Rache an Mittsommer - Marten Petersen - E-Book

Rache an Mittsommer E-Book

Marten Petersen

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Beschreibung

Das kleine Dorf Tveta liegt am Rande des Emåntales bei Mörlunda. Die Kirche aus dem 12. Jahrhundert zeugt von ihrer langen Geschichte, die bereits vor Jahrtausenden begann. Der Ort übt auf den Verfasser eine fast magische Kraft aus. Schon sein erster Roman "Leif - ein Wikingerabenteuer" (nur in deutscher Sprache) spielte sich hier ab. Nun, da der Autor in Mörlunda wohnhaft ist, war es nur logisch, dass ein weiterer Roman, jetzt in schwedischer und deutscher Sprache, folgte. Er spielt ausschließlich in Tveta, das damals ein eigenständiger Ort war, heute aber zu Mörlunda/Hultsfred Komun gehört. Um die Jahrhundertwende 1800/1900 lässt der Autor die Geschichte spielen. Der Ort ist authentisch, aber die Personen sind frei erfunden.

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ÜBER DIESES BUCH

Das kleine Dorf Tveta liegt am Rande des Emåntales bei Mörlunda. Die Kirche aus dem 12. Jahrhundert zeugt von ihrer langen Geschichte, die bereits vor Jahrtausenden begann. Der Ort übt auf den Verfasser eine fast magische Kraft aus. Schon sein erster Roman „Leif – ein Wikingerabenteuer“ (nur in deutscher Sprache) spielte sich hier ab. Nun, da der Autor in Mörlunda wohnhaft ist, war es nur logisch, dass ein weiterer Roman, jetzt in schwedischer und deutscher Sprache, folgte. Er spielt ausschließlich in Tveta.

Um die Jahrhundertwende 1800/1900 lässt der Autor die Geschichte spielen. Der Ort ist authentisch, aber die Personen sind frei erfunden. Als Recherchequellen dienten u. a. die Bücher „Vägglusekappe“ von Gerion Danielsson und „Händelser och Hågkomster …“ von Rudolf Svensén, und nicht zuletzt „Die Auswanderer“ von Vilhelm Moberg. Die Sprache orientiert sich weitgehend an den damaligen Verhältnissen.

Auch wenn versucht wurde, sich so genau wie möglich an den Gegebenheiten der Jahrhundertwende zu orientieren, so musste der Autor einen fiktiven Arzt erfinden, den es so nicht in Mörlunda gegeben hat, aber er wurde eben gebraucht!

Inhaltsverzeichnis

Erstes Buch: Götterhilfe

Zweites Buch: All das Böse 1902, Nachricht aus Kiel

1903, Nachricht aus St. Petersburg

1904, Nachricht aus Helsinki

1905, Nachricht aus Bergen

1906, Nachricht aus Rio de Janeiro

1907, Nachricht aus Tokyo

1908, Nachricht aus Jakarta

1909, Nachricht aus New York

1910, Nachricht aus New York

1911, Nachricht aus New York

1912, Nachricht aus New York

1913 Nachricht aus New York

1914 Nachricht aus New York

1915, Nachricht aus New York

1916, Nachricht aus New York

1917, Nachricht New York

1918, Nachricht aus Oslo

3. Buch: Finale Infernale

Erstes Buch: Götterhilfe

Tveta 1918

„Diese Irre! Was macht sie denn jetzt?“ Der Mann muss seine Augen nicht sehr anstrengen, die Nächte vor Mittsommer sind hell genug. Da ist einerseits das Wild deutlich zu erkennen, aber andererseits kann man auch ihn, den Wilderer, in den hellen Nächten leicht ausmachen. Er hat sein Versteck in einer Astgabel der alten Eiche bezogen und kann von hier aus die ärmliche Hütte der Gustafssons gut sehen.

Er kennt Alma, die man im Dorf seit Jahren nur Die Irre nennt. Als Kind hat er oft mit Karl gespielt, Almas älterem Bruder. Bis der plötzlich weggelaufen ist, wie vom Erdboden verschwunden. Wie lange ist das jetzt her? Fünfzehn Jahre mindestens.

Alma ist aus der Tür getreten, nur mit einem ärmellosen, tiefrot gefärbten Gewand bekleidet. Ihr langes rotes Haar trägt sie lose, es fällt bis auf ihre Taille hinab. Sie hat keine Schuhe an den Füßen. Der Mann glaubt, die Konturen ihres Körpers zu erkennen. Er schnalzt mit der Zunge, hält sich aber zurück. „Das Mädchen ist schon eine Sünde wert. Aber nein. Sie ist ja eine Irre! Mit so einer sollte man lieber nichts anfangen.“

Der Wilderer verfolgt die Bewegungen des Mädchens mit höchster Verwunderung. Sie hat sich gebückt, aber er kann nicht erkennen, was sie dort macht. Vorsichtig steht er auf und reckt den Kopf, um besser sehen zu können, was dort vor sich geht. Nur keine Geräusche machen! Nun kann er sehen, dass das Mädchen in einer Schale etwas anzündet. Rauch steigt auf, und bald nimmt er den intensiven Geruch von Kräutern wahr. Die Irre ist aufgestanden, die Schale hält sie in beiden Händen vor ihren Körper. Sie schwingt das Gefäß hin und her, rauf und runter. Offensichtlich will sie den Rauch gut verteilen. Dazu beginnt sie einen merkwürdigen Singsang, keine richtige Melodie. Erst leise beginnend, steigt die Lautstärke des Sprechgesangs ständig an. Es klingt sehr fremdartig, dazu beschwörend. Alma bewegt sich langsam in Richtung des Waldrandes. Die Neugierde des Wilderers ist stärker als die Angst vor der Entdeckung. Er steigt vom Baum hinunter und folgt dem Mädchen.

Der Mann hört Laute in einer Sprache, die er nicht versteht. „Var roa kval ster? Nosema, yn gelrö ta ut sot!“

Keine einzige Silbe kann der Wilderer verstehen. Dann aber fallen Worte, mit denen er etwas anfangen kann.

„Große Mächte der Finsternis, ich brauche eure Hilfe. Helft mir bei meiner Rache! Werft meinen Peiniger in das Ewige Feuer!“

„Sag ich doch, sie ist irre!“, wiederholt der Mann. Er schrickt zusammen, denn er hat aus Versehen laut gesprochen. Abrupt bleibt Alma stehen, langsam dreht sie sich zu dem Mann um. Entsetzt starrt er in ihr ausdrucksloses, schwarz bemaltes Gesicht, in dem nur die Augen als weiße Kreise zu erkennen sind. Wie gelähmt steht er da und sieht sie mit offen stehendem Mund an.

„Nichts hast du gesehen, oder du bist verflucht!“, sagt sie. Dabei streckt sie ihren Arm weit aus und zeigt mit den Fingern direkt auf ihn. Panisch vor Angst macht der Wilddieb kehrt und rennt davon.

Alma ist es egal, ob der Wilderer über ihre Begegnung reden wird, Hauptsache sie ist jetzt allein. Sie muss sich konzentrieren und alle Kräfte bündeln. Nur so kann sie ihre Aufgabe bewältigen. Bis Mittsommer gilt es, sich auf diesen Moment vorzubereiten.

Alma setzt ihren Weg fort. Wieder schwingt sie das Gefäß hin und her, der Rauch steigt auf und setzt die ätherischen Öle frei, die ihr die Sinne berauschen. Ihr nächtlicher Weg führt sie weiter, zur uralten Quelle hinter der Kirche, zur Thorsquelle. Man sagt, der mächtige Gott habe aus dieser Quelle getrunken, als er unter großem Durst litt. Seitdem sei seine Zauberkraft auf das aus der Erde sprudelnde Wasser übergegangen. Die Quelle hat aber seit Beginn der Christenzeit längst ihre magische Bedeutung verloren, die sie zu Zeiten der Wikinger hatte. Vor tausend Jahren war die Macht Thors und seiner Helfer zugunsten des Christentums geschwunden. Ihre Urgroßeltern sollen noch die alten Götter verehrt haben. Dem damaligen Pastor und den anderen gläubigen Dorfbewohnern war das ein Dorn im Auge gewesen. Sie hatten Almas Vorfahren aus Tveta vertrieben. Die Alten hatten ihr Haus verlassen müssen und waren in den Wald gezogen. Hier hatten sie sich eine bescheidene Hütte gebaut, die bis heute das Heim der Familie ist. Selbst ihre Großeltern waren noch als Heiden verschrien, und ihre Eltern sind nur seltene Kirchgänger. Oft kam der Pastor ins Haus, um sie an den Kirchgang zu erinnern. Die Großmutter hatte Alma mehrfach zur Quelle mitgenommen und dabei von den alten Göttern erzählt. Das hatte Alma tief beeindruckt. Sie hatte immer Kraft an dieser Quelle gefunden, wenn sie allein mit ihren Problemen war und nicht weiter wusste. Es konnte nicht schaden, die Hilfe aller Götter, der alten und der neuen, anzunehmen.

Alma kniet an der Quelle nieder. Mit der bloßen Hand greift sie in die räuchernde Glut, aber sie spürt keinen Schmerz. Sie verstreut die geweihten Kräuter im Wasser, taucht ihre heiße Hand kurz ins Quellwasser und erbittet dabei Thors Hilfe. „Auch du, großer Gottvater, kannst mir Kraft geben für die bevorstehende Aufgabe. Hilf mir, das zu tun, was ich tun muss!“

Jetzt taucht sie ihren Kopf mit den langen Haaren tief ins Wasser. Mit Schwung wirft sie den Kopf in den Nacken, sodass die Haare im Bogen durch die Luft fliegen und sich auf ihren Rücken legen. Die schwarze Farbe, die sie auf ihre Gesichtshaut aufgetragen hat, ist nun verschmiert und läuft in langen Rinnsalen hinunter bis an den Hals. Die Haare kleben triefendnass bis auf den Rücken. Drei Mal wiederholt sie diesen Vorgang, dann erhebt sie sich und tritt den Weg nachhause an. Es ist bereits früher Morgen, die Sonne scheint über das Tal. Alma streift ihr langes Gewand ab und legt sich aufs Bett. Einschlafen kann sie nicht mehr, zu aufgewühlt ist sie von ihrer nächtlichen Zeremonie.

***

Es ist still im kleinen Waldhof, den die Leute hier nur bei Gustafssons nennen. Aber seit dem Tod der Eltern lebt Alma hier allein. Der Hof steht auf einer Lichtung im Wald, nicht weit weg vom Dorf Tveta. Das Haus ist wie die meisten anderen in dieser Gegend mit roter Farbe angestrichen. Nur die Hausecken und die Fensterrahmen tragen eine weiße Farbe.

Hinter dem Haus grasen die beiden Kühe und die vier Schweine auf der steinigen Wiese, auf der auch der Stall und der Schuppen stehen. Daneben befindet sich der Freilauf für die Gänse und Hühner, die sie gleich nach dem Aufstehen aus ihrem Stall gelassen hat.

Im kleinen Garten vor dem Haus jätet Alma Unkraut. Ein feinmaschiger Zaun umgibt den Garten, damit gefräßige Tiere abgehalten werden. Sie liebt zwar Hase und Igel, aber beim Gemüse haben sie nichts zu suchen. Bis Mittag hat sie im Haus und Garten zu tun, gerade jetzt im Frühsommer. Die meiste Saat ist bereits aufgegangen, das erste Gemüse kann bald geerntet werden. Erbsen und Rote Rüben, Bohnen und Zwiebeln, Kartoffeln und Kohl, alles ist so reichlich in den Boden gebracht, dass Alma über den gesamten Winter genug auf den Tisch bringen kann. Zwischen das Gemüse hat sie verschiedene Blumen und Kräuter gesetzt, die Schädlinge fernhalten sollen.

Am Nachmittag beginnt sie ihre Arbeit in der kleinen Kirche, die außerhalb des Dorfes auf einer kleinen Anhöhe steht. Sie hat ihre graue Gartenschürze abgenommen und gegen eine bessere ausgetauscht. Die Haare hat sie nach traditioneller Art hochgebunden, eine weiße Haube ist am Hinterkopf mit Klammern im Haar festgesteckt und hält es zusammen. Dieser traditionelle Kopfschmuck weist sie als unverheiratete Frau aus.

„Guten Tag, meine liebe Alma.“

Alma sieht auf. Längst hat sie den Priester bemerkt, der sich genähert hat. Sie legt das Tuch beiseite, mit dem sie den ledernen Einband eines Buches poliert.

„Guten Tag, Herr Pastor. Ich reinige heute die Gesangbücher, damit sie zum Mittsommer-Gottesdienst fein in der Hand liegen.“

„Das ist brav, Alma. Du weißt, wir sind dir sehr dankbar dafür, dass du so viel für unsere Kirche tust. Was würden wir ohne dein Zutun bloß machen?“

„Aber das mache ich doch gerne, ich lebe doch allein und muss nicht für andere sorgen. Ich habe ja keine Familie.“

„Ja, das ist eine traurige Geschichte. Wann immer du unsere Hilfe brauchst, frage mich.“

„Danke, Herr Pastor, das mache ich. Ich habe jetzt gleich eine Bitte.“

„Na, was ist denn?“

Alma zögert kurz, dann sagt sie: „Vielleicht kann ich für die Mittsommernacht einen besonderen Segen bekommen?“

Der Pastor lächelt. „Aber gern Alma, wie jedes Jahr. Ich weiß, was dieser Tag für dich bedeutet. So viel Leid in deinem jungen Leben.“

„Ja, aber wenn es irgendwie möglich ist sollte der Segen dieses Mal stärker und größer sein. Ich habe etwas Besonderes vor.“

„Willst du darüber reden?“

„Nein Herr Pastor, das möchte ich nicht. Und ich bin sicher, das möchten Sie auch nicht wissen.“

Alma schaut zur Seite. Der Pastor schaut sie irritiert an und schüttelt den Kopf.

„Na gut Alma, deinen Segen sollst du bekommen.“

Das Mädchen kniet nieder und faltet die Hände. Der Pastor zeichnet das Kreuz über ihrem geneigten Kopf und legt dann seine flache Hand auf Almas Haar.

„Gott segne dich, meine Tochter, und gebe dir Kraft für das, was du dir vorgenommen hast.“

Alma erhebt sich und reicht dem Geistlichen die Hand.

„Ich danke Ihnen.“

Der Pastor erwidert lächelnd ihren Dank und geht seines Weges. Er hört nicht, wie Alma leise zu sich selbst sagt:

„Wenn du wüsstest, wofür du mir Gottes Hilfe gewünscht hast.“

Alma ist zufrieden. Hilfe gleich von zwei Göttern! Mehr Beistand kann sie nicht bekommen. Nun geht bestimmt nichts mehr schief. Jetzt kann sie das durchführen, worauf sie sich seit vielen Jahren gedanklich vorbereitet hat. Einst als kleiner Funken im Kopf entstanden, hat sich ihr Vorhaben immer mehr verfestigt. Ihren Plan hat sie bis ins kleinste Detail durchgearbeitet. Und als der Plan feststand, hat sie alle Utensilien zusammengesammelt, die sie für die Umsetzung benötigt. Nun ist es an der Zeit, nur noch wenige Tage und Stunden.

All das Böse hat dann ein Ende.

Alma erwacht aus ihren Gedanken. Noch ist es nicht ganz soweit, noch bestimmen die alltäglichen Arbeiten ihren Tagesablauf. Aber niemand kann sehen, was sich hinter ihrer Stirn abspielt.

Bedächtig reinigt sie Buch für Buch. Dann stellt sie sie zurück in das geschnitzte Schränkchen im vorderen Bereich der kleinen Kirche. Von hier aus ist sie der Kanzel zugewandt. Dabei fällt ihr Blick wie immer auf die drei nackten Engelsfiguren, die über der Kanzel angebracht sind. Diese Figuren üben eine magische und gleichzeitig zutiefst abstoßende Wirkung auf Alma aus. Fast zwangsläufig muss sie zu ihnen aufschauen, immer wieder. Sie hatten und haben eine große Bedeutung für sie, schon seit ihrer Kindheit. Diese geschnitzten Engel und auch das große Engelsbild, das über dem Elternbett hing, hatten sich seit damals in ihren Gedanken festgesetzt. Gleich nachdem sie als junges Mädchen nach dem Tod der Eltern den Haushalt übernommen hatte, hatte Alma es von der Wand genommen und im Garten verbrannt. Am liebsten hätte sie damals auch die Engel ins Feuer geworfen. Aber diese drei Figuren in der Kirche kann sie nicht beseitigen. Sie gehören einfach hierhin und leisten ihren Anteil zu der Kraft, die von diesem Raum und dem Gottesdienst ausgehen.

Es kostet Alma viel Mühe, sich von den Figuren abzuwenden. Sie geht zur hinteren Sitzreihe und nimmt dort Platz. Ihre Hand berührt das Papier, das sie in ihrer Schürzentasche verwahrt hat. Sie zieht den Umschlag hervor und betrachtet ihn ausgiebig, ohne ihn zu öffnen. Es ist der letzte Brief von ihrem Bruder Karl. Sie hat ihn erst vor ein paar Tagen erhalten. Und seit sie ihn gelesen hat, weiß sie, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, auf den sie schon seit so vielen Jahren wartet. Dieses Jahr, zu Mittsommer, ist es soweit. Karl wird nachhause kommen. Entschlossen steckt sie den Umschlag wieder in die Tasche und steht auf.

Alma verlässt die Kirche und geht den sandigen Weg entlang, der nach wenigen hundert Metern in den Wald führt. Von dort ist es nicht mehr weit bis zu ihrem Haus.

Ihre Gedanken sind bei Karl, der ihr Leben zuerst bereichert, dann beherrscht und zuletzt zerstört hat.

Die junge Frau öffnet die Haustür und tritt ins Innere des Hauses. Vom kleinen Eingangsflur geht eine Tür zur Küche, die andere in die Stube, auf die die Mutter so stolz war. Die meisten der Waldhäuser haben keine Stube, nur die Küche. Eine steile Treppe führt nach oben ins Schlafzimmer unter den Dachschrägen.

Alma geht in die Küche. Hier entfacht sie das Herdfeuer und macht heißes Wasser für den Kräuteraufguss. Dann stellt sie den schweren gusseisernen Topf auf die Herdfläche und wärmt die Suppe von gestern auf. Bald steigt Dampf auf, der durch die Esse nach draußen geleitet wird. Der Duft der Suppe breitet sich bald im Raum aus. Bis sie heiß ist, bleibt Alma noch etwas Zeit.

Aus der Schublade des Küchentisches nimmt sie ein Bündel Briefe und Postkarten. Es sind die Briefe ihres Bruders, fein säuberlich nach Datum sortiert und mit einem Band zusammengehalten. Alma nimmt das Bündel und setzt sich an den kleinen Tisch am Fenster. Hier hat sie das beste Licht in der sonst recht dunklen Küche. Sie löst das Band und entnimmt dem Bündel die unterste, die älteste Nachricht von Karl. Es ist eine Postkarte. Die Rückseite ist eng beschrieben, damit er viel berichten kann. Die Vorderseite der Postkarte zeigt den Hafen einer großen Stadt in Deutschland. Viele Schiffe sind zu sehen, meist Segelschiffe, aber auch einige der modernen Dampfschiffe. Schwarzer Rauch steigt aus ihren Schornsteinen. Mit einem dieser Schiffe hat ihr Bruder vor vielen Jahren sie und die Heimat verlassen. Aber all das Böse, das er ihr angetan hat, hat er nicht mitgenommen. Es ist in ihren Gedanken geblieben und hat ihre Seele und ihr Herz zerstört.

Zweites Buch: All das Böse 1902, Nachricht aus Kiel

Alma holte tief Luft und begann zu lesen.

Liebe Schwester,

ich konnte einfach nicht mehr zuhause bleiben. Alles war mir zu eng dort. Und du glaubst gar nicht, wie groß, wie weit die Welt ist! Ich bin nur über die Ostsee nach Kiel gefahren. Zuvor bin ich den weiten Weg von unserem kleinen Tveta nach Kalmar gewandert. Dort habe ich auf der „Nordstern“, einem alten und arg mitgenommenen Segelschiff angeheuert. Und doch kann ich sagen, dass es auf dem Meer, auf dem Schiff und hier in der Welt so viel freier als zuhause ist. Ich habe dich sehr lieb und wir werden uns sicher bald wiedersehen!

Dein Bruder Karl.

Alma las die vom häufigen Lesen bereits abgegriffene Karte. Die Enttäuschung war damals groß gewesen: kein Wort des Bedauerns, kein Wort über das, was er ihr angetan hat. Ihre Gedanken wanderten zurück, viele Jahre zurück, als sie noch ein kleines Mädchen war. Damals, als alles noch gut war und das Böse noch nicht existierte. Bilder der vergangenen Kindheit tauchten vor Alma auf. Sie war wieder das kleine glückliche Kind.

***

Alma liebte ihren großen Bruder, der einige Jahre älter war als sie. Er verbrachte viel Zeit mit ihr. Sie spielten zusammen und von ihm hatte sie viel gelernt. Nur wie man kleine flache Steine übers Wasser springen lassen konnte, das war ihr noch nicht gelungen. „Das dauert noch etwas, Alma, aber bald schon wirst du mehr Sprünge schaffen als ich“, hatte Karl sie ermuntert.

Karl konnte sich wunderbare Geschichten ausdenken, die er ihr dann erzählte. Sie handelten von fernen Ländern, in denen ganz merkwürdige Tiere leben sollten. Er berichtete von gestreiften Pferden, von Tieren mit meterlangem Hals, sodass sie von den Baumwipfeln die feinsten Blätter und Früchte fressen konnten. Wo Menschen mit schwarzer Hautfarbe leben würden, die in armseligen Blätterhütten im Urwald hausten. Karls Geschichten waren so lebhaft erzählt, dass Alma glaubte, mitten in so einer Hütte zu sitzen. Sie wusste manchmal nicht, ob sie dies glauben konnte oder ob er etwas dazu geflunkert hatte.