RAF, Challenger und die Liebe - Nicolas Rutschmann - E-Book

RAF, Challenger und die Liebe E-Book

Nicolas Rutschmann

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Beschreibung

Die bedrohlichen Schatten des RAF-Terrors und die Faszination für die Raumfahrt prägen die Jugend von Sid. Inmitten des Kalten Krieges und einer Welt, die gebannt, aber auch mit Sorge zum Himmel aufschaut, erlebt er seine erste große Liebe. Sids Erlebnisse werden zum roten Faden für geschichtliche und kulturelle Momentaufnahmen der 70er und 80er Jahre, die in der magischen Begegnung mit einem der größten Popstars seiner Zeit gipfeln. Einer Begegnung, die Sids Leben für immer verändern wird.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Are you Bryan Ferry?

RAF

Challenger

P.S.

00Prolog

Als hätte man die Filmaufnahme von ihm mitten im Sprung eingefroren, steckte Sid im Schnee fest. Beine weit auseinandergespreizt, der rechte Fuß den Abhang hinunter, der linke Fuß den Hang hinauf. Mit dem Schnee bis zur Brust fühlte Sid, wie die Kälte in ihm heraufzog. Es war eine Art Kälte, wie er sie noch nie zuvor gespürt hatte – und Sid hatte schon viel gefroren. Das war alles lästig gewesen, unangenehm. Aber das hier – das war die Kälte, die den Tod brachte. Das war ihm sofort klar. Sids Herz begann zu rasen vor lauter Panik.

Mit größter Mühe konnte Sid den Oberkörper ein wenig drehen und schaute zum Rand des Kraters zurück, von dem er kurz zuvor abgesprungen war. Er hatte das Gefühl, dass das Licht schnell abnahm, was ihn zusätzlich vor Angst zittern ließ. Unter seinen Sohlen befand sich lockeres Geröll, das seinem Schuhwerk keinerlei Halt bot, wie er bemerkte. Was ihn in diesem Moment in seiner Position hielt, war ausschließlich der festgebackene Schnee. Würde er nun versuchen, seinen wie in Beton gegossenen Oberkörper und seine Beine aus dem Schnee zu befreien, bestünde die Gefahr, dass er in der steilen Wand unter die unterste Eisschicht glitt. Wahrscheinlich würde er sogar in dem Hohlraum zwischen Geröll und Eis den Abhang hinabrutschen. Nicht weit vielleicht, aber weit genug, um sich von der Öffnung zu entfernen, die er durch seinen Sprung in das Schnee-Eisgemisch gerissen hatte. Zu weit, um dann noch Luft zum Atmen zu bekommen.

In diesem Moment wurde Sid bewusst, dass nun jede Bewegung, jeder Handgriff gut überlegt sein musste. Noch war der rettende Rand des Kraters nicht allzu weit entfernt. Noch konnte er es vielleicht schaffen, sich aus dieser lebensbedrohlichen Situation zu befreien. Aber eine falsche Bewegung, eine zu starke Verlagerung des Körpergewichts sowohl nach oben als auch nach unten würde es unmöglich machen zurückzukehren.

Zu ihr.

01Are you Bryan Ferry?

::: HÖHERE TÖCHTER

Aufgeklärte Menschen verschlingen Leidensberichte von Leukämiekranken, über das Elend in der Dritten Welt, die Unterdrückung Tibets und den Werteverfall in unserer Gesellschaft. Oder Worte von Walser, Mann, Grass, Allende und all den anderen Koryphäen des Feuilletons der 1980er Jahre.

„Was ist deine Geschichte gegen die eines Obdachlosen, die Millionen Geschichten der hungernden Kinder Afrikas? Diese kleine Geschichte eines Menschen, der – OMG! – seine Ideale aufgab, um zu überleben. Einer ungezählten Ameise im gigantischen Ameisenhaufen?“

Diese Frage könnte von seiner ersten richtigen Freundin stammen. Da war Sid 20. Sie war 17. Und eine Professorentochter. Eigentlich hätte sie ihn in puncto Intellekt und Erscheinung auf all die Flintenweiber vorbereiten müssen. Sid hätte die Beziehung mit ihr wie ein Trainingscamp fürs Leben nutzen sollen. Wenn er bei ihren Eltern zu Besuch war, ließ er all die Gespräche über Kultur, die Gesellschaft und die hungernden Kinder artig über sich ergehen. Aber trotz des Alters, das ihm eine gewisse Reife und Anteilnahme an den Problemen dieser Welt hätte abverlangen müssen, war Sid, wie seine Liebste, immer mit seinen Gedanken schon bei dem, was diesen Diskussionsrunden folgen würde, wenn sie sich endlich losgeeist hatten, um zu ihm zu fahren. Ungestümer, junger Sex.

Er liebte ihren leicht gebräunten Körper. Ihre Brustwarzen, die erst dann so richtig anschwollen, wenn sie wirklich in Fahrt kam. Den dunklen Schoß, der immer und immer wieder ergründet werden wollte. Obwohl sie nach ihrer eigenen Aussage schon Sex gehabt hatte, war sie doch relativ unerfahren. Ihm gegenüber zeigte sie sich jedoch als tabuloses Wesen, wenn er eine neue Variante ins Spiel brachte. Ihre Bewunderung und ihre Liebe waren ihm gewiss, und er war sich sicher, dass ihre Freundschaft die schnellen Techtelmechtel ihrer Bekannten um Jahre überdauern würde.

Was Sid aber störte, war diese Besitzergriffenheit ihres Vaters. Sid war sich sicher, dass man jede der drei Töchter nur mit einem astronomischen Brautgeld auslösen konnte, wenn es ans Heiraten ging. Hätte der Professor geahnt, dass Sid die Sonntagnachmittage zwischen den Schenkeln seiner zweitältesten Tochter zubrachte, bereitwillig ihrem Verlangen nachgab und den begierigen Körper mehrfach zum Wahnsinn trieb – er hätte wohl seine Sprachgewalt verloren und wäre entgegen seiner Überzeugung handgreiflich geworden.

Als Sids Freundin eineinhalb Jahre nach Beginn ihrer Beziehung mit ihrer Tante von einer Studienreise aus der Toskana zurückkehrte, erzählte sie am Kaffeetisch, dass ein junger Mann aus dem Dorf sie zu einer Fahrt auf seinem schnellen Motorrad mitgenommen hatte. Er wäre ganz anders gewesen, als man sich Italiener so vorstellte, kein Angeber, sondern eher besonnen. Und er hätte ihr innerhalb einer Stunde so viel von der Umgebung gezeigt, wie sie beim Ausflug mit der Gruppe zuvor nicht gesehen hatte.

Ihre Mutter warf ihr währenddessen einen entsetzten Blick zu. Und ihr Vater machte ihr klar, dass er nichts vom Motorradfahren hielt. Es sei gefährlich und außerdem sollte man den Fahrer und sein Fahrverhalten schon sehr genau kennen, bevor man seine Sozia werde.

Während Sid später eng umschlungen mit ihr auf dem Bett lag, erzählte sie – lachend –, dass sie mit dem Fremden aus dem Dorf natürlich nicht nur auf dem Motorrad unterwegs gewesen war. Sie berichtete, dass sie von dem netten jungen Mann nach einem Dorffest verführt wurde. Die ungewohnte, fremde Umgebung. Das toskanische Flair. Der Duft der Pinienhaine und Zypressenalleen. Rosmarin und Lavendel und das Licht. Und auch ein wenig unerfüllte Sehnsucht nach ihm, Sid, die für einen Augenblick in ihr aufstieg.

Der Moment, in dem sie, vollkommen unerwartet, von dem Fremden in den Arm genommen worden war. Sie keine Zeit hatte, etwas dagegen zu unternehmen. Es einfach geschehen ließ. Wie sie dann das Fest verließen und in seiner Wohnung direkt das Bett ansteuerten. Wie er im Nu ihre Kleider ausgezogen hatte und sie es dann erst in seinem Bett und später noch einmal auf dem Küchentisch trieben. Wie sie dann nachts neben ihrer Tante im Bett gelegen habe und ihr diese ganze Situation nicht aus dem Kopf gegangen war. Sid: ganz weit hinten, diffus in ihrem Kopf. Der Latin Lover: direkt vor ihrem inneren Auge, übermächtig.

Sie erzählte, wie kalt es trotz der toskanischen Sonne war, als der junge Mann sie am nächsten Tag auf seinem Motorrad abholte. Wie sie auf eine kleine Anhöhe fuhren, von der aus man einen grandiosen Ausblick über die Landschaft hatte. Er war so charmant, zeigte ihr die malerische Gegend, während ihre Tante zusammen mit den anderen Teilnehmern in einem mittelalterlichen Gehöft vor ihren Staffeleien und Malblöcken saß. Und während sie vor ihm stand und über die Zypressenallee unter sich starrte, spürte sie plötzlich seine Hand. Sie fuhr langsam unter ihren Pulli, dann zu ihren Brüsten. Umfasste sie. Dann küsste er ihren Nacken und schob sie, während er ihr liebevoll etwas ins Ohr flüsterte, langsam in Richtung seines Motorrads. Er nahm seine Hände von ihren Brüsten, strich über ihre Arme und drückte sie leicht nach vorne, bis ihre Hände die Sitzfläche der Maschine berührten. Und während sie sich wie automatisch darauf abstütze, merkte sie, wie ihr Lover von hinten den Knopf ihrer Hose öffnete und sie ihr bis zu den Fesseln hinunterzog, gleich darauf ihren Slip. Dann spürte sie, wie er sie von hinten nahm. Sie lachte, als sie schilderte, dass ihre Brustwarzen währenddessen so steinhart waren wie nie zuvor. Und auch noch eine Stunde nach diesem erotischen Erlebnis. Unglaublich. Von der Motorradfahrt? Von der Kälte? Von der Lust, die unablässig in ihr tobte? Doch bei diesen zwei „Begegnungen“ war es nicht geblieben. Sie berichtete von drei weiteren Treffen, in denen sie sich sehr nahegekommen waren. Doch als sie davon erzählte, drangen ihre Worte nur noch wie aus weiter Entfernung an Sids Ohr – wie durch Watte. Seine Gedanken fanden keinen Halt mehr in seinem Kopf. Alles spielte verrückt. Denn alle Werte, nach denen er davor gelebt und gehandelt, an denen er sich beim Umgang mit anderen orientiert hatte, galten plötzlich nicht mehr.

… The Bride Stripped Bare …

Vertrauen. Verlässlichkeit.Das Wort, das man sich gegeben hatte. Liebe, die neben dem Leben selbst das höchste Gut war. Das Maximale, das man erreichen und leben konnte. Und sollte. Was sie sich dabei gedacht haben mag, ihm von ihren amourösen Erlebnissen zu erzählen. Und dann auch noch so im Detail. So wie man es als Frau eigentlich nur der besten Freundin erzählen würde. Sid war, wenn man es so wollte, ihr bester Freund. Mehr Nähe zwischen Frau und Mann ging nicht. Also doch: Vertrauen? Verlässlichkeit? Immer alles ganz offen schildern? Ohne ein dunkles Geheimnis voreinander? Warum es dann aber erst so weit kommen lassen? Zu diesem Vertrauensbruch im Verhalten. Verlässlichkeit im Verhalten vermissen lassen.

Er fand keine Antwort darauf.

Vor allem störte ihn der Gedanke, dass sie das Elend in der Welt, welches sie bei jeder Gelegenheit ihm gegenüber zur Diskussion brachte, bei ihrem heißblütigen Lover sicherlich nicht einmal angesprochen hatte.

Männern wird ja immer nachgesagt, dass sie am ehesten zu einem Seitensprung bereit sind.

Sid hingegen warf die Sache total aus der Bahn. Es war ihm ernst gewesen mit seiner Liebe. Hatte er doch über zweieinhalb Jahre darauf hingearbeitet, diese in seinen Augen so einzigartige Frau zu erobern.

::: PENNE

Sie ging in dieselbe Schule, in der Sid das Abitur machte. Zwei Klassen unter ihm.

Eines Tages war sie ihm auf dem langen Flur vor den Unterrichtsräumen begegnet. Als sie sich für einen Augenblick ansahen, war es um ihn geschehen. In der Folgezeit wuchs dieses weibliche Geschöpf mit den langen, hochgesteckten, dunklen Haaren in seinem Kopf zur absoluten Traumfrau heran. Zur schönsten Frau in der Stadt. Und je mehr sie in seinen Gedanken zur Göttin wurde, umso unerreichbarer wurde sie für ihn im echten Leben.

In den Sekunden nach ihrer zufälligen Begegnung, als ihn ihr Blick aus dunklen Augen ganz tief ins Herz traf, hätte vielleicht noch die Möglichkeit bestanden, dass er sie ansprach. Ihr einfach eine doofe Frage stellte. Als Vorwand, um das Eis zu brechen. Da er diese einmalige Möglichkeit jedoch verstreichen ließ, wurde die Frau für ihn schnell zur Unberührbaren. Die Sid aber trotz allem, was hypothetisch gegen ihn sprach, an seiner Seite haben musste. Haben wollte.

Monate verstrichen und der zunehmende schulische Druck brachte ihn auf andere Gedanken. Die Hormone kochten zwar, aber akzeptable Noten waren nun einmal wichtiger. Sid hatte davor nach einer Ehrenrunde bereits zweimal die Schule gewechselt – ein drittes Mal dürfte er nicht scheitern.

Irgendwann zog er seine besten Schulfreunde ins Vertrauen. Sie waren baff, als Sid erzählte, in wen er sich verguckt hatte. Aus ihrer Sicht war seine Angebetete eine der Top-Frauen an ihrer Schule und für Jungs wie sie vollkommen unerreichbar. Sie würde sich ausschließlich mit einem Jungen aus einer der höher angesehenen Schulen in der Nähe einlassen. Oder mit jemandem, der an die Merz-Schule ging, die Privatschule auf den Hügeln der Stadt.

Seine Freunde hatten in dieser Zeit aber auch ihren eigenen Jagdinstinkt entdeckt. Jeder schwärmte für ein Mädchen innerhalb oder außerhalb der Schule, oder hatte es bereits erobert. So musste Sid seine Sehnsuchtsgedanken den immer abenteuerlicher werdenden Lageberichten seiner Freunde unterordnen, während seine Traumfrau, obwohl sie sich fast täglich über den Weg liefen, für ihn immer mehr aus dem Fokus verschwand.

Ein großes Thema der Jungs ab der elften Klasse – neben Mädchen, Musik, Führerschein und dem bevorstehenden Abitur – war die Wehrpflicht.

15 Monate bei der Bundeswehr.

Alternativ 18 Monate Zivildienst.

Mehrere von Sids Klassenkameraden bereiteten sich auf die von ihnen angestrebte Kriegsdienstverweigerung vor. Einige von ihnen hatten ältere Brüder oder Freunde, die diesen menschenverachtenden Prozess bereits durchgemacht hatten. Sie sprachen während der Pausen oder nach der Schule immer intensiver darüber und je mehr Details Sid über die widersprüchliche und unsinnige Art der Befragung während der Verhandlungen erfuhr, desto mehr fiel er vom Glauben gegenüber seinem Land ab. Irgendwann aber hatte Sid sich viele Notizen gemacht und arbeitete insgeheim die Strategie für sein eigenes Prüfungsverfahren aus. Natürlich war für ihn klar, dass er nicht zur Bundeswehr gehen würde.

Es kam der Zeitpunkt, an dem einer nach dem anderen zur Musterung gerufen wurde. Einer aus ihrer Runde zog verächtlich über diesen denkwürdigen Termin her: „Stellt euch vor, was passiert ist. Als mich der Bundeswehrarzt gebeten hat, meine Vorhaut zurückzuziehen, habe ich mich dumm gestellt und gefragt: wie oft denn?“

Sie brachen in schallendes Gelächter aus und machten sich über diese armselige Organisation lustig. Aber insgeheim wusste jeder, dass nach dem Abitur eine Pflicht wartete, die ihnen weit mehr abverlangen würde als die oft monierte Schulzeit. Denn Bundeswehr bedeutete, notfalls gegen die Russen zu kämpfen, genauer gesagt gegen die Sowjetunion und den gesamten Warschauer Pakt. Gegen Zehntausende von Panzern, die auf dem Schlachtfeld auf einen zurollen würden. Gegen Soldaten aus dem Osten, deren Grausamkeit legendär war.

Auf der anderen Seite machten sie sich aber auch lustig darüber, dass sie doch nicht diejenigen sein würden, die alten Leuten den Hintern abwischten. Das sollten bitte diejenigen machen, die gut dafür bezahlt wurden.

Zwischen diesen zwei Polen des einerseits noch unreifen Denkens und andererseits nackter Angst wanderten Sids Gedanken über viele Monate hin und her. In dieser Zeit hatten die ersten Schulfreunde ihre Verhandlungen und kamen in den meisten Fällen damit durch. Aber jeder, der dieses Prozedere durchgemacht hatte, war auf eine gewisse Art gebrochen. Derjenige war auf eine Wand von Widersprüchen gestoßen, die man nur durch sehr geschicktes Argumentieren umschiffen konnte. Dabei musste man Begründungen vorbringen, die genauso unsinnig waren wie die Gesprächsführung, in die man von der Kommission verwickelt wurde. Eine vergleichbar abstruse Situation wie in dem Film Catch 22. Dort wird die Möglichkeit der Freistellung Geisteskranker vom Kriegsdienst geschildert. Ein Antrag auf Freistellung wird aber als Zeichen offensichtlicher geistiger Gesundheit gewertet, weil Angst vor dem Kriegsdienst normal ist. Der logische Schluss daraus: Ein Aussteigen ist nicht möglich!

Die nüchterne Beobachtung dieser unsinnigen Sachlage versetzte Sid in einen Gemütszustand, in dem er schließlich … gar nichts unternahm.

Das Schicksal sollte entscheiden.

Und so kam es dann tatsächlich auch.

Während all seine Schulfreunde ihren Einberufungsbescheid erhielten, wartete Sid vergeblich auf ein entsprechendes Schreiben. Und irgendwann hatte er den Eindruck, dass er offenbar durch ein Raster gefallen war. Wie eine Karteileiche.

Sid gab sich damit zufrieden, dass er tatsächlich ohne das absurde Verweigerungsverfahren sowohl um Wehrals auch Zivildienst herumgekommen war.

Cool!

Ein kleiner Triumph zum Ende der strapaziösen Schulzeit.

::: JAGDREVIER

Nach dem Abitur flog Sid mit drei seiner Schulfreunde erst einmal nach Mallorca.

Udo D., den alle UD, gesprochen „Judiii“, nannten, hatte zwar verweigert, sein Antrag war aber abgelehnt worden. Steffen, dessen Name oft auf Steff verkürzt wurde, hatte nichts gegen den Dienst in der Bundeswehr. Thomas, wahlweise Tommes oder Thomsen gerufen und der Vierte im Bunde, hatte es tatsächlich geschafft, sich untauglich schreiben zu lassen.

Sie wussten, dass Thomsens Eltern einen guten Draht zu Ärzten hatten. Um schließlich seine Untauglichkeit besiegeln zu lassen, hatte er sich Tipps für ein glaubhaftes Vorspiegeln entsprechender Gebrechen samt Attesten geholt. Sie waren zwar alle dicke Freunde, aber die unterschiedlichen Beweggründe, mit dem Thema Wehrpflicht umzugehen, sorgte auch auf ihrer Reise für viele Diskussionen. Ihr „Drückeberger“ hatte jedoch ein Ass im Ärmel, das ihn relativ unangreifbar für sie machte: Er stellte nämlich das noble, elterliche Ferienappartement als Urlaubsunterkunft zur Verfügung. Und nachdem sie von dem mallorquinischen Angestellten seiner Eltern vom Flughafen abgeholt worden waren, fanden sie im Appartement einen gut gefüllten Kühlschrank und einen noch besser bestückten Getränkekeller vor.

Die Probleme und Anstrengungen der Schulzeit traten relativ schnell in den Hintergrund. Sie schliefen lange und frühstückten ausgiebig, saßen bis zum frühen Nachmittag auf der Terrasse, spielten Skat oder Binokel, blickten hinunter auf die Bucht unterhalb der Steilküste, auf der sich ihr Haus befand, und beobachteten die Yachten und Wasserskifahrer.

Nachmittags schlappten sie den Berg hinunter an den Strand, faulenzten dort weiter oder badeten im nur hüfttiefen Wasser. Doch die Wasserqualität machte Sid Sorgen, denn von der kleinen Sandbucht aus fand offenbar kein nennenswerter Wasseraustausch zum offenen Meer hin statt. Daher war die Wasseroberfläche an vielen Stellen von einem schillernden Film aus Sonnencreme überzogen, und ein paar Mal kam ihm beim Schwimmen sogar ein Kothaufen entgegen. Sid tröstete sich mit dem Gedanken, dass er von einem der Hunde stammen könnte, mit denen Herrchen oder Frauchen im Wasser spielten. An eine andere Möglichkeit wollte er gar nicht denken.

Die Gespräche drehten sich mehr und mehr um Frauen. Natürlich erzählten sie auch über Sids nie unternommenen Versuch, die Frau seines Herzens anzusprechen. Abwechselnd machten sich seine Freunde lustig darüber, welch ein Feigling Sid doch war und welche Angst er hatte, sich die Finger zu verbrennen. Dabei wäre Verbrennung besser als unerfüllte Liebe. Wenn sie dann jedoch reihum auch auf die erfolglosen Liebesabenteuer der Freunde zu sprechen kamen, konnte Sid seine Person schnell wieder aus dem Kreuzfeuer ziehen.

Der vielversprechendste Flyer von einem der unzähligen Strandläufer lockte sie abends in die Discos. Es zählte, wo es den günstigsten Longdrink gab. Für sie war dies Whiskey Cola, ein süßes Gesöff, das Sid nie zuvor getrunken hatte. So wie er vor ihrer Reise, ganz im Gegensatz zu den meisten seiner Freunde, kaum Alkohol angerührt hatte. Aber Whiskey Cola wurde schnell zu ihrem Urlaubsgetränk, das sie ab dem zweiten Tag auch bei ihren Kartenrunden auf der Terrasse tranken. Im Schnitt verbrauchten sie pro Tag eine Flasche Jim Beam. Eisgekühlte Cola war eh immer genug da.

In der Disco war die Dosierung jedoch grenzwertig: Wenn man dort den Longdrink bestellte, bekam man zu dem Whiskey, mit dem das Glas zu dreiviertel gefüllt wurde, obendrauf nur noch einen Schuss Cola. Die vier jungen Männer hingen erbarmungslos zwischen den Welten – der nicht selbstbestimmten Schulzeit und dem Berufsleben, das zu viele Möglichkeiten bot, noch dazu mit dem Wehrdienst als Albtraumszenario direkt vor der Nase. Die Dosierung ihres Getränks war somit genau richtig. Und es hatte den Vorteil, dass sie wenig Geld dafür ausgeben mussten, an einem ausschweifenden Abend schnell auf Betriebstemperatur zu kommen.

Für Sid, der keinen Alkohol gewohnt war, war der Abend dann oft früh vorbei. Während seine Freunde frenetisch oder lustlos auf der Tanzfläche vor sich hinschwooften und hin und wieder einen meist vergeblichen Anlauf unternahmen, eine Frau anzusprechen, schlief Sid des Öfteren auf der Sitzbank ein, die direkt neben einer der mannshohen Bassboxen stand. Ihn störte das Wummern wenig, konnte er sich doch ausruhen und war doch ganz inmitten des Partygeschehens. Auf dem Nachhauseweg musste er sich allerdings von seinen Freunden anhören, dass er einfach nichts gewohnt sei.

Am dritten Abend hatte es UD endlich geschafft: Der Rest von ihnen beobachtete erstaunt, wie ihr Freund mit einem hochgewachsenen, blonden Mädchen plötzlich vor die Tür ging. Als er nach einiger Zeit zurückkam, grinste er und erzählte, dass er gerade eine Eroberung gemacht hatte: Andrea aus Düsseldorf. Sie hätten sich für den folgenden Abend wieder in diesem Club verabredet.

Auf dem Fußweg nach Hause löcherten sie UD mit Fragen. Sie versuchten herauszubekommen, wie er es geschafft hatte, diese attraktive Frau anzusprechen und nicht von ihr zurückgewiesen zu werden. UD war bekannt dafür, schon einige Frauen gehabt zu haben. Also saugten sie seinen Bericht gierig auf, wie eine nützliche Lektion fürs Leben. Als sie später auf der Terrasse saßen und noch eine Runde Karten spielten, rückte ihr erfolgreicher Freund mit dem Wunsch heraus, am nächsten Abend – sollte seine jüngste Eroberung tatsächlich wie abgemacht aufkreuzen – im Anschluss für ein paar Stunden eine sturmfreie Bude zu haben. Im ersten Augenblick sahen sie ihn fassungslos an, aber dann fingen sie an zu grölen und begossen mit einer weiteren Runde Whiskey Cola die erfolgreiche Wendung, die dieser Urlaubs-Trip nun sicherlich auch für die restlichen drei nehmen würde.

Am nächsten Abend hielten sich die Übergebliebenen länger als gewollt in der Disco auf. Im Gegensatz zu UD, der bald nach seinem verabredeten Wiedersehen mit der großen Blondine aus der Disco verschwand, bot sich den dreien keine ernstzunehmende Gelegenheit, mit ihrem Freund gleichzuziehen. Thomsen und Steff unternahmen zwar jeweils einen vergeblichen Versuch, eine der Frauen um sie herum aufzureißen. Aber Sid beließ es bei ein paar verlegenen Blicken hin zu einer jungen Schönheit am anderen Ende der Tanzfläche, die mit ihren langen dunklen Haaren seiner unerfüllten Liebe in Stuttgart verdammt ähnlichsah. Und dieses hübsche weibliche Geschöpf da gegenüber, das ausgelassen mit ihrer Freundin tanzte, schien für ihn ebenso unerreichbar wie seine Göttin in 1.158 km Entfernung.

Sid war gedankenversunken, als sie den Berg zu ihrem Appartement hochstapften. Thomsen und Steff debattierten gestenreich darüber, was sie auf ihren Eroberungszügen wohl falsch gemacht hatten. Als sie die Tür zum Appartement aufschlossen, saßen ihr Freund UD und Andrea in Unterwäsche auf der Couch im Wohnzimmer und rauchten. Da die Tür dazu angelehnt war, ging Thomsen sofort in das Zimmer seiner Eltern, das auf dieser Reise sein Schlafzimmer war, und sondierte die Lage. Dann kam er entrüstet zurück und brüllte UD an, was er sich dabei gedacht hätte, die Klamotten dort liegen zu lassen. Und vor allem, das Leintuch dermaßen zu besudeln. Wenn es schon sein musste, dann hätten sie es gefälligst auf UDs Matratze im Wohnraum treiben sollen.

Doch UD, der große Macker, ließ diese Hasstirade weitgehend unbeeindruckt an sich abprallen. Er hatte im Gegensatz zu den dreien bereits am Vorabend das perfekte Eisen gewählt und heute erfolgreich eingelocht. Sein eh schon herausragendes Handicap hatte er an diesem Abend noch einmal verbessert. Das mussten sie ihm erst mal nachmachen – das musste allen voran Thomsen ihm nachmachen. UD ging unter Thomsens vernichtenden Blicken mit seiner Begleitung zurück ins Schlafzimmer. Dort zogen sie sich an und verließen das Appartement. Es war nicht klar, wann und ob überhaupt UD zurückkehren würde.

Als sie alle bereits schliefen, klopfte es mitten in der Nacht leise an eines der kleinen Fenster, die sich an der Straßenseite befanden. Sid wachte als Erster auf und öffnete die Tür: UD stand grinsend im Halbdunkel. Steff richtete sich, müde wie Sid auch, von seinem Schlaflager im Wohnraum auf. Jeden Moment musste Thomsen in der Tür stehen und das Gezeter würde erneut losgehen. Aber die Schlafzimmertür blieb geschlossen und UD schlich zu seinem Schlafplatz, der auf der breiten, weiß getünchten Steinbank im Wohnzimmer zwischen der seiner Freunde lag.

UD flüsterte, er könne ja nichts dafür, dass seine Flamme ihrerseits keine sturmfreie Bude zur Verfügung stellen konnte. Sie teile sich das Hotelzimmer mit ihrer besten Freundin. Und die habe bereits am ersten Abend einen Typen kennengelernt, der wiederum auch keine sturmfreie Bude anzubieten hatte. Sein Kumpel, mit dem er sich das Zimmer teilte, hatte ebenfalls eine Eroberung gemacht, der er für gemeinsame körperliche Annehmlichkeiten sein Bett zur Verfügung stellen musste.

Sie grinsten über alle Ohren, als UD diesen Lagebericht zum Besten gab. Und sie stellten sich feixend vor, wie diese Kette der Lust noch endlos weitergehen würde, bis sie sich durch die gesamte Stadt gezogen hatte. Jeder war über nur wenige Verbindungsglieder mit jedem im Ort sexuell verbandelt.

Mit einem Mal hatten sie das Gefühl, dass sie nicht etwa im schönen Peguera gelandet waren, sondern eher in Sodom oder Gomorra. Ein sündiges Fleckchen war das hier, das konnte man schon sagen. Aber die drei „anderen“ hatten im Gegensatz zu UD noch keinen einzigen Stich gemacht. Das stimmte sie etwas missmutig.

Als sie am nächsten Abend erneut ihr Jagdrevier ansteuerten, hatte sich die Situation zwischen UD und Thomsen wieder beruhigt. UD war trotz seines nächtlichen Ausflugs bereits früh am Morgen aufgestanden und hatte für alle Croissants und Brötchen geholt. Als sie verschlafen aus ihren Kojen krochen, stand bereits alles fertig auf dem Frühstückstisch. Neben dem Brotkorb stand sogar eine Flasche Jim Beam, die UD, entgegen ihrer sonstigen Gepflogenheiten, ganz aus eigener Tasche bezahlt hatte. Als Thomsen mit ernster Miene aus seinem Schlafzimmer trat, zeigte UD mit einer theatralischen Geste auf den von ihm bestückten Frühstückstisch. Vor dem Tisch begrüßten sich beide mit einem müden High Five, während Thomsen mit zustimmendem Nicken den Jim Beam ergriff und in den Barschrank stellte.