Das Unvollendete - Nicolas Rutschmann - E-Book

Das Unvollendete E-Book

Nicolas Rutschmann

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Beschreibung

/01/ Stück für Stück kämpft sich Oliver nach einem verhängnisvollen Moment ins Leben zurück. In einem jahrelangen Gerichtsprozess, in dem sein Schicksal gesühnt werden soll, erfährt er die Grenzen des deutschen Rechtssystems. Für Oliver und seine Familie bedeutet dies eine nervliche Zerreißprobe. /02/ Eine seltene Erkrankung drängt Lanz an den Rand der Gesellschaft. Um am Leben anderer teilhaben zu können, studiert er die zurückgelassenen Kassenzettel seiner Mitmenschen. Während einer plötzlichen Auseinandersetzung muss er zu seiner ihm fremd gewordenen Persönlichkeit zurückkehren. /03/ Der Gast eines Straßencafés verliert das Bewusstsein, als seine Fantasie angesichts der attraktiven Dame am Nebentisch mit ihm durchgeht. Die Grenze zwischen Realität und Traum scheint für ihn nicht mehr zu existieren. />/ In drei Erzählungen rückt »Das Unvollendete« Personen in den Mittelpunkt, deren Leben aufgrund einer medizinischen Ausnahmesituation unerwartet zum Stillstand kommt. Durch Einblicke in sein Leben erfahren Leserinnen und Leser detailliert die persönlichen Beweggründe für die Ideen des Autors.

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Inhaltsverzeichnis

Der Kampf seines Lebens

Lanz

Schattenseiten

Abgang

01

Der Kampf seines Lebens

Gerichts-Drama

::: VORGESCHICHTE + HINTERGRUND: ATTACKE + BENEFIZ

Im Frühjahr 2018 mache ich in einem kleinen Winzerort in Rheinland-Pfalz die Bekanntschaft mit der Familie des 23-jährigen Oliver Mazur. Ich kenne seine Geschichte zufällig aus einer Fernsehreportage, die ich einige Zeit zuvor gesehen habe. Seit August 2015 ist Oliver schwerbehindert, nachdem er durch den Schlag mit einer Bierflasche auf den Kopf lebensgefährlich verletzt wurde. Der Tat bezichtigt wurde der vermutlich eifersüchtige Exfreund von Olivers damaliger Partnerin. In Ludwigshafen kämpften die Ärzte drei Tage lang um Olivers Leben: Sein Hirn schwoll in dieser Zeit so an, dass ein Teil der Schädeldecke vorübergehend entfernt und tiefgefroren werden musste.

Fünf Wochen lag Oliver im Koma, wurde danach nach Heidelberg verlegt und absolvierte eine elfmonatige Reha-Behandlung, in der er vieles wieder neu erlernen musste: Schlucken, Essen, Greifen, Sprechen, auf Toilette gehen, Aufstehen, Laufen. Auch ein Großteil seines erlernten Wissens war ihm durch den Schlag und das anschließende Koma abhandengekommen.

Um die Genesung ihres Sohnes während seiner Behandlung aktiv begleiten zu können, fuhren Olivers Eltern zweimal täglich jeweils fünfzig Kilometer nach Heidelberg. Doch nach einem Jahr zog die Krankenkasse ein für die Mazurs niederschmetterndes Fazit: Olivers Vitalfunktionen waren nun wiederhergestellt, für weitere Behandlungsschritte würde die Kasse deshalb nicht mehr aufkommen. Und das, obwohl die linke Seite von Olivers Körper spastisch gelähmt war. Oliver und seine Familie sollten sich damit abfinden, dass er für den Rest seines Lebens im Rollstuhl sitzen und ein hundertprozentiger Pflegefall sein würde.

Das SWR-Fernsehen und SWR-Radio berichten in mehreren Reportagen über Olivers tragisches Schicksal. „Ich weiß von dem ersten halben Jahr fast nichts mehr – durch Bilder habe ich danach viel gesehen, da graust es mich immer und es läuft mir kalt den Rücken runter – jedes Mal kommen mir fast die Tränen – so abgemagert … ich war wirklich ein Wrack aus Haut und Knochen“, sagt er in einem Fernseh-Interview.

Ein paar Monate später fügt Oliver in einem weiteren Interview hinzu: „Ich habe meinem Papa versprochen, wieder gesund zu werden. Ich wünsche mir, BWL zu studieren und dann, dass ich den Beruf meines Papas ausüben kann, Versicherungsvertreter – das war schon mein Wunsch als kleines Kind.“

Durch die Medien-Berichte findet Olivers Fall ein großes Echo, weshalb auch verschiedene Organisationen und Sportvereine auf ihn aufmerksam werden. Nach und nach kommen sie auf die Familie Mazur zu und bieten an, Benefiz-Veranstaltungen oder -Spiele auszurichten, bei denen Spenden für Olivers weitere Behandlung gesammelt werden sollen. Den Anfang macht der Verein des Handball-Oberligisten, in dem Oliver vor seinem Unglück zusammen mit seinem Bruder Bastian als Handballer aktiv war. Er organisiert ein Benefiz-Spiel gegen den führenden Handball-Zweitligisten. Weitere Organisationen schließen sich dem Spendenmarathon an, darunter auch die Handballer des Erstliga-Clubs der „Ludwigshafener Eulen“ unter dem Motto „Freiwurf für Oliver“. Ein Höhepunkt bildet schließlich das Benefiz-Spiel der Lotto-Elf, mit dem ehemalige Fußball-Nationalspieler Olivers Kampf zurück ins Leben unterstützen.

Überrumpelt von dieser unerwarteten Unterstützung müssen Oliver und seine Eltern innerhalb kurzer Zeit lernen, mit den Kameras umzugehen. Regelmäßig werden sie umlagert, sobald sie am Ende der Benefiz-Veranstaltungen dankbar Spendenschecks in Empfang nehmen.

Für Oliver ist es eine Herausforderung, sich vor der Kamera angemessen zu präsentieren, ist er doch gerade erst dabei, wieder einigermaßen fließend sprechen zu lernen. Es fällt ihm schwer, eine aus seiner Sicht würdevolle Körperhaltung einzunehmen, denn nach wie vor kann er einige Gliedmaßen nicht kontrolliert bewegen. Ständig muss er beim Gehen damit rechnen, das Gleichgewicht zu verlieren und zu stürzen, ohne sich mit den Händen abfangen zu können.

Ihm ist auch klar, dass die Leute in den Stadien, Sporthallen und vor den Fernsehern jemanden erwarten, dem seine schwere Verletzung und die daraus resultierende Behinderung anzusehen ist und dem sie ihr Mitleid ungefiltert entgegenbringen können. Gleichzeitig will Oliver mit aller Kraft in sein altes Leben zurück und dies vor den Kameras der Fernsehsender und Fotografen mit einer möglichst abgeklärten inneren und äußeren Haltung zum Ausdruck bringen.

Für Olivers Familie ist die Unterstützung, die sie von allen Seiten erfährt, sowohl ein Segen als auch eine Bankrotterklärung für die Urteilsfähigkeit ihrer Krankenkasse. Die Mazurs haben sich mit deren Diagnose nicht zufriedengegeben und bereits unmittelbar nach Beendigung der offiziellen Reha-Maßnahmen damit begonnen, die weitere Behandlung auf eigene Kosten fortzuführen. Ihr Ziel ist ganz klar gesteckt: Oliver soll wieder vollkommen gesund werden und ein ganz normales Leben führen können. Dafür sind seine Eltern bereit, ihre gesamten Ersparnisse einzusetzen.

Immerhin willigt nun auch die Krankenkasse ein, einen Teil der Kosten zu übernehmen, wenn auch nur einen verschwindend geringen. Die Physio- und Ergotherapie in verschiedenen Fachzentren Süddeutschlands kostet pro Monat mehrere Tausend Euro und ist mit einem hohen Fahrtaufwand verbunden. Auf den Benefiz-Veranstaltungen werden jeweils mehrere Hundert, manchmal auch einige Tausend Euro an Spenden gesammelt, die zwar Olivers Behandlungskosten nicht komplett decken, auf jeden Fall aber eine unbezahlbare moralische Unterstützung sind. So kämpft sich Oliver Stück für Stück zurück ins Leben.

Die Ereignisse und die nun folgende Erzählung haben sich in der beschriebenen Zeit tatsächlich zugetragen. Die Namen aller Beteiligten wurden zum Schutz der Persönlichkeit anonymisiert oder verändert.

::: NEUES GLÜCK + GROSSES DRAMA

Eigentlich habe ich an diesem Sonntagvormittag ganz andere Pläne mit meiner neuen Wochenendbeziehung. Wir hatten schon nach unserer ersten gemeinsamen Nacht den folgenden Tag eher ruhig beginnen lassen und ich gehe freimütig davon aus, dass es auch heute nicht anders laufen wird. Doch unvermittelt springt Nadja auf und ruft über die Schulter zurück: „Wir haben übrigens nachher noch eine Verabredung.“

Während wir im offenen Golf-Cabrio mit überhöhter Geschwindigkeit über die holprigen Landstraßen der Pfälzer Weinberge brettern, halte ich mich krampfhaft an der dünnen Schlaufe oberhalb der Beifahrertür fest. Nadja lacht und wirft mir von der Fahrerseite aus einen verschmitzten Blick zu.

Der erste warme Tag im Frühjahr 2018 lässt das Thermometer in der Toskana Deutschlands Richtung 30 Grad schießen. Auch bei den hier ansässigen Menschen kocht offenbar die Stimmung über, so dass ich mich den Plänen meiner aktuellen Partnerin widerstandslos ausliefere und abwarte, was der Tag für uns so bringen wird.

Wir parken vor dem Grundstück eines schlichten, aber großen Zweifamilienhauses. Immer noch etwas überdreht blödeln wir herum, als wir das Tor öffnen und den Garten betreten. Auf der Terrasse treffen wir auf die Gastgeberin Sinje. Die beiden Freundinnen umarmen sich überschwänglich, ich schüttele Sinje höflich die Hand. Sie mustert mich aufmerksam, als wir uns namentlich vorstellen und ich ihr mitteile, dass ich aus Stuttgart komme – etwas Besseres fällt mir in diesem Moment nicht ein. Während Sinje mich prüfend anschaut, versuche ich, die Situation aufzulockern. Daher frage ich sie, ob sie mit mir als neuem Partner an der Seite ihrer Freundin einverstanden ist. Sie lacht schallend auf, nur um gleich darauf eine fast unbeteiligte Miene zu machen: „Das seh‘n wir dann mal.“

Sinjes Mann Markus begrüßt mich freundlich und gibt sich nach einem kurzen Austausch von Höflichkeiten ebenfalls schnell wieder relativ verhalten. Irgendetwas liegt in der Luft, das ich nicht recht greifen kann. Ich blicke kurz zu meiner Flamme und versuche anhand ihrer Reaktion herauszufinden, was es sein könnte. Aber im selben Augenblick kommt mir auch schon ein junger Mann mit unsicheren Schritten entgegen, der sofort meine ganze Aufmerksamkeit beansprucht. Er zieht beim Gehen sein linkes Bein etwas nach und als er mir dann schließlich gegenübersteht, reicht er mir ganz vorsichtig die Hand – so, als wolle er mich damit nicht erschrecken. Er kann den Arm lediglich zu etwa einem Drittel heben und lässt ihn nach dem Handschlag ganz langsam wieder sinken.

Ich bin zu peinlich berührt, um angemessen auf die Situation zu reagieren. Als ich den jungen Mann frage, wie es ihm geht, lächelt er, schließt als Antwort kurz die Augen und dreht sich dann wieder weg. Auf seinem Hinterkopf wird dabei unter den kurzen, dunklen Haaren eine breite, hakenförmige Narbe sichtbar, die sich von der Oberseite des Schädels bis fast zum Nacken zieht.

„Das ist Oliver“, höre ich Nadja sagen. Ich drehe mich zu ihr und bevor ich etwas entgegnen kann, sagt sie: „Ich wollte sehen, wie du reagierst, deshalb habe ich dir nichts erzählt.“ Sie lächelt, wendet sich von mir ab und einem anderen Gast zu.

Nun stehe ich da wie ein begossener Pudel. Habe ich die Prüfung bestanden oder bin ich durchgefallen? Doch bevor ich dazu komme, mir weiter Gedanken darüber zu machen, bietet mir Markus an, ihm beim Grillen zu helfen. Wir gehen über seinen perfekt gepflegten Rasen, während ich Markus gestehe, dass ich im Gegensatz zu den meisten männlichen Artgenossen kein Grillprofi bin. Ich oute mich als Künstler, dessen Interessen etwas anders gelagert sind. Trotzdem kann ich meine Bewunderung nicht verbergen, als wir an seinem professionellen Gasgrill ankommen. Für einen ganz kurzen Moment huscht ein Lächeln über Markus’ Gesicht.

Ich nippe an meiner Halbliter-Riesling-Schorle, die hier in der Gegend jedem erwachsenen Gast zur Begrüßung ungefragt in die Hand gedrückt wird, und ringe mit mir, ob ich Markus auf Oliver ansprechen soll. Doch die Entscheidung wird mir von anderer Seite abgenommen, denn Olivers Großmutter Margarete begrüßt mich freundlich. Zusammen mit ihrem Mann Krzysztof wohnt sie im zweiten Stock des Hauses ihres Sohnes.

Was ich so mache, fragt sie mich, woraufhin ich ihr erzähle, dass ich Buchautor bin. Sie schaut mich interessiert an, blickt kurz zu Oliver und rät mir dann, doch eine Geschichte über ihn zu schreiben. Als ich sie irritiert ansehe, bietet sie mir an, mich neben sie an den langen Gartentisch zu setzen. Ich blicke kurz zu Markus, der sich aber bereits ganz auf den Grillvorgang konzentriert.

Olivers Großmutter erzählt mir, dass die gesamte Familie angespannt die Eröffnung eines Berufungsprozesses am Landgericht erwarte und dort endlich derjenige verurteilt werden würde, der ihrem Enkel das angetan hat. Sie erklärt mir, dass der Täter etwa zweieinhalb Jahre zuvor Oliver auf einem Stadtfest eine Bierflasche von hinten auf den Kopf geschlagen hat, was ihr Enkel nur mit knapper Not überlebte.

Während Margarete in ruhigen, aber bestimmten Worten von dem furchtbaren Ereignis berichtet, laufen ihre Schilderungen wie Zeitrafferaufnahmen vor meinem inneren Auge ab:

Das nächtliche Sommerfest in einem nahegelegenen Freizeitpark. Eine Band heizt den knapp Tausend Besucherinnen und Besuchern mächtig ein. Feiernde, ausgelassene junge Leute.

Eine Rangelei am Rande der Szenerie. Oliver liegt blutend am Boden.

Markus wird durch den Anruf von Olivers Bruder aus dem Schlaf gerissen und rast wenig später mit hohem Tempo durch die Nacht.

Oliver wankt zu den Sanitätern und bricht dort bewusstlos zusammen.

Markus erreicht den Festplatz und stürzt zum Rettungswagen, wo sein Sohn bereits reanimiert wird.

Der Notarztwagen prescht mit Blaulicht und Martinshorn durch die Nacht, Markus hält Olivers Hand.

Die Krankenliege wird unter hektischen medizinischen Anweisungen über den Flur der Notaufnahme geschoben.

Oliver im Operationssaal: Er wird intubiert, Schläuche und Kabel werden angebracht, verschiedene Monitore zeigen seine Lebensfunktionen, die Werte sind dramatisch schlecht. Der Oberarzt gibt kurze, scharfe Anweisungen.

Es sieht nicht gut aus für Oliver: Sein Hirn schwillt durch die Prellung zunehmend an. Der Oberarzt gibt die Anweisung, Olivers Schädeldecke von dem zunehmenden inneren Druck zu befreien. Olivers Kopf wird mit wenigen, schnellen Bewegungen kahlgeschoren. Ein Chirurg setzt eine kleine Kreissäge an.

Ein Teil von Olivers Schädeldecke wird über den OP-Tisch gereicht, steril verpackt und in eine vor Kälte dampfende Kühlbox gelegt, die sofort hermetisch verschlossen wird. Die offene Wunde wird mit einem Spezialverband abgedeckt und dann vorsichtig verbunden.

Mit verschiedenen Infusionen und anderen medizinischen Maßnahmen wird weiterhin fieberhaft versucht, Olivers Körperfunktionen wieder in einen stabilen Zustand zu bringen – noch sind seine Werte weit davon entfernt, um Entwarnung zu geben. Es herrscht große Anspannung und Hektik im OP.

Markus sitzt derweil auf dem Flur vor dem OP-Bereich, ist vollkommen niedergeschlagen und hat sein Gesicht in den Händen verborgen.

Der behandelnde Arzt tritt an Markus heran und teilt ihm mit, dass Oliver theoretische Überlebenschancen hat, man aber die zwei bis drei kommenden Tage abwarten müsse, bevor sich eine sichere Prognose stellen ließe.

Als der Arzt sich wieder entfernt hat, stürmt Sinje den Flur entlang auf ihren Mann zu. Sie ist vollkommen außer sich und wird von ihm in den Arm genommen. Beide brechen in Tränen aus und werden von heftigen Weinkrämpfen immer wieder durchgeschüttelt.

Ich muss schlucken, als ich Markus dabei beobachte, wie er das Fleisch für knapp fünfzehn Personen in aller Ruhe auf dem Grill wendet. Ich habe selten jemanden gesehen, der das so entspannt macht. Olivers Großmutter lächelt mich an und sagt mit Blick zu ihrem Sohn: „Er ist ein guter Junge. Er hat alles richtig gemacht, mehr konnte er nicht tun.“

Oliver liegt bewusstlos auf der Intensivstation. Er ist an ein paar Dutzend Schläuche und Drähte angeschlossen, die seine Lebensfunktionen aufrechterhalten, wird künstlich beatmet und ernährt. Sein Kopf ist in einer zum Gesicht hin geöffneten Stellage eingespannt, die verhindert, dass der offene Schädelbereich mit irgendeinem Gegenstand kollidiert.

Sinje und Markus wechseln sich in den nun folgenden, ungewissen Wochen rund um die Uhr mit Olivers Freundin Carina, seinem Bruder, den Großeltern und einer Vielzahl unterschiedlicher Freunde und Freundinnen an seinem Bett ab. Sie betrachten ihn still, halten abwechselnd seine Hand, streicheln Olivers Gesicht, massieren seine Beine, lesen ihm etwas vor oder schlafen erschöpft auf einem Stuhl in einer Ecke des Krankenzimmers ein.

Oliver bleibt jedoch bewusstlos und reagiert nicht auf die äußeren Reize. Von einer Aussage, ob überhaupt und wann er wieder das Bewusstsein erlangen wird, sehen die behandelnden Ärzte ab.

Margarete strahlt mich plötzlich an: „Er hat uns fünf Wochen warten lassen, aber dann kam er zurück.“

Oliver erwacht aus dem Koma: Lautes Stöhnen entfährt seiner Kehle, er bewegt sich, hält die Augen aber nach wie vor geschlossen.

„Oliver ist ein starker Junge, genauso wie sein Vater.“ Schelmisch schaut Margarete zu Markus, der ihren Blick erwidert und sich dann erneut seinem Grill widmet. „Aber was uns der Himmel in diesem Moment für ein Geschenk gemacht hat, darf nicht darüber hinwegtäuschen, welch schweren Weg Oliver noch vor sich hatte.“

Oliver sitzt auf dem Krankenbett. Sein Körper wird durch mehrere Kissen und eine Haltevorrichtung gestützt. Die Stellage an seinem Kopf ist vorübergehend einem Spezialpolster gewichen, das den Kopf im Nacken in einer stabilen Position hält. Oliver ist weiterhin umgeben von einer Vielzahl von Kabeln und Schläuchen, die aus seinem Mund und seiner Nase ragen. Zwischen einem dichten Pflastergewirr ragt ein Schlauch aus dem unteren Ende seines Schädels am Hinterkopf: eine Drainage, durch die die Wundflüssigkeit abfließen kann. Die Haare an Olivers Kopf sind wieder ein paar Millimeter lang. An mehreren Stellen überziehen lange Narben den Schädel; die Nähte sind relativ grob angelegt, durch Fäden zusammengezogene Hautfalten, die kleine Wülste bilden.

Oliver bleibt stumm, als er von Sinje angesprochen wird. Er wirkt seltsam gefasst und lächelt sie unsicher an, so, als wolle er sich bei seiner Mutter dafür entschuldigen, in welche Situation er sie alle gebracht hat.

Unter Anleitung eines Logopäden lernt Oliver über Monate wieder mühsam das Sprechen. Je mehr Zeit vergeht, desto mehr Kabel und Schläuche verschwinden. Schließlich liegt Oliver erneut auf dem Operationstisch, wo seine Schädeldecke wieder eingesetzt wird.

Einige Zeit später beginnen die aufwändigen und langwierigen Reha-Maßnahmen in Heidelberg. Oliver befolgt unter großen Mühen die Anweisungen des therapeutischen Personals, doch jeder Fortschritt wird auch von einem Rückschlag begleitet.

„Wir waren dem Herrn für jede Minute dankbar, die wir mit Oliver verbringen konnten und in der wir miterleben durften, wie er Stück für Stück ins Leben zurückfand“, bemerkt Margarete, während Oliver unter Anleitung eines Physiotherapeuten mit großer Anstrengung versucht, sich selbstständig im Bett aufzurichten. „Aber wir verdammten den Täter in jeder Sekunde unseres Bewusstseins dafür, was er Oliver angetan hat.“

In einem Behandlungsraum scheitert Oliver beim Versuch, sich zwischen zwei Barrenstangen vom Boden hochzuziehen. Sein Kopf ist dabei durch einen dicken Schaumstoffring geschützt.

Bei einer weiteren Behandlung versucht Oliver vergeblich, seine Beine zu bewegen und wieder gehen zu lernen. Dabei wird er von einem an einer Deckenschiene befestigten Tragegestell gehalten. Kurz darauf kauert er weinend am Boden. Der Therapeut beugt sich über Oliver und legt ihm tröstend die Hand auf die Schulter. Er ermutigt Oliver weiterzumachen, nicht aufzugeben, aber er lehnt ab und wird erneut von Weinkrämpfen geschüttelt.

Margarete schaut mich beschwörend an: „Nächste Woche wird der Täter im Prozess seine gerechte Strafe erhalten.“

Nach vielen Versuchen gelingen Oliver schließlich ein paar Schritte im Tragegestell. Er lacht und brüllt seine Freude hinaus: „Scheiße, ist das gut!“

Dann versucht er vergeblich, seine linke Hand zu einer Triumphfaust zu ballen – aber es geht nicht, er kann sie nicht bewegen. Oliver schaut seine Hand entgeistert an, resigniert dann und brüllt dem Therapeuten zu: „Schluss! Schluss! Abhängen! … Ich will nicht mehr! Das bringt nichts!!!“

Oliver stöhnt auf, lässt den Kopf hängen und brüllt den Therapeuten erneut an: „Bring mich statt auf mein Zimmer ins Schlachthaus – da bin ich am besten aufgehoben.“

Ein heftiger Seufzer entfährt seiner Brust. Er schaut auf und das Weiße in seinen Augen ist zu sehen: „Nehmt mich als Ersatzteillager für jemanden, der besser funktioniert als ich.“

Als der Therapeut nicht reagiert und ihn stattdessen nur entgeistert anschaut, fleht Oliver ihn mit tränenerstickter Stimme an: „Mach schon! … Mach endlich!!!“

Ich nehme einen großen Schluck aus dem Dubbeglas, während Olivers Großmutter mit ruhiger Stimme erklärt: „Derjenige, der Oliver das angetan hat, muss dafür büßen, wissen Sie? Nicht nur, dass er meinen Enkel und die gesamte Familie in diese … Situation gebracht hat – mein Sohn und meine Schwiegertochter mussten auch noch selbst dafür sorgen, dass Oliver wieder greifen, aufstehen und laufen kann. Die Krankenkasse hat ihm nur einen Rollstuhl hingestellt.“

Nun kneift Margarete ihre Augen zusammen und lässt mich mit ihrem Blick nicht mehr los: „Der Prozess … ich würde mich freuen, wenn Sie hingehen.“

Damit steht sie auf und gibt mir im Weggehen einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter.

Als Markus wenig später lauthals zu Tisch bittet, habe ich alle Mühe, meine Gedanken zu sortieren.

„Na?“, ertönt es von der Seite. Ich blinzele in die Sonne, aus der sich Nadja wie ein Engel zu mir herabbeugt. Aber statt mir den erwarteten Kuss zu geben, stellt sie ein volles Schorleglas vor mich hin: „Ich dachte, das kannst du gebrauchen.“

Sie setzt sich neben mich, macht aber keine Anstalten, sich weiter mit mir zu unterhalten. Man könnte es so auffassen, als ob ihr Auftrag, mich in diese Runde einzuführen, hiermit erledigt ist.

Oliver wird von Markus gestützt, als er sich unter großer Anstrengung auf seinem Stuhl niederlässt und zu uns an den Gartentisch setzt. Es scheint ein eingeübter Vorgang zu sein: Alle Familienmitglieder wissen in jeder Situation genau, wo sie Oliver unterstützen müssen und wo er keine Hilfe benötigt. In meinem Hals löst sich so langsam der Kloß, der mir in den letzten Minuten fast den Atem geraubt hat. Die Stimmung am Tisch ist friedlich und ausgeglichen und doch liegt über allem ein dunkler Schleier, der auch durch die strahlende Sonne nicht vertrieben werden kann.

Obwohl mich das Gefühl beschleicht, dass meine amourösen Wochenenden in der Pfalz sehr bald gezählt sein werden, möchte ich auf jeden Fall an den Tagen anreisen, an denen Olivers Fall vor Gericht verhandelt wird.

::: TAKTISCHE WINKELZÜGE

Bereits das eigentliche Gerichtsverfahren im Mai 2017 hatte lange auf sich warten lassen – es fand erst 21 Monate nach der Tat statt.