Weißes Blut - Nicolas Rutschmann - E-Book

Weißes Blut E-Book

Nicolas Rutschmann

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Beschreibung

Der junge Erfolgsautor und Frauenheld Victor Corvin verliebt sich in das Gemälde einer Baronesse aus dem 18. Jahrhundert. Auf seiner Suche nach dem verschollenen Kunstwerk wird er zum Spielball adeliger Verschwörer, die von der Vorherrschaft der Europäer in der Welt träumen. Victor gerät in einen Strudel aus Leidenschaft und Verderben, aus dem es kein Entrinnen gibt.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Victor und die Frauen

Ein fragwürdiger Abgang

Der Plan

Das zweite Labor

Kahlo

Anfängerfehler

Das Schloss

Coletta

Schatten der Vergangenheit

Der Vortrag

Parallelwelt

Familiengeheimnis

Die Auszeichnung

Göttliche Schlampe

Ein dunkler Plan

Dein Freund der Feind

Die Jagd beginnt

Ein Sack wird zugemacht

Prolog

Ein von Rissen zerfurchter Lehmboden breitet sich aus, so weit das Auge reicht. Vereinzelte abgestorbene Büsche stehen wie Mahnmale da, das gleißende Sonnenlicht nimmt der Szenerie jegliche Farbigkeit. Leben scheint hier nicht mehr zu existieren.

In diese Todeszone dringt plötzlich Kinderlachen. Das unerwartete Lebenszeichen hüpft ausgelassen vor der sprudelnden Wasserpumpe auf und ab, an der sich eine lange Schlange von Wartenden gebildet hat. Stück für Stück bewegen sich die Menschen auf den lebensrettenden Wasserspender zu. Jeder Schritt wirbelt Staub von dem Boden auf, den seit Jahren kein Regen mehr erreicht hat.

Kinder tollen zwischen den Beinen der Erwachsenen umher und werden von ihnen mit kurzen Ausrufen immer wieder zurechtgewiesen.

Die Wasseraufbereitungsanlage ist nach den neusten technischen Standards errichtet; ein kleines Schild klärt darüber auf, dass sie mit Unterstützung der „Lichtenfeld-Stiftung“ errichtet wurde.

Nach und nach füllen die Menschen riesige Kanister mit dem kostbaren Nass und befördern es dann auf ihren Schultern oder in provisorisch zusammengezimmerten Handwagen den beschwerlichen Weg zu ihren Siedlungen zurück.

Auf einem der Dorfplätze sitzen die Bewohner vor einfachen Lehm- oder Wellblechhütten und bereiten in ihren Kochgefäßen Speisen unter Zugabe des frischen Wassers zu. Die älteren Anwesenden tragen traditionelle, farbenfrohe Gewänder, die jüngeren zumeist T-Shirts und Turnschuhe. Die Vorfreude auf das bevorstehende Fest ist bei allen zu spüren.

Später am Abend versetzt rhythmisches Trommeln etwa hundert Tanzende auf dem Dorfplatz in Stimmung. Diejenigen die nicht tanzen, essen und trinken zusammen und wippen dabei ausgelassen zur Musik. Die Szenerie ist durch mehrere große Feuer, die rings um den Platz brennen, in ein dramatisches Licht getaucht.

Die Tanzenden geraten zunehmend in Ekstase, ihre Bewegungen nehmen dabei provozierende Züge an. Einige Männer beginnen wie Hähne im Hahnenkampf mit den Oberkörpern vorzuschnellen. Die Blicke aller Tanzenden sind mit einem Mal fiebrig.

Die Frauen stellen sich im Kreis um die Tanzenden auf und heizen die Stimmung durch laute Anfeuerungsrufe zusätzlich an. Plötzlich beginnen die Männer mit ihren Köpfen in Richtung der Tanznachbarn vorzustoßen. Den Opfern werden dabei nach und nach Bisswunden zugefügt.

Die Frauen geraten nun ebenfalls in Ekstase und stehen sich wenig später in rhythmischen Bewegungen und zugleich drohender Haltung paarweise gegenüber. Plötzlich haben viele Tanzende Messer oder Macheten in den Händen. Schnelle Hiebe werden in alle Richtungen ausgeführt.

Das Fest gleicht jetzt einer Mischung aus mittelalterlicher Schlacht und Hexensabbat. Jeder fällt über den anderen her, immer mehr Personen bleiben daraufhin regungslos liegen.

Im Morgengrauen kommen aus einer Lehmhütte zwei kleine Kinder gekrochen. Unsicher tapsen sie ins Freie und schauen sich ängstlich um. Eines der Kinder läuft auf eine reglos am Boden liegende Person zu und lässt sich vor ihr auf die Knie sinken. Es hat den Anschein, als schlafe die Person ihren Rausch aus. Das Kind zupft und tätschelt die Person, aber sie bewegt sich nicht. Das Kind wird unruhig und beginnt zu weinen; dann schreit es laut auf.

Im fahlen Licht des Sonnenaufgangs erkennt man nach und nach die reglosen Leiber der Bewohner auf dem Dorfplatz und den Trampelpfaden zwischen den Hütten. Das Szenario wirkt morbide und friedlich zugleich.

Aus der Vogelperspektive betrachtet ist das Dorf lediglich ein winziger, fast überflüssiger Fleck inmitten der endlosen Steppenlandschaft.

01. Victor und die Frauen

Der Umschlag eines großen Fotobandes über Afrika gibt eine riesige Steppenlandschaft wieder. Das Buch wird von einer jungen Dame auf den Auslagentisch der Buchhandlung zurückgelegt.

Auf dem Schild vor der Auslage steht: „Unterstützen Sie mit dem Kauf dieses Buches die Afrikahilfe.“

Die junge Dame hält sich etwas abseits einer großen Menschentraube auf, welche fast ausschließlich aus Frauen besteht.

Eher uninteressiert geht sie um die Ansammlung herum Richtung Ausgang. Sie öffnet die Tür, wirft dann aber einen Blick zurück und als sich ein kleiner Spalt in der Menschenmenge bildet, erhascht sie einen Blick auf den Autor, welcher hinter einem Tisch sitzend, gerade sein Buch signiert. Dann schließt sich die Lücke wieder. Die junge Dame dreht sich um und verlässt den Buchladen.

Ein Buch wird aufgeschlagen und signiert. Victor Corvin lächelt eine junge Frau an, während er ihr das Buch mit seinem Autogramm in die Hand drückt. Er wirkt zufrieden, so wie ein glücklicher Mann, der alles hat. Ein Sieger.

Jemand schiebt ihm das nächste Buch zu. Er öffnet es und findet darin eine Karte mit einer Telefonnummer, die Zahlen sind mit Lippenstift geschrieben.

Victor zeigt sein umwerfendes Lächeln. Er signiert das Buch, schiebt es zurück, dann erst schaut er der Frau vor ihm in die Augen. Sie heißt Carla. Victor steckt ihre Karte wortlos in seine Jackentasche und blickt die wartende Frau hinter Carla an.

Als Carla sich abwendet und geht, schaut Victor ihr hinterher und taxiert dabei ihre schöne Figur.

»Mein Freund Victor! Mit einem einzigen Buch hatte er einen Bestseller hingelegt – so hinreißend, dass er es tatsächlich schaffte, Tag für Tag eine andere Frau zu erobern. Ja, Victor Corvin bekam genau das, was er sich immer gewünscht hatte: Frauen, Frauen, Frauen!«

Wenig später liegen Victor und Carla auf einer weitläufigen Wiese im Stadtpark, ganz in der Nähe einer riesigen Buche. Carla hat ein leichtes Sommerkleid an und hält ein Buch in den Händen. Das Cover verrät, dass es sich um Victors Buch handelt.

»Frauen sind keine Beute - mit diesem Titel schrieb Victor sich in die Herzen der Frauen, gefühlvoll, sensibel – so, wie er glaubte, dass Frauen es mögen.«

Carla liest mit Hingabe und ihre Blicke verraten, dass sie Victor vollkommen verfallen ist.

»Doch so einfühlsam er schreiben konnte, im richtigen Leben kannte er keine Gefühle. Victor fühlte nichts.«

Victor liegt hinter Carlas Rücken und gähnt gelangweilt. Sie dreht sich um und küsst ihn, dann liest sie weiter. Plötzlich küsst Victor ihren Hals und zieht den Reißverschluss ihres Kleides herunter. Carla hört auf zu lesen und lässt das Buch ins Gras fallen.

»Victor schlief mit den Frauen, wusste aber sonst nichts mit ihnen anzufangen.«

Ein Lichtmast ganz in der Nähe von Victor und Carla, beinahe könnte man es übersehen: Unter der Lampe bewegt sich ein Gegenstand ganz langsam. Es ist eine winzige Überwachungskamera, die nun fokussiert. Hinter der Frontlinse bewegen sich mehrere Ringe konzentrisch aufeinander zu.

»Ja, man kann sagen: Wenn Victor eine Frau ansah, dann waren seine Augen tot und ausdruckslos.«

Die Überwachungskamera beobachtet Victor. Sie zoomt näher, folgt seinem Blick und schwenkt dann zur Seite auf eine rothaarige Frau.

An einem weiteren Tag: Victor liegt mit seiner neuen Eroberung Nele in einer weißen Sanddüne. Nele hat kurze, feuerrote Haare. Sie sitzt auf Victor und sie küssen sich. Noch haben beide die Kleider an. Victor lächelt wieder, dann zieht er mit provozierendem Blick den Reißverschluss an Neles Kleid herunter. Nele ist nicht abgeneigt, doch sie wehrt sich lachend.

»Wie gesagt: Mein Freund Victor nahm, was sich ihm bot und selbst dann, wenn es an der Zeit war, seine Eroberung wieder von sich zu stoßen, tat Victor dies immer so charmant, dass man ihm nicht böse sein konnte – von wenigen Ausnahmen einmal abgesehen.«

Ein Wasserschwall trifft Victor und Nele. Sie schrecken hoch. Nun erkennt man, dass Victor und Nele zwischen vielen anderen Leuten in einer für den Sommer aufgeschütteten Sandlandschaft am Rand des Stadtparks sitzen.

Carla steht mit einem Eimer in der Hand drohend vor den beiden. Nele springt auf und weicht ein paar Schritte zurück. Victor schaut Carla mitleidig an, dann springt er ebenfalls auf und zieht Nele mit sich fort.

Als beide außer Reichweite von Carla sind, umarmt Victor Nele von hinten und küsst sie.

Carla knallt wütend den Eimer auf den Boden.

Victor küsst Nele am Hals, Nele genießt es und Victor lächelt.

02. Ein fragwürdiger Abgang

Victor lächelt. Sein Blick fällt auf das Gesicht einer jungen Fernseh-Moderatorin. Konzentriert wartet sie, bis die Sendung beginnt. Victors Blick wandert ungeniert über ihren Körper bis hinunter auf ihre schwarzen Stiefel. Victor lächelt erneut, als er entdeckt, dass sie einen Reißverschluss haben.

Die Sendung beginnt: Bei einer der vier Fernseh-Kameras schaltet sich das rote Aufnahme-Licht ein.

Victor und ein älterer Herr, Albert von Lichtenfeld, sind Gast in dieser Fernseh-Talkshow. Albert ist 64, gut aussehend und sein ganzes Auftreten verrät, dass er Widerspruch nicht gewohnt ist. Er und Victor könnten nicht gegensätzlicher sein.

Die Moderatorin wendet sich ihm zu: »Ich begrüße hier zu meiner Rechten Albert von Lichtenfeld! Er ist Nachkomme einer sehr alten, traditionsbewussten Adelsfamilie.«

Albert nickt kaum merklich.

»Und zu meiner Linken: Victor Corvin, ein viel versprechender, junger Schriftsteller. Victor hat einen höchst einfühlsamen Roman über eine Frau in einer von Männern beherrschten Welt geschrieben. Was viele aber nicht wissen: Victors Geburtsname lautet ‚Victor von Corvin‘! Victor, wieso haben Sie ihren Adelstitel abgelegt?«

Albert sieht Victor erstaunt an, Victor entgeht Alberts Reaktion nicht. Er dreht sich zurück zu der Moderatorin und schaut ihr unverblümt ins Gesicht. In einer fast manischen Art formuliert er seine Antwort.

»Sie werden es nicht glauben: Das war furchtbar! Dieser wunderbare, wichtige Titel – der war auf einmal weg, verloren! Dabei hatte ich ihn überall gesucht: Unterm Tisch, unterm Bett, sogar in der Mülltonne schaute ich nach! Aber glauben Sie: Nicht einmal dort war er! Eigentlich hätte ich da zuerst suchen sollen, im Müll müsste er ja am ehesten zu finden sein!«

Alberts Mine ist schlagartig wie versteinert.

»Im Müll?«, die Moderatorin schaut Victor verwundert an.

»Genau da«, entgegnet er mit süffisantem Lächeln.

Die Moderatorin schaut fragend zu Albert. Dieser reagiert prompt: »Junger Mann, Sie können weder Ihren Namen, noch Ihre Herkunft einfach so ‚ablegen‘!«

»Kann man doch, Herr Lichtenfeld.« Victor blickt ihm selbstbewusst ins Gesicht. „Das geht ganz leicht: Adelstitel nehmen und in hohem Bogen am besten dorthin werfen, wo’s am meisten stinkt!«

Albert wird rot im Gesicht. Wütend fährt er Victor an: »Menschen wie Sie sind daran schuld, dass unsere Welt langsam vor die Hunde geht!«

»Unsere Welt? Sie meinen Ihre alte Welt, wie Sie sie sich vorstellen: Adel hier, Pöbel da.« Victor hebt bei „Adel“ die Hand in die Höhe, bei „Pöbel“ senkt er sie.

Die Zuschauer klatschen.

Albert ist sauer, über den Lärm der Zuschauer ruft er: »Adelige sind nicht nur besondere Menschen, sie verhalten sich auch dementsprechend.«

Victor schaut ihn fragend an: »Adelige sind bessere Menschen? Herr Lichtenfeld, das musste mal gesagt werden!«

»Sie werden sich noch wundern! Eines Tages . . . «, Albert unterbricht sich selbst. Wütend verlässt er das Fernsehstudio. Großer Tumult entsteht – das Studio-Publikum buht Albert aus.

Während Albert das Fernsehstudio verlässt, schaut Victor entschuldigend in die Kamera: »Was hat er denn: Albert Lichtenfeld klingt doch auch ganz ordentlich.«

Die Moderatorin lächelt Victor bewundernd an. Victor schaut ihr tief in die Augen. Dann streift sein Blick den Reißverschluss ihrer Stiefel. Schließlich weicht er nicht mehr von den Augen der Moderatorin. Sie bemerkt es und wird ein wenig unsicher.

»Pro Forma studierte Victor Kunstgeschichte, aber auch da interessierten ihn mehr die Modelle der alten Meister, als die alten Meister selbst.«

Es ist eine klare Nacht, der Himmel voller Sterne. Im schwachen Licht folgen wir Victors Hand, welche die Silhouette der vor ihm sitzenden Frau gefühlvoll nachfährt. Dann greift er nach einem Stiefel der Moderatorin und zieht den Reißverschluss langsam auf. Victor und seine neue Eroberung liegen wieder auf der Wiese im Stadtgarten.

»Man kann nicht sagen, dass Victor sexbesessen war, doch etwas machte ihn hungrig, gierig – und irgend etwas trieb ihn dazu, dauernd eine neue Eroberung zu machen, ohne sich aber je auf seine „Beute“ einzulassen!«

Plötzlich erhellt ein Feuerschein die beiden: Carla hat sich herangeschlichen und in der Nähe einen kleinen Scheiterhaufen aus mehreren von Victors Büchern angezündet. Regungslos steht sie hinter dem Feuer und beobachtet Victor und die Moderatorin mit stechendem Blick; in einer Hand hält sie drohend eine Spiritusflasche.

Victor und die Moderatorin rappeln sich auf und fliehen. Carla bleibt frustriert zurück. Victor und seine neue Eroberung steigen in einen Wagen und rasen davon.

Wenig später liegen Victor und die Moderatorin unbekleidet nebeneinander im Wagen, der auf einer Anhöhe geparkt ist. Victor schaut aus dem Seitenfenster und sieht in einiger Entfernung die Stadt im Morgenlicht liegen. Ein idyllischer Anblick. Victor genießt die Stille, er wirkt jedoch seltsam traurig.

»Victor ließ Nichts und Niemanden an sich heran – mit Ausnahme der einen Person, der er alles erzählte: Ich war diese Person! Und ich kann mit Stolz sagen, dass ich der einzige war, der alles über Victor Corvin wusste und der die dunkle Seite hinter seinem umwerfenden Lächeln kannte!«

Plötzlich umarmt die Moderatorin Victor. Er versucht zu lächeln, aber es gelingt ihm nicht. Victor sieht sie mit traurigem Gesichtsausdruck an. Die ersten Strahlen der Sonne treffen darauf.

»So viele Frauen Victor auch hatte, außer mir kannte niemand sein Geheimnis: Victor war zutiefst unglücklich, ja man kann sogar sagen, je mehr Frauen er hatte, desto einsamer fühlte er sich. Aber selbst mir gelang es nicht, Victor von dem abzuhalten, was er sich vorgenommen hatte.«

Victor sitzt auf dem Flachdach des Universitätsgebäudes, seine Beine baumeln herunter. Er starrt regungslos in die Tiefe. Einige Meter hinter ihm steht sein Freund Karl und versucht, ihn gestenreich zur Vernunft zu bringen.

»Victor konnte nicht lieben, so sehr er es auch versuchte. Schlimmer noch: Es gab Tage, da konnten ihn nicht einmal die Frauen von dem tiefen Schmerz ablenken, den er in sich trug.“

Victor schließt die Augen und beugt sich langsam nach vorn. Jeden Moment wird sich sein Schwerpunkt so verlagern, dass er vom Dach stürzt. Karl springt auf Victor zu, doch er ist zu weit entfernt, als dass er den Freund retten könnte. Im letzten Moment hält Victor inne und verharrt in leicht gekrümmter Haltung.

»An solchen Tagen überfluteten sie ihn: Gewaltige und nicht endend wollende Wellen von Depressionen.«

Karl atmet erleichtert auf. Langsam nähert er sich seinem Freund und setzt sich neben ihn auf das Dach.

Victor schaut ihn mit traurigen Augen an, dann meint er leicht: »Hey, fall nicht runter.«

Karl schüttelt den Kopf: »Sehr witzig.«

»Nein, das ist mein Ernst: Halt dich gut fest!«, entgegnet Victor.

Sie sehen sich einen Moment an. Dann schweigen sie und schauen in die Ferne.

»Ja, ich war der einzige Mensch, für den Victor etwas empfand! Und auch ich hatte das Gefühl, in Victor einen Bruder gefunden zu haben. So etwas gibt es: Zwei Menschen begegnen sich und sie spüren, dass sie tief miteinander verbunden sind. Ein schönes, seltenes Gefühl!«

Victor steht an einer belebten Straße. Auf der gegenüberliegenden Seite entdeckt er eine junge Frau. Victor schaut sie an, aber sie wendet kühl den Blick ab.

Die offene Ablehnung schockiert Victor. Sein Gesicht verhärtet sich, er sieht mit einem Mal tief verletzt aus.

»Aber was, wenn Victor tatsächlich eines Tages sein Leben beenden würde? Besonders in letzter Zeit hatte ich den Eindruck, dass er das Schicksal geradezu herausfordern wollte. Wann und wie es passierte, war ihm egal. Aber je früher, desto besser . . . «

Plötzlich holt Victor tief Luft, dann schließt er die Augen und geht einfach über die Straße. Die Frau gegenüber schreit erschrocken auf – doch ihr Schrei wird vom Hupen und Bremsen der Fahrzeuge übertönt.

Auf der anderen Straßenseite öffnet Victor wieder die Augen. Wie durch ein Wunder ist ihm nichts passiert. Doch er sieht aus, als sei er nicht besonders glücklich darüber.

»Ich musste etwas gegen Victors selbstzerstörerische Stimmungen unternehmen!«

Victor schaut die junge Frau erwartungsvoll an. Sie schüttelt entsetzt den Kopf. Victor setzt sein Lächeln auf – dieses Lächeln, dem sich niemand entziehen kann. Endlich lächelt die junge Frau zurück. Victor spricht sie an; schließlich gehen beide miteinander weg.

»In dieser Hinsicht waren Victor und ich uns ähnlich: Sowohl er, als auch ich wollten irgendetwas Besonderes schaffen, wollten die Welt da draußen auf irgendeine Art und Weise beeindrucken! In meinem Fall musste es nicht gleich der Nobelpreis für Medizin sein, Victor zu helfen würde mir fürs Erste schon genügen. Und da tauchte er plötzlich in meinem Labor auf und ich hatte eine einzigartige Idee . . . «

03. Der Plan

Victor betritt ein imposantes Universitätsgebäude. Wenig später schaut er gelangweilt in die Linse einer Kamera, welche sich neben einer gepanzerten Labortür befindet. Da Victor die Prozedur kennt, hält er geduldig seinen Kopf still und wartet.

Die Eingangs-Kamera zoomt auf Victors Iris. Im Display bewegt sich blitzschnell ein siebenstelliger Zahlencode, bis er verschwindet und der Name „Victor Corvin“ erscheint. Der Schriftzug leuchtet abwechselnd hell- und dunkelgrün.

Das automatische Schloss der Tür entriegelt sich geräuschvoll. Victor betritt den Labortrakt. So, wie er sich durch die langen Gänge bewegt, ist ihm der Weg wohlbekannt.

Er betritt den Hauptlaborraum. Der Raum ist groß und, wie man es von den wenigsten Universitäten erwarten würde, mit ausgesprochen teuren Geräten bestückt. Victor schaut sich suchend um.

Zwischen mehreren Computermonitoren entdeckt Victor einen Käfig. Darin kauert in der hintersten Ecke ein ungewöhnlich großes Versuchstier.

»Das ist ja ein Fuchs! Du benutzt ihn doch nicht tatsächlich für deine Experimente?!«

Karl taucht hinter einem Monitor auf. Er ist unrasiert und sieht übernächtigt aus.

»Ein Frauenquäler entdeckt sein Herz für Tiere!«

»Ich quäle die Frauen nicht! Ich lese nur in ihren Augen«, entgegnet Victor. Dann wendet er sich dem Tier zu: »Komm her, hab keine Angst . . . «

»Was liest du in ihren Augen: Dass sie am nächsten Tag von dir verlassen werden wollen?«

Victor wird wütend: »Lenk nicht ab: Was soll das?«

Als er sich dem Käfig nähert, springt der Fuchs hysterisch hin und her.

»In der Anfangsphase sind sie immer extrem aggressiv, aber dann, wenn alles raus ist, werden sie friedlich und schnurren wie ein Kätzchen. Es ist alles nur zu seinem Besten.«

Eine Frauenstimme ertönt vom Eingangsbereich her.

»Sag mal, spinnst du? Was soll denn das? Das ist doch ein Fuchs?«

Keiner der beiden hat bemerkt, dass eine weitere Person den Raum betreten hat; es ist die junge Dame aus der Buchhandlung. Karl ist irritiert wegen ihres unerwarteten Erscheinens, versucht dann aber sofort, die Situation zu meistern.

»Äh . . . darf ich vorstellen: Kahlo, Victor – Victor, Kahlo. Wie bist du überhaupt hier reingekommen? Ich dachte, das neue Sicherheitssystem knackst du nicht!«

Kahlo zeigt Karl wortlos ihr Smartphone. Sie öffnet eine App, worauf ein Script abläuft und grafisch darstellt, wie es über W-LAN einen Befehl an den Schließmechanismus gibt. Karl verzieht anerkennend den Mund.

Da Victor direkt neben dem Käfig steht und versucht, den Fuchs zu beruhigen, glaubt Kahlo, er habe das Tier in den Käfig gesperrt.

Empört fährt sie Victor an: »Wie kann man so ein hilfloses Tier in einen Käfig sperren?«

Karl amüsiert, dass Kahlo Victor beschuldigt. Victor versucht etwas zu sagen, doch Kahlo lässt ihm keine Chance: Noch bevor jemand sie daran hindern kann, öffnet sie den Käfig.

»Hey, komm her! Keine Angst! Na, komm, komm!«

Karl versucht Kahlo davon abzuhalten: »Nicht! Das Tier ist noch in der Anfangsphase!»

Vergeblich – Kahlo schiebt dem verstörten Tier die Wasserschale entgegen, welche sich gleich am Käfigeingang befindet.

Plötzlich macht der Fuchs einen Satz nach vorn. Kahlo kann im letzten Moment ihre Hand zurückziehen und schnell die Käfigtür schließen. Der Fuchs bleckt mit flackerndem Blick die Zähne.

Karl schaut sie strafend an: »Das ist eben kein Spielzeug!«

»Ich hab’s geahnt: Das kann nur ein Weibchen sein«, witzelt Victor.

Karl grinst, Kahlo schüttelt wegen Victors Bemerkung abfällig den Kopf.

Erst jetzt kann Victor Kahlo eingehend mustern: Sie ist Anfang 20, ihr Mund auffallend sinnlich und da sie schon immer eine starke Wirkung auf Männer hatte, versteckt sie ihre sportliche Figur gern unter weiten Kleidern. Ihre langen, schwarzen Haare hat sie streng zu einem Pferdeschwanz zusammen gebunden. Victor ist sichtlich beeindruckt von der impulsiven Frau.

Karl schaut von einem zum andern.

»Hab ich euch schon vorgestellt?«

Victor grinst Kahlo gewinnend an: »Hast du.«

Kahlo begegnet seinem Blick äußerst kühl: »Ich hätte auch so gewusst, wer Sie sind.«

»Sie?«, fragt Victor verdutzt.

»Meinetwegen auch ‚du‘«, antwortet Kahlo, während sie ihre strafende Miene beibehält.

»Ich kann dir versichern, was immer du über mich gehört hast, es ist nur die halbe Wahrheit«. Victor hebt entschuldigend die Hände. Dann aber flüstert er mit vorgehaltener Hand: »Ich bin doppelt so schlimm wie alle behaupten!«

Kahlo wendet sich demonstrativ an Karl: »Ist das wirklich der Mensch, der dieses unglaubliche Buch geschrieben hat?«

Victor beginnt zu grinsen: »Interessant! Du hast es also gelesen?«

Kahlo macht eine abwehrende Geste: »Ich hab mir erzählen lassen, was drin steht. Das hörte sich wider Erwarten ganz passabel an.«

Dann wendet sie ich an Karl: »Wann gedenkst du, das Tier laufen zu lassen?«

»Morgen«, entgegnet er ruhig.

»Ich kontrolliere das! Du weißt, ich komm überall rein!« Kahlo zeigt Karl noch mal drohend ihr Smartphone, dann verlässt sie, ohne Victor eines Blickes zu würdigen, das Labor.

Victor schaut ihr fassungslos hinterher: »Was war denn das?«

»Victor, du bist ja richtig beeindruckt!«

Karl baut sich vor seinem Freund auf, doch Victor entgegnet: »Ich? Die hat’s erwischt! Hast du in ihre Augen gesehen?«