Die Weisheit der Götter - Rupert Schöttle - E-Book

Die Weisheit der Götter E-Book

Rupert Schöttle

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Beschreibung

Die „Götter“ der Musikszene im persönlichen Porträt Bei allen Unterschiedlichkeiten ist den großen Dirigenten eines gemein: Sie müssen über eine ausgeprägte Persönlichkeit mit großer Überzeugungskraft verfügen. Der „schreibende Cellist“ Rupert Schöttle, der als freier Mitarbeiter der Wiener Philharmoniker die Gelegenheit hatte, unter fast allen großen Maestros zu spielen und mit ihnen auch einen persönlichen Umgang zu pflegen, hat diese außergewöhnlichen Persönlichkeiten um die Beantwortung der gleichen 16 Fragen gebeten – mit bemerkenswertem Resultat und der Erkenntnis, dass die Antworten so unterschiedlich ausfallen wie die musikalischen Interpretationen der Stars am Pult. Jedem Gespräch sind eine ausführliche biografische Skizze sowie ein ganzseitiges Bild vorangestellt. Interviews mit Daniel Barenboim · Bertrand de Billy · Pierre Boulez · Christoph von Dohnányi · Gustavo Dudamel · Christoph Eschenbach · Ádám Fischer · Daniele Gatti · Waleri Gergijew · Bernard Haitink · Daniel Harding · Nikolaus Harnoncourt · Mariss Jansons · Philippe Jordan · Fabio Luisi · Zubin Mehta · Ingo Metzmacher · Riccardo Muti · Kent Nagano · Andris Nelsons · Donald Runnicles · Mstislaw Rostropowitsch · Wolfgang Sawallisch · Christian Thielemann · Franz Welser-Möst · Simone Young

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RUPERT SCHÖTTLE

DIE WEISHEIT

DERGÖTTER

GROSSE DIRIGENTEN IM GESPRÄCH

Für Karin und Mariam

INHALT

Cover

Titel

Widmung

Geleitwort von Clemens Hellsberg

Vorwort

Das Phänomen Daniel Barenboim

Der Kompromisslose Bertrand de Billy

Der Provokateur Pierre Boulez

Der Theatermacher Christoph von Dohnányi

Der Zauberlehrling Gustavo Dudamel

Der Philanthrop Christoph Eschenbach

Der Widersprüchliche Ádám Fischer

Das Naturtalent Daniele Gatti

Der Uferlose Valery Gergiev

Der Demütige Bernard Haitink

Das Wunderkind Daniel Harding

Die Instanz Nikolaus Harnoncourt

Der Perfektionist Mariss Jansons

Der Wagemutige Philippe Jordan

Der Zurückhaltende Fabio Luisi

Der Menschenfänger Zubin Mehta

Der Überzeugungstäter Ingo Metzmacher

Il Maestro Riccardo Muti

Der Philosoph Kent Nagano

Das Monument Mstislav Rostropovitch

Der Linksausleger Donald Runnicles

Der Grandseigneur Wolfgang Sawallisch

Der Unangepasste Christian Thielemann

Der Ernsthafte Franz Welser-Möst

Die Wegbereiterin Simone Young

Bildnachweis

Literatur

Weitere Bücher

Impressum

GELEITWORT

Zu jedem großen Kunstwerk führen viele Wege! Auch wenn diese Feststellung, weil scheinbar selbstverständlich, banal klingen mag – es ist die Unerschöpflichkeit des Zugangs, welche die eigentliche Größe eines Kunstwerks ausmacht, sind doch in ihm die Freuden und Leiden, die Fragen, Ängste und Hoffnungen weiter Teile der Menschheit sublimiert. Die Musik im Besonderen zählt nicht nur zu den flüchtigsten der Künste, sondern bedarf auch der Vermittler und Vermittlerinnen, deren vornehmste Aufgabe es ist, in ihrer Sicht auf das jeweilige Werk die persönliche Auseinandersetzung mit dem Willen des Komponisten widerzuspiegeln.

Unter den Interpreten kommt wiederum den Dirigenten eine besondere Rolle zu, müssen sie doch das Publikum ebenso überzeugen wie ein Kollektiv, das sich im Falle von Spitzenorchestern aus Menschen mit ausgeprägten musikalischen Vorstellungen zusammensetzt. Natürlich bedarf es zusätzlich zu Begabung, schlagtechnischer Fertigkeit und genauer Werkkenntnis auch brennender Leidenschaft, reicher Fantasie und charismatischer Suggestionskraft, um bei der Aufführung die Erkenntnisse des eigenen Ringens um die Aussage des Kunstwerks vermitteln zu können.

Die Wiener Philharmoniker, die als unabhängiger Verein und somit als eine auf demokratischer Basis sich selbst verwaltende Musikergemeinschaft keinen „Chef“ haben, arbeiten mit allen führenden Dirigenten und sind daher permanent mit einem breiten Interpretationsspektrum konfrontiert. Es ist sehr zu begrüßen, dass das vorliegende Buch mithilfe einer objektivierenden Methodik – dieselben 16 Fragen für jeden Künstler – auch dem interessierten Publikum einen Einblick in die Vielfalt der Auseinandersetzung mit Musik ermöglicht. Gewiss werden die Leserinnen und Leser nach der Lektüre jene Dirigenten, welche hier zu Wort kommen, mit anderen Augen sehen; und vielleicht erschließt sich ihnen sogar auch ein ganz neuer, ganz persönlicher Weg zu den Werken unserer großen Meister.

Clemens Hellsberg

Vorstand der Wiener Philharmoniker von 1997 bis 2014

VORWORT

Der Grundgedanke des vorliegenden Buches lag darin, die berühmtesten Dirigenten mit denselben 16 Fragen zu konfrontieren, also keine Interviews im herkömmlichen Sinne zu führen, sondern auf diese Weise Meinungen und Standpunkte direkt vergleichbar zu machen, was letztlich einem Interpretationsvergleich nicht unähnlich ist. Auf diese Weise ergeben sich für die Leser höchst aufschlussreiche Erkenntnisse, die ohne ein Eingreifen des Autors zustande kamen. Was durchaus in seinem Sinne ist, steht beziehungsweise stand er doch mit allen porträtierten Dirigenten in persönlichem oder gar freundschaftlichem Kontakt.

Natürlich ist es möglich, dass die von mir getroffene Auswahl Widerspruch herausfordert.

Dazu einige klärende Worte: Ich habe ausschließlich die Maestri interviewt, mit denen ich musiziert habe … Leider haben nicht alle, die ich wegen der Beantwortung der Fragen angesprochen habe, dieser Bitte entsprochen. So lehnten beispielsweise Claudio Abbado, Riccardo Chailly, Sir Simon Rattle, Lorin Maazel oder Kirill Petrenko ihre Mitwirkung an diesem Projekt ab.

Falls Sie, verehrte Leserin, verehrter Leser, Ihren Liebling hier nicht finden, sollten Sie bedenken, dass eine solche Auswahl begrenzt und natürlich auch von subjektiven Kriterien abhängig ist. Auch habe ich den Zeitpunkt abgewartet, bis meine aktive Zeit bei den Wiener Philharmonikern beendet war. Das erklärt auch, warum dieses Buch erst jetzt herauskommt, obwohl die Gespräche in den Jahren zwischen 2005 und 2016 geführt wurden.

Rupert Schöttle

DAS PHÄNOMEN

DANIEL BARENBOIM 

*15. November 1942, Buenos Aires

„Daniel Barenboim ist ein Phänomen.“

Dieses oft zitierte Urteil des großen Wilhelm Furtwängler über den damals Elfjährigen hat bis heute nichts von seiner Gültigkeit eingebüßt. Denn Barenboim hat eigentlich zwei Weltkarrieren gemacht. Seinen ersten Klavierabend, ausschließlich mit Werken Beethovens, gab er 1950 mit sieben Jahren in seiner Heimatstadt Buenos Aires, bei seinem Dirigierdebüt war er gerade einmal 18 Jahre alt. Mit 27 leitete er erstmals die Berliner Philharmoniker, ein Jahr später das Chicago Symphony Orchestra.

Seit über 50 Jahren ist Barenboim also eine der dominierenden Persönlichkeiten des Klassikbetriebs. Dabei ist er gerade einmal Mitte 70 – mithin also im besten Dirigentenalter – und noch immer voller Tatendrang, was immer schon einer seiner wesentlichen Charakterzüge war. 2002 etwa veranstaltete er an der Berliner Staatsoper einen Marathon, wobei er innerhalb von vier Wochen zweimal alle zehn bedeutenden Wagner-Opern dirigierte. Wer damals glaubte, er hätte deshalb sein Klavierspiel hintangestellt, der irrte. Nachdem er 2004 Johann Sebastian Bachs gesamtes Wohltemperiertes Klavier eingespielt hatte, bot er kurz darauf sämtliche Beethoven-Sonaten im Wiener Musikverein und in Berlin dar.

Doch man würde Barenboim nicht gerecht, grenzte man ihn alleine auf seine künstlerischen Aktivitäten ein. Denn auch politisch hat der Tatmensch einiges zu sagen. War er schon beim „Mauerfall“ in Berlin ein unermüdlicher Brückenbauer zwischen Ost und West gewesen, versuchte er dies auch in seiner Wahlheimat, als er 1999 zusammen mit dem palästinensischen Literaturwissenschaftler Edward Said das West-Eastern Divan Orchestra gründete, in dem er junge Musiker aus Israel und den arabischen Ländern alljährlich zusammenführt, das unterdessen beachtliche Erfolge aufzuweisen hat und das er als das „wichtigste musikalische Projekt“ seines Lebens ansieht.

Um bei beiden Seiten Verständnis füreinander zu wecken, greift er zuweilen auch zu außergewöhnlichen Maßnahmen. Im Jahre 2005 trat er unter größtem internationalen Aufsehen erstmals im neuen Kulturzentrum von Ramallah mit dem West-Eastern Divan Orchestra auf, wohin der „palästinensische Ehrenstaatsbürger“ immer wieder zurückkehrt, weil seiner Meinung nach die Schicksale des israelischen und palästinensischen Volkes untrennbar miteinander verbunden sind.

Ob er die unnachgiebige Haltung Israels im Konflikt mit den Palästinensern geißelt oder die deutsche Kulturpolitik als „primitiv“ bezeichnet: Barenboim nimmt sich niemals ein Blatt vor den Mund. Dass seine zuweilen provokanten Aussagen allgemein Gehör finden, zeigt sich auch darin, dass er stets in der engsten Wahl ist, wenn es um die Verleihung des Friedensnobelpreises geht.

Doch auch musikalisch geht er immer wieder eigene Wege. So löste er in Jerusalem einen handfesten Skandal aus, als er im Jahr 2001, ausgerechnet mit seiner Staatskapelle Berlin, als Zugabe Richard Wagners Vorspiel zu Tristan dirigierte, was dort wegen Wagners Antisemitismus einen veritablen Tabubruch darstellte. Dem folgte eine 30-minütige Debatte, in deren Verlauf der Dirigent mehrmals als „Faschist“ verunglimpft wurde. Dennoch setzte sich die Mehrheit durch und bereitete den Musikern stürmische Ovationen. Nicht so die Politiker. Jerusalems Bürgermeister, der Barenboim „arrogantes und unzivilisiertes“ Verhalten vorwarf, drohte dem bedeutendsten israelischen Künstler gar mit einem Auftrittsverbot. Trotz dieser Vorkommnisse hält Barenboim an seinem israelischen Pass fest, zumal er sich in seinem Wohnort Jerusalem so zu Hause fühlt wie nirgendwo sonst.

Dabei war er erst als Elfjähriger ins Gelobte Land gekommen. Seine Kindheit verbrachte der Sohn russischstämmiger Juden in Argentinien. Beide Eltern waren Klavierpädagogen und blieben seine einzigen Lehrer. Trotz seines außerordentlichen Talents strebten sie keine Wunderkind-Karriere für ihren Sohn an, bewusst konzentrierten sie seine Auftritte auf zwei bis drei Monate pro Jahr.

1954 traf er in Salzburg Wilhelm Furtwängler, der ihn spontan dazu einlud, ein Konzert mit den Berliner Philharmonikern zu spielen. Doch Barenboims Vater lehnte dies ab, seit dem Holocaust waren schließlich erst wenige Jahre vergangen. Wenigstens durfte der Knabe neben dem Dirigenten sitzend allen Orchesterproben zu Don Giovanni beiwohnen. Als 13-Jähriger ging er mit einem Stipendium für zwei Jahre nach Paris, um bei Nadia Boulanger Harmonielehre und Komposition zu studieren. Im selben Jahr gab er dort sein Klavierdebüt. London und New York folgten in den nächsten Jahren. Nachdem er 15-jährig mit Leopold Stokowski in der Carnegie Hall aufgetreten war, war seine internationale Pianistenkarriere nicht mehr aufzuhalten, Barenboim reiste um die Welt.

1960 spielte er in Tel Aviv erstmals sämtliche Beethoven-Klaviersonaten, die er bereits als 16-Jähriger auf Platte aufgenommen hatte. Im folgenden Jahr gab er sein Dirigierdebüt mit dem Israel Philharmonic Orchestra. Prägend verlief seine Begegnung mit Sir John Barbirolli. Dieser wurde zu einem seiner wichtigsten Lehrmeister, der auch die Beziehung zum English Chamber Orchestra herstellte, was in der Aufnahme aller Mozart-Konzerte mit Barenboim als Dirigent und Solist in Personalunion gipfelte.

Schon bald gastierte er auch als Dirigent bei nahezu allen großen Orchestern. Seine erste Stelle als Musikdirektor trat er im Jahre 1975 beim Orchestre de Paris an. Neben den Standardwerken der Klassik und Romantik erarbeitete er hier auch eine Vielzahl von zeitgenössischen Werken. Trotz zahlreicher Angebote amerikanischer Orchester blieb er an der Seine, um seiner an Multipler Sklerose erkrankten Frau Jacqueline du Pré nahe sein zu können, die 1987 verstarb. Im Jahre 1991 wurde er als Nachfolger von Sir Georg Solti zum Musikdirektor des Chicago Symphony Orchestra ernannt, das er als Ehrendirigent im Jahre 2006 verließ.

Doch Barenboims dirigentisches Wirken beschränkte sich nicht nur auf den Konzertsektor. Nachdem er bereits 1973 beim Edinburgh Festival seinen Einstand als Operndirigent mit Mozarts Don Giovanni gefeiert hatte, debütierte Barenboim 1981 mit einer Neueinstudierung von Tristan und Isolde in Bayreuth, wo er bis 1999 alljährlich dirigieren sollte. 1992 wurde er überdies Generalmusikdirektor und Künstlerischer Leiter der Staatsoper Unter den Linden, wo er das noch osteuropäisch geprägte Repertoire mit Werken von Harrison Birtwistle, Pierre Boulez und Elliott Carter belebte und das Orchester zu einem Ensemble der Weltklasse formte. Die Musiker dankten es ihm, indem sie ihn im Jahre 2000 zum Chefdirigenten auf Lebenszeit wählten. Und er dankte es ihnen, als er 2002 erst dann einen Zehnjahresvertrag als Generalmusikdirektor unterschrieb, nachdem seinen Musikern eine erhebliche Gehaltserhöhung gewährt worden war.

Das trug auch künstlerische Früchte: 2003 wurde die Staatskapelle Berlin mit Barenboim mit einem „Grammy Award“ für die Einspielung von Tannhäuser belohnt. Seit 2006 hat Barenboim darüber hinaus den Ehrentitel „Maestro scaligero“ inne, der ihm vom Intendanten der Mailänder Scala verliehen wurde, deren musikalische Direktion er im Jahre 2011 übernahm und bis 2014 innehatte.

Dass er während seines langen und reichen Künstlerlebens ein breites Repertoire erarbeitet hat, ist nicht verwunderlich. So hat er neben den üblichen klassischen Werken auch Duke-Ellington-Titel, Tangos, afroamerikanische Stücke und brasilianische Werke aufgenommen.

Im Jahr 2005 wurde in Berlin auf seine Initiative hin der erste Musikkindergarten gegründet, bei dem er auch als Erzieher hervortritt, weil „unser gesamter Musikbetrieb seine Funktion verliert, wenn wir weiterhin die musikalische Bildung der Kinder vernachlässigen“, wie er in seiner Eröffnungsrede zu einer Bildungswerkstatt für Kinder betonte. Dass solche Äußerungen nicht nur als Lippenbekenntnisse zu verstehen sind, bewies er damit, dass er die Dotierung des „Ernst-von-Siemens-Musikpreises“, der ihm 2006 verliehen wurde, zur Gänze spendete, wobei er zwei Drittel für die Sanierung der Berliner Staatsoper und das restliche Geld in seine Musikstiftung fließen ließ. Darüber hinaus gründete er in Berlin mit der Barenboim-Said-Akademie eine pädagogischen Einrichtung im Geist des West-Eastern Divan Orchestra, wie auch ein Projekt für Musikerziehung in den Palästinensergebieten.

Bei dieser Vielzahl von Aktivitäten – schließlich ist er auch mehrfach als Buchautor hervorgetreten und hat ein neuartiges Klavier entwickelt – sollte man meinen, Barenboim wäre ein rastlos Getriebener, der ständig zwischen seinen vielfältigen Verpflichtungen hin und her pendelt. Doch damit würde man seiner Person nicht im Mindesten gerecht, handelt es sich bei ihm doch um einen höchst humorvollen und geistreichen Gesprächspartner, der auch den gemütlichen Seiten des Lebens einiges abzugewinnen weiß. Als „Normalsterblicher“ fragt man sich natürlich, wie dies bei solch einem Arbeitspensum möglich ist.

Doch darauf gibt es nur eine Antwort: Daniel Barenboim ist eben ein Phänomen.

FRAGEN AN DANIEL BARENBOIM

Wenn Sie die Möglichkeit hätten, mit irgendeinem Komponisten, ob tot oder lebendig, einen Abend zu verbringen, mit wem wollten Sie sich treffen und was würden Sie ihn fragen?

Natürlich Mozart. Es gibt gute und schlechte Komponisten, es gibt große Komponisten – und es gibt Mozart. Es ist unfassbar, was alles in seiner Musik steckt und in welch kurzem Zeitraum er all dies geschaffen hat. Und dabei war er sicherlich ein sehr lustiger Mensch. Ein Abend mit Mozart wäre eine Lektion fürs Leben. Ich würde ihn nichts fragen wollen, ihn nur beobachten.

In welcher Zeit hätten Sie als Komponist am liebsten gelebt?

Kann ich nicht sagen. Es gab zu allen Zeiten gute und schlechte Komponisten. Zeitgenössische Musik interessiert mich nur dann, wenn sie gut ist, etwa von Carter, Boulez, Lutosławski und Birtwistle.

Auf der Bühne entfernt man sich immer mehr vom Urtext, während man sich im Orchestergraben diesem immer mehr nähert. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?

Ich habe nicht den Eindruck, dass man sich auf der Bühne vom Urtext entfernt, es ist vielmehr ein Problem der Subjektivität, also dem Fehlen der Objektivität. Bei der absoluten Musik empfinden wir vielleicht unterschiedlich in der Intonation oder in der Lautstärke, aber wir sind uns einig über den Ton, der gespielt werden muss. Auf der Bühne ist es etwas ganz anderes: Da erzählt man eine Geschichte. Dabei sucht man manchmal Originalität mit künstlichen Mitteln. Und dazu benötigt man ein Konzept, das manches Mal sicherlich interessant sein kann. Doch leider wird dann häufig das Konzept, das heißt, das subjektive Empfinden inszeniert – und nicht das Stück selbst.

Seit dem 20. Jahrhundert besteht das Konzertprogramm zu 90 Prozent aus Musik schon längst verstorbener Komponisten. Worin liegt Ihrer Meinung nach die Begründung dafür?

Dies hängt sicherlich mit dem Ende der Tonalität zusammen. Ein Urelement der Musik, die so wichtige Dualität von Spannung und Auflösung, die für den Zuhörer von großer Wichtigkeit ist, ging mit der Tonalität verloren. Die gibt es zwar auch in der atonalen Musik, dort jedoch ist sie viel schwieriger zu begreifen. Zwar wurden in den letzten Jahren, auch dank der Bemühungen von Pierre Boulez, große Fortschritte in der Rezeption von zeitgenössischer Musik gemacht. Dennoch gibt es heutzutage Milliarden von zum Teil hoch gebildeten Menschen, die überhaupt keinen Bezug zur Musik und daher erst recht keinen Zugang zur neuen Musik haben.

Es gibt immer mehr sehr gute Orchester und immer weniger herausragende Dirigenten. Woran liegt das?

Das liegt auch daran, dass die Orchester besser geworden sind. Viele Probleme, die früher ein Dirigent gelöst hat, stellen sich heute dem Orchester nicht mehr. Vor 30 oder 40 Jahren war etwa die „Siebte“ von Mahler ein Koloss, den ein Orchester niemals ohne Dirigent hätte spielen können. Auch dadurch, dass sich das Repertoire nicht mehr ständig vergrößert, ist die Repertoirekenntnis der Musiker naturgemäß viel größer geworden. Zudem verlangt man heute von einem Dirigenten, dass er schon fertig auf die Bühne kommt. Der kann aber, im Gegensatz zu einem Instrumentalisten, zu Hause nicht üben.

Herbert von Karajan hat zu mir einmal gesagt: „Ein Dirigent braucht zehn Jahre, von dem Tag an, an dem er regelmäßig dirigiert, bis er zu dem Punkt kommt, an dem er von dem Orchester bekommen kann, was er haben möchte. Erst nach diesen zehn Jahren kann man überhaupt erkennen, ob es sich um einen begabten oder unbegabten Dirigenten handelt.“ Wenn heute ein junger Dirigent auftaucht, werden sofort die höchsten Erwartungen an ihn gestellt, die er natürlich nicht erfüllen kann. So erwartet man von ihm, dass er einen Betrieb leiten kann und sich bestens in der Kulturpolitik auskennt – zusätzlich zum handwerklichen Können.

Welche gesellschaftliche Aufgabe hat die Musik in der heutigen Zeit?

Nicht diejenige, die sie haben müsste, denn es gibt keine musikalische Bildung. Wenn wir wollen, dass unser musikalisches Leben noch in 50 Jahren in ähnlicher Form existiert, muss ein radikales Umdenken in der musikalischen Bildung einsetzen.

Wären Sie kein Dirigent geworden, welchen Beruf hätten Sie ergriffen?

Die Frage hat sich mir niemals gestellt.

Welcher Dirigent ist Ihr Vorbild und warum?

Hauptsächlich Furtwängler. Er hatte eine eigene Mischung aus Denken und Fühlen und die Fähigkeit, aus dem Moment Neues zu schöpfen.

Was war Ihr bewegendstes Musikerlebnis?

Ich habe so viele gehabt … Klavierabende von Rubinstein, Konzerte mit Kubelik …

Womit verbringen Sie am liebsten Ihre Freizeit?

Lesen, Theater, Kino.

Was hören Sie in Ihrer Freizeit?

Nichts.

Sind Interpretationsschemata dem Zeitgeist unterworfen?

Ja und Nein. Nein, weil der Text ja gleich bleibt. Was in den Noten steht, und damit meine ich auch, was zwischen den Zeilen steht, ergibt allerdings mehr Möglichkeiten, als in einer Aufführung realisierbar sind. Ein Kunstwerk ist wie ein Berg. Man sieht nur einen Teil, wenn man vor ihm steht, der andere bleibt verborgen, es beinhaltet also viel mehr, als der Mensch auf einmal erkennen kann. Und jeder Zeitgeist legt einen anderen Akzent auf die Sichtweise.

Welche Art von wissenschaftlicher Forschung würden Sie unterstützen?

Die musikalische Erziehung.

Würden Sie noch einmal geboren, was würden Sie anders machen?

Zuerst einmal würde ich versuchen, ein paar falsche Töne weniger zu spielen. Ansonsten bin ich zufrieden, weil ich meinen Frieden mit meinen Grenzen geschlossen habe. Ich versuche, stets mein bestes Niveau zu erreichen. Niemand spielt zufällig besser, als er ist, er spielt zufällig schlechter, weil er aus irgendeinem Grund nicht in idealer Form ist. Unser Bestes ist unser Niveau, und danach müssen wir streben.

Welche drei Dinge würden Sie auf eine einsame Insel mitnehmen?

Mein Gedächtnis, mein Gehirn, meine Vitamine. Mein Gedächtnis, um nichts von meinem Wissen zu vergessen, mein Gehirn, dass ich dies immer wieder neu erarbeiten kann, und meine Vitamine, dass ich die Kraft dafür habe.

Welches Motto steht über Ihrem Leben?

Kein Motto.

DER KOMPROMISSLOSE

BERTRANDDE BILLY

* 11. Jänner 1965, Paris

Der Beruf eines Dirigenten wurde Bertrand de Billy nicht in die Wiege gelegt.

Obwohl er sich bereits als Fünfjähriger vor dem heimischen Plattenspieler in Pose warf und das unsichtbare Orchester dirigierte, mit einem Buch in der Hand, das ihm als „Partitur“ diente. Allerdings nahmen seine Eltern, beide nicht eben musikbegeistert, dies nicht allzu ernst und taten es als Kinderei ab. Doch so leicht ließ sich der Filius nicht entmutigen. Er trat einem Chor bei, was er heute als die „beste musikalische Erfahrung“ seiner Kinderzeit bezeichnet. Als Instrument hatte er die Violine gewählt. Glücklicherweise hatte er eine ambitionierte Lehrerin gefunden, die ihn so weit ausbildete, dass er am „Conservatoire national“ in Paris studieren konnte. Zum Entsetzen seines Vaters, der ihm nach dem ersten Gespräch mit seiner Professorin beschied: „Es ist eine Katastrophe, du bist begabt!“ Doch dieser Schock hielt glücklicherweise nur kurz an – sein Talent wurde nun auch von zu Hause aus gefördert.

Nach dem Studium begann er seine professionelle Musikerkarriere als Geiger und Bratschist bei zwei kleineren Orchestern der französischen Hauptstadt. Doch schon nach kurzer Zeit genügte es ihm nicht mehr, seine musikalischen Vorstellungen innerhalb eines Kollektivs auszuleben. Kurzerhand stand er also auf und stellte sich 1986 vor sein Orchestre symphonique des Jeunes d’Île-de-France, wo er für die nächsten vier Jahre als Chefdirigent die gesamte symphonische Bandbreite von der Barockmusik bis zur Moderne durchmessen konnte. Die fehlende Erfahrung der jugendlichen Musiker wurde durch ihre Begeisterung aufgewogen. Die Erfolge, die de Billy mit seinem ambitionierten Ensemble feiern konnte, riefen schließlich sogar das Kulturministerium auf den Plan, das ihn vorlud und zur Zurückhaltung ermahnte, da er mit seinen Studenten so manchem professionellen Orchester den Rang ablaufe. Seine Reaktion auf diese Zurechtweisung war eindeutig: In einer Pariser Kirche führte er mit seinem Orchester triumphal das Verdi-Requiem auf.

Nach einer einjährigen Assistenz bei Philippe Entremont wurde er 1990 zum stellvertretenden Generalmusikdirektor des Pariser Orchestre Colonne ernannt. Weil ihn dies offensichtlich nicht ausfüllte, das Geigenspiel hatte er unterdessen gänzlich aufgegeben, gründete er in demselben Jahr mit der Académie de l’Île Saint-Louis sein eigenes Orchester, dem er bis 1994 vorstand.

Für viele überraschend zog de Billy 1993 in die deutsche Provinz um, wo er für die nächsten zwei Jahre als stellvertretender Generalmusikdirektor an das Anhaltinische Theater in Dessau ging, um sich intensiver mit der Oper auseinandersetzen zu können. Offensichtlich mit Erfolg, denn seine nun dynamisch ansteigende Karriere machte er vorerst an verschiedenen Opernbühnen. Nach seinem Debüt an der Wiener Volksoper im Jahre 1994 wurde de Billy 1996 für zwei Jahre als Erster Kapellmeister an dieses Haus berufen.

Zu diesem Zeitpunkt war er schon ein gefragter Dirigent, der an den größten Opernhäusern wirkte. Ob Londons Covent Garden, wo er 1995 debütierte, an der Pariser Opéra Bastille (Debüt 1996), den Staatsopern in Berlin (1996), Hamburg (1997) und München (1997) oder dem Théâtre de la Monnaie in Brüssel: Überall war de Billy ein gern gesehener Gast.

Ein weiterer Karriereschub setzte 1997 ein, als Placido Domingo einer Vorstellung von Ambroise Thomas’ Hamlet an der Wiener Volksoper beiwohnte. Denn der große Sänger, Leiter der Opernhäuser in Washington und Los Angeles, war von der Leistung des Dirigenten so angetan, dass er ihn spontan dazu einlud, Charles Gounods Roméo et Juliette in der Hauptstadt der Vereinigten Staaten einzustudieren. Was offensichtlich zu Domingos größter Zufriedenheit verlief, denn nach seinem beachtlichen Erfolg in Washington bat er den jungen Dirigenten, im darauffolgenden Jahr auch in Los Angeles zu dirigieren. Und zwar eine Carmen, in der er selbst den Don José singen sollte. Als weiteres Zeichen seines uneingeschränkten Vertrauens in die Fähigkeiten de Billys empfahl ihn der Tenor gleich noch an die Metropolitan Opera in New York, wo er, wiederum mit Roméo et Juliette, einen solchen Erfolg feierte, dass er seitdem regelmäßig an Amerikas berühmtestem Opernhaus gastiert.

Eine weitere Bewährungsprobe stand de Billy im Jahre 1999 bevor. Gerade war das Gran Teatro del Liceu in Barcelona nach einem Brand wiedereröffnet worden, als er dort zum Generalmusikdirektor ernannt wurde. Dafür hatte er sich viel vorgenommen. Innerhalb von fünf Jahren wollte er dem herabgewirtschafteten Opernhaus wieder zu altem Glanz verhelfen und vor allem das Orchester einer weitreichenden Reform unterziehen.

Als Grundlage für seine ehrgeizigen Pläne sollten die Werke Wagners und Mozarts dienen. Nach seiner Meinung bildet Mozart die Grundlage der Spielkultur, während Wagners Opern die technischen Herausforderungen beinhalten, die die Musiker zu ihrer Perfektionierung benötigen. Folgerichtig beinhalteten seine 16 Premieren, die er in fünf Jahren dirigierte, sämtliche große Mozart-Opern sowie einen viel beachteten Tristan und die Ring-Tetralogie.

Sein Ruf als außerordentlicher Operndirigent war inzwischen so weit gediehen, dass er im Jahr 2002 erstmals bei den Salzburger Festspielen mit gleich zwei Produktionen betraut wurde. Mit den Wiener Philharmonikern führte er Mozarts Zauberflöte auf, während er die konzertante Fassung von Gounods Roméo et Juliette mit dem Radio-Symphonieorchester Wien bestritt. Schließlich leitete er an der Wiener Staatsoper 2004 mit der französischen Fassung von Verdis Don Carlos in einer Inszenierung von Peter Konwitschny seine erste, heftig akklamierte Premiere. Dieser folgten die nicht minder erfolgreiche Premieren von Idomeneo (im Theater an der Wien) und Manon mit Anna Netrebko in der Titelrolle.

Doch gerade als man ihn als erstklassigen Operndirigenten anzusehen begann, übernahm de Billy im Jahre 2002 mit der Leitung des Radio-Symphonieorchesters Wien (RSO) wieder die Chefposition bei einem ausgesprochenen Konzertorchester. Dieser Klangkörper, ein bislang vor allem für seine Pflege der zeitgenössischen Musik bekanntes Ensemble, war zu jener Zeit ernsthaft in seiner Existenz bedroht. Doch de Billy ist nicht der Mann, der sich von solchen Problemen abschrecken lässt. Nach zwei Jahren intensiver Arbeit, in denen er die Qualität des Orchesters erheblich gesteigert hatte, und einem daraus resultierenden Erfolg bei Publikum und Kritik war die Krise so weit abgewendet, dass der Personalstand gehalten werden konnte. Sogar zu einem umjubelten Opernorchester hat er sein Orchester umgeformt, das seitdem regelmäßig im Theater an der Wien gastiert.

Ungeachtet der mächtigen Konkurrenz vor Ort hat sich das RSO unterdessen auch erfolgreich mit der Musik der Klassik und Romantik auseinandergesetzt und sich damit neue Hörerschichten erschlossen. Schließlich lautet einer von de Billys Leitsätzen, dass „ein Orchester, das nicht“ dazu fähig ist, „eine ordentliche Mozart-Symphonie“ zu spielen, auch „für eine Uraufführung nicht gut genug ist“, wie er in einem Interview mit „OehmsClassics“ betonte.

Denn er nimmt auch die Vorbehalte des Publikums gegen zeitgenössische Musik sehr ernst und überlegt sich Wege, wie man dem am besten begegnen kann. „Zunächst einmal muss es Spaß machen, auch den Musikern, denn dann ist das Neue nämlich kein Ghetto mehr … Dieses: ‚Man muss sich auskennen!‘, dieses Gefühl, dass man nicht dazugehört, weil man etwas nicht versteht, … das führt zu einem falschen Spezialistentum“, meinte er 2004 in einem Interview mit dem Magazin „Musikfreunde“.

Nachdem er 2010 die Leitung des Radio-Symphonieorchesters Wien aufgegeben hatte, die ihn nach eigener Aussage „viele Nerven“ gekostet hatte, strebte de Billy vorerst keine Chefposition mehr an und arbeitet unterdessen als erster Gastdirigent des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters, des Orchestre de Chambre de Lausanne und seit 2014/2015 auch der Dresdner Philharmonie, neben seinen regelmäßigen Auftritten an den größten Opernhäusern der Welt.

Natürlich hat Bertrand de Billy sein Können auch schon mehrfach auf Tonträgern dokumentiert. Mit einigen seiner Projekte ist er sogar in das ureigenste Gebiet der Konkurrenz von der Staatsoper eingedrungen, indem er neben Eugen d’Alberts Tiefland mit einem jungen Sängerensemble auch sämtliche Da-Ponte-Opern von Mozart auf CD eingespielt hat.

Trotz aller Erfolge hält de Billy immer wieder an seinem Grundsatz fest, keine künstlerischen Kompromisse einzugehen, selbst wenn es seiner Karriere nicht förderlich ist. Diese Erfahrung musste schon Daniel Barenboim machen, als der Franzose im Jahre 2007 die Premiere von Jules Massenets Manon an der Berliner Staatsoper absagte, weil mit ihm nicht abgesprochene Kürzungen in der Partitur gemacht werden sollten. Aus demselben Grund legte er im Jahre 2014 die geplante Premiere von Lohengrin an der Wiener Staatsoper zurück, was sogar so weit führte, dass er unter der derzeitigen Direktion nicht mehr an diesem Haus auftreten will.

Eine solche Kompromisslosigkeit ist eben auch ein Charakteristikum eines großen Dirigenten.

FRAGEN AN BERTRAND DE BILLY 

Wenn Sie die Möglichkeit hätten, mit irgendeinem Komponisten, ob tot oder lebendig, einen Abend zu verbringen, mit wem wollten Sie sich treffen und was würden Sie ihn fragen?

Sicher nicht Monteverdi, Bach oder Mozart, obwohl ich diese drei am meisten verehre. Aber die waren nicht von dieser Welt. Ohnehin glaube ich nicht, dass es einen großen Sinn hat, mit einem Komponisten über sein Werk zu sprechen, da er üblicherweise nicht viel darüber zu sagen hat. Als ich Henri Dutilleux getroffen habe, haben wir fast überhaupt nicht von seiner Musik gesprochen, sondern über so viele andere interessante Themen – das war wunderbar.

Am liebsten würde ich mit Berlioz zusammentreffen, weil er so eine umfassende Bildung besaß, und einfach mit ihm plaudern.

In welcher Zeit hätten Sie als Komponist am liebsten gelebt?

Sicherlich nicht heute, in der Zeit der verkrampften Suche nach neuen Klangeffekten. Wahrscheinlich in der Zeit von Brahms, Bruckner und Mahler, als die Formen sich völlig aufgelöst haben und so viele neue Richtungen entstanden sind.

Auf der Bühne entfernt man sich immer mehr vom Urtext, während man sich im Orchestergraben diesem immer mehr nähert. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?

Vor einiger Zeit ist die sogenannte „Wiener Fassung“ von Mozarts Don Giovanni herausgekommen. Die Kürzungen, die bei der damaligen Aufführung gemacht wurden, habe ich zwar sofort umgesetzt, doch teilweise wieder rückgängig gemacht, weil Mozart sie offensichtlich nur aus pragmatischen Gründen, etwa wegen einer schlechten Besetzung oder auch wegen der Zensur, gemacht hat. Meine Antwort lautet also: Ja zum Urtext, aber im Endeffekt muss der Dirigent entscheiden dürfen, was er umsetzt. Bei der Regie ist es ganz ähnlich. Solange die Regie die Musik nicht stört, ist alles möglich. Ich habe in Barcelona Don Giovanni mit Calixto Bieito gemacht. Obwohl es fürchterlich brutal war, hat es mich überzeugt. Ein Grundproblem von vielen heutigen Regisseuren liegt allerdings darin, dass sie überhaupt keine Kenntnis mehr von der Musik und dem Libretto haben, und mit denen lehne ich eine Zusammenarbeit ab.

Seit dem 20. Jahrhundert besteht das Konzertprogramm zu 90 Prozent aus Musik schon längst verstorbener Komponisten. Worin liegt Ihrer Meinung nach die Begründung dafür?

In erster Linie tragen wir daran die Schuld. Die wenigsten Dirigenten sind dazu bereit, ein neues Stück zu lernen. Und wie sollen wir das Publikum von der Qualität eines Stückes überzeugen, wenn wir es selbst nicht wollen. Es ist unsere Aufgabe UND PFLICHT als Dirigent, den Veranstaltern, den Musikern und dem Publikum zu zeigen, dass es auch gute zeitgenössische Musik gibt. Und das erfordert viel Mühe. Dabei ist die Angst vor der neuen Musik nicht angeboren. Als meine Frau „Donna Elvira“, Schönbergs Erwartung und Bergs Wozzeck gesungen hat, sang meine siebenjährige Tochter in der Badewanne alle drei Stücke mit der gleichen Begeisterung.

Es gibt immer mehr sehr gute Orchester und immer weniger herausragende Dirigenten. Woran liegt das?

Man braucht als Dirigent nicht gut zu sein, man muss nur besser sein als die anderen, was allerdings nicht unbedingt bedeutet, dass man gut ist. Einmal saß ich beim Dirigentenabschlusskonzert an der Wiener Musikuniversität – da war niemand, der einmal ein guter Dirigent werden wird! Niemand scheint mehr neugierig zu sein. Ich habe mit den jungen Leuten über die „Erste“ von Mahler geredet und nicht einer kannte die Aufnahme von Bruno Walter, der schließlich noch mit Mahler zusammengearbeitet hatte. Die Studenten hätten in Wien die Möglichkeit, alle großen Dirigenten bei der Probe zu erleben und mit ihnen zu sprechen, doch niemand geht hin. Das ist jedoch nicht nur in Wien so. Als ich vor 20 Jahren Georges Prêtre zum ersten Mal wegen einer Neueinstudierung der Perlenfischer traf, sagte er mir, dass ich der erste Student sei, der sich jemals bei ihm gemeldet hat.

Allerdings muss man auch sagen, dass mit Ausnahme von Daniel Barenboim die wenigsten Dirigenten ihre Verpflichtung erkennen, ihre Erfahrungen an die jungen Kollegen weiterzugeben.

Welche gesellschaftliche Aufgabe hat die Musik in der heutigen Zeit?

Das Ziel eines Konzerts sollte darin bestehen, im Publikum ein positives Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen, das die Menschen einander näherbringt.

Wären Sie kein Dirigent geworden, welchen Beruf hätten Sie ergriffen?

Entwicklungshelfer.

Welcher Dirigent ist Ihr Vorbild und warum?

Daniel Barenboim, weil er nicht nur ein großer Musiker, sondern auch ein großer Geist ist. Toscanini wegen seiner Energie und rhythmischen Präsenz. Ebenso Fritz Reiner und Erich Kleiber, dessen Mozartaufnahmen auch heute noch ihre Gültigkeit haben. Der Grandseigneur Bruno Walter, weil man seine natürliche Autorität, die aus Wissen und Können resultierte, noch heute in seinen Aufnahmen spüren kann. Und so viele andere wie Klemperer, Mitropoulos, George Szell, Pierre Monteux, Charles Munch, Istvan Kertesz …

Was war Ihr bewegendstes Musikerlebnis?

Bachs h-Moll-Messe unter Carlo Maria Giulini in Paris. Er hat uns alle zwei Stunden lang in den Himmel geführt.

Womit verbringen Sie am liebsten Ihre Freizeit?

Mit meiner Familie.

Was hören Sie in Ihrer Freizeit?

Sehr viel Jazz und sicher niemals meine CDs! Zur Entspannung auch Gregorianik.

Wenn ich etwas Neues einstudiere, höre ich mir nach dem Studium sehr viele Aufnahmen davon an, aber im Moment gibt es keine Freizeit mehr.

Sind Interpretationsschemata dem Zeitgeist unterworfen?

Ja. Alles ist, sofern es überzeugend dargebracht wird, legitim, schließlich lebt man auch als Dirigent in seiner Zeit und wandelt sich zusammen mit ihr.

Welche Art von wissenschaftlicher Forschung würden Sie unterstützen?

Die Forschung nach alternativer Energie.

Würden Sie noch einmal geboren, was würden Sie anders machen?

(lacht) Nicht zunehmen! Mehr auf den Ausgleich zwischen Körper und Geist achten.

Welche drei Dinge würden Sie auf eine einsame Insel mitnehmen?

Meine Familie, Der kleine Prinz von Saint-Exupéry und eine Flasche Dom Pérignon 1996.

Welches Motto steht über Ihrem Leben?

Ernst bei der Sache, nicht allzu ernst bei sich selbst.

DER PROVOKATEUR

PIERRE BOULEZ 

* 26. März 1925, Montbrison

† 5. Jänner 2016, Baden-Baden

Widersprüchlicher konnte ein Mensch kaum sein.

Bereits als 20-Jähriger hatte Pierre Boulez bei einem Pariser Strawinsky-Konzert lautstark gegen dessen „neoklassische Färbung“ protestiert, obwohl er ihn bis zuletzt als sein Vorbild bezeichnete – und dieser ihn wiederum als seinen legitimen Erben ansah. Als in den 1950er-Jahren die Wiederentdeckung von Schönberg einsetzte, proklamierte er kurzerhand, dass „Schönberg tot“ sei, weil er sich zu wenig radikal von den konventionellen Satzformen entfernt hätte – einige Jahre später führte er ihn exemplarisch auf. Die Kompositionen von Alban Berg bezeichnete er als Kitsch, um an anderer Stelle seine Liebe zu ihm einzugestehen.

Obwohl ihn Otto Klemperer als den Einzigen seiner Generation bezeichnet hat, der ein ausgezeichneter Dirigent und Musiker sei und er für seine zahllosen Aufnahmen unglaubliche 26 „Grammy Awards“ erhielt, betrachtete er sich nicht in erster Linie als Dirigent.

Niemals hätte man solche Widersprüchlichkeiten bei einem anderen Künstler hingenommen – Pierre Boulez war einer der wenigen Musiker, dessen Äußerungen in jedem Falle ernst genommen wurden. Denn er war schon zu Lebzeiten zu einer Institution geworden, wobei man anmerken sollte, dass er auch gleichzeitig als einer der führenden Komponisten unserer Zeit galt.

Allerdings zeitigten seine Äußerungen auch durchaus fatale Folgen. 1967 proklamierte Boulez in einem viel beachteten „Spiegel“-Interview, dass es am besten sei, „die Opernhäuser in die Luft zu sprengen“, was neben den üblichen Verwerfungen auf den Feuilletonseiten 34 Jahre später noch ein Nachspiel hatte, als er von einem Sonderkommando der Schweizer Polizei nächtens in seinem Basler Hotelzimmer überwältigt wurde, da er zu „Sprengstoffattentaten“ aufgerufen hätte … Die wackeren eidgenössischen Gesetzeshüter konnten natürlich nicht wissen, dass diese Äußerung grob aus dem Kontext gerissen war. Der Dirigent hatte damals lediglich die an Opern übliche Routine und ungenügende Vorbereitung bemängelt, der am „elegantesten“ auf diese Art zu begegnen sei. Pierre Boulez liebte es eben, Denkanstöße zu vermitteln. Schließlich hatte er zum Zeitpunkt dieses Aufrufs schon seine ersten großen Erfolge als Operndirigent gefeiert. Wieland Wagner hatte ihn überraschenderweise dazu eingeladen, 1966 den Parsifal in Bayreuth zu dirigieren. Das Wagnis gelang: Zwar brach der 38-Jährige bewusst mit allen Traditionen und entkleidete das „sanctum sanctorum Wagners“ von jeglicher Sentimentalität, doch durch die sachliche Annäherung geriet das Weihefestspiel in ein völlig neues, weil transparentes Licht. Nach diesem viel diskutieren Erfolg wurde Boulez zehn Jahre später damit beauftragt, zusammen mit dem Filmregisseur Patrice Chereau den Jahrhundert-Ring am Grünen Hügel zu gestalten. Die Rezeption durch das Publikum war für Boulez durchaus typisch: Gerieten die Aufführungen im ersten Jahr zum handfesten Skandal, endete die letzte Götterdämmerung vier Jahre später mit 101 Vorhängen und 90 Minuten Applaus, sodass er 2004 erneut zu einem Parsifal