Svenja & Leila - Nicolas Rutschmann - E-Book

Svenja & Leila E-Book

Nicolas Rutschmann

0,0

Beschreibung

» Ein Leben. Viele Wahrheiten. « Durch einen Zufall kreuzen sich Svenjas und Leos Wege. Und während Leo noch mit seinem Job bei Deutschlands größtem Bankhaus hadert, ist Svenja schon dabei, seinen Alltag gehörig auf den Kopf zu stellen. Aber ist sie auch die Frau, für die sie sich ausgibt? Kleine Unstimmigkeiten machen Leo stutzig, aber seine Liebe ist stärker als jeder Zweifel. Noch ahnt er nicht, welch dunkles Geheimnis Svenjas rätselhaftes Verhalten beeinflusst. Das Buch erscheint parallel zum Roman "Die Kontobewegung" unter dem Motto: » Zwei Bücher. Eine Geschichte. Mehrere Blickwinkel. « Ob ihr euch für Svenja oder Leo entscheidet: Beide Bücher enthalten den gleichen Text.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 342

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Nicolas Rutschmann

Svenja & Leila

Roman

© 2022 Nicolas Rutschmann

Erstausgabe 2022

Korrektorat: Katrina Flamann

Umschlaggestaltung & Satz: ROW.LAB

Photo by Jurica Koletić on Unsplash

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany

ISBN Softcover: 978-3-347-64153-2

ISBN Hardcover: 978-3-347-64154-9

ISBN E-Book: 978-3-347-64155-6

ISBN Großschrift: 978-3-347-64156-3

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter:

tredition GmbH, Abteilung „Impressumservice“, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

PROLOG

„Es heißt ja: In einer Beziehung liebt immer einer mehr als der andere.“

„Sagt man …“

„Sagt man.“

„Hmmm …“

„Ich frage mich: Wenn das stimmt – ist das bei uns auch so? Ich meine, liebst du mich weniger, als ich dich, wenn du abends auf dem Sofa neben mir einschläfst? Hast du kein Interesse mehr an mir? Oder liebst du mich ganz im Gegenteil mehr und schläfst nur deshalb ein, weil du dich in meiner Nähe so geborgen fühlst?“

„Hmmm …“

„Komm schon, sei ehrlich und antworte. Wenn du kannst.

… Nur, wenn du kannst.“

„Ich liebe dich. Das weiß ich. Soviel kann ich sagen.“

„Und?“

„Genügt dir das nicht als Antwort?“

SOLL UND HABEN

Nur durch einen Zufall war Leo auf die Unregelmäßigkeiten im Kontoprofil des Kunden gestoßen.

Er hatte an diesem Tag mehrere Beratergespräche geführt, in einem der speziell dafür hergerichteten, kleinen Besprechungsräume im Erdgeschoss des Bankgebäudes. Drei Stühle, ein Schreibtisch und ein Monitor samt Tastatur und Maus, über den jeder Bankberater auf seinen persönlichen Account zugreifen konnte. Das einzige Gestaltungselement, das ein wenig Leben in die Bude brachte, war die Getränkeinsel mit ihren 0,2 Liter-Flaschen: stilles oder sprudelndes Wasser, Apfelsaft und Orangensaft.

Kaffee, Espresso, Tee oder Cappuccino, die den Kunden selbstredend ebenfalls angeboten wurden, musste Leo dagegen aus der Kaffeeküche am Ende des Gangs holen. An Tagen wie diesem, wenn er unter Zeitdruck stand, kostete ihn das einige Nerven, denn das Servieren der in einer viel zu kleinen Tasse hin- und herschwappenden, heißen Flüssigkeit gehörte nicht gerade zu seinen Stärken. Soweit er sich erinnern konnte, hatte davon auch nichts in seiner Job-Beschreibung gestanden. Doch egal, wie viele lautlose Flüche er auf dem Rückweg von der Kaffeeküche auch ausstieß, er stellte das Heißgetränk jedes Mal mit einem gewinnenden Lächeln vor seiner Gesprächspartnerin oder seinem Gesprächspartner ab. Denn eines war klar: Wenn er seinen Job in diesem Moment gut machte, dann würde er in den nächsten 45-60 Minuten ein Neu- oder Zusatz-Geschäft machen. Und dafür war Leo gern bereit, den Lakaien zu spielen.

Die Bank hatte in der Vergangenheit natürlich auch ausprobiert, Heißgetränke bei Kundengesprächen durch Auszubildende, Sekretärinnen und sogar eigens hierfür eingestellte Servicekräfte servieren zu lassen. Aber dann war man an höchster Stelle zu dem Schluss gekommen, dass es dem Kunden unter verkaufspsychologischen Gesichtspunkten am meisten schmeichelte, wenn sein Serviceberater ihn persönlich umsorgte. Da fühlten er oder sie sich gut aufgehoben und waren in der Folge auch bereit, sich diverse – aus Sicht der Bank – lukrative Finanzprodukte empfehlen zu lassen.

All diese Erkenntnisse tangierten Leo bei seinem dritten Kundengespräch an besagtem Tag allerdings nur unterschwellig. Er hatte schnell gemerkt, dass er seinem Gegenüber diesmal keine provisionsträchtigen Geldanlagen würde aufschwatzen können. So zog er das Ganze vollends nach Schema F durch, schüttelte dem älteren Kunden zum Abschied freundlich lächelnd die Hand und machte sich dann, mit seinen Gedanken bei den noch anstehenden Tätigkeiten, auf den Weg zu seinem eigentlichen Arbeitsplatz im dritten Stock.

In der knappen restlichen Zeit bis Geschäftsschluss musste Leo routinemäßig überprüfen, ob alle in den letzten 72 Stunden angestoßenen Geschäftsvorgänge auch tatsächlich gebucht worden waren. Außerdem standen die turnusmäßigen Bestands- und Erfolgskontrollen für seinen Arbeitsbereich an, die eine Einschätzung der Kosten- und Ertragssituation seiner Geschäftsvorgänge anzeigen sollten. Leo musste sich hierbei in einem ersten Schritt quasi selbst bewerten und dazu den genannten Prozess in seinem EDV-System manuell anstoßen, so dass die Daten mit seinen Bilanzen, den Gewinn- und Verlustrechnungen sowie den fertigen Berichten automatisch an die Niederlassungsleitung weitergereicht wurden. Diese würde daraus wiederum ein eigenes Rating erstellen und je nach Ergebnis entsprechende weitere Maßnahmen einleiten.

Leo hasste diesen Prozess, der je nach Laune seines Abteilungsleiters und wirtschaftlicher Stimmungslage seiner Bank einmal im Quartal, manchmal aber auch monatlich auf ihn lauerte. Denn selbst wenn er sicher war, in den abgelaufenen 4 oder 12 Wochen einen guten Job gemacht zu haben, konnte Leo nie wissen, ob die EDV ihm nicht doch aus unerfindlichen Gründen ein miserables Rating ausstellen würde. Wie üblich suchte er daher, nachdem er die Routinearbeiten erledigt hatte, nach jeder noch so kleinen prokrastinatorischen Möglichkeit, die es ihm erlauben würde, das Anstoßen des Rating-Prozesses noch ein Weilchen hinauszuzögern.

Es war in diesem Moment, als Leo sich mit dem Cursor mal wieder zögerlich dem verhassten Button näherte, dass sein Blick zufällig auf den rechten der beiden Monitore vor ihm auf dem Schreibtisch fiel. Was er sah, ließ ihn einen willkommenen Moment lang innehalten.

Matschke: Der schräge Name war ihm, wie viele andere auch, schon mehrfach ins Auge gefallen, ohne dass er dies zum Anlass genommen hätte, nachzuforschen, wer genau sich hinter dem Namen verbarg. Es hatte auch nie einen Grund dafür gegeben, genauer hinzuschauen, denn immer stand daneben, wie neben vielen anderen Namen, eine lange grüne Zahlenkette, die auf einen Blick signalisierte, dass mit dem jeweiligen Konto alles in Ordnung war.

Diesmal allerdings leuchtete rechts in der Zeile neben dem Namen „Matschke“ eine rote Zahl auf, was eindeutig darauf hinwies, dass das Konto im Soll war. Im Grunde kein besonderer Vorfall, denn der Kontostand vieler Kunden schwankte immer mal wieder zwischen dem grünen und roten Bereich. Die meisten Konten, die im Soll lagen, bewegten sich relativ vorhersehbar nach einiger Zeit wieder zurück ins Haben. Und auf dem Weg dorthin ließ das defizitäre Konto die Bank – wie von dieser erwünscht – täglich gut an den happigen Sollzinsen verdienen. Da die Bank daran interessiert war, möglichst viel Profit aus diesem an Einfachheit kaum zu überbietenden Geschäftsvorgang zu ziehen, unternahm sie natürlich auch nichts, um den Kunden darauf aufmerksam zu machen, dass es – aus Sicht des Kunden – doch sinnvoll wäre, möglichst schnell aus dem Minus wieder ins Plus zu kommen, anstatt durch den vollkommen überzogenen Sollzinssatz unnötig sein Geld zu vernichten.

In begründeten Fällen war Leo natürlich verpflichtet, die Ursache eines länger anhaltenden Solls herauszufinden und genau zu beobachten, wie sich der Kontostand weiterentwickelte. Das war hier nicht der Fall, denn Matschkes Kontostand war erst wenige Stunden zuvor ins Minus gerutscht. Dennoch konnte Leo seine Augen nicht von der Saldozeile lassen, denn ein Umstand, der zuvor höchstens unterbewusst seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, wurde ihm nun, da er die Kontohistorie genauer studierte, sonnenklar: Die Überweisungen an einen ganz bestimmten Empfänger bei einem anderen Kreditinstitut erhöhten sich mit jeder Buchung um exakt 1.250 Euro – und das schon seit knapp zwei Wochen. Das Geld ging jeweils an eine Organisation mit dem Namen „Vergessener Kontinent, wir helfen e.V.“, und mittlerweile war der Überweisungsbetrag bei 16.250 Euro angekommen. Das waren bei insgesamt 13 Überweisungen in Summe 113.750 Euro! Leo saß vor seinem Monitor und konnte es nicht fassen: „Ein Wunder, dass er jetzt erst ins Soll gerutscht ist und nicht vorher schon“, murmelte er vor sich hin.

Aber was sollte das alles? Und vor allem – war es Matschke selbst, der diese Überweisungen getätigt hatte, oder hatte sich irgendjemand unrechtmäßig Zugang zu Matschkes Onlinebanking verschafft und dieser hatte bis jetzt nichts davon mitbekommen?

Leo stieß sich etwas zurück und drehte sich mit seinem Schreibtischstuhl einmal um die eigene Achse. Dann bremste er ab und starrte, leicht nach vorne gebeugt, wieder auf den Monitor. Er klatschte mit der flachen Hand auf die Tischplatte und ein Lächeln überzog sein Gesicht: „Genau für so einen Fall sind wir da. Genau dafür! Nicht die Maschinen.“

Leo schaute auf die Uhr – es war 16:45 Uhr. Er überlegte kurz, dann verwarf er den Gedanken, Matschke gleich anzurufen. Obwohl Matschke sein Kunde war, wäre es indiskret gewesen, ihn allein wegen der merkwürdigen Überweisungen telefonisch zu behelligen. Leo hatte klare Order, erst tätig zu werden, sobald ein Konto sukzessive ins Soll rutschte, ohne dass eine Gegenbewegung sichtbar war. Aber das war hier nicht der Fall – bis vor der letzten Überweisung von 16.250 Euro war das Konto klar im Haben gewesen und die monatlichen Geldeingänge in der Kontohistorie der letzten 9 Monate waren jeweils beträchtlich. Es konnte also durchaus sein, dass das Konto schon in wenigen Minuten wieder auf dem Weg ins Plus sein würde, wenn der neueste Zahlungseingang vorgemerkt war. Und was Matschke mit seinen üppigen monatlichen Einnahmen letztendlich machte, ging Leo und seine Bank überhaupt nichts an.

CUBA LIBRE

Die verdächtigen Buchungen ließen Leo keine Ruhe. Den ganzen Abend lang grübelte er darüber nach, was wohl dahinterstecken mochte. Eigentlich war es nicht seine Art, Arbeit in Gedanken mit nach Hause zu nehmen. Mit Verlassen des Finanztempels ließ er üblicherweise auch seinen Arbeitsalltag hinter sich. Aber hier lag die Sache anders. Dies hier war keine Routineangelegenheit. Der ganze Sachverhalt schien ausschließlich für Leos Augen bestimmt und ihm war, als sei es an ihm, daraus Konsequenzen zu ziehen.

Daher fuhr Leo am nächsten Morgen mit einiger Spannung den Rechner hoch, kaum, dass er sein Büro betreten und den Vorschlag von Kollege Sahrmann abgewimmelt hatte, sich wie üblich erst einmal bei einem Morgenkaffee auszutauschen. Das System war wieder quälend langsam und Leo verfluchte die IT-Schnösel dafür, dass sie trotz diverser Beschwerden von Kollegen immer noch nichts unternommen hatten. Sie arbeiteten hier beim größten Bankhaus Deutschlands, aber das Computernetzwerk erinnerte an manchen Tagen an die Anfangszeiten des Internets!

Als sich die Seite mit Matschkes Konto endlich geöffnet hatte, rief Leo die Umsatzübersicht auf. Was er sah, machte ihm keine Freude: Über Nacht waren diverse Überweisungen aus dem Ausland aufgelaufen, die sich nun brav bei den Buchungsvormerkungen aufreihten und das Konto im Laufe des Tages wieder in ein fettes Haben treiben würden.

„Mist!“, entfuhr es Leo und er schlug mit der Faust wütend auf den Tisch. Schnell schaute er auf, um sich zu vergewissern, dass ihn keiner der Kollegen vom Flur aus bei diesem ungewohnten Gefühlsausbruch beobachtet hatte.

Zum Glück saß jeder von ihnen in einem Einzelbüro – ein Relikt aus jener Zeit, als ein Bürojob noch einen hohen Stellenwert besaß und man damit den einfachen Arbeitern unten an den Maschinen und in den Werkshallen ganz klar zeigte, wer die Hand am längeren Hebel hatte. Doch Leo war sich im Klaren darüber, dass dies vielleicht nicht mehr allzu lange so weitergehen würde, auch wenn das Gebäude, in dem er arbeitete, erst wenige Jahre zuvor aufwändig renoviert und mit teuren Böden und Holzvertäfelungen ausgestattet worden war. In vielen Branchen wurden die Einzelbüros sukzessive in unpersönliche und lärmige Großraumbüros umgewandelt, in denen die Mitarbeiter den ganzen Tag lang mit Headsets auf den Köpfen stier in ihre Monitore starrten, nur um den sie umringenden Kollegen damit in jeder Sekunde eifrige Geschäftigkeit zu signalisieren.

Leo lehnte sich zurück, schloss kurz die Augen und atmete deutlich vernehmbar aus, um seinen Frust abzulassen. Dann blickte er ratlos zurück auf den Monitor. „Keinerlei Handhabe für eine Benachrichtigung des Kunden“, murmelte er und trommelte mit den Fingern auf den Rand der Tastatur. „Vorbei.“

Als Leo mit Sahrmann vom Mittagstisch beim Steakhouse um die Ecke zurückkam, wartete schon sein Abteilungsleiter auf ihn. Leo wunderte sich, doch Schmitz reichte ihm lediglich ein paar Akten und bat ihn, die Vorgänge in Vertretung für einen erkrankten Kollegen zu übernehmen – es war dringend. Also verbrachte Leo den Rest des Nachmittags mit der Abarbeitung der Akten, rief Kunden seines Kollegen an und besprach mit ihnen diverse Angelegenheiten. Dies beanspruchte ihn so sehr, dass er die verdächtigen Überweisungen beinahe vergaß.

Erst vor Dienstschluss warf er wieder einen Blick in Matschkes Konto und war wie vom Donner gerührt: Eine Überweisung über jetzt 17.500 Euro ging tatsächlich erneut an besagtes Konto. Leo schaute auf die Gesamtbilanz – Matschke hatte durch die mittlerweile gebuchten Eingänge nach wie vor ein Guthaben. Wenn er wollte, konnte er mit diesem Kontostand die nächsten Tage problemlos erst 18.750 Euro, dann 20.000, 21.250 und so weiter überweisen und wäre immer noch im Plus.

Leo loggte sich aus und stand auf. Während er mit Sahrmann im Fahrstuhl nach unten fuhr, reagierte er eher automatisch auf dessen Einwürfe: „Ach ja? … Hmmm … Das ist ja lustig …“. Als Sahrmann ihn noch – „so unter uns Singles“ – auf ein Glas Wein in der Bar um die Ecke überreden wollte, winkte Leo unter einem Vorwand ab.

Anstatt mit der U-Bahn nach Hause zu fahren, lief er zum nahegelegenen Schlossplatz im Stadtzentrum, der um diese Zeit gut bevölkert war. Er setzte sich auf eine Bank, atmete tief ein und nestelte einen Zettel aus der Tasche seines Sakkos. Darauf standen zwei Telefonnummern.

Bei der ersten Nummer, Festnetz, antwortete niemand. Nach langem Klingeln ging lediglich eine Mailbox mit automatischer Ansage an. Die zweite Nummer war eine Mobilnummer. Hier meldete sich eine unwirsche Stimme: „Ja, bitte?“

„Ja … Krumenacker hier, guten Tag. Ich bin Ihr Bankberater. Wir hatten noch keine Gelegenheit, uns persönlich kennenzulernen. Ich habe Ihr Konto von meinem Kollegen Winkler übernommen, der vor einem halben Jahr den Arbeitsbereich gewechselt hat. Sie müssten darüber schriftlich informiert worden sein. Weshalb ich Sie anrufe …“ Leo schaute sich unauffällig um und dämpfte seine Stimme etwas. Dicke Schweißperlen liefen ihm die Schläfen herunter. „Mir sind da gewisse Unregelmäßigkeiten in Zusammenhang mit Ihrem Konto aufgefallen, über die ich Sie in Kenntnis setzen wollte.“

„Die Bank – interessant. Wenn ich Sie etwas fragen darf: Sie rufen offenbar nicht von Ihrem Arbeitsplatz aus an. Das hört man. Und Sie benutzen ein Mobiltelefon. Können Sie sich legitimieren?“

Leo biss sich auf die Unterlippe, weil er seinen Fehler erkannte: Er hätte – auch wenn der Anruf nicht im Sinne seines Arbeitgebers war – ganz offiziell von seinem Arbeitsplatz aus anrufen sollen. Dann hätte Matschke die Nummer der Bank auf seinem Display gesehen. So handelte er sich unter Umständen großen Ärger ein. Ärger, den er gerade durch den vertraulichen Anruf von seinem privaten Mobiltelefon hatte vermeiden wollen.

„Es ist so …“ Leo verzog das Gesicht, dann entschloss er sich, offen zu sein: „Aus Sicht der Bank ist alles in Ordnung mit Ihrem Konto. Es ist ausgeglichen. Dennoch … ich persönlich habe ein paar Auffälligkeiten bemerkt, die ich mit Ihnen kurz abklären wollte. Nur damit …“

„Um was für Unregelmäßigkeiten geht es genau?“, fiel Matschke Leo ins Wort. „Wenn Sie nicht umgehend zum Punkt kommen und sich vor allem auf irgendeine Weise legitimieren, beende ich dieses Telefonat.“

Leo war irritiert: Aus seiner Helferrolle war in wenigen Augenblicken diejenige des ungebetenen Anrufers geworden. Doch er fing sich wieder:

„Unter Umständen hat sich die Angelegenheit in zwanzig Sekunden erledigt, wenn Sie mir nur kurz zuhören und bestätigen können, dass die aus meiner Sicht eventuell vorliegenden Unregelmäßigkeiten in Wirklichkeit gar keine sind.“

Anstelle einer Antwort hörte Leo, wie Matschke am anderen Ende der Leitung hustete, dann kurz fluchte. Im Hintergrund lief Salsa-Musik. Leo merkte, dass Matschke das Mikrofon seines Mobiltelefons abgedeckt hatte und sich mit einer anderen Person unterhielt. Die Worte waren nicht zu verstehen, nur der Ton einer weiblichen Stimme, erst lasziv, dann plötzlich vorwurfsvoll.

Leo räusperte sich: „Wenn es gerade ungelegen kommt, kann ich gerne später nochmal …“

„Nein, nein!“, fuhr Matschke scharf dazwischen. „Nun sagen Sie schon, um was es geht!“

„Gerne, Herr Matschke. Also – mir ist da eine Kette von insgesamt 14 Überweisungen an denselben Empfänger aufgefallen, und zwar an „Vergessener Kontinent, wir helfen e.V.“. Diese Überweisungen fangen vor genau zwei Wochen an und die überwiesene Summe wird jeden Tag, bei jedem Überweisungsvorgang, um exakt 1.250 Euro erhöht. Das ist auffällig – und merkwürdig. Zuletzt wurde heute Nachmittag um 16:42 Uhr ein Betrag von 17.500 Euro überwiesen, gestern waren es 16.250 Euro. Worauf ich hinaus will: Ich möchte sicherstellen, dass sich keine Person von außen unberechtigt Zugang zu Ihrem Onlinekonto verschafft hat.“

„Was sagen Sie da?!“, bellte Matschke ins Telefon.

Leo hörte wieder, wie das Mikrofon zugehalten wurde und ein diffuser, gereizter Wortwechsel mit der weiblichen Person stattfand. Im Hintergrund plätscherte die Salsa-Musik – dann brach das Telefonat ab.

Entgeistert starrte Leo sein Smartphone an. Dann vergewisserte er sich nochmals, dass ihn niemand bei dem Telefonat belauscht hatte. Er rief die Anrufliste auf und ließ seinen Zeigefinger über der eben gewählten Nummer kreisen. Nach kurzem Zögern verwarf er den Gedanken, Matschke erneut anzurufen. So, wie der Kunde reagiert hatte, konnte er froh sein, wenn das Ganze kein böses Nachspiel für ihn hatte. Aber vielleicht hatte er Glück und Matschke war so mit seiner Auseinandersetzung mit der weiblichen Person beschäftigt, dass er den Anruf schnell vergaß.

Leo steckte das Handy ein und machte sich über den Kiesweg des Schlossparks auf den Weg nach Hause. Als ein Ball sein rechtes Schienbein traf, schaute er überrascht auf. Zwei Jungen starrten ihn aus einiger Entfernung vom Rasen her an. Leo nahm Anlauf und kickte den Ball in hohem Bogen zu ihnen zurück. Es war ein präziser Schuss, der genau vor einem der Jungs landete, so dass die beiden ihr Spiel nahtlos fortsetzen konnten.

Leo hielt inne, zückte sein Smartphone und scrollte die Adressliste durch. Irgendwo musste er doch die Telefonnummer seines alten Kumpels haben, mit dem er hin und wieder Fußball spielte. Jetzt, in diesem Augenblick hätte er Lust darauf gehabt. Doch die Nummer fand sich nicht. Leo steckte das Telefon unverrichteter Dinge wieder in die Tasche und betrat die Rolltreppe zur U-Bahn-Station.

MASTERS OF THE UNIVERSE

Einige Jahre zuvor noch hatte Leos Bank fast ausschließlich auf das Investment-Geschäft gesetzt. Auf Fonds und Geldanlagen alle Art. Sich systematisch von großen wie kleinen vermeintlich unrentablen Girokonto-Kunden getrennt. Aber dann war das Geschäft unerwartet implodiert, nachdem das Vertrauen der Anleger in den Anlagemarkt durch die Finanzkrise wie von einem Orkan weggefegt worden war.

Die Tätigkeit eines Bankangestellten war seither nicht gerade das, was ein junger Mensch noch als Berufswunsch äußern würde. In den Augen der Bürgerinnen und Bürger waren Bankmitarbeiter heute der letzte Dreck – eine Ansicht, die Altkanzler Helmut Schmidt einmal mit folgender Formel auf die Spitze getrieben hatte: „Ich teile die Menschheit in drei Kategorien: Wir normale Menschen, die irgendwann in ihrer Jugend mal Äpfel geklaut haben, die zweite hat eine kleine kriminelle Ader und die dritte besteht aus Investmentbankern.“

Nun war Leo selbst kein Investmentbanker. Das schmutzige Geschäft erledigten Kollegen von ihm im Frankfurter Headquarter. Diese Bluthunde suchten den Aktienmarkt permanent nach Investment-Möglichkeiten ab. Dabei setzten sie auf vielversprechende Kandidaten, deren Kurs idealerweise gerade schwächelte, jedoch zukünftig im Aufwind sein sollte. Oder sie setzten neben neuen Aspiranten ganz klassisch auf Papiere von Unternehmens-Dinosauriern, die mit prominentem Namen zwar im Verkaufsprospekt eine gute Figur machten, im Verborgenen oft aber mit gewaltigen Altlasten beladen und nur schwer auf neuen Kurs zu bringen waren, wenn es darum ging, mit frisch hinzugekommenen, innovativeren Playern am Markt mitzuhalten.

Doch in dem trüben Tümpel des Investmentgeschäfts gab es ein Loch, das noch undurchschaubarer war als der Rest des brackigen Gewässers. Es barg all den Abschaum an sogenannten Börsenprofis, der auf dem übrigen Finanzmarkt lediglich geduldet wurde. Diese Zocker bezeichneten sich selbst als „Masters of the Universe“, während sie Privatanleger als „Dummes Geld“ schmähten. Als Hedgefonds-Manager wirkten sie zum Beispiel auf die Zerschlagung von kerngesunden Unternehmen hin, indem sie sich als aktivistische Investoren Minderheitsbeteiligungen daran sicherten. Sobald sie sich genug Einfluss aufs Management verschafft hatten, setzten sie alle Mittel ein, um den Wert maximal zu steigern und dann wieder auszusteigen. Dabei kannten sie keine Gnade: Zu ihren bevorzugten Instrumenten zählten Abspaltungen von bis dahin erfolgreichen Geschäftsteilen, da die Einzelteile an der Börse oft mehr wert waren als der Konzern insgesamt.

Andere Heuschrecken, wie Hedgefonds selbst von seriösen Medien genannt wurden, wetteten auf fallende Kurse von Papieren, deren Anleger verständlicherweise an deren Kursanstieg interessiert waren. Hatten sie Erfolg, so konnten sie mit ihrem zynischen Glücksspiel enorme Gewinne einfahren. Leo war schon in die abstruse Situation geraten, dass er im Auftrag seiner Bank Kunden einen Dachfonds empfehlen sollte, der Hedgefonds enthielt, die unter anderem auf den fallenden Kurs von Aktien wetteten, die der Kunde selbst in größer Stückzahl in seinem Depot hatte.

Was alle Anlageprodukte aber gemein hatten: Das Risiko lag ausschließlich auf Seiten der Anleger, also der Bankkunden. Machte sich einer der „Wolfs of Mainhattan“ nicht gerade eines Insider-Geschäftes schuldig, so konnte er für die Vernichtung von Kunden-Vermögen nicht belangt werden. Selbst wenn er die komplette Altersversorgung einer Heerschar von Pensionären durch unbedachtes Umschichten des Portfolios durch den Häcksler schob – er persönlich kam immer ohne nennenswerte Blessuren aus so einem Gemetzel zurück, nachdem er sich das Blut von seinen Händen gewaschen hatte.

Als Kundenberater war es, wie gesagt, Leos Job, seinen Kunden neben anderen Bank-Dienstleistungen Wertanlagen schmackhaft zu machen – man könnte auch sagen: anzudrehen oder aufzuschwatzen. Dies war ein gängiges Prozedere, das sein Arbeitgeber ihm und seinen Kollegen bei den monatlichen Abteilungs-Besprechungen mittels eindringlicher Appelle, unterstützt durch ausgefeilte PowerPoint-Präsentationen, immer wieder von neuem einimpfte. Und was noch perfider war: Es kam unter dem Deckmantel einer gesetzlich verordneten Beratertätigkeit daher und konnte von leichtgläubigen Kunden so aufgefasst werden, dass die Bank im Auftrag des Staates abklärte, ob die finanzielle Altersvorsorge des Kunden auch ausreichend war.

Leo klopfte den Kunden anhand einer Checkliste penibel auf vorhandene Alterssicherungen und Ersparnisse ab – solange, bis der Kunde auch den geheimen Sparstrumpf oder das Geldbündel unter der Matratze erwähnte. Leo errechnete dann, ob alles zusammen genommen für die Altersversorgung ausreichen würde. Nachdem er durch geschickte Interpretation der auf dem Bildschirm entstehenden Balkendiagramme beim Kunden ausreichend Sorge bezüglich seiner finanziellen Situation im Alter geschürt hatte, pickte er eine gewinnversprechende Geldanlage aus dem breit gefächerten Portfolio der hauseigenen Fondsgesellschaft und ließ den Kunden wenig später seine Unterschrift daruntersetzen.

Was seine Kollegen dann im Endeffekt mit dem Ersparten seiner Kunden anstellten, wie sie es auf dem Kapitalmarkt anlegten, es im Extremfall verzockten oder pulverisierten – dafür war Leo nicht zuständig. Da konnte er seine Hände tatsächlich in Unschuld waschen.

Dieser Umstand faszinierte Leo seit seinem ersten Arbeitstag. Und er machte ihm gleichzeitig Angst. Er hoffte jeden Tag, nicht zwischen die Fronten zu geraten, sobald einer seiner Kollegen im Portfoliogeschäft wieder einmal den Bogen überspannt hatte. Denn während der namenlose Kollege selbst aus einer verlorenen Wette gestärkt und um wertvolle Erfahrungen reicher hervorging, musste Leo vor seinen aufgebrachten Kunden jedes Mal persönlich Rechenschaft ablegen.

LEBEN NACH ZAHLEN

Am Morgen nach seinem verunglückten Telefonat mit Matschke erhielt Leo vom System neben vielen anderen Nachrichten bezüglich der über Nacht aufgelaufenen Kunden-Transaktionen auch die Mitteilung, dass der Kontoinhaber Bernd Matschke das Onlinebanking seines Kontos über die 24-Stunden-Hotline hatte sperren lassen. Postalisch wurden nun neue Zugangsdaten an die hinterlegte Adresse geschickt.

Leo war baff: Er wusste nicht, ob er sich freuen oder ärgern sollte. Freuen, weil er mit seinem Verdacht offenbar Recht gehabt hatte: Matschke hatte die Überweisungen nicht selbst getätigt. Ärgern, weil von Matschke kein Wort des Dankes gekommen war.

Leo stand auf und machte sich auf den Weg zur Kaffeeküche, in der Hoffnung, Sahrmann zu treffen und ihm von der Angelegenheit zu berichten. Aber als er an Sahrmanns Büro vorbeikam, signalisierte dieser ihm durch die halb geöffnete Tür, dass er sich in einem Kundengespräch befand. Leo machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen und trottete wenig später mit der Tasse in der Hand zu seinem Arbeitsplatz zurück. Dort stellte er die Tasse ab, öffnete Matschkes Kontoübersicht und überflog sie: lediglich ein paar Wiederholungslastschriften und ein neuer Zahlungseingang – keine weitere Überweisung an das Konto „Vergessener Kontinent, wir helfen e.V.“. Der Spuk war offensichtlich vorbei. Das konnte Leo auf seiner Habenseite verbuchen. Er rollte seinen Schreibtischstuhl zurück und drehte sich mit Schwung einmal im Kreis. „Dafür sind wir da. Genau für so etwas!“, murmelte er und ging daran, die täglichen Routinejobs zu erledigen.

In den Tagen danach machte sich Leo darauf gefasst, dass Matschke für alle Überweisungen an die Organisation eine Rückbuchung beantragen würde. Dies wäre zwar im Gegensatz zu einer Rücklastschrift nur mit schriftlicher Einwilligung des Zahlungsempfängers möglich, aber es war zumindest eine Option, das offenbar unrechtmäßig überwiesene Geld zurückzubekommen. Eine andere Möglichkeit war, Strafanzeige gegen Unbekannt zu stellen und so, wenn alles gut lief, auf dem behördlichen Weg eine Rückerstattung zu erwirken.

Doch zu Leos Erstaunen passierte auch nach Ablauf von über einer Woche – nichts. Leo sah, dass Matschke mittlerweile seine neuen Zugangsdaten nebst Photo-TAN-Aktivierung erhalten und aktiviert hatte, denn von Matschkes Konto wurden wieder einige manuelle Überweisungen ausgeführt. Leo ging davon aus, dass es wirklich Matschke selbst war, der den neuen Online-Zugang aktiviert hatte, denn die Überweisungen entsprachen Überweisungen, die Matschke in der Vergangenheit getätigt hatte: eine Zahnarztrechnung, eine Handwerkerrechnung, eine Rechnung des Steuerberaters – alles Empfänger, die als Überweisungsvorlagen angelegt waren. Und was noch viel wichtiger war: Es fand nach wie vor keine weitere Überweisung an „Vergessener Kontinent, wir helfen e.V.“ statt.

Leo ging ganz nah an den Monitor heran, als er Matschkes übrige Buchungen studierte: Über fast jeden einzelnen Tag ließ sich da eine konkrete Konsumlinie erkennen. Vor Leos geistigem Auge entstand plötzlich ein plastisches Bild – eine Art Wochen- oder Monatsprogramm, das er zusammen mit Matschke durchlief: hier ein Friseurbesuch, dort der Einkauf in einem Feinkostladen, abends Essen beim Nobel-Italiener, mittags beim besten Japaner der Stadt. Geld spielte offenbar keine Rolle. Trotzdem gab es so gut wie keine Parkhausabbuchungen. Matschke bezahlte seine Parktickets offenbar lieber in bar. Oder er hielt es wie die meisten Angehörigen der Hautevolee, indem er seinen Wagen direkt beim Restaurant auf dem Gehweg parkte. Monatlich annähernd ein Dutzend Überweisungen an die Stadtkasse ließen diesen Schluss zu.

Die Jaguar Bank buchte über die FCA Bank monatlich eine Leasingrate von 1.394 Euro ab, ein Fitnessstudio 189 Euro. Die Private Krankenversicherung 931 Euro. Das deutete auf einen Erste-Klasse-Tarif mit hoher Selbstbeteiligung hin.

Ein Zeitungs-Abo bei einer überregionalen, konservativen Tageszeitung und eines bei einem Wirtschafts-Magazin sowie ein Digital-Abo für eine Wochenzeitschrift ließen auf einen gut informierten Menschen schließen. Ein Abo bei einem Special-Interest-Zeitschriftenverlag wies auf die Lektüre eines Automobil- oder Bootssport-Magazins hin, vielleicht auch auf eine Kunstzeitschrift.

Es fanden weder Mietzahlungen noch Abbuchungen für einen Immobilienkredit statt. Matschke bewohnte demnach eine abbezahlte Immobilie. Da auch keine monatlichen Zahlungen an eine Hausverwaltung oder in ein Hauskonto stattfanden, besaß Matschke demnach nicht nur eine Eigentumswohnung, sondern ein eigenes Haus. Leo gab Matschkes Adresse in eine Suchmaschine ein und wählte die Straßenansicht. Die Gegend war als hochpreisige Halbhöhenlage bekannt.

„Das war klar“, entfuhr es ihm, während er kopfschüttelnd vor dem Monitor saß. Die Ansicht von Matschkes Adresse wurde nur unscharf dargestellt. Leo schaute in der Straßenansicht nach links und nach rechts. Die Ansichten der angrenzenden unverpixelten Häuser zeigten, dass in der Straße sowohl neuere als auch ältere Mehrfamilien- und Einfamilienhäuser zu finden waren. Der unverpixelten Vogelperspektive nach konnte es sich bei Matschkes Immobilie aber tatsächlich um ein Einfamilienhaus handeln. Zumindest war es freistehend und hatte einen parkähnlichen Garten mit offenbar altem Baumbestand.

Leo suchte in Matschkes Umsatzhistorie nach regelmäßigen Überweisungen an ein Reinigungsunternehmen, fand aber nichts Derartiges. Lediglich zweimal im Jahr ging eine Überweisung an einen Gärtnereibetrieb.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass du dein Eigenheim selbst putzt. Und deine optionale Partnerin wird es sicher auch nicht machen“, murmelte Leo vor sich hin. „Klarer Fall von Sozialversicherungsbetrug!“

Leo grinste bei dieser Vorstellung, dann scrollte er weiter durch Matschkes Umsatzhistorie.

„Ein Designmöbel-Studio: 5.241 Euro, ein nobles Einrichtungsgeschäft: 3.829 Euro, einer der angesagtesten Herrenausstatter der Stadt: 2.635 Euro. Nicht schlecht!“

Dann hellte sich Leos Mine auf: „Und ein Fashion Room: 1.978 Euro. Na bitte!“ Der Laden war für seine junge, aber teure Damenmode bekannt. Endlich ein Hinweis auf die Dame des Hauses. Und sie schien nicht allzu alt zu sein.

Leo rieb sich die Hände.

Ungefähr eineinhalb Stunden nach der Buchung in dem Fashion Room fand eine Zahlung über 167 Euro in einem Restaurant statt, das Leo namentlich nicht bekannt war. Er gab den Namen des Restaurants bei der Suchmaschine ein. „Urban City Retreat im Herzen der Stadt“, stand auf der mit Fotos überladenen Restaurant-Webseite. Als Leo die Speisekarte studierte, verengte sich sein Blick: „Von all diesen Gerichten? Noch nie etwas gehört. Aber ich muss sagen: 167 Euro für einen gemeinsamen Mittagstisch – da muss die Dame des Hauses schon einige Ansprüche stellen.“

Leo atmete laut aus. Natürlich ging es ihn nichts an, wie schnell und wofür seine Kunden ihr Geld ausgaben. Aber hin und wieder war wenigstens ein kleines Fragezeichen angesagt.

Unter den monatlichen Umsätzen tauchte auch mehrmals ein nobler Blumenladen mit Zahlungen zwischen 57 und 83 Euro auf. Die Ausgaben in den Stunden davor oder danach ließen nicht den Schluss zu, dass Matschke den Blumenladen zusammen mit seiner Partnerin aufgesucht hatte. Offenbar handelte es sich also um Blumengeschenke – für seine Partnerin – und nicht um gemeinsam ausgesuchten Blumenschmuck für das Haus. So Leos Theorie.

Leo ging nochmal sämtliche Kontobewegungen der vergangenen Monate durch und versuchte zu ergründen, welche Geschäfte und Restaurants Matschke alleine und welche er in weiblicher Begleitung aufgesucht, welche Dienstleistungen er für sich alleine oder für sich und die Partnerin in Anspruch genommen und welche Unternehmungen er alleine oder gemeinsam unternommen hatte. Er ging davon aus, dass es eine Partnerin und kein Partner war. Zumindest deuteten die weibliche Stimme im Hintergrund beim Telefonat und der Einkauf im Fashion Room das an. Falls Matschke eine feste Partnerin hatte, so hatte sie wohl keinen Zugriff auf sein Konto. Keine Abbuchung in den letzten Monaten zeigte, dass der dazugehörige Konsumvorgang von einer Frau alleine getätigt worden war.

Offenbar bot Matschke seiner Partnerin zwar ein luxuriöses gemeinsames Leben, aber sie verfügte trotzdem über ein eigenes Konto, über das sie vermeintlich kleinere Ausgaben auf eigene Kosten tätigte. Das war für Personen des gehobenen Milieus eher ungewöhnlich. Was war da los?

War Matschke verheiratet, so hätte das System eine Antwort darauf geben können, was es nicht tat. Es bestand aber auch von Seite des Kunden keine Pflicht, eine nach Eröffnung des Kontos erfolgte Heirat der Bank gegenüber anzuzeigen. Er konnte dies rein freiwillig tun, zum Beispiel im Zuge der Einreichung eines Freistellungsauftrages, um damit für Verheiratete den Freibetrag bezüglich der Abgeltungssteuer zu verdoppeln – was bei Matschke aber nicht der Fall war.

Hatte Matschke eine feste Partnerin? Oder war er Single mit wechselnden Abenteuern? Das musste Leo noch herausfinden. Auf den ersten Blick wies auch nichts darauf hin, dass er Kinder hatte. Zumindest wurde kein Kindergeld auf sein Konto überwiesen. Und falls er Kinder hatte, so waren sie schon mit der Ausbildung fertig oder älter als 25 Jahre. Denkbar war auch, dass Matschke Kinder hatte, aber getrennt von ihrer Mutter lebte und diese das Kindergeld auf ihr Konto überwiesen bekam. Es gab ebenfalls keine Abbuchungen für Kita, Nachmittagsbetreuung, Musikschule oder Schulessen.

Opernbesuche bei den Bregenzer Festspielen oder in der Mailänder Scala, Konzerte in der Elbphilharmonie oder im Festspielhaus Baden-Baden mit Wochenendaufenthalten in den jeweils besten Hotels der Stadt, immer verbunden mit extra bezahltem SPA-Vergnügen, Kosmetikstudio, Massage und Maniküre – wahrscheinlich für die Dame. Ferienwohnungen oder Hotels der oberen Preisklasse in Davos, St. Moritz oder Lech. Boots-Charter in Saint-Tropez oder an der Amalfiküste, verbunden mit Flügen, Hotelaufenthalten über ein verlängertes Wochenende und Restaurantbesuchen zur fraglichen Zeit.

Das alles ergab zwar ein komplexes Gesamtbild von Matschkes Lebensstil, das Leo zunehmend in Staunen versetzte. Aber irgendetwas beunruhigte ihn, als er anhand der Buchungen Matschkes Leben Mosaiksteinchen für Mosaiksteinchen zu einem großen Ganzen zusammensetzte.

Über einen Zeitraum von 14 Tagen konnte Leo nur turnusmäßige Lastschriften und Zahlungseingänge sehen. Keine einzige Barabhebung, keinerlei Kartenzahlungen. Matschke hatte entweder noch ein weiteres Girokonto oder er war in diesen 14 Tagen im Urlaub und benutzte dort ausschließlich seine Kreditkarte. Und diese stammte von einem anderen Kreditinstitut. Leo sah, dass an jedem Monatsanfang ein größerer, manchmal auch sehr großer Betrag von der Kreditkartenfirma abgebucht wurde. Das war sie also: die Hüterin von Matschkes dunklen Geheimnissen.

Mehrere Wochen vor der 14-Tage-Phase gab es eine größere Abbuchung durch ein Reisebüro – eine Summe, für die Leo acht oder zehn Urlaube machen könnte. Der Betreff lies aber keinen Rückschluss auf das Reiseziel zu. Um dies genauer zu bestimmen, wäre zumindest eine einzige Abbuchung über seine Bank vom Reiseziel aus notwendig gewesen.

In das Ende der 14-Tage-Phase fiel letztlich auch Leos Anruf bei Matschke. Das würde Sinn machen: Matschke war im Urlaub, als er von ihm angerufen wurde! Die Salsa-Musik im Hintergrund könnte ein Hinweis darauf sein. Ein karibisches Land vielleicht, ein Ort, wo nur eine Kreditkarte als Zahlungsmittel akzeptiert wurde, nicht jedoch die Bankkarte. Es würde auch erklären, warum Matschke so unfreundlich auf seinen Anruf reagierte. Und Leo hatte ihn wahrscheinlich sogar in einer leicht verfänglichen Situation erwischt.

Leo schüttelte verärgert den Kopf: Matschke war vielleicht gar nicht klar, dass er mit seiner normalen Bankkarte mittlerweile fast weltweit bezahlen konnte. Viele von Leos Kunden benutzten immer noch den Begriff „EC-Karte“, den es ja schon längst nicht mehr gab. Sie gingen davon aus, dass man bei einem Aufenthalt außerhalb Europas nur mit Kreditkarte bezahlen konnte. Sie unternahmen nicht einmal den Versuch, ihre Bankkarte in den dortigen Bankomaten zu schieben und damit Bargeld abzuheben.

Leo spielte kurz mit dem Gedanken, diesen Umstand als Anlass zu nehmen, Matschke erneut anzurufen. Das wäre dann tatsächlich im Sinne seiner Bank, denn durch die nicht erfolgten Auslandsbuchungen entgingen ihr einige Transaktions- und Umrechnungsgebühren. Und bei dem Telefonat hätte Leo nochmal – ganz nebenbei und ganz unverfänglich – auf die Sache mit den Fremdüberweisungen zu sprechen kommen können. Außerdem hätte er vielleicht durch eine Frage, die er geschickt als Entschuldigung verpackte, herausfinden können, wo sich Matschke beim ersten Telefonat denn nun genau aufgehalten hatte.

Aber Leo verwarf diesen Gedanken schnell wieder. Es wäre zu offensichtlich gewesen. Matschke war kein Idiot. Er würde schon wissen, was er machte und hatte wahrscheinlich nur eine kurze Phase der Unachtsamkeit gehabt, während er mutmaßlich mit seiner neuen Flamme im Liebesglück in der Karibik weilte.

Matschkes Umsätze ließen darauf schließen, dass er nicht durch eine Erbschaft oder etwa krumme Geschäfte zu Reichtum gekommen war. Die Einnahmen, die aus unterschiedlichen Quellen kamen, ließen vermuten, dass Matschke von verschiedenen Kunden für eine Art Berater- oder Vermittlertätigkeit bezahlt wurde. Es konnte sich um Finanzdienstleistungen handeln oder auch Immobilien – oder um eine Sachverständigentätigkeit. Alle Einnahmen lagen im mittleren bis oberen vierstelligen, manche im unteren fünfstelligen Bereich.

Leo schaute sich Matschkes Profil genauer an: Nirgends war vermerkt, in welcher Branche er tätig war. Unter Beruf stand lediglich: Dipl. Betriebswirt. Ein BWLer also, wie Leo selbst. Das konnte ja viel bedeuten. Betriebswirt oder Betriebswirtin war einer der meistfrequentierten Studiengänge und Ausbildungsberufe. Diese Information brachte ihn nicht weiter.

Leo gab Matschkes Namen in die Suchmaschine ein. Er erhielt nur wenige Treffer und die verwiesen auf Einträge in verschiedenen Telefonbüchern. Die zugehörige Telefonnummer entsprach der Festnetznummer, die Leo ebenfalls vorlag. Zwei Einträge verwiesen auf Profile in sozialen Netzwerken, die auf berufliche Kontakte ausgelegt waren. Als Leo sie anklickte, wurde er jeweils aufgefordert, sich unter seinem eigenen Profil einzuloggen. Vorher konnte er Matschkes dort hinterlegtes Profil nicht einsehen. Da Leo bei beiden Plattformen selbst nicht Mitglied war, klickte er sie wieder weg, aber Matschkes Profil schien dort jeweils eh nur pro forma angelegt worden zu sein. Zumindest konnte Leo kein Foto von ihm finden, auch kein unscharfes.

Leo fasste es nicht: Da hatte er es mit einem Mann zu tun, der, wenn man seine Einkünfte betrachtete, offenbar äußerst gefragt war. Aber er hatte es nicht nötig, sich in irgendeiner Form im Internet werblich darzustellen. Augenscheinlich flogen ihm die Jobs auch so zu, wahrscheinlich über alte Seilschaften und persönliche Empfehlungen. So etwas hatte Leo noch nicht erlebt. Aber okay, er hatte es ja sonst auch nicht mit Geschäfts-, sondern nur mit Privatkunden zu tun.

Bei diesem Gedanken schoss ihm ein kurzer Schmerz durch den Kopf. Leo verkrampfte sich und stöhnte. In diesem Moment fiel ihm wie Schuppen von den Augen, dass Matschke seinen Kontobewegungen nach gar nicht sein Kunde sein dürfte! Wenn Leo seinen Job ernst nahm, so müsste er Matschke umgehend dem Kollegen Sahrmann übergeben. Der war für Geschäftskunden da, Leo ausschließlich für Privatkunden. Keine Ahnung, wie dem Kollegen Winkler damals entgangen sein konnte, dass Matschke in Wahrheit ein Geschäftskunde war.

Leo richtete sich ruckartig auf, stieß sich mit den Füßen am Boden ab und rollte auf dem Bürostuhl ein Stück zurück. Dann zog er sich wieder an seinen Schreibtisch heran, schnappte sich einen Kugelschreiber und wedelte ihn zwischen Zeigeund Mittelfinger hin und her, bis ein regelmäßiges Klacken auf der Schreibtischplatte entstand. Aber Leos Anspannung ließ sich durch nichts wegbekommen. Am liebsten wäre er aufgestanden, in den Schlosspark gerannt und hätte sich dort mit den erstbesten Leuten, die einen Ball dabeihatten, ein kurzes Match geliefert.

Die Aussicht, Matschke als Kunden zu verlieren, machte ihn rasend. Jetzt, wo das ganze so unvermittelt interessant zu werden schien. Leo beugte sich erneut über den Monitor und rief im System die gesamte Kontohistorie auf. Seine Bank war, wie alle Banken in Deutschland, gesetzlich verpflichtet, die Kontobewegungen aller Kunden mindestens zehn Jahre lang aufzubewahren. Leos Bank speicherte aber von jeher alle Kontobewegungen ab dem Tag der Kontoeröffnung. Das konnte problemlos mehrere Jahrzehnte zurückreichen.

Leo scrollte im Schnelldurchlauf die vergangenen Jahre in Matschkes Konto durch. Auf dem Monitor wechselten sich in der rechten Spalte in schnellem Wechsel rote und grüne Zahlen ab. Wobei die roten Zahlen etwa im Verhältnis 10:1 gegenüber den grünen vorhanden waren. Matschke schien erst in den letzten Jahren ein Faible für bargeldloses Bezahlen entwickelt zu haben. Davor fanden regelmäßig hohe Barabhebungen statt und zwischen ihnen fast ausschließlich turnusmäßige Lastschriften, unterbrochen nur durch wenige manuelle Überweisungen.

„Wie gut“, dachte Leo, „dass ich damals noch nicht auf dich gestoßen bin.“

Er lachte trocken auf: „Ich hätte mir die Zähne an dir ausgebissen.“

Knapp dreizehn Jahre in der Vergangenheit, Anfang 2009, hörten die Überweisungen plötzlich auf. Leo verlangsamte das Scrollen. Über Wochen kein einziger Zahlungseingang. Was aber auch nicht notwendig war. Das Haben wuchs mit jedem Monat, den Leo weiter zurück ging, in beträchtlichem Maße an. Doch dann, zu jedem Quartalsbeginn, fanden sich ein oder zwei Zahlungseingänge im unteren bis mittleren fünfstelligen Bereich. Die Überweisungen kamen jeweils in Matschkes Namen vom damaligen Platzhirsch der auf Wertpapierhandel spezialisierten Direktbanken. Der andere Zahlungseingang kam jeweils von einer Direktbank, die zu dieser Zeit für ihre hohen Tagesgeldzinsen bekannt war. Leo scrollte noch weiter zurück und sah, dass dieses Einnahmen-Muster bis vor die Jahrtausendwende zurückreichte. Im Januar 1997 wurde das Konto mit einer Einzahlung von 35.000 Euro schließlich eröffnet.

„Du hast dich verzockt, Matschke!“

Leo lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Der Kuli wedelte wieder in seinen Fingern, aber dieses Mal klackerte er nicht auf die Tischplatte, sondern wirbelte nur lautlos hin und her. Ein triumphierendes Lächeln überzog Leos Gesicht.

„Du hast dich verzockt und musstest dein Privatiers-Dasein nach 2008 unfreiwillig aufgeben. Die Wirtschaftskrise – für viele ein brutaler finanzieller Absturz, vom dem sie sich oft nie wieder erholten. Über Nacht war Schluss damit, von Zinsen und Spekulationsgewinnen zu leben.“

Leo scrollte weiter in die Vergangenheit zurück und sah, dass Matschke die Crashs im Zusammenhang mit dem Platzen der Dotcom-Blase im März 2000 und nach 9/11 offenbar relativ unbeschadet überstanden hatte. Zumindest reduzierte er die quartalsmäßigen Ausschüttungen an sich selbst jeweils nur unmerklich. Vielleicht hatte Matschke einen guten Riecher gehabt und sich rechtzeitig von den faulen Aktien getrennt. Oder sein Aktiendepot war einfach so gewaltig gewesen, dass der Buchwert zwar jeweils mit den Crashs deutlich zusammengeschmolzen, aber immer noch groß genug war, um damit sein offensichtlich nicht gerade karges Leben zu finanzieren.

Nur beim Crash im Jahr 2008 hatte er offenbar auf die falschen Pferde gesetzt. Die Ruhe vor dem Sturm hatte wohl auch er falsch interpretiert, vielleicht sogar die alte Börsianer-Regel „Never catch a falling knife“ nicht berücksichtigt und bei stetig fallenden Kursen, jedoch aus seiner Sicht immer noch rosigen Zukunftsaussichten, günstig in sehr hoher Stückzahl ehemals solide Papiere nachgekauft und dann ihren vollständigen Absturz wie gelähmt begleitet.

Nicht einmal sogenannte Börsenprofis sind in einer turbulenten Phase wie 2008 in der Lage, Rationalität über Psychologie zu stellen. Egal, was sie davor oder danach erzählen. Sie stehen in ihren feinen Anzügen oder Kostümen da, frisch rasiert und frisiert oder gescheitelt. Sie beten Statistiken aus der Vergangenheit und Prognosen für die Zukunft herunter, auf denen grundsätzlich immer nach oben steigende Kurven zu sehen sind. Aber die feinen oder drastischen Ausschläge nach unten, in den Abgrund, die übertünchen sie mit smarten Formulierungen und geschickten Kurvenglättungen.

Es ist wie in der Zaubershow: Der Magier versteht sich darauf, die Blicke und die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf den reinen Effekt zu lenken. Die eigentliche Technik des Zaubertricks nehmen die Zuschauer dabei nicht wahr, obwohl sie direkt vor ihren Augen abläuft. Sie liegt außerhalb des Fixpunktes, auf den der Magier sie gelenkt hat – die perfekte Täuschung.

Genauso verhält es sich auch mit Finanzprodukten, die von Märkten und Plattformen abhängig sind, deren Kurse stetig fallen oder steigen. Auch hier werden die Verkaufsprofis alles tun, um nur den gelungenen Zaubertrick zu zeigen. Die teils halbseidenen Maßnahmen, die notwendig sind, um nach außen hin einen permanenten Erfolg darzustellen, übertünchen sie mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln.