mal getroffen hatten.«

»Wie heißt das Kaffeehaus?«, unterbrach ihn Walz und sah von seinem Schreibblock auf.

»Das war das Caffè Latte in der Neubaugasse.«

»Das kenne ich, und was geschah dann?«

»Dieses Mal kam sie nicht alleine, sondern brachte ihren Cousin mit, wie sie mir erklärte. Als ich diesen Kleiderschrank mit Sonnenbrille an ihrer Seite sah, wurde mir schlagartig klar, dass ich mich in einer ausweglosen Lage befand.«

»War das auch ein Rumäne?«

»Ich nehme es an, da sie rumänisch miteinander sprachen.«

»Von dem haben Sie aber keine Fotos?«, wollte Vogel wissen, während er die von Kolb mitgebrachten Aufnahmen seiner Herzensdame betrachtete, die dieser vor dem Gespräch seiner schwarzen Aktentasche entnommen und auf den Tisch gelegt hatte.

»Nein, ich könnte ihn aber beschreiben«, antwortete Kolb.

»Die Karteien können wir dann später durchgehen«, schlug Walz vor, »erzählen Sie uns bitte zuerst, was die beiden genau von Ihnen wollten.«

»Als sie Platz genommen hatten, teilte mir dieser sogenannte Cousin in ganz ruhigem Ton mit, dass sie unser Beisammensein gefilmt hätten, und meine Frau doch sicherlich nichts davon erfahren sollte. Dann warnte er mich noch davor, die Polizei einzuschalten.«

»Das ist das übliche Prozedere, wie viel verlangte er denn von Ihnen?«

»10.000 Euro für die Herstellung des Filmes, das wäre ja schließlich auch eine schöne Erinnerung, wie er sich ausdrückte.«

Vogel pfiff durch die Zähne.

»Das ist eine außergewöhnlich hohe Forderung, anscheinend haben Sie es ja wirklich ordentlich krachen lassen«, meinte er, womit mit einem Schlag das gerade wieder aufkeimende Vertrauen des Arztes in Vogels Seriosität endgültig passé war.

»Wann war das genau?«, fragte Walz mit einem strafenden Seitenblick auf seinen Kollegen.

»Vor exakt einer Woche, also am 7. November.«

»Und anstatt gleich zu uns zu kommen, haben Sie erst einmal bezahlt …«, sagte Walz mit missbilligendem Gesichtsausdruck.

»Ja, jetzt weiß ich auch, dass das ein Fehler war … Aber was sollte ich denn machen? Sie drohten mir, diesen Film nicht nur meiner Frau zu schicken, sondern ihn auch auf die Website meiner Praxis zu stellen – damit wäre ich ruiniert gewesen! Und sie versicherten mir, dass dies eine einmalige Forderung sei.«

»Was es aber offensichtlich nicht war …«

»Ja, gestern am Abend erhielt ich eine SMS, dass die Produktionskosten doch höher gewesen waren als ursprünglich veranschlagt und sie leider eine Nachforderung von 5.000 Euro zu stellen hätten …«

»Und warum kommen Sie erst jetzt zu uns? Ihnen muss doch klar gewesen sein, dass es nicht bei dem einen Mal blieb.«

Fassungslos schaute Kolb Walz an und schüttelte mehrmals leicht seinen Kopf, gerade so, als trüge er die Schuld an der Misere.

»Ja, was soll ich sagen? Ich hab mir halt gedacht, die verschwinden vielleicht mit ihren 10.000 Euro nach Rumänien, das ist dort ja ein Haufen Geld … Einige Tage nach der Zahlung war schließlich auch Marias Profil von der Website verschwunden.«

»Die können die Erpressung ja auch von ihrer Heimat aus weiterführen. Heutzutage ist das alles kein Problem mehr …«

»Das hab ich halt nicht bedacht«, rief Kolb plötzlich ungehalten aus, »doch anstatt mir Vorwürfe zu machen, sollten Sie mir lieber sagen, was ich jetzt tun soll. Dafür gibt es ja wohl die Polizei.«

»Auf welchem Wege sollen Sie denn das Geld übergeben?«, erkundigte sich Walz völlig unbeeindruckt.

»Wie beim ersten Mal. Zuerst bekomme ich eine SMS mit einem Termin, wann ich mit der Zahlung zu rechnen hätte. Die nächste Nachricht enthält dann eine Transaktionsnummer, unter der ich den Betrag bei Western Union überweisen soll.«

»Damit kann der Empfänger weltweit das Geld abheben, das ist das übliche Vorgehen«, stellte Walz sachlich fest.

»Das mag sein, und den Beleg dafür hab ich dann direkt nach der Transaktion eingescannt und an eine Hotmail­adresse gesendet …«

»… Die direkt nach Eingang der Mail gelöscht wird«, brummte Walz verdrossen. »Haben Sie die Adresse noch? Vielleicht sind die doch blöder als die Polizei erlaubt.«

»Natürlich, ich hab Ihnen alles mitgebracht«, antwortete Kolb eifrig, während er in seine Aktentasche griff und eine Klarsichthülle hervorholte, in der sich ein einzelnes Blatt befand, »glauben Sie tatsächlich, Sie können mein Geld zurückholen?«

»Nein«, entgegnete Walz trocken, »das können Sie vergessen. Beträge, die mit einem solchen Geldtransfer-Unternehmen überwiesen werden, sind nicht rückvollziehbar. Der Empfänger muss lediglich die Nummer angeben, dann kann er den Betrag gegen die Vorlage eines in diesem Falle wohl gefälschten Ausweises beheben. Und schon hat sich die Sache.«

Seufzend ging der Inspektor mit dem Papier zum Computer.

Nach einer kleinen Pause ratlosen Schweigens, das nur von Tastaturgeräuschen unterlegt war, erkundigte sich Kolb kleinlaut:

»Und was gedenken Sie, in dieser Sache weiter zu unternehmen, und vor allem, was soll ich nun machen?«

»Wann ist der Termin der Überweisung?«, wollte Walz wissen, während er angestrengt auf den Bildschirm schaute.

»Morgen Vormittag um zehn bekomme ich die SMS mit der Transaktionsnummer…«

»Da können wir leider gar nichts machen, da wir nicht einmal wissen, wo der Betrag überhaupt abgehoben wird. Das kann genauso gut in Rumänien wie in Usbekistan sein. Und die Hotmail-Adresse existiert erwartungsgemäß nicht mehr.«

Walz wandte sich nun wieder Kolb zu und fragte eindringlich:

»Jetzt muss ich Sie einmal etwas Prinzipielles fragen: Wie würde eigentlich Ihre Gattin darauf reagieren, wenn Sie es ihr einfach erzählten? Dies wäre auf jeden Fall der einfachste Weg aus diesem Dilemma. Ihre Website könnten Sie ja einfach abschalten, als Arzt brauchen Sie sie ja nicht unbedingt.«

Kolb legte seine Hände um die Nase und atmete hörbar ein.

»Ich kann es eben überhaupt nicht einschätzen, wie sich meine Frau verhalten würde, wenn ich es ihr sage. Wir hatten noch nie eine solche Situation. Schauen Sie, wenn sie mir eine Szene machen würde, könnte ich damit umgehen. Da würde ich warten, bis das Gewitter vorbei ist und ihr dann alles erklären. Aber was ist, wenn sie mich einfach nur traurig anschauen und fassungslos nach dem Grund fragen würde? Das wäre nicht auszuhalten. Darüber hinaus haben wir zwei Töchter, 16 und 18 Jahre alt, die mir das niemals verzeihen würden. Die wären dazu imstande, ihre Mutter dazu zu bringen, mich zu verlassen. Und das wäre nicht nur mein finanzieller Ruin, sondern auch eine persönliche Katastrophe, denn, ob Sie es glauben oder nicht, ich liebe meine Familie«, rief er verzweifelt aus.

Walz wiegte seinen Kopf.

»Wenn Sie nicht bis in alle Ewigkeit zahlen wollen, müssen Sie diese Gefahr wohl oder übel in Kauf nehmen … Vielleicht passiert auch gar nichts, wenn Sie nicht zahlen, doch das Risiko bleibt natürlich bestehen. Habhaft können wir solcher Leute nur in Österreich werden, das wissen die auch ganz genau, und deshalb verschwinden die nach getaner Arbeit gleich wieder. Möglicherweise sind Sie aber nicht das einzige Opfer, und in diesem Falle bestünde noch die Chance, dass die sich hier tatsächlich noch aufhalten. Das Einzige, was ich Ihnen anbieten kann, ist, diese Maria in die Fahndungsdatei einzugeben. Falls sie sich noch in Wien befinden sollte, wird sie sicherlich einmal von einer öffentlichen Kamera erwischt, und dann wissen wir, wo sie sich aufhält, und können sie dann ausfindig machen.«

»Das geht?«, fragte Kolb erstaunt. »Also ist es doch kein Gerücht mit dem gläsernen Bürger?«

»Wie Sie sehen, haben diese Überwachungsmethoden auch ihre Vorteile«, brummte Vogel unwillig, »zumindest stellen sie in Ihrem Fall die einzige Methode dar, den Aufenthalt dieser Person festzustellen.«

»Falls sie sich allerdings nicht mehr in Österreich befinden sollte, bleibt uns nur noch die Möglichkeit, sie international zur Fahndung auszuschreiben, und das kann dauern, vor allem, wenn sie wieder in Rumänien ist«, fuhr Walz fort. »Das Erste, was wir dazu brauchen, ist der Name dieser Dame. Deshalb bitte ich Sie nun, zu mir hinter den Computer zu kommen und sich in die unerschöpflichen Tiefen unserer nahezu allwissenden Kartei zu begeben, vielleicht sind die beiden bei uns ja schon einmal verhaltensauffällig geworden. Falls dem nicht so ist, führe ich Sie zu unserem Spezialisten, dem Sie den Cousin beschreiben, möglicherweise findet sich dann dort was.«

Nachdem Walz das Foto dieser ominösen Maria eingescannt und das Übereinstimmungsprogramm gestartet hatte, beugte sich neben Kolb auch Vogel erwartungsvoll über den Computer.

»Maria Segatu, da haben wir sie ja schon«, rief Walz schon bald erfreut aus, »so viel Ungemach die neuen Techniken auch über die Menschheit gebracht haben, manchmal sind sie einfach faszinierend. Schau, schau, vorbestraft wegen wiederholter Prostitution ohne Deckel und Betrugs, no, die kennen wir ja ganz gut. Wenn wir Näheres über sie wissen wollen, müssen wir nur den Berger fragen, der hat die damals verhaftet.«

»Kann es also doch sein, dass sie sich noch in Österreich aufhält?«, fragte Kolb hoffnungsvoll.