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Zur Nacht und vor dem Einschlafen wird der kleinen Sina von ihrer am Bette sitzenden Mutter noch eine Gutenachtgeschichte vorgelesen: einige Seiten aus dem Märchenbuch Rabe Regenbach. Kurz darauf findet sich das Mädchen in ihren Träumen in genau dieser Geschichte höchstpersönlich wieder, ja erlebt, gemeinsam mit dem Rabenvogel namens Regenbach, als Prinzessin Sina ein recht spannendes Abenteuer. "Und die Moral von der Geschichte": Glück lässt sich nicht mit Geld erkaufen. Zufriedenheit ist keine Sache, die erst dann eine Seele unbeschwert macht, wenn sie etwa - und in welcher Art und Weise das auch immer erreicht wird - vergoldet ist.
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Seitenzahl: 460
Für meine Tochter
Anna-Lena
eingedenk (m)eines an sie vor langer Zeit gegebenen Versprechens
Träume wiegen nichts
Sie sind nicht schwer
Kennen keine Grenzen
Das ist das Fantastische
Und worum geht’s hier
Und nun träum was Schönes, meine Kleine
Und was nun Sinas Reich betrifft
Und? Was meint ihr?
Regenbach, mein Name
Und was, bitte schön
Euer Majestät!
Aber sag, wie kommst Du nur darauf
Also, an sich ist die Sache ganz einfach
Ich will es erklären
Gut, so machen wir‘s
Vielleicht ist es jetzt an der Zeit
Die Geschichte vom Rabenvogel Regenbach, der – allein vom Zufall gesteuert! – einer zwar sehr wohlhabenden und mächtigen, aber dessen ungeachtet in absolut trübsinnigen Verhältnissen lebenden Königsfamilie einen Besuch abstattet. Rabe Regenbach wird irrtümlich für einen der Prüfungsanwärter gehalten, die dem eitlen König drei Fragen beantworten dürfen. Ein Ritual, das einmal im Jahr und stets zur selben Zeit stattfindet. Wie immer, sollen die richtigen Antworten mit einer Handvoll Goldmünzen prämiert werden.
Im Gespräch mit dem König und seiner Familie erkennt Rabe Regenbach – der zwar in einem schlichten Umfeld zu Hause, aber dort rundum glücklich und zufrieden ist – sofort, wie unglaublich arm jene Menschen trotz ihres großen Reichtums letztlich sind. Zwei Welten stoßen aufeinander, Welten, wie sie unterschiedlicher nicht sein können. Rabe Regenbach findet seine Gegenüber keineswegs unsympathisch. Ganz im Gegenteil. Ihm tun diese Menschen leid. Sofort trifft er den Entschluss, ihnen zu helfen.
Überzeugt davon, dass er diesen Menschen nur sein Zuhause zeigen muss, ihnen nur das vorzustellen braucht, was in seinem Umfeld passiert – ja, was es dort alles zu erleben gibt! –, macht sich Regenbach ohne zu zögern daran, die Königsfamilie zu überreden, ihm dorthin zu folgen. Keine einfache Aufgabe, denn um Regenbachs Zuhause einen Besuch abstatten zu können, müsste die Familie ja ihr Zuhause verlassen, und das – nein –, das wird von denen mit Bestimmtheit nicht in Erwägung gezogen. Das ist noch nie passiert!
Doch dem Raben Regenbach gelingt sein Vorhaben. Allerdings anders, als er es sich anfangs erhofft hat. Nicht die gesamte Königsfamilie verlässt ihr Reich, sondern allein die beiden Königskinder. Aus einer gewissen Neugierde heraus sind die Geschwister dazu bereit, so ein Abenteuer einzugehen. Rabe Regenbach, die Prinzessin und der Prinz schreiten durch eine bis dato fest verschlossene Tür des Palastes hinaus und landen direkt in Regenbachs Welt.
Und fürwahr ist es für die Königskinder ein wunderbares Neuland, eines, das ihnen zwar nicht unbedingt auf Anhieb, aber innerhalb aller kürzester Zeit zunehmend und letztendlich tatsächlich sehr gefällt. Irgendwann nach langer Reise ins Schloss und somit zu den Eltern zurückgekehrt, berichten die Geschwister, was ihnen während ihrer Wanderschaft durch Rabe Regenbachs Land widerfuhr, was sie erlebten, ja, worin ihrer Meinung nach der Unterschied zwischen ihrem und Regenbachs Zuhause besteht.
Und ja, die erfrischende Entdeckerfreude und Wissbegierde der Königskinder, die grundehrliche Kompromissbereitschaft des Königs und der Königin sowie die verlässliche Unvoreingenommenheit Regenbachs, nicht zuletzt seine Fähigkeit, wärmende Zuneigung an den Tag zu legen, lassen hoffen, dass die Geschichte für alle glücklich endet. »Wie bitte?«, könnte man sich jetzt fragen: »Lassen hoffen? Hoffen? Es besteht nur die Hoffnung, dass die Geschichte ein glückliches Ende nimmt? Nur die Hoffnung?«
Ein Happy End ist insofern nicht gewährleistet? Vollkommen richtig! Das ist es in dieser Geschichte in der Tat nicht! Aber um zu erfahren, wieso das auch gut so ist, wie es ist, also, wieso in diesem Falle ein Happy End nicht nur keinesfalls vorhanden, sondern tatsächlich auch nicht vonnöten ist, kommt man nicht drumherum, sie zu lesen, die Geschichte, das Märchen von den zwei Welten, die sich per Zufall begegnen, sich gegenseitig wahrnehmen und nun entscheiden müssen, was nun zu tun sei.
Jedenfalls ist die Moral von der Geschichte: Nicht der Reichtum ist es, der Grenzen setzt, nein, weder der besessene noch der erhoffte, sondern allein des Menschen Einstellung dazu. Seine Sichtweise auf den Wohlstand ist es, die Grundeinstellung zum Besitz. Glück lässt sich nicht mit Geld erkaufen. Zufriedenheit ist keine Sache, die erst dann eine Seele unbeschwert macht, wenn sie etwa – und in welcher Art und Weise, das auch immer erreicht wird – vergoldet ist.
Peter Oebel / Februar 2019
»Und nun träum was Schönes, meine Kleine. Morgen …« Für einen kurzen Moment schauen sich beide wortlos an: die unmittelbar am Bette stehende Mutter und das vor ihr im Bette liegende Mädchen. In gewisser Weise, so könnte man wohl sagen, handelt es sich um so etwas wie ein Ritual, eine Zeremonie, die sich für gewöhnlich und tatsächlich so gut wie ausnahmslos zur selben Zeit tagtäglich wiederholt. »Morgen ist auch noch ein Tag.« Das Kind scheint mit diesem Verbleib nicht so recht zufrieden zu sein, woran ihre stracks an die Mutter gerichteten Blicke – und sie sind fürwahr flehentlich – keinen einzigen Zweifel zulassen. »Immer soll ich so früh schlafen, obwohl … obwohl ich kein einziges Bisschen müde bin. Immer!«
Auf dem Gesicht der Kleinen hat sich mittlerweile, so kann man sagen, gewissermaßen eine Art Grimasse formiert, ein Mienenspiel, das eigentlich allein dann gerechtfertigt wäre, wenn seine Verursacherin soeben gar unsägliche Qualen erlitten hätte, beziehungsweise immer noch erleiden würde. »Das ist ungerecht, ungerecht, ungerecht!« Mit jedem einzelnen Ungerecht war die Bettdecke wieder ein kleines Stückchen in Richtung Fußende gewandert, entfernte sich somit deutlich vom Kopf des Kindes, bis an dessen Kinn heran sie vor nur wenigen Sekunden zwei fürsorgliche Hände sanft gezogen hatte. Alles in allem eine Aktion, die den beiden sich in die Augen schauenden Diskutanten sehr vermutlich alles andere als unbekannt vorkommen dürfte.
»Schau doch, Sina«, beschwichtigende Freundlichkeit, vereint mit gewissenhafter Bestimmung liegen in der in Richtung Kopfkissen schwebenden Stimme der Mutter, »Der Tag war für uns beide lang, und für Dich ist es jetzt wirklich an der Zeit, ihn zu beenden. Morgen früh hast Du wieder Schule und da willst Du doch gut ausgeschlafen erscheinen.« So, als würde das ihre Bemühungen in irgendeiner Weise unterstützen können, unterbricht Sinas Mutter den Blickkontakt und schaut gelassen über die Bettwäsche: Kreuz und quer schreiten einige Wichtelmänner über die frisch gewaschenen und akkurat gebügelten Flächen aus himmelblauer Baumwolle, die insgesamt irgendwie – ja, doch –, irgendwie nach wohlbehüteter Geborgenheit duften.
»Wenn Du mir noch eine Geschichte vorlesen würdest …«, Sina, die unter der Bettdecke inzwischen ihre Beine so weit an ihren Körper herangezogen hat, dass sich das darüber liegende Oberbett zu einem nach allen Seiten hin steil ansteigenden Berg gewandelt hat, dessen runde Kuppe von zwei darunter aneinander gepressten Knie gebildet wird, schaut nun ebenfalls wie gelangweilt auf die Wichtel vor ihren Augen, »wirklich nur noch eine einzige …«, mit ihren Händen streicht sie mehrfach in Abwärtsrichtung über die Berghänge, »dann würde ich danach auch sofort einschlafen. Jawohl!« Für eine klitzekleine Ewigkeit herrscht eine absolute Ruhe in dem Raum, eine, die Spielraum für ein gewisses Erahnen zulässt. »Sofort würde ich dann schlafen, Mama. Sofort! Versprochen! Jawohl!«
Anbei und am Rande sei hier gleich zu Anfang unbedingt darauf hingewiesen, dass die kleine Sina es sich zur Angewohnheit gemacht hat, das Wort jawohl recht häufig zu benutzen. Und nur, dass das nicht etwa falsch verstanden wird: wenn Sina jawohl sagt, dann ist das in der Regel wirklich nicht als ein Ausdruck ihrer übertriebenen Unterwürfigkeit zu verstehen, so in etwa nach dem Motto: »Na gut, ich beuge mich« oder »Wenn‘s denn unbedingt sein muss, meinetwegen« oder – und das schon gar nicht! – »Zu Befehl!« Nein, nein. Das anzunehmen, wäre komplett an der Sache vorbei gedacht. Sina ist recht selbstbewusst, und das in einer Art und Weise, die dem kleinen Mädchen eine große Persönlichkeit bescheinigt. Nein, wenn Sina jawohl sagt, dann geht das einzig und allein in die Richtung »Doch!«, und »Natürlich!«, und »Garantiert!«, und »Selbstverständlich!« Also, nur, damit das klar ist. Jawohl!
Alles, einstimmig alles im Zimmer scheint augenblicklich spontan den Atem anzuhalten, wagt scheinbar in Erwartung der nun zu erwarteten Dinge weder sich von der Stelle zu bewegen noch zu Worte zu melden. Und es sind wahrlich nicht allein Mutter und Tochter, die sich so benehmen. Die an den Zipfeln von Sinas Kopfkissen positionierten Kuscheltiere – ein mit großen Augen freundlich staunend dreinschauender Cavalier King Charles Spaniel Welpe, dessen perlweißes Haarkleid mit kastanienroten Mustern versehenen ist, eine auf eine höchst liebenswürdige Art eher etwas träge wirkende Schildkröte und ein teilnahmslos staunender Maulwurf –, ja selbst die auf der Bettwäsche befindlichen Zwerge verhalten sich alle miteinander wie erstarrt, verharren nun genau in der Haltung, in der man sie vor ihrem letzten Augenzwinkern sah.
Aber wie bereits gesagt, handelt es sich in gewisser Weise um ein Ritual, das gewohnheitsmäßig, so, oder auch ähnlich so, tagtäglich und vom Ansatz her stets zur selben Zeit eine Wiederholung erfährt und somit, gleichsam in gewisser Weise, eine bestimmte Erwartungshaltung rechtfertigt. »Gut, Sina.« Die Mutter entscheidet sich für die längst überfällige Unterbrechung der anhaltenden Stille – des Stillschweigens, das immerhin einige lang anhaltenden Sekunden währte. »Na gut.« Ihre Stimmlage offenbart eine bunte Mischung aus nachvollziehbarer Resignation, abwägendem Pflichtgefühl und gütigem Verständnis. Letzteres stellt auch am heutigen Abend die alles entscheidende Weiche. »Dann werde ich das Buch noch einmal aufschlagen. Aber nur ein Kapitel, ein einziges!«
Sich den schräg gegenüber dem Bett stehenden Stuhl erneut zu schnappen – vor nur wenigen Minuten wurde er dorthin zurück an seinen festen Platz gestellt –, in dem neben dem Bett an der Wand hängenden Regal nach dem besagten Buch zu greifen – das bis eben noch die leise Hoffnung hegte, sich vielleicht am heutigen Tage einmal rechtzeitig zur Ruhe begeben zu können – und die Nachttischlampe eine Spur heller zu dimmen, bewerkstelligt die Mutter mit einem einzigen Handgriff, so kommt es Sina vor. Schalkhaft, offensichtlich verschmitzt, blicken die Zwerge von der Bettdecke zu dem Mädchen auf, lugen mit wachen, glänzenden Augen unter ihren roten Zipfelmützen hervor. Die stark erröteten Wangen der Wichtel verleihen der Situation eine zauberhafte Wärme.
Rabe Regenbach lautet der Titel des Buches, das Sinas Mutter vor sich auf ihrem Schoß abgelegt hat. Ihre Hände streifen zweimal sachte über den Frontdeckel des Einbands, bevor sie ihn gleich aufschlagen wird. Rabe Regenbach – ein patinagrüner, grauschwarz umrandeter Schriftzug, der sich auf tiefblauem Hintergrund abhebt. Der angenehm gelbliche Lichtschein der Nachttischlampe besinnt sich erneut auf seine verantwortungsvolle Aufgabenstellung, ist von Neuem dazu bereit, sowohl das Schwarz-auf-Weiß der Buchseiten klar wie deutlich auszuleuchten, als auch das nun wieder zufriedene Mädchen mit Milde in einem wohltuenden Schattenschleier ruhen zu lassen, der der immerhin recht weit vorgerückten Abendstunde in jeder Beziehung gerecht wird.
»Und – und wo genau … wo genau waren wir beiden Leseratten denn stehen geblieben, Sina …« Rasch blättert die Mutter einige Seiten in dem nun aufgeschlagenen Buch hin und her. »Ah, hier – genau hier. Wir blickten beide in den pompösen Thronsaal des hochherrschaftlichen Schlosses namens ‚Soll und Haben‘, das im fernen, fernen Lande ‚Berg und Tal‘ liegt … Wir durften einen Blick in das unvergleichlich imposante, hoheitsvoll eingerichtete Zimmer von kolossaler Größe werfen, staunten darüber, dass dort rundum alles, einfach alles in einem strahlend hellen Licht erglänzt.« Die Mutter hält kurz inne, schaut für einen Moment auf, sieht zur Tochter, die regungslos und mit geschlossenen Augen, ruhig und gleichmäßig atmend, auf ihrem Kissen ruht.
Und wieder einmal erweist sie sich als überaus einfühlsam, die Stimme der am Bette des Kindes sitzenden Mutter, der jungen Frau, die, was ihr Töchterchen betrifft, so schnell nichts aus der Fassung bringen kann. Die Stimme der geduldigen Vorleserin, die zumeist in der Lage ist, übergangslos eine Brücke zwischen dem Hier und dem Dort zu erbauen, ja die befähigt ist, in aller Regel zumindest einen schmalen Pfad zu finden, der die Realität der Gegenwart mit der Illusion zu verbinden versteht, mit der über alle Grenzen lautlos hinweg schwebenden Wahrnehmung, die sich aus gutem Grund ausschließlich außerhalb der Wirklichkeit antreffen lässt. Eine höchst grandiose Kunst, dessen Wichtigkeit wohl nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.
Dergestalt wandelt sich das kleine Zimmer zum großen Theater, das Bett zum Zuschauerraum, die Nachttischlampe zum Rampenlicht und das aufgeschlagene Buch zur Bühne, auf der, nach und nach, all die Schauspieler erscheinen, die das Schiff namens Fantasie über die weiten wie tiefen Meere der grenzenlosen Hoffnung segeln lassen. Gemeinsam mit der kleinen Sina haben sie wieder einen Platz genau in der Mitte der allerersten Reihe ergattert, der so auffallend freundlich dreinschauende Cavalier King Charles Spaniel Welpe, die gemütliche, stets etwas träge wirkende Schildkröte, der – wieso und weshalb auch immer? – gerne teilnahmslos staunende Maulwurf und selbstverständlich auch die Wichtel, die für die Vorstellung ihre roten Zipfelmützen abgenommen haben. Rabe Regenbach …
Ach ja, und keinesfalls darf er hier und jetzt gar vollkommen unerwähnt bleiben, der Rabenvogel – ein weiteres von Sinas Kuscheltieren –, der zwar nicht, und aus welchem Grunde auch immer, gemeinsam mit den drei anderen am Kopfende des Mädchens das dortige Kissen umlagern darf, sondern seinen festen Platz oben auf dem Bücherregal behauptet, von dem herab er in der Lage ist, in aller Seelenruhe das gesamte Zimmer zu überblicken – ein Vorzug, von dem er bekanntlich ununterbrochen Gebrauch macht. Adebar, so sein Name, Adebar. Nur wenige Minuten, nachdem Sina ihn von ihrem Vater an ihrem zweiten Geburtstag erhalten hatte, hat sie ihm diesen Namen gegeben, weil sie den Raben, so lässt sich vermuten, irrtümlich für einen Storch hielt. Sina bestand – und besteht! – auf Adebar.
Mit seiner Körpergröße von rundweg dreißig Zentimetern ist Adebar zwar nicht einmal halb so groß wie seine Artgenossen in der freien Natur, und zweifellos bringt er auch ein weitaus geringeres Gewicht auf die Waage als seine Brüder, aber dafür kann er eine relativ große, kreisrunde Brille sein Eigen nennen, die er tatsächlich Tag und Nacht, und gewiss nicht ohne Stolz, auf seinem mächtigen, leicht gebogenen, rabenschwarzen Schnabel trägt. Die Gläser seiner mit Silberdraht umrandeten Sehhilfe betonen die Wachheit seiner Augen einmal mehr, unterstreichen zusätzlich die gewisse Würde, die dieser höchst erhabene Vogel auszustrahlen versteht. Absolut bewegungslos und in stramm gerader Haltung steht er da, während er gespannt der dargebotenen Geschichte lauscht.
»Der pompöse Thronsaal …« Längst ist es nun die Vorleserin allein, die in diesen Minuten der abgedunkelten Stille in der Lage ist, die geträumte Illusion von der realen Wirklichkeit zu unterscheiden. »Der majestätische, mit rotem Samt bezogener Thron des Königs Siegher von Soll und Haben …« Noch vor dem King Charles Welpen, der Schildkröte, dem Maulwurf und den Zwergen, hat die Müdigkeit höchstpersönlich die kleine Sina in einem schmalen Boot hinüber in das Traumland gerudert. »Die hohen Fenster mit den langen, schweren, nahezu zugezogenen Samtvorhängen zu beiden Seiten …« Erneut hält Sinas Mutter inne, wendet ihren Blick vom aufgeschlagenen Buch und hin zu dem Kind, möchte wissen, ob es langsam an der Zeit ist, das Licht zu löschen und zu gehen.
»Die sorgsam von Künstlerhand vergoldete Blumensäule mit einer tiefgrünen, lang bis zum Boden hängenden Topfpflanze …« – Und allein der Rabenvogel Adebar scheint sich nun erfolgreich gegen die Müdigkeit erwehrt zu haben. Nein, diese Geschichte lässt ihn einfach nicht los. – »Der sonderlich wuchtige, von der Decke herab hängende Kronleuchter …« – Adebars Pupillen sind, das ist zu erkennen, nach links unten gewandert. Hoch oben, mittig auf dem Bücherregal stehend, blickt er wachsam auf das unter ihm befindliche Bett, schaut aufmerksam auf das behütete, im Schatten liegende Kind, dessen Silhouette auf der Dunkelheit zu schweben scheint, in die das Zimmer nun zunehmend und sacht gehüllt wird. – »Zwei Türen hat der Saal. Eine schmale, geschlossene Tür und eine breite offene …«
Die tiefe Lautlosigkeit, in die der Raum schleichend versunken ist, und die sich der Mutter während ihres Innehaltens bekundet, lässt keinen noch so geringen Zweifel daran, dass es für den heutigen Abend nun keinen Zuhörer namens Sina mehr in dem Zimmer für sie geben wird. Stille. Behutsam, ja in der Tat äußerst behutsam, klappt sie das Buch zu und schaltet, ebenfalls so unhörbar wie es die Situation ermöglicht, die Nachttischlampe aus. Beides durchaus rituelle Handlungen. Übergangslos fließt die gewünschte Dunkelheit in den nicht minder gewünschten Stillstand hinein. Sofort nachdem sie Rabe Regenbach zurück ins Regal gestellt hat, genau dorthin, wo das Buch einen festen Platz hat, bewegt sie sich, rückwärts, auf Zehenspitzen und mit dem Stuhl in der Hand, in Richtung Tür.
Im Türrahmen stehend kurz verharrend und den Türgriff in der Hand, gehen die Blicke der Mutter noch einmal durchs Zimmer, wandern hinüber zum Bett, schweifen einen Schritt links des Kopfendes zum Fenster, zu den vorgezogenen, geschlossenen Vorhängen, durch die noch ein seichter, goldgelber Schimmer des Mondlichts hinein in den Raum findet. Längst haben sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt, lassen sie das eine oder andere, mehr oder weniger gut erkennen. Der runde Teppich inmitten des Zimmers. Das am Fußende des Betts an der Wand hängende Bücherregal. Die Wichtel auf Sinas Decke, sie genießen ihren Tiefschlaf. Die Laternen – einige von ihnen halten ein Nachtlicht in der Hand – sind samt erloschen. Und Adebar? Er liegt im Schatten, ist nicht zu erkennen.
»Schlaf gut, meine Kleine«, flüstern ihre Lippen recht geradlinig in Richtung des Kinderbetts. »Schlaf gut und träum was Schönes.« Leise schließt die Mutter die Tür zu Sinas Reich. Für einen kurzen Moment bleibt sie noch, ein Ohr dicht am Türblatt, vor der geschlossenen Tür stehen, lauscht für einige wenige Sekunden, ob dahinter denn auch wirklich alles ruhig bleibt. Und ja, Mütter verhalten sich nun einmal so – so, und keineswegs anders! –, wenn sie tatsächlich gute Mütter sind. Im Kinderzimmer sind sie jetzt, und da ist sie sich sicher, nicht mehr wahrnehmbar, die Schritte, die sie über die Treppe, hinab in die untere Etage des Hauses führen. »Rabe Regenbach …«, hört sie sich denken. »Der pompöse Thronsaal …« Sie lächelt. »Der König Siegher von Soll und Haben …«
Und was nun Sinas Reich betrifft, so herrscht in ihrem gesamten Imperium fürwahr – es anders zu benennen, wäre vollkommen falsch – alles andere als Ruhe, oder, vielleicht besser gesagt, alles andere als eben genau die Ruhe, von der Sinas Mutter im Moment und aus gutem Grunde doch sehr überzeugt ist, dass sie im Zimmer ihrer Tochter herrscht. Nein. Aber wir wollen die gute Vorleserin nicht beunruhigen. Das hat sie nicht verdient. Sie hat doch weiß Gott alles getan, was man als liebevolle, verantwortungsvolle Mutter nur tun kann. Alles! So, wie es ist, so ist es gut. In den Stunden, die der Nacht gehören, geschieht es eben nicht selten, dass die Brücke, die die beiden Inseln namens ‚Realität‘ und ‚Illusion‘ verbindet, von beiden Seiten her begangen wird.
Der Rabe Adebar, der hoch oben vom Bücherregal herab durch seine großen, kreisrunden Brillengläser zu der kleinen Sina, dem King Charles Welpen, der Schildkröte, dem Maulwurf und den Zwergen blickt, die bewegungslos auf der Bettwäsche ruhen – bis auf ihn selber schlummern alle tief und fest –, der könnte es jederzeit bezeugen, wovon jetzt die Rede ist: Gemeinsam mit ihren drei Kuscheltieren und samt jener, auf ihrer Bettdecke beheimateten Wichtelmänner betrat sie bereits vor rundweg zehn Minuten die besagte Brücke, um sich inmitten dieser ihr so vertrauten Gesellschaft auf den Weg hin zu der Insel ‚Illusion‘ zu machen. Ganz unbestritten der couragierte Antritt einer Reise, die jenen neugierigen Reisenden beileibe allerhöchste Spannung, ja abwechslungsreiche Abenteuer verspricht. Und ja …
Und ja, ja, er ist wahrlich pompös, der hoheitsvolle Thronsaal des Schlosses ‚Soll und Haben‘, des hochherrschaftlichen Schlosses, das in dem fernen Lande ‚Berg und Tal‘ liegt. Alles, einfach alles in dem imposanten Saal glänzt in einem ungemein hellen Licht, in einem Licht, das von einem übergroßen, mittig von der Decke herab hängenden Kronleuchter tatsächlich bis fast – fast! – in die entfernteste Ecke dieser majestätischen Wohnhalle geflutet wird. Und dort, dort ganz hinten, sitzt er auf seinem mit rotem Samt bezogenen Thron, der König Siegher. (An dieser Stelle muss gleich etwas richtig gestellt werden! Es muss natürlich heißen: Und dort thront er. Ein König von Soll und Haben sitzt nicht, nein, natürlich nicht, ein so reicher und mächtiger Herrscher thront! Das sollten wir uns bitte unbedingt gleich merken.)
Und auf seinem Schoß, da hat es sich ein kleiner Hund bequem gemacht. Ein – man kann es gut erkennen – Cavalier King Charles Spaniel! Freundlich gelangweilt blickt es mit seinen großen Augen drein, das possierliche Tier, dem der König gedankenverloren seine rechte, mit gespreizten Fingern flach gehaltene Hand auf sein perlweißes, mit kastanienroten Mustern versehenes Haarkleid gelegt hat, unbewegt, was ganz den Eindruck macht, als würde er im Moment und für einen Moment sein länger anhaltenden Streicheln und Kraulen aussetzen.
Mehrere schmale, dafür aber erstaunlich hohe Fenster bilden an der rechts des Thrones gegenüberliegenden Wand einen fantastischen Ausblick auf die gepflegte Gartenanlage, die das Schlossgebäude umgibt. An jedem Fenster hängen beidseitig schwere Vorhänge aus Samt, dessen Rot um einige Nuancen heller ist, als der Bezug des Königsstuhls. Einige Meter links vom Thron steht eine prächtige Blumensäule aus mit Blattgold verziertem Palisander. Die Ranken des auf der Blumensäule in einem Keramiktopf stehenden Gewächses, Farn – Schwertfarn, um es genau zu sagen –, hängen weit über den Rand des Topfes und reichen bis hinab zum Boden. Anbei: Also, Geschmack hat sie, die Gemahlin des Königs, also, die Königin Siglind von Soll und Haben, das muss man ihr lassen. (Wo es sich doch bekanntlich so verhält, dass in aller Regel die ‚Hausfrau‘ für die Dekoration zuständig ist. Oder?)
Gleich hinter der beeindruckend breiten, schweren doppelflügeligen Haupteingangstür – die zum Glück scheinbar stets weit offen steht, sodass sich Sina nebst ihren treuen Begleitern klammheimlich durch sie hindurch und direkt in den Thronsaal hinein mogeln konnte –, zeigt sich der kolossale Raum in seiner ganzen Pracht. Der im Saal unmittelbar rechts neben dem Eingang stramm in gerader, äußerst senkrechter Haltung stehender Mensch männlichen Geschlechts, ein Soldat der Königlichen-Wachgarde – Friedhelm Standhaft, sein Name, das darf an dieser Stelle wohl getrost verraten werden –, bemerkt die Eindringlinge offenbar nicht, was nicht zuletzt auch daran liegt, dass sich jeder von ihnen – und das, so lautlos wie möglich und den Rücken an die Wand gepresst! – nun in dem Bereich des Saals aufhält, der einzig und allein noch im Schatten liegt.
Wie die Hühner auf der Stange, mit eng angezogenen Knien dicht aneinander aufgereiht, hocken sie dort nun allesamt beieinander. In der leisen Hoffnung, dergestalt auch weiterhin bloß nicht aufzufallen – nein, bitte, bitte nun bloß das nicht! –, sind sie bei aller Entdeckerfreude doch sehr darauf bedacht, dass kein noch so geringer Teil ihrer leicht zittrigen Körper diesen nicht ausgeleuchteten Sektor verlässt, um dann gar vom Lichterglanz des Kronleuchters erfasst und somit letztendlich verraten zu werden. Sie kommen aus dem Staunen einfach nicht heraus, Sina, der King Charles Welpe, die Schildkröte, der Maulwurf und die Zwerge. Glattweg verzaubert sind sie, die dort Verborgenen. Wie hypnotisiert starren sie in die Tiefe des Saals, blicken stumm auf seine Herrlichkeit.
Genau gegenüberliegend, der einerseits in Ehrfurcht und andererseits vor Erwartung der Dinge erstarrten Bagage, zeigt er sich, der mit rotem Samt bezogene Königsthron, der ebenfalls – und wen wundert‘s? –, genau wie die Blumensäule, an allen möglichen Stellen, kunstvoll mit Blattgold verziert ist. Er ist inzwischen aufgestanden, der König Siegher von Soll und Haben, nunmehr steht er in majestätisch gerader Haltung unmittelbar vor seinem Thron. (Und auch an dieser Stelle muss bitte sofort etwas richtiggestellt werden! Es muss natürlich heißen: Er hat sich inzwischen erhoben. Selbstredend! Ein König von Soll und Haben steht nicht einfach auf. Nein, natürlich tut er auch das nicht. Ein so reicher und mächtiger Herrscher erhebt sich!) Und den Cavalier King Charles, den hat er immer noch bei sich, der König, nur eben, dass er ihn nicht mehr quer auf seinem Schoß sitzen hat – wie sollte das auch gehen, jetzt, nachdem er sich doch von seinem Thron erhoben hat –, sondern fürsorglich in seinen Armen hält.
Sina kann sich gar nicht sattsehen, an dem, was sich aus ihrem Versteck heraus entdecken lässt. Überaus aufmerksam tasten ihre Blicke wiederholt das sich Darbietende ab. Alles stößt bei ihr auf Interesse. Dort, der König, ziemlich gelangweilt schaut er drein, so kommt es ihr vor. Er grübelt. Gedankenversunken scheint er nachzudenken. Das lässt sich auch aus der Entfernung gut erkennen. Und dort, gleich rechts des Königsstuhls, vor dem der König gerade verharrt, dort, vor einem der hohen Fenster, das muss wohl die Königin sein. Ja, Königin Siglind von Soll und Haben! Genau wie ihr Gemahl, scheint sie ebenso gelangweilt zu sein. Auch sie ist offenbar tief in ihren Gedanken versunken. Worüber denken beide nach? Die Frage stellt sich Sina.
Und dort, einige Meter links des Thrones, dort, in Nähe der prächtigen, mit Blattgold verzierten Blumensäule, auf der eine Farnpflanze steht, dessen Blattrankenspitzen den Saalboden berühren, genau dort, das kann dann nur die Prinzessin sein. Gewiss, kein Zweifel, Prinzessin Sina von Soll und Haben! Und jetzt erst fällt es der staunenden Sina auf – wahrlich erst zu dieser Stunde –, dass jene junge Königstochter tatsächlich denselben Namen hat wie sie: Sina! Sie – ‚Prinzessin‘ Sina – sitzt dort auf einem recht großen, am Boden liegenden Samtkissen. Aber dessen vollkommen ungeachtet wirkt sie irgendwie kraftlos, die Prinzessin. Schwächlich wirkt sie sogar, ja, schwächlich und schlapp. Genau den Eindruck erweckt das hoheitliche Mädchen jedenfalls. Was nur mag der Grund dafür sein?
Langsam, so nach und nach, hat sich Sina an das von ihr Entdeckte gewöhnt, und längst schon verschwendet das Mädchen nicht einen einzigen Gedanken mehr daran, dass sie im Grunde immerhin jederzeit als unerwünschter Eindringling ertappt werden könnte. Und trotzdem, und um ganz, ganz sicher zu sein, schaut sie nach rechts, wirft, an den mit ihr dort im Schatten eng an der Wand hockenden Freunde stracks vorbei, einen Blick hinüber zu dem rechts an der schweren, doppelflügeligen Haupteingangstür in strammer Haltung stehenden Mann der Königlichen-Wachgarde. Nein, nein, keine Sorge, jener bemerkt ganz sicher nichts von ihrem klammheimlichen Besuch. Auch er wirkt, genau wie Prinzessin Sina, auffallend müde und – ja – unübersehbar kraftlos. Das ist alles andere als normal. Woran nur mag das liegen? Wie begründet sich das?
Sina wendet ihren Blick nun ab, von dem träge und teilnahmslos dastehenden Wachsoldaten und schaut neben sich auf ihre Freunde. Genau wie sie selber, scheinen alle, wie sie da sind – sowohl der King Charles Welpe als auch die Schildkröte, der Maulwurf und die Zwerge –, von demselben Gedanken beseelt zu sein: Einfach nur klammheimlich still, leise und bewegungslos zuschauen, was hier an diesem aufsehenerregenden Ort, inmitten der hochherrschaftlichen Königsfamilie, geschehen wird, und dass hier und jetzt etwas geschehen wird, und zwar etwas ganz Außergewöhnliches, daran hegt keiner von ihnen den geringsten Zweifel. Und gleichermaßen wie Sina, so zeigt es sich, hat auch niemand ihrer Begleiter die Befürchtung entdeckt werden zu können.
Anbei: Auffällig ist es allerdings, ja könnte ohne Weiteres sogar als etwas merkwürdig bezeichnet werden, dass es die kleine Sina absolut nicht zu überraschen scheint, dass der König, genau wie sie, einen Cavalier King Charles Spaniel als treuen Begleiter hat. Jedenfalls macht Sina ganz und gar nicht den Eindruck, dass diese Zufälligkeit nennenswert ihre Aufmerksamkeit erregt. Denn, dass genau diese Hunderasse, wie der Name Cavalier King Charles Spaniel schon verrät, bereits vor mehreren Hundert Jahren in England am Hofe des Königs King Charles II sehr beliebt war, das dürfte Sina sehr vermutlich absolut unbekannt sein.
»Wo nur ist aber der Prinz?«, fragt sich Sina jetzt. »Der Prinz zeigt sich nicht! Wo sich der König, die Königin und die Prinzessin um diese Zeit aufhalten«, da ist sie sich jedenfalls sicher, »da kann eigentlich auch der Prinz nicht weit weg sein.« Sie kneift ihre Augen zu Schlitzen zusammen und sieht genauer hin. »Dort, genau dort in der Mitte des Saals, direkt unter dem mittig von der Decke herab hängenden Kronleuchter, da hockt er doch!« Sina ist über sich selber ziemlich überrascht. »Wie nur konnte ich ihn dort bloß übersehen haben?« Prinz Sabantos von Soll und Haben! Aber auch der noch nicht regierende Nachkomme aus königlichem Hause wirkt, genau wie ausnahmslos alle anderen Personen im Saal, müde und kraftlos. Gelangweilt starrt er vor sich auf den Boden.
»Das ist schon recht merkwürdig«, so Sinas Gedanken, »dass in einem derart prächtigen Haus, eine solch erdrückende Stimmung herrscht.« Automatisch schaut Sina nach links, blickt nun auf die der Fensterfront gegenüberliegenden Wandfläche. Wider Erwarten steht dort nirgendwo irgendein Möbelstück an der Wand, noch hängt auch nur ein einziges Bild oder gar ein Gemälde im Goldrahmen an ihr – nein, alles rigoros ratzekahl! –, was diese absolut gähnend leere Fläche ganz besonders monumental wirken lässt. »Das kenne ich aus meinen Märchenbüchern allerdings anders«, sagt sich Sina, »aber ganz, ganz anders. Jawohl!« Angesichts dieser eindrucksvoll langen und nicht minder beeindruckend hohen und lediglich mit einer königsblauen Bespannung ausgekleideten Wandfläche, wird ihr einmal mehr deutlich vor Augen geführt, wie unglaublich großzügig ansonsten der Thronsaal doch erbaut ist.
Halt! Stopp! Und was ist das dort? Sinas forschende Blicke, die immer noch dabei sind, diese auffallend kahle Wandfläche genau zu untersuchen, haben da jetzt etwas entdeckt! Vermutlich nicht unbedingt was Absonderliches, nein, das wohl nicht, und dennoch immerhin etwas, was irgendwie – ja, irgendwie – nicht so recht zu passen scheint: Links von ihr, nur wenige Schritte entfernt, dort in etwa, wo von ihr aus gesehen diese in einem Königsblau gehaltene Wand beginnt, sich längs des Saales zu erstrecken, genau dort befindet sich anscheinend so eine Art Tür. Ja, ein schmales und auch nicht sehr hohes Türchen dort in der Wand! Schlicht und einfach in Form und Farbe, bildet das oben abgerundete Türblatt eine einheitliche Ebene mit der Wand. Sie ist geschlossen, die Tür.
»Nein, sie ist in keinster Weise auffällig, diese mickrige Tür dort in der Wand«, sagt sich Sina. »Es ist wirklich kein Wunder, dass ich sie vorher nicht bemerkt habe.« Aus ihrem im Schatten liegenden Versteck heraus, betrachtet das Mädchen ihre soeben gemachte Entdeckung, die ihr Interesse in besonderer Weise geweckt hat. »Sie passt überhaupt nicht hierher, diese Tür.« Mit jeder Sekunde, in der Sina auf sie schaut, wächst ihr Befremden. »Niemand aus der Königsfamilie könnte beispielsweise durch diese bescheidene Öffnung treten, ohne sich kleinzumachen, ohne sich tief zu bücken! Eigenartig …« Sina überlegt. »Kann das denn – und wieder beispielsweise – kann das denn einer waschechten Prinzessin, einem leibhaftigen Prinzen, ja gar einer Königin und einem König je gerecht werden?«
Aber was soll`s, es gibt sie eben, die Dinge und Gegebenheiten, die sich einfach nicht erklären lassen wollen, jedenfalls nicht auf Anhieb, und zweifellos gehört diese Tür dort in der Wand – wo immer sie auch hinführt, wenn man sie geöffnet hat – zu jenen Denkspielen dazu. Damit muss man sich vorerst zufriedengeben. Da hilft alles nichts. Fragen kann Sina jedenfalls zurzeit niemanden. Ihrer Neugierde zum Trotz ist sie sich dessen natürlich bewusst. Längst schon gehört ihre ganze Aufmerksamkeit dem Geschehen, das sich geradeaus vor ihr im hell erleuchteten Saal abspielt. Allerdings geben ihr die fünf Personen, die sich ihr zeigen, sofort ein weiteres Rätsel auf. »Wieso«, die Frage drängt sich nun buchstäblich auf, »wieso wirken diese Menschen nur allesamt so kränklich? Das ist doch alles andere als normal.«
Längst schon haben Sinas Freunde ihre Augen vor Müdigkeit letztendlich – tja –, letztendlich doch geschlossen. Jeder von ihnen ist mittlerweile sanft entschlummert, hockt, immer noch möglichst dicht mit dem Rücken an der Wand und somit weiterhin in einem Bereich, den das Licht des mittig von der Saaldecke hängenden Kronleuchters zum Glück nicht erreichen kann, lautlos atmend an seinem Platz im tiefen Schatten. Sei‘s drum – von denen wird keiner Sinas Fragen beantworten können. Nein, weder der King Charles Welpe noch die Schildkröte, weder der Maulwurf noch einer der Zwerge, wird ihr auch nur die klitzekleinste Auskunft über die rätselhafte Tür dort in der Wand und die übertrieben kraftlose Königsfamilie geben können. Von deren Seite her braucht sie sich in absehbare Zeit wirklich keine Hilfe zu erhoffen.
Fast wird Sina geblendet, von all den vielen fein geschliffenen Kristallklunkern, die rundum und in den unterschiedlichsten Größen in enormer Anzahl an dem Kronleuchter hängen, von den Glasklunkern, von denen jeder Einzelne von ihnen einem kostbaren Diamanten gleicht, einem wertvollen Edelstein, dem nichts mehr Freude bereitet, als nach allen erdenklichen Seiten hin strahlendhelles Licht zu reflektieren. Sie schließt ihre Augen, möchte zumindest für eine kleine Weile genau in dieser Haltung verweilen. Einerseits, davon ist sie überzeugt, muss sie ihre Augen etwas schonen und andererseits, davon geht sie ebenfalls aus, kann sie sich besser auf das konzentrieren, was im Saal gesprochen wird – falls dort überhaupt gesprochen wird! »Aber doch, doch …« Sina meint, jetzt, jetzt im Moment, leise Stimmen zu vernehmen. »Doch, es wird tatsächlich gesprochen!«
Und plötzlich – urplötzlich, das muss man schon sagen! –, einhergehend mit den Stimmen, die nun immer deutlicher an Sinas Ohr dringen, geschieht erstaunlicherweise in diesem Augenblick das, was man umgangssprachlich tatsächlich am treffendsten mit der schönen Redensart »Jetzt kommt Leben in die Bude!«, beschreiben sollte. Oh ja, dort in dem hell erleuchteten Thronsaal des hochherrschaftlichen Schlosses ‚Soll und Haben‘ in dem fernen, fernen Lande ‚Berg und Tal‘, dort tut sich jetzt was. Ja! Die Personen im Saal, sie regen sich nun auch, was langsam, sehr, sehr sachte – ja beinahe schwebend? – geschieht. Die Schattenspiele ihrer Körper, die lautlos tänzelnd über den auf Hochglanz polierten Parkettboden des Zimmers gleiten, bestätigen diese Bewegungen umgehend. Und ja, in jeder Beziehung regt sich hier nun was, das kann man sagen …
»Und? Was meint ihr? Alles hört auf mein Kommando!« Wie zu erwarten, wirken die gesprochenen Worte des Königs, der immer noch recht gelangweilt dreinschauend vor seinem Thron steht, irgendwie energielos. »Machen wir es wie immer?« Müden Blickes schaut König Siegher nacheinander seine Gemahlin, seinen Sohn und seine Tochter an. Für einige Sekunden herrscht Stille im Raum. »Ja. Wie immer.« Die Antwort von Königin Siglind – die ganz offensichtlich durch die Frage ihres Gemahls aus einer tieferen Gedankenversunkenheit gezogen wurde – wirkt ebenfalls ein ‚gerüttelt Maß‘ schwach und müde. »Ja! Wie denn auch sonst? Haach! Irgendwie strengt mich das alles doch ziemlich an … «
Die Königin schließt ihre Augen und gähnt, während sie sich im Wechsel beide Handrücken vor den Mund hält. Schweigen. – »Gut.«, Prinzessin Sina, die immer noch auf dem großen, vor der Blumensäule auf dem Boden liegenden Samtkissen sitzt, schaut hoch und nacheinander ihre Eltern an, während sie mehrfach mit dem Kopf nickt. »Gut. So soll es denn wohl sein. Jawohl.« – Der immer noch unter dem von der Decke herab hängenden Leuchter hockende Prinz Sabantos dreht sich langsam um, schaut erst seine Eltern und dann seine Schwester an. »Einverstanden.« Der Prinz senkt den Kopf, schaut vor sich auf den Boden. »Einverstanden. Bringen wir es hinter uns.«
Und für einige lang gezogene Sekunden herrscht wieder ein bleiernes Stillschweigen im Raume. Fürwahr eine stickige Geräuschlosigkeit, in der sich ein jeder aus der Königsfamilie erneut merklich erstarrt zeigt. »Also dann.« Abrupt unterbrechen die Worte des Königs, mit denen er sich nun direkt an den Soldaten seiner Königlichen-Wachgarde wendet, der in gewohnt strammer Haltung, gleich rechts an der schwergewichtigen, doppelflügeligen Haupteingangstür steht, die Stille. »Alles hört auf mein Kommando. Es kann losgehen!« Der König holt tief Luft. »Der erste Kandidat soll sofort zügig hier antreten.« Seine Stimme wirkt nunmehr gefestigter. »Wie gesagt – alles hört auf mein Kommando! –, genau jetzt soll er kommen!« – »Genau jetzt!«
Wie nicht anders zu erwarten, reagiert die Wache augenblicklich und mit knapper wie akkurater Bestätigung des soeben deutlichst erhaltenen Befehls. »Soll jetzt gefälligst sofort erscheinen!« Militärisch salutierend streckt der Mensch kurzum seine rechte Hand an die Grenadiermütze, während er zeitgleich und mit einem kurzen trockenen Knall die Hacken zusammenschlägt. »Zack-zack!« Sich auf der Stelle umdrehend und stracks durch die Eingangstür entschwindend verlässt der Wachsoldat Friedhelm Standhaft den Raum. Anbei: Von seiner Kraftlosigkeit, die er anfangs zeigte, von seiner Müdigkeit, die er mit seiner majestätischen Herrschaft teilte, ist ihm reinweg nichts mehr anzumerken.
Die Königskinder erheben sich beide, was behäbig, ja auffallend langsam geschieht. »Dürfen wir bitte auf unsere Zimmer gehen?« Zeitgleich wenden sie sich an ihren Vater. »Unsere Anwesenheit ist für diese Zeremonie doch nicht unbedingt erforderlich.« Genau mit diesem Wunsch hat der König bereits gerechnet. Er hat ihn buchstäblich erwartet. »Ja, ja, Kinder …« Mit einer entsprechenden Geste leitet er seine Zustimmung ein. »Geht nur. Geht nur.« Prinzessin Sina und ihr Bruder Prinz Sabantos verlassen – genau wie kurz zuvor der wackere Wachsoldat Friedhelm Standhaft – durch die doppelflügelige Haupteingangstür zügig den Raum. »Geht nur!«, ruft ihnen ihr Vater in Wiederholung seiner Entscheidung noch gedankenverloren nach.
Die Königin, die ihren Platz inzwischen nicht verlassen hat, sie steht dort immer noch grüblerisch am Fenster, sieht ihren Kindern nur schweigend hinterher. Ihr Gemahl, der König, setzt sich mit einer routiniert wirkenden Selbstgefälligkeit wieder auf seinen königlichen, mit rotem Samt bezogenen Herrscherstuhl. Er wirkt nicht unzufrieden. Der König beugt sich weit vor und setzt den Cavalier King Charles langsam und vorsichtig neben seinen Thron auf dem Boden ab. »Celia«, mit beiden Händen streicht er zweimal der Länge nach sanft über das Fell des Hundes, »du darfst jetzt bitte nicht beleidigt sein – hörst du? –, aber ich brauche jetzt meine Arme und Hände für eine höchst königliche Aufgabe voll und ganz, und zwar … allein für diese so wichtige Angelegenheit. Ich denke … Ich bin davon überzeugt, dass du kluger Hund das gut verstehen kannst!«
Entschlossene Schritte nähern sich jetzt der Haupteingangstür. Gemäß seines Auftrags trifft der Wachsoldat mit dem ersten Kandidaten ein, den er, mit festem Griff an seinem linken Oberarm haltend, neben sich, an seiner rechten Seite führt. Wie auf Kommando bleiben beide im Bereich der Tür stehen, überschreiten vorerst nicht ihre Schwelle. »So!«, kurze Verschnaufpause von zwei tiefen Atemzügen. »Zack-zack!« Wieder die Hand zur Grenadiermütze streckend und zeitgleich mit einem kurzen trockenen Knall die Hacken zusammenschlagend, salutiert der Wachhabende, wie zu erwarten, erneut. »Da wäre er!« In gerader Haltung strammstehend schaut der Wachhabende zum König. »Wie befohlen, der erste der Kandidaten!« Sich mit beiden Unterarmen bequem auf den Armlehnen des gut gepolsterten Throns stützend, schaut der König auf und blickt zur Tür. »Er möge hereinkommen und …«, der König weist mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand auf eine Stelle am Boden, die ungefähr fünf gute Schritte von seinem Platz entfernt ist, »und hierher herantreten.«
Ohne Verzögerung führt Wachsoldat Friedhelm Standhaft den ersten Kandidaten in Richtung Thron, lässt ihn exakt an der vom König soeben angewiesenen Stelle anhalten und auch genau dort stehen, salutiert kurz in der gewohnten Weise – was ganz automatisch geschieht – und begibt sich eiligen Schrittes zurück an seinen eigentlichen Ausgangspunkt, der, und jetzt vom Saal aus gesehen, links der schweren, doppelflügeligen Eingangstür befohlen ist. In diesem Moment verlässt die Königin ihren Platz am Fenster, schreitet langsam hin zum Thron und bleibt direkt neben ihrem dort würdevoll thronenden Gemahl stehen. Nein, nein, die Frau Gemahlin braucht selbstverständlich keinen Abstand halten, nein, selbstverständlich nicht.
Einerseits wirkt sie neugierig, die Königin, so in etwa, als würde es sie irgendwie interessieren, was hier und jetzt passiert, aber andererseits ist es auch jetzt kaum zu übersehen, dass sie immer noch ziemlich schlaff und gelangweilt, ja recht müde drein schaut. »So, so … Der erste Kandidat …« Trotz rasch vorgehaltener Hand kann die Königin Siglind von Soll und Haben ein langanhaltendes Gähnen nicht verbergen. »Dann wollen wir doch mal schauen …« Ihr Gähnen mit weit offenem Munde geht in ein mehrfach stockendes, relativ lang anhaltendes Hüsteln über, ja in ein leichtes Bellen, das sich dann aber letzten Endes von ihr vollständig einstellen lässt. »Dann wollen wir doch mal schauen, wie es sich mit dem wackeren Manne verhält … Haach! Irgendwie strengt mich das alles doch ziemlich an …«
»Der erste Kandidat – der erste Kandidat … Wenn ich das schon höre.« Der stramm und senkrecht an der Eingangstür wachende Friedhelm Standhaft kann es sich momentan nicht verkneifen, dass seine Gedanken das, was nun gleich hier im Thronsaal zu erwarten ist, also, was hier unweigerlich gleich passieren wird, etwas kritisch zu bewerten. »Warum nur«, so fragt er sich insgeheim, »warum nur findet all das in regelmäßigen Abständen hier im Lande, auf diesem Schloss und in diesem königlichen Gemach immer und immer und immer wieder erneut und derart zwanghaft statt?« Genau diese eine Frage dreht sich im Moment wieder einmal in seinem Kopfe wirr im Kreis. »Und das, zudem in einer Art und Weise, als wäre es insgesamt eine überaus feierliche Handlung, auf die man nicht und niemals etwa verzichten könnte?«
Friedhelm Standhaft, der über seine klammheimliche Kritik doch etwas erschreckt ist, überlegt und überlegt und überlegt und – und findet einfach keine befriedigende Erklärung. »Was, bitte schön, was nur ist der Grund?« Diese Frage drängt sich ihm erneut, wie bereits im letzten, im vorletzten und im vorvorletzten Jahr ebenfalls, förmlich auf. »Was genau ist denn nun der Beweggrund des Königs, an diesem Ritual so unverrückbar standhaft festzuhalten? Na ja, manchmal, und besonders dann, wenn er sich langweilt, hat er halt so die eine oder andere merkwürdige Idee, der König, den einen oder anderen sehr, sehr speziellen Einfall, von dem er sich nicht abbringen lassen würde, und drein reden etwa, das kann ihm ja sowieso niemand.«
Nein, weder der König noch die Königin erraten die kritischen Gedanken des an der Tür stehenden Wachsoldaten. Wie auch? Er wird von ihnen eigentlich überhaupt nicht wahrgenommen, nein, nicht wirklich. Friedhelm Standhaft erfüllt dort an der Tür harrend seine Pflicht, tut genau das, was man von ihm erwartet, und gut ist‘s. Das war‘s! Niemand aus der königlichen Sippschaft würde je auf die Idee kommen, den Wachhabenden etwa nach seiner Meinung zu fragen. Niemals! Seine Gedanken interessieren hier niemanden. Was er hierüber oder darüber denkt, das kann – das soll! – er gefälligst für sich behalten. Dessen ist sich der Wachsoldat Friedhelm Standhaft selbstverständlich sehr bewusst. »Doch, ich kann mich noch sehr genau daran erinnern«, sagt er sich, »als es losging, als der König einen seiner plötzlichen Einfälle, ohne zu zögern, zu einem Ritual erhob, das ab dann einmal im Jahr und stets genau zur selben Zeit stattfinden sollte.« Standhaft kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, ein In-sich-hinein-Lächeln, das ihm natürlich keinesfalls anzusehen ist. »Vor vielen, vielen Jahren war‘s …«, erinnert er sich. »Der König hatte es sogar gesetzlich geregelt, hatte den zuständigen Minister angewiesen, den Erlass fein säuberlich und ausnahmslos für alle Untertanen verständlich, in die königliche Gesetzesrolle schreiben zu lassen. Zack-zack!«
»Auf Geheiß des Königs selbst sei ab sofort Folgendes besiegelt!«, mit diesem Wortlaut, so erinnert sich Friedhelm Standhaft, wurde es an jenem besagten Tag, aller höchst verbindlich, mit in die königliche Gesetzesrolle aufgenommen und: »Ganz genau einmal in einem jedem Kalenderjahr«, so ließ es der im Lande Berg und Tal für Recht und Gesetz zuständige Minister den Stadtschreiber in die Gesetzessammlung schreibend aufnehmen, »und ausnahmslos immer zur selben Zeit«, so hieß es ab dann per königlichem Befehl, »dürfen sich einige Bewohner des Landes, Untertanen des Reiches, im Schloss Soll und Haben einfinden, um dort im Thronsaal dann den Versuch zu unternehmen, drei schwierige Fragen zu beantworten, die der König, Siegher von Soll und Haben, ihnen höchstpersönlich und nacheinander stellen wird! Jede richtige Antwort soll und wird vom König höchst selbst mit einer Handvoll Goldmünzen belohnt werden, die er den dergestalt prämierten Gefolgsleuten selbigen Tages feierlich auszahlen wird!«
»Mit Posaunenstoß und Trommelwirbel wurde der Erlass dann mitten auf dem Marktplatz lauthals angekündigt und verlesen«, erinnert sich Friedhelm Standhaft, »dann für einen ganzen Monat und für alle Menschen gut sichtbar ausgehängt.« Standhaft grinst in sich hinein. »Unten rechts …«, so seine Erinnerung, »unten rechts auf dem Papier: das Siegel des Königs samt seiner eigenhändigen Unterschrift, geschrieben, mit königsblauer Tinte!« Und erneut kann Standhaft sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, eines, das natürlich wieder von niemanden im Saale bemerkt wird. Bloß das nicht! »Genau«, sagt sich Standhaft, »kein Zweifel, genau so und nicht anders begann der ganze Rummel. So fing alles an.«
»Und Du bist jetzt bereit für die erste der drei Fragen, die ich Dir jetzt stellen werde?« Nachdem sich der König vergewissert hat, dass alles für die Zeremonie Erforderliche eingeleitet wurde, sieht er den ersten Kandidaten mit ernster Miene an. »Gut. Gut! Dann können wir ja beginnen! Und alles hört auf mein Kommando!« Es fällt dem König alles andere als leicht, seine ihn stets und ständig beherrschende Mattigkeit zu verbergen. Das lässt sich nicht verheimlichen. Auch jetzt, jetzt im Moment, wo er doch abgelenkt wird, wo er immerhin im Begriff ist, einer aus seiner Sicht heraus nicht uninteressanten Aufgabe gerecht zu werden, muss er sich über die Maßen zusammenreißen, um nicht von der Langeweile vollkommen übermannt zu werden. »Bist Du bereit?«
»Gewiss, Euer Majestät. Ich wäre bereit.« Und in der der Situation angemessenen Unterwürfigkeit verbeugt sich der erste Kandidat tief und stellt sich zusätzlich noch einmal selber dem König vor: »Einfalt ist sein Name, Euer Majestät, und er ist Schuster.«
Etwas verlegen und vermutlich sogar vollkommen unbewusst, um möglicherweise die Zeit zu überbrücken, bis dass ihm vom König endlich – endlich! – die erste Frage gestellt wird, gestattet sich der Schuster Einfalt, aus dem Augenwinkel heraus, einige scheue Blicke, die den Saal erkunden. Flugs schaut er auch links wie rechts hinter sich, wirklich ganz kurz, versteht sich, alles andere wäre im wahrsten Sinne des Wortes dem König gegenüber verantwortungslos unhöflich. Sein Blick streift die links von ihm befindliche, in einem Königsblau gehaltene Wand, die sich längs entlang des Saales erstreckt. Gesenkten Hauptes und immer noch aus dem Augenwinkel heraus – und ebenfalls vermutlich mehr im Unterbewusstsein –, meint er, gerade noch soeben, das schmale und auch nicht sehr hohe Türchen dort erkennen zu können, das, schlicht und einfach in Form und Farbe, mit dem oben abgerundeten Türblatt eine einheitliche Fläche mit der Wandfläche bildet. Er erinnert sich daran, dass er sie kurz sah, als ihn der Wachsoldat in den Thronsaal führte. »Das dort, das ist doch ein Ausgang?«, lässt er sich noch von einem seiner Gedanken fragen. »Aber … Nein, sicher nicht. Nein, sie passt irgendwie nicht hierher?!«. Wie immer dem auch sei, eines steht jedenfalls fest: Der Schuster Einfalt ist jetzt dran.
Bereits in den Morgenstunden, gleich nach dem königlichen Frühstück, hatte der Königliche-Hof-Sekretär dem König auf sein Geheiß hin einen Zettel gereicht, auf dem die Namen der heutigen Bewerber fein säuberlich untereinander aufgelistet sind. ‚Schuhmachermeister Einfalt‘, so lautet der auf der Liste zuoberst angeführte Name. (Anbei: ‚Schuhmachermeister Einfalt‘ – so steht es auch auf dem ovalen Emailleschild, das gleich oberhalb der Tür hängt, die hinein in seine kleine Werkstatt führt, in den bescheidenen Laden, der sich mit einer Reihe weiterer Läden vor einer der Schlossmauern befindet.) So weit es dem Manne in dieser Situation überhaupt gelingen kann – man steht bekanntlich nicht alle Tage vor (s)einem König –, hält sich der Schuster Einfalt zitterfrei und in gerader Haltung. Die Arme lang vor dem Körper und mit übereinandergelegten Händen, was zweifelsfrei auf eine hohe Verlegenheit deutet, steht der Mann in Erwartung der ersten königlichen Frage da. – »Also dann! Alles hört auf mein Kommando! Beginnen wir!«
Die Königin, die sich immer noch unmittelbar neben ihrem auf dem Thron thronenden Gemahl aufhält, und die den Zwang, ununterbrochen gähnen zu müssen, zunehmend schlechter unter Kontrolle zu haben scheint, horcht jetzt auf. »Nun los, Siegher!« Königin Siglind zeigt sich gespielt ungeduldig, was ihre enorme Müdigkeit möglichst überdecken soll. »Na los! Wieso zögerst Du? Frag ihn jetzt endlich!« Für langgezogene Sekunden herrscht eine Stille im Saal, die einen jeden Lärm problemlos übertönen könnte. Mann hätte eine Stecknadel fallen hören können vor Stillschweigen. »Haach! Irgendwie strengt mich das alles doch ziemlich an …«
»Was meinst Du …«, der bequem auf seinem Thron sitzende König Siegher von Soll und Haben blickt dem vor ihm unbequem stehenden Schuster Einfalt geradewegs ins Angesicht, »was meinst Du, wer oder was ist in der Lage, einen ohnehin reichen und mächtigen Mann, wie beispielsweise ich einer bin, noch glücklicher zu machen, als er ohnehin schon ist?« Ein überlegenes Grienen zeichnet sich auf des Königs Antlitz ab. »So, Du guter Mann, Du getreuer Untertan, Du erster Kandidat dieser Runde, so und nicht anders lautet sie, meine erste Frage an Dich! – Und? Hast Du mich verstanden? Hier geht es um Glück. Um Glück!«
Der Untertan Schuster Einfalt, der sich nicht hundertprozentig sicher ist, ob die letzten an ihn gerichteten, fast schon gesungenen Worte des Königs – ja, tatsächlich nahezu gesungen, weil mit spürbar angehobener Stimmlage! – etwa ironisch, also nicht ganz ernst gemeint sein könnten, ist bemüht, sich dadurch jetzt nur nicht noch zusätzlich irritieren zu lassen. Die Situation, in der er sich befindet, kostet zweifellos seine ganze Kraft. Er überlegt und überlegt und überlegt und überlegt und … »Geld, Euer Majestät!«, lässt sich die mit gedämpfter aber deutlich hörbarer Stimme gesprochene Antwort auf die erste vom König gestellte Frage im ganzen Saal vernehmen. »Noch mehr Geld, als jener Mensch es ohnehin bereits besitzt, macht einen ohnehin reichen und mächtigen Mann noch glücklicher! Geld!«
»Hurra! Durchaus! Richtig! Geld! «Nach einer Pause – einer, in Anbetracht der Situation wirklich auffallend langen Pause von immerhin drei Sekunden –, kann der König seine Begeisterung schlichtweg nicht mehr zurückhalten. »Die Antwort ist richtig!« Vor Entzücken springt er spontan von seinem Thron hoch, wobei er mit den Händen Beifall klatscht. »Geld!« Nach einem kurzen Räuspern setzt er sich wieder und sieht triumphierenden Blickes seine Gemahlin an. »Der Mann ist wirklich gut, Siglind, wirklich gut! Was hältst Du von ihm?« – »Ja, ja, Siegher, Du sagst es«, die Königin zeigt ein langanhaltendes Gähnen, »der Mann ist in der Tat gut, überraschend gut sogar.« Sie schließt die Augen. »Dann solltest Du ihm jetzt aber auch gleich die zweite Frage stellen.«
In gleicher, etwas verlegenen Haltung wie zuvor, jetzt aber – Dank seines vorherigen Erfolgs vermutlich? – mit einem klitzekleinen, fast schon mutigen Lächeln auf dem Gesicht, schaut der Schuster Einfalt in Erwartung der zweiten Frage gebannt zum König auf.
»Höre – und alles hört auf mein Kommando!« Und wieder blickt der bequem auf seinem Thron thronende König dem unbequem vor ihm stehenden Schuster geradewegs ins Angesicht. »Wie lautet Deiner Meinung nach die richtige Antwort auf diese meine zweite Frage an Dich?« Der König zieht es vor, eine winzige Zeitspanne der völligen Stille zu überlassen. Und dann: »Was meinst Du«, und wieder das überlegene Grienen auf des Königs Antlitz, »wer oder was ist in der Lage, das Leben eines ohnehin reichen, mächtigen und rundum doppelt und dreifach gut bewachten Mannes, wie beispielsweise ich einer bin, noch sicherer zu machen, als es ohnehin schon ist? Jetzt geht es also um Sicherheit! So …«
Für die Länge einiger tiefer Atemzüge, die er dem Anschein nach nötig hat, er wirkt abgespannt, gelangweilt und müde, gestattet der König sich und seinem Gegenüber eine kleine Pause. »So, Du guter und getreuer Untertan, so und nicht anders lautet sie, wie gesagt, meine zweite Frage die ich Dir stelle! – Und? Sag, hast Du auch diese Frage verstanden? Es geht hier alleinig um Sicherheit. Um Sicherheit!«Der Untertan Schuster Einfalt, der sich mittlerweile fast sicher ist, dass wohl diese letzten an ihn gerichteten, wieder fast gesungenen Worte des Königs, nicht ironisch gemeint sind, ist derweil keineswegs mehr irritiert. Nun nämlich kann er seinen König ganz gut einschätzen. Dennoch, die Situation, in der er sich befindet, kostet allerdings weiterhin seine gesamte Kraft. Und wieder überlegt und überlegt und überlegt und überlegt er und …
»Abstand, Euer Majestät!«, lässt sich die wieder mit leicht gedämpfter aber deutlich hörbarer Stimme gesprochene Antwort auf die zweite vom König gestellte Frage überall im Saale vernehmen. »Gewiss, noch weitaus mehr Abstand zu den Menschen außerhalb seines Kreises, als der von Seiner Majestät beschriebene, besagte Mensch ihn ohnehin bereits hält! Die Vergrößerung des Abstands, von ihm, hin zu ihm nicht bekannten – und womöglich sogar noch armen? – Menschen, verspricht einem ohnehin reichen und mächtigen und doppelt und dreifach gut bewachten Manne beileibe noch viel, viel mehr Sicherheit. Unbedingt!« Und nach einer kurzen Atempause dann, die der Befragte jetzt anscheinend nötig hat, und zwecks endgültiger Untermauerung des Gesagten: »Abstand!«
»Bravo! Das ist es!« Wie zuvor, nach einer gewissen Pause, kann der König seine Begeisterung schlichtweg nicht mehr zurückhalten. »Hurra! Zweifellos! Wieder richtig! Abstand! Alles hört auf mein Kommando! Die Antwort ist richtig!« Und wieder reißt es ihn vor Entzücken spontan und in die Hände Beifall klatschend von seinem Thron hoch. »Abstand!« Und ein weiteres Mal war es ein kurzes, verlegenes Räuspern, das er als Überleitung nutzte, um sich ohne Zögern zurück auf seinen königlich majestätischen Platz begeben zu können. »Siglind, was sagst Du jetzt?« Begeistert schaut der König die Königin an. »Der Schuster hat auch diese Frage richtig beantwortet!« – »Ja, Siegher, Du sagst es.« Die Königin gähnt. »Wie von mir bereits betont, ist der Mann in der Tat gut.« Wie zu erwarten schließt sie die Augen. »Dann solltest Du ihm jetzt aber auch gleich die dritte und letzte Frage stellen. Etwa nicht? Haach! Irgendwie strengt mich das alles doch ziemlich an und …«
Die Königin unterbricht sich an dieser Stelle selber, was durchaus einen Grund hat, oh ja, einen ziemlich triftigen sogar: Von einem der schmalen und erstaunlich hohen Fenster scheinen sich die Fensterflügel geöffnet zu haben, was ein von draußen kommender kräftiger Windzug gerade anzeigt. Ein starker Luftzug, der es sogar schafft, die beidseitig am Fenster von der Decke herabhängenden, schweren Vorhänge zu bewegen. Ja, wie eine Fahne im Winde, so weht der rote Samt hoch und geradewegs in Richtung ‚in den Saal hinein‘. »Und … Ah, was ist das?«, irritiert schaut Siglind zu ihrem Gemahl, »vermutlich hat man es nicht ordnungsgemäß geschlossen, jenes Fenster!«
»Nicht ordnungsgemäß geschlossen, das Fenster? Nicht ordnungsgemäß geschlossen, nicht geschlossen?« Einige Stirnfalten bilden sich im Antlitz des Königs, während er mit einer vielsagenden, sogenannten Leichenbittermiene in Richtung des standhaft an der Tür wachenden Friedhelm Standhaft blickt. »Ja vielleicht soll ich auch das noch selber machen!?« Der Wachhabende, der sich natürlich angesprochen fühlt, reagiert genau wie zu erwarten: Militärisch salutierend, die rechte Hand an die Mütze streckend und mit einem trockenen Knall die Hacken zusammenschlagend nimmt er Blickkontakt zum König auf. »Ich eile, Euer Majestät, werde das Fenster sofort schließen. Zack-zack!« Ungeachtet der Tatsache, dass er als abgestellte Wache absolut nicht für das Öffnen und Schließen der Fenster zuständig ist, was eigentlich jedem bekannt sein dürfte, nimmt er die Schuld in demütiger Haltung auf sich. Wer wolle dem König widersprechen? »Gleich wird diese leidige Peinlichkeit beseitigt sein.« Standhaft macht sich auf den Weg in Richtung Fensterfront. »Zack-zack!«
Der leicht verärgerte König Siegher von Soll und Haben, die etwas überraschte Königin Siglind von Soll und Haben so wie der nun verunsicherte Schuhmachermeister Einfalt: auf der ganzen Linie abgelenkt von dem Zwischenfall, schauen sie nun alle auf den Wachsoldaten Friedhelm Standhaft, der schnellen Schrittes zu den in den Thronsaal hinein wehenden Vorhängen eilt, um so schnell wie nur möglich die geöffneten Fensterflügel zu schließen.
Und da passiert es – alles blickt zum Fenster –!!!
»Aber … Aber …« Dem bequem auf seinem Thron thronenden König Siegher nimmt es sage und schreibe vor Erstaunen jetzt fast den Atem. »Aber was ist das denn?«
»Also bitte … Bitte …« Der gelangweilt neben dem Thron stehenden Königin Siglind ergeht es beileibe gleichermaßen wie ihrem Gemahl. »Wo kommt der denn so plötzlich her?« Königin Siglind droht nach hinten zu kippen und ohnmächtig zu werden. »Haach! Irgendwie strengt mich das alles doch ziemlich an …«