Raffaela - Helmut Kaiser - E-Book

Raffaela E-Book

Helmut Kaiser

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Beschreibung

Florenz: leuchtet: Die einflussreichen Bürgerfamilien überbieten sich darin, den Ruhm der Stadt und ihren eigenen Status prachtvoll zur Schau zu stellen. Daneben existiert die Welt Raffaelas, einer "Gettata", einer "Weggeworfenen", die im Waisenhaus aufwächst. Raffaela nimmt mutig ihr Leben in die Hand: Angetrieben durch die Liebe zur Malerei verlässt sie das Oltrarno, das verwinkelte Viertel der armen Leute, und steigt zur Medici-Angehörigen und gefeierten Künstlerin auf. Doch die Frage, wer ihre Eltern waren, begleitet sie als dunkles Rätsel, und erst nachdem sich das Geheimnis um die Identität ihrer Eltern lüftet, kann sie wirklich frei werden - als eigenständige Frau und Künstlerin.

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E pesci grossi escon d' ogni rete.

(Die großen Fische befreien sich aus jedem Netz.)

Stolto chi fa a gioco, dove può perdere, e non vincere.

(Dumm, wer sich auf ein Spiel einlässt, wo er verlieren kann und nicht gewinnen.)

Parenti sono come scarpe, piu sono stretti piu fanno male.

(Familienbeziehungen sind wie Schuhe. Je enger sie sind, umso mehr tun sie weh.)

Aus dem Tagebuch Angelo Polizianos (1454–1494), Erzieher am Hof des Lorenzo de Medici

Inhalt

Florenz, 1469

Das Mädchen aus dem Waisenhaus

Florenz, 1474

Im Oltrarno

Florenz, 1475

Meister Filippino Lippi

Florenz, 1476

Tommaso, die Narbe

Lorenzo de’ Medici

Florenz, 1477

In der Lehre

Raffaela und Giuliano de’ Medici

Florenz, 1478

Leonora, die Kurtisane

Das Hochamt im Dom

Florenz, 1479–1480

Pest und Krieg

Rom, 1481–1483

Raffaela und der Auftrag des Papstes

Päpstliche Intrigen

Rom, 1484

Der Papst und sein Spion

Florenz, 1485

Raffaela und Sandro Botticelli

Florenz, 1488

Savonarola

Florenz, 1492

Raffaelas Abschied

Epilog

ANHANG

Anmerkungen des Autors

Glossar

Literatur

Florenz, 1469 Das Mädchen aus dem Waisenhaus

»So gut möchte ich auch einmal malen können«, sagt das Mädchen und zeigt auf ein Gemälde, das im langen, schmalen Flur des Waisenhauses hängt.

»Bleib auf dem Boden, Raffaela, und sei bescheiden«, antwortet Margherita, die Nonne. »Du bist eine Gettata, eine Weggeworfene.« »Ich weiß«, sagt Raffaela und wischt mit dem Ärmel Tränen aus den Augen.

Die Nonne zieht zwei etwa zehnjährige Mädchen hinter sich her. Margherita trägt ihre Ordenstracht, ein fast bis zum Boden reichendes, graues Gewand mit einer weißen Borte am Hals und eine graue Haube, aus der ein sanftes Gesicht hervorschaut. Eine dunkle Haarlocke wagt sich hervor, die sie immer wieder zurückschiebt. Sie verlassen das Ospedale degli Innocenti, das Waisenhaus.

Auf der Piazza della Signoria drängen sich die Menschen, in den Straßen geht es kaum vorwärts. Margherita will zur Kirche San Lorenzo, in der die Hochzeit des 20-jährigen Lorenzo de’ Medici mit der 16-jährigen Clarice Orsini stattfindet.

Raffaela beobachtet einen höchstens zehnjährigen, armselig gekleideten Jungen, der versucht, Geld aus der Kasse eines Tuchhändlers zu stehlen. Der Tuchhändler packt ihn an den Haaren und zieht ihn in den Laden. »Dumm gelaufen«, kichert Leonora, das zweite, blondgelockte Mädchen.

»Mir ist kalt«, sagt Raffaela, die nur ein dünnes Leinenkleid trägt. Margherita legt ihr den Arm um die Schulter und zieht sie auf die Seite, um einem Fuhrwerk auszuweichen.

In der Via larga ist kein Weiterkommen. Bauern aus dem Umland bringen ihre Geschenke für das Hochzeitspaar: Hühner und Enten, Fische, Wildbret und Fässer mit Wein und Olivenöl.

»Wenn Lorenzo so reich ist, wie du gesagt hast, Margherita, braucht er das alles doch nicht. Er könnte uns davon etwas schenken. Dann müssten wir nicht immer nur die dünne Gemüsesuppe essen«, meint Leonora.

»Die Medici verteilen immer alles, was sie geschenkt bekommen, großzügig an die Armen, an Hospitäler und auch an uns. Leonora, du solltest, statt immer nur zu maulen, dankbar sein für das, was du bei uns im Waisenhaus bekommst. Und du, Raffaela, was ist?«

»Wenn die Medici auch an uns Geschenke verteilen, wer isst das dann? Weshalb habe ich dann noch nie ein Hühnchen oder einen Fisch gegessen?« Leonora kichert. Margherita zieht die Mädchen weiter.

Am Medici-Palast steht das Tor offen und sie können sehen, wie im Eingang, im Laubengang und im Hof Bankette aufgebaut werden: große, mit Blumen geschmückte Tische mit Tischtüchern und silberne Schüsseln überall.

Weitere Tische mit Speisen sind auf dem Gehweg aufgestellt, damit die ganze Stadt mitfeiern kann. Leonora guckt sich um, nimmt einen silbernen Salzstreuer und steckt ihn schnell in die Tasche ihres Kleides.

Margherita schaut immer öfter besorgt zum Himmel, an dem dunkle Wolken aufziehen. Der aufkommende Wind weht den Blumenschmuck von den Tischen. Die ersten Tropfen fallen.

»Da drüben stehen Tassen mit Morsaletti, Marzipan und Zuckermandeln. Margherita, meinst du, wir dürfen davon essen?« »Ein Gewitter kommt auf. Wir müssen zurück ins Waisenhaus.« Leonora nimmt schnell eine Schale mit Marzipankugeln, steckt sich einige auf einmal in den Mund, dann hält sie Raffaela die Tasse hin. Margherita nimmt sie ihr weg und stellt sie zurück. »Leonora, man nimmt nicht einfach, was man haben möchte. Was soll aus dir nur werden?« »Ich nehme mir, was ich brauche«, sagt Leonora trotzig. »Sonst geht man leer aus.«

Die Hagelkörner klingen in den Gläsern und silbernen Schüsseln, die Morsaletti schwimmen in den Schalen. Diener rennen hin und her und räumen die Tische ab.

Leonora schnappt sich noch schnell ein Stück Kuchen und stopft es in den Mund. Sie kaut mit vollen Backen, verschluckt sich, hustet und ringt nach Luft. »Das geschieht dir recht«, sagt Margherita.

Ein Sturm peitscht durch die Via larga und wirbelt Blumen und Tischtücher vor sich her, sodass sie in einer Toreinfahrt Schutz suchen müssen. Raffaela drückt sich eng an die Nonne. »Margherita, werde ich später auch einmal heiraten?« »Unser aller Lebensweg liegt in Gottes Hand.«

»So einen wie Lorenzo de’ Medici, das wäre schön. Dann hätte ich schöne Kleider und eine Perlenkette und immer Obst und feinen Kuchen.« Margheritas Antwort geht in einem Donnerschlag unter.

»Margherita, gingst du freiwillig ins Ospedale? Bist du gern dort?«

»Hör zu, Raffaela. Die Oberin hat mir gesagt, sie hat einen Vater für dich gefunden. Er kommt dich morgen früh abholen.« Plötzlich gleißendes Licht. Ein Blitz schlägt in die Domkuppel ein. Sie hören das Gepolter herabstürzender Marmorblöcke. Der nächste Blitz trifft in die vergoldete Bronzekugel auf dem Dach, die Kugel leuchtet glühend auf und fliegt dann über das Dach auf die Piazza, mitten in die Menschenmenge. Panik bricht aus.

»Heilige Madonna«, stöhnt Margherita, »das ist ein schlimmes Vorzeichen, una cosa diabolica.« Sie sinkt auf die Knie und beginnt zu beten. »Wofür?«, fragt Raffaela ängstlich. »Für Lorenzo de’ Medici. Die Kugel steht für die Palle, die Kugeln im Medici-Wappen.«

»Ich mag Gewitter«, sagt Leonora. Sie breitet die Arme aus und tanzt lachend in einer Pfütze herum. »Am Schönsten wäre es, wenn ein Blitz ins Ospedale einschlagen würde. Ach, wäre das schön!« Margherita gibt ihr eine Ohrfeige. Leonora hält ihr auch noch die andere Backe hin.

Kurz vor dem Ospedale fragt Raffaela: »Margherita, kennst du den Mann, der mich morgen abholt?«

»Nein. Aber die Oberin sagt, er ist ein rechtschaffener Mensch.« Und zu Leonora gewandt, sagt sie: »Für dich haben wir eine Frau gefunden, die dich an Kindes statt annehmen will.«

»Endlich.« Leonora lacht. »Endlich komme ich raus aus dem Ospedale. Jetzt kann ich tun und lassen, was ich will. Das mit der Kugel war ein gutes Vorzeichen für uns zwei.«

Margherita schließt die Türe des Waisenhauses hinter ihnen ab. »Ihr geht euch jetzt waschen. Und dann, nach dem Gebet, ab ins Bett.«

Im großen Schlafsaal, in dem zwanzig Betten stehen, sagt Raffaela: »Ich kann mich nicht so freuen wie du. Ich würde lieber hierbleiben.« »Hast du Angst?«, fragt Leonora. »Wovor denn?«

Eine Nonne kommt herein und ruft: »Ruhe jetzt. Ihr sollt schlafen. «Raffaela flüstert: »Wozu nimmt mich ein Mann bei sich auf? Und dich eine Frau? Doch sicher nicht einfach nur, damit wir ein Zuhause haben?« Leonora gähnt und wickelt sich in ihre Decke. »Alles da draußen ist besser als das Ospedale.«

Raffaela ist so unruhig, dass sie lange nicht einschlafen kann. Sie hört Leonoras regelmäßige Atemzüge und von weitem die Nonnen, die im Gemeinschaftssaal das Nachtgebet sprechen. Dann ist es auch dort ruhig. Von draußen ist der Ruf eines Käuzchens zu hören. Die Leute sagen, wenn man ein Käuzchen rufen hört, stirbt ein Mensch, den man kennt.

Florenz, 1474 Im Oltrarno

Ein mageres, hoch aufgeschossenes Mädchen kommt aus der Via dell' Inferno auf die Piazza Santa Maria Novella. Ihre braunen Haare glänzen im Sonnenlicht.

Es ist noch früher Morgen. Ein Barbier rasiert einem alten Mann den Bart. Dabei redet er auf ihn ein, doch der Alte kann nicht antworten, er muss stillhalten.

Vor einem Metzgerladen schneidet der Metzger auf offener Straße einem Schaf, das an den Hinterbeinen aufgehängt ist und ängstlich blökt, mit einem einzigen Schnitt die Kehle durch. Das Blut sprudelt in einen Eimer, während die ersten Kunden um den Preis der Koteletts feilschen.

Vor sich sieht sie jetzt auf dem weiten Platz die Kirche Santa Maria Novella. Sie bleibt kurz stehen, entfernt einen kleinen Kiesel aus ihrer Sandale und nimmt einen Schluck aus der Wasserflasche.

Jetzt wendet sie sich nach links zum Eingang des Chiostro verde, des grünen Kreuzgangs, den die Florentiner so nennen wegen der grünen Farben der Fresken. Ausnahmsweise ist er heute einmal offen. Handwerker schleppen neue Ziegeln hinein und alte, zerbrochene heraus. Sie nützt die unerwartete Gelegenheit und tritt ein.

Im Halbdunkel sieht sie zuerst nichts. Allmählich nur tauchen aus der Düsternis die Farben auf, dann die Gestalten: eine Sintflut; ein grausames Getümmel. Ertrinkende in der Gewalt des Sturms und der Blitze, stürzende Bäume, angstvolle Gesichter. Im Hintergrund ein ertrunkenes Kind, dessen vom Wasser gequollener Leib sich hochwölbt. Und ein Toter, dem ein Rabe ein Auge aushackt.

Ihr Blick bleibt hängen an einer vom allgemeinen Untergang unberührten, beherrschenden Gestalt eines älteren Mannes mit versunkenem und doch machtvollem Antlitz, die Hand segnend und zugleich abwehrend erhoben.

»Schau dir doch nur den Kopf von diesem Noah an«, hört sie eine Stimme. Sie blickt sich um und sieht zwei Männer. Derjenige, der gesprochen hat, ist ein großer, etwa dreißigjähriger, vornehm gekleideter Herr mit gewellten, braunen Haaren, die unter der roten Samtkappe hervor bis auf die Schulter fallen. Er trägt ein orangefarbenes Obergewand mit weiten purpurroten Ärmeln, das am Hals zusammengehalten wird von einer goldenen Brosche mit roten Steinen. Am Zeigefinger und am kleinen Finger der rechten Hand sieht sie zwei goldene Ringe. Im kräftigen Kinn ein Grübchen. Ein schön geschwungener Mund. Eine gerade Nase.

Irgendwo habe ich ihn schon einmal gesehen, denkt sie und spitzt die Ohren, als er fortfährt: »Piero, ich sage dir, das ist der gleiche Charakterkopf wie auf dem Fresko >Der Zug der Heiligen Drei Könige< in der Kapelle des Medici-Palastes. Dieser Noah hier ist Cosimo de’ Medici, dargestellt als Retter. Es ist unglaublich: Hier ein Bürger, ein Medici, als Retter, dort ein Medici als Heiliger König.«

Raffaela ist verblüfft. Sie hat nur die Sintflut gesehen, den Noah, aber keinen verborgenen Sinn dahinter. Gemälde, und im Ospedale hängen viele, waren ihr ein Trost im grauen Alltag des Waisenhauses, in ihren trüben Stimmungen. Doch war da niemand, der ihr die Bilder erklärt hat.

»Piero, was meinst du dazu?«, hört sie den Mann fragen. Piero zuckt mit den Schultern.

»Verstehst du denn nicht? Mit diesen Bildern wollen die Medici uns damit vertraut machen, dass sie das Königtum anstreben. Würden sie es offen zugeben, würde man ihnen den Prozess machen.«

»Sandro, sicher gibt es eine andere Erklärung.«

»Ach, Piero, ich gäbe ein Jahr meines Lebens dafür, es würde sie einer anzeigen.« Seine Stimme klingt jetzt hart und kalt. Sandro? Wahrhaftig, es ist Sandro Botticelli. Der berühmte Botticelli. Wenn er durch die Straßen geht, über den Markt oder in eine Taverne, bleiben die Leute stehen und zeigen auf ihn.

Die beiden Männer verlassen den Raum. Sie blickt ihnen nach, hört ein Schnaufen hinter sich und sieht einen Burschen, ebenso ärmlich gekleidet wie sie selbst, der sie mit offenem Mund anstarrt. Sie geht an ihm vorbei, hoch aufgerichtet, stolzer als sie ist.

Draußen im hellen Licht schließt sie geblendet die Augen. Sie muss jetzt schnell nach Hause, zu lange ist sie schon fort.

Da überholt sie der schnaufende Bursche von vorhin und baut sich vor ihr auf. »Ich bin Tommaso, ich bin Künstler. Du interessierst dich für Malerei? Seit Tagen bin ich auf der Suche nach einem Modell für ein Marienbild, dein Gesicht, es ist so schön, einem Engel gleich.«

Er redet hastig, als fürchte er, sie könne davonrennen. Doch sie bleibt geschmeichelt stehen und schaut ihm in sein Gesicht. Eine fingerlange Narbe an der linken Wange glänzt rot. Er schwitzt, Schweiß rinnt ihm von der Stirn über die Narbe. Sein Blick aus den dunklen Augen frisst sie auf. Schnell geht sie weiter.

Als sie an die Brücke über den Arno kommt, schaut sie sich um. Der Maler ist zurückgeblieben, sieht ihr aber nach. Ohne sich noch einmal umzusehen, kommt sie ins Handwerkerviertel mit seinen Holz- und Backsteinhäusern in den engen Gassen, in denen neben den Türen rostige Kübel mit blühendem Oleander stehen. Tontöpfe mit Salbei, Minze, Basilikum und Rosmarin schmücken Fenstersimse und Treppenaufgänge. Ein zahnloser, alter Mann, der vor seinem Geschäft an einem Tisch sitzt und aus Lindenholz Bilderrahmen schnitzt, winkt ihr zu. Ihr Weg geht jetzt an einem schmalen Kanal entlang, an dem Walkmühlen und Färberbuden stehen. Etwas trostlos ist alles hier im Oltrarno. Und da ist auch schon die Kneipe, deren Besitzer sie Vater nennen muss, Pater oder auch Patrone.

Neben dem Eingang pinkelt ein Mann gegen die Wand. Ein Hund kackt auf die Stufe am Eingang. Sie weiß, sie wird es wegputzen müssen. Wenn sie Glück hat, kann sie Giovanni dazu überreden. Der wird dafür einen Kuss verlangen. Auf den Mund!

Aus dem Innern der Kneipe hört sie den Patrone singen. Sie ist spät dran und sie hat Angst vor dem Pater, vor dem, was jetzt kommt.

Es riecht nach ranzigem Fett, Knoblauch und Schweiß und es ist laut. Sie zwängt sich zwischen den Männern durch, die auf Holzbänken an den Tischen sitzen, nach hinten in die verrauchte Küche, wo Giovanni, ein stämmiger Bursche mit schwarzen Stoppelhaaren, er ist zwei Jahre älter als sie, verbissen ein mageres Huhn rupft, das der Vater billig auf dem Markt gekauft hat. Alles hier ist billig, auch der saure Wein, den er mit Wasser panscht. Auf dem Markt holt er Gemüseabfälle für die Suppe.

Giovanni pustet, indem er die Unterlippe vorstreckt, eine Hühnerfeder von der Nase und sagt: »Du kommst spät. Der Alte hat getobt wie noch nie. Raffaela, in deiner Haut möchte ich nicht stecken.«

Über dem Feuer in einem Kessel blubbert Brühe, es riecht nach Zwiebeln und undefinierbar nach Gemüse. Über den Lehmboden huscht eine Kakerlake. Sie zertritt sie und bückt sich, um ein paar Holzscheite ins niedergebrannte Feuer zu legen. Sie weiß, Giovanni starrt ihr auf den Hintern.

»Brot! Wo bleibt das Brot?« Die laute, krächzende Stimme des Patrons. Giovanni grinst schief. Schnell schneidet sie einen schon trockenen Laib in Scheiben und eilt mit dem Brotkorb in die Gaststube. Ein Angetrunkener kneift sie in den Hintern. »Mager wie die Hühner, die man hier vorgesetzt bekommt«, kreischt er, und alle grölen, auch ihr Vater. Einer hustet und spuckt grünlichen Schleim auf den Boden. Sie spürt, wie ihr flau wird im Magen. Seit heute früh hat sie nichts gegessen. Schnell nimmt sie noch eine Brotscheibe, bevor sie den Korb vor ihren Vater stellt, der bei einigen Trinkern am Tisch sitzt, die mit Würfeln um Grosso, Kleingeld, spielen. Vor ihm liegt ein Häufchen Münzen. Er scheint gewonnen zu haben. Vielleicht hat er ja gute Laune. Er starrt sie aus blutunterlaufenen Augen mit schon vom Wein stierem Blick an. »Du hast dir das Abendessen schon genommen«, knurrt er und kratzt sich die Brust, wo ihn ewig eine Flechte juckt. Kein Wunder, wenn er sich nie wäscht. In einer Weinpfütze auf dem Tisch zappelt zwischen Brotkrümeln und einer Käserinde eine grün glänzende Fliege.

Wieder in der Küche, schrubbt sie mit einer Wurzelbürste das steinerne Spülbecken. Giovanni sitzt am Tisch und döst vor sich hin. Mit jedem Atemzug blähen sich seine Backen und sinken wieder ein. Dabei bilden sie ein Grübchen. Es sieht aus, als wolle er seine Backen einsaugen.

Sie stupst ihn mit dem Fuß gegen das Schienbein. Er wacht auf und ächzt: »Wo bin ich?« Dann erzählt er, er habe geträumt: »Ich war in einem großen, hellen Haus. Überall standen schöne Möbel, an den Wänden hingen Teppiche und Bilder. Eine ältere Frau kam mit einem Körbchen Süßigkeiten auf mich zu. Und dann hast du mich geweckt.«

»Tut mir leid. Stell' dir vor, ich habe heute Sandro Botticelli getroffen.«

Giovanni guckt sie erstaunt an. »Lass' dich mit ihm bloß nicht von dem Alten erwischen. Sonst kriegst du Prügel.« Raffaela verdreht die Augen, bis man nur noch das Weiße sehen kann. Giovanni hat von nichts eine Ahnung.

Im Gastraum wird es allmählich stiller. Die Kneipe leert sich. Ein Betrunkener kommt nicht mehr hoch. Pater Patrone schleppt ihn ächzend vor die Türe und lässt ihn auf dem Pflaster liegen.

Müde geht sie die Treppe hoch in ihre Kammer. Sie nimmt den Tonkrug, leert Wasser in die Schüssel, zieht sich aus und beginnt sich zu waschen. Auf der Treppe knarren die Holzstufen. Sie lauscht. Als sie vor der Türe Schritte hört, will sie sich schnell abtrocknen. Da kommt der Alte auch schon herein, lässt sich ächzend auf ihr Bett plumpsen und versucht seinen Gürtel zu öffnen. Dabei starrt er sie an von unten bis oben. Jetzt kommt er auf sie zu. Sie hat Angst und will das Kleid wieder über den Kopf ziehen, doch er hält es fest, in seinen Klauen, denkt sie. »Deine Brüste sind wieder größer geworden«, lallt er, »allmählich wirst du.«

Als sei sie ein Hühnchen, das man bald schlachten kann. »Ich bin erst fünfzehn.«

»Und damit bist du heiratsfähig. So ist das in Florenz«, sagt er, starrt auf ihre Brüste und grinst blöde. Sein Blick wandert weiter, wieder nach unten. Die Hose hängt ihm an den Knien. Sein Ding baumelt zwischen den Beinen. Sie hält abwehrbereit die Arme vor ihr Gesicht, doch er stolpert an ihr vorbei und verschwindet in seiner Kammer nebenan. Sie hört ihn schnarchen und wird ruhiger.

Sie schaut an sich herunter, streicht mit den Händen über ihre Brüste, den Bauch, es fühlt sich gut an. Die Brüste wachsen und werden zur Gefahr, denkt sie und zupft an den rosigen Brustwarzen. Der Patrone ist eine Gefahr, dieser Maler Tommaso ist eine Gefahr, ich bin ja nicht dumm, und Giovanni starrt auch schon darauf.

Auf der Straße lärmt der Betrunkene und rüttelt an der Türe der Kneipe. Der Vater nebenan rappelt sich fluchend aus dem Bett. Er reißt das kleine Fenster auf. Sie hört es unten platschen. Er hat ihm seine Pisse aus dem Nachttopf auf den Kopf geschüttet.

Jetzt kniet sie hin und bittet die Gottesmutter um Hilfe. »Warum bin ich hier, fünf Jahre schon? Heilige Mutter, bitte, hilf mir hier wegzukommen, alles wäre besser als das hier. Bitte.« Nicht einmal ein Gebet gelingt mir heute, denkt sie und gibt auf.

Als sie auf ihrem Strohsack liegt, fühlt sie sich sehr einsam. Wie schön wäre es, einen Vater zu haben wie Botticelli. Er würde mich das Malen lehren, die Techniken, mir Farben und Pinsel schenken.

Sie greift mit der Hand unter ihr Lager, zieht einen Kohlestift hervor und einen kleinen Skizzenblock, den ihr Margherita bei ihrem letzten Besuch im Findelhaus geschenkt hat, nicht ohne die übliche Ermahnung, ihre Pflichten nicht zu vernachlässigen.

Immer wieder wundert sie sich selbst darüber, wie der Stift auf dem Papier ein Abbild der Wirklichkeit erschafft, Licht und Schatten, eine ganze kleine Welt. Und dann ist sie glücklich.

Aus dem Gedächtnis macht sie im trüben Schein der Öllampe eine Skizze von seinem Gesicht. In ihrem Tagtraum nennt sie ihn Sandro. Alles, was sie hat, sind ihre Träume. Die kann ihr keiner nehmen.

Und zum tausendsten Mal fragt sie sich, wer wohl ihre Eltern sein könnten. Ihr Verstand sagt ihr, es müssen arme Leute sein. Wer gibt sonst sein Kind her? Aber ihre Phantasie geht andere Wege. Vielleicht ist ihre Mutter bei der Geburt gestorben und ihr Vater wusste sich nicht anders zu helfen und hat sie ins Ospedale gegeben. Durch einen glücklichen Zufall wird sie ihn finden.

Die Tage dehnen sich zäh im gleichförmigen Trott. Jeden Morgen schrubbt sie auf schmerzenden Knien den Lehmboden, manchmal schlägt ihr der Alte auf den Hintern oder kneift hinein. Mittags schnipselt sie Gemüse und rupft Hühner. Wenn sie Gäste bedienen muss, hält sie die Augen niedergeschlagen, als könne sie damit allem Schlechten aus dem Weg gehen.

An einem dieser öden Tage, als sie draußen einen Eimer in den Rinnstein leert, meint sie diesen Maler herumlungern zu sehen. Den mit der Narbe. »Ich sehe schon Gespenster. Ich muss raus«, sagt sie zu sich selbst. Sie bittet den Vater, ins Ospidale degli Innocenti, ins Findelhaus, gehen zu dürfen.

»Wozu? Du hast hier zu arbeiten.« Sie schwindelt ihm vor, sie wolle dort beichten, der Beichtvater der Nonnen sei heute dort.

Er kneift die Augen zu schmalen Schlitzen, als könnte er so besser sehen und betrachtet sie misstrauisch. »Du redest dort doch nicht etwa schlecht über mich?«

Aha, dass ich das tun könnte, hat ihn bisher in Schach gehalten. »Gibt es hier denn etwas Schlechtes?«

Er weiß nicht, was er davon halten soll und sagt nur: »Hau schon ab. Aber am frühen Abend bist du zurück. Ich brauche dich hier, wenn die Leute kommen.«

Die Leute. Immer geht es ihm um die Leute.

Sie zieht das hübschere ihrer beiden Kleider an, das für den Kirchgang, nur dazu darf sie es anziehen, »damit die Leute nicht reden.« Es spannt allmählich über den Brüsten.

Ob Sandro Botticelli mich wohl beachtet hätte, wenn ich es neulich getragen hätte? Aber mir rennt ja nur dieser armselige Tommaso hinterher.

Vor dreißig Jahren wurde im Ospedale das erste Findelkind aufgenommen. Vor fünfzehn Jahren hat mitten in der Nacht eine Unbekannte sie, Raffaela, durch die Ruota, die kleine Drehtüre an der linken Wand der Loggia, geschoben, während ein Mann gelauscht und aufgepasst hat, ob jemand kommt. Und sicher hat die Frau dabei geweint. Dann sind sie schnell in der dunklen Gasse verschwunden, nicht ohne sich noch einmal umzuschauen. So denkt sie es sich zumindest.

Zehn Jahre lebte sie dort, bis vor fünf Jahren der Mann kam, den sie seither Vater nennen muss.

Einmal hatte sie der Oberin ihr Leid geklagt, einmal und nie wieder. Sie will nicht noch einmal hören, dass Undankbarkeit eine Sünde ist. Doch auch Margherita sagt immer nur: »Er war ein rechtschaffener Mensch, bis er Frau und Kind verlor. Raffaela, denke immer daran, du bist eine Gettata. Du musst Dankbarkeit und Demut lernen, das gefällt unserem Herrn.«

Und bei jedem Besuch beichtet sie, dass ihr das immer noch nicht gelungen ist. »Wenn er mich prügelt, hasse ich ihn. Wenn die Gäste mich in den Hintern kneifen, wenn er nachts in meine Kammer kommt und auf meine Brüste starrt und ich Angst habe, was soll ich tun? Margherita, was soll ich dann tun?«

Und immer hört sie nur: »Du solltest beten und ihm dankbar sein, dass er dich aufgenommen hat.« Keine dieser Nonnen war jemals in einer Kneipe. So viel steht fest.

Neulich hat sie den Vater gefragt, weshalb er nicht wieder eine Frau habe. Er hat gesagt: »Das Gemüse, die Hühner und der Wein, alles wird immer teurer. Und oben drauf noch die hohen Steuern. Es reicht ja kaum für die Hure.«

Bei ihrem letzten Besuch im Ospedale hatte sie Margherita gefragt: »Weißt du, wer meine Eltern sind?«

Margherita hatte kurz gezögert und dann den Kopf geschüttelt. »Du zögerst? Du bist eine Nonne. Du darfst nicht lügen.«

»Nur die Oberin kann es wissen. Doch eine Regel verpflichtet sie, die Namen derer, die ihre Kinder bei uns abgeben, nicht zu nennen. Und meistens weiß sie ihn auch gar nicht.«

Raffaela schluchzte: »Ach Margherita, ich habe Angst vor der Zukunft, Angst, ich muss für immer bei dem Alten bleiben.« Margherita hatte sie in die Arme genommen und ihr den Rücken getätschelt. Und sie hatte geschwiegen.

Auf dem Weg zurück in die Kneipe war ihr der schreckliche Gedanke gekommen, was, wenn nur seine Frau bei der Geburt gestorben wäre und das Kind nicht?

Was, wenn der Alte mein Vater ist?

Jetzt will sie wieder dorthin. In ihr verlorenes Zuhause, aus dem dieser dumpfe Patron sie vor fünf Jahren herausgerissen hat.

Sie packt ein Stück Brot ein, eine Wasserflasche und ihren Skizzenblock. Der Vater schnarcht noch und Giovanni ist in seiner Kammer mit sich selbst beschäftigt. Sie hört ihn heftig stöhnen. Sie macht »ooh, oooh, aaaah« im Vorbeigehen. Giovannis Stöhnen bricht jäh ab.

Als sie ins Freie tritt, schaut sie sich um, ob dieser Tommaso irgendwo herumlungert.

Das wird wieder ein schwüler Tag werden. Schon jetzt liegen üble Gerüche über dem Oltrarno. Früh am Morgen öffnen die ersten Handwerker, Flickschuster, Sattler und Schneider ihre Werkstätten. Aus einem Keller dringt säuerlicher Mostgeruch auf die Straße. Irgendwo in einem Hinterhof kräht ein Hahn. Zwei Frauen stehen zusammen, die eine hat eine Hand geballt, Zeigefinger und kleinen Finger streckt sie gegen die andere Frau. Sie erzählt wohl, wie sie heute Nacht ihrem Mann Hörner aufgesetzt hat. Plötzlich fängt die andere an zu weinen und rennt davon.

Die Bettler nehmen ihre Plätze ein, belagern Treppen und Brunnen und strecken den Passanten mit niedergeschlagenen Augen oder mit frechem Blick ihre Hände entgegen.

In der Ferne sieht sie den Turm des Palazzo della Signoria und die Domkuppel hoch über die Dächer ragen. Inzwischen hat sie den Arno überquert, der jetzt im Sommer nur ein Rinnsal ist. Hier häufen sich prächtige Paläste entlang der Straßen und um die Plätze.

Es gibt Buden, an denen man fertige Gerichte kaufen kann: gebratene Tauben, Wachteln und Gänse, auch Fische aus dem Arno, Rotaugen, Aale und Schleien. Doch das ist nur etwas für Leute, die Geld haben. Geld hat sie noch nie gehabt.

Nun überquert sie eilig den Domplatz, scheucht dabei einen Taubenschwarm auf, geht vorbei am Baptisterium, aus dem ein dickbäuchiger Mönch blinzelnd ins Freie tritt. Lachend ruft er ihr zu: »Ciao, Bella.«

In der Via Ricasoli biegt sie rechts ab und schon liegt der Platz vor ihr, dessen eine Seite in voller Länge vom Findelhaus eingenommen wird. Das Gebäude ist eines der Wunderwerke Brunelleschis.

Am Brunnen schlägt ein kleines Mädchen mit großem Vergnügen die Hände auf die Wasserfläche. Ein Junge hält eine zappelnde Katze am Nackenfell und versucht sie zu ertränken. Ein alter Mann, dessen Kopf auf dem dünnen Hals wackelt, schaut lachend zu.

Sie steigt die wenigen Stufen zur Vorhalle hinauf, vorbei an der Ruota, der kleinen Drehtür in der Mauer, durch die ihre Mutter vor fünfzehn Jahren einen kleinen Korb geschoben hat mit einem neugeborenen Mädchen, das in eine Decke gewickelt war.

Sie geht durch den Mitteleingang und als sei es verabredet, kommt ihr die Oberin entgegen, eine ältere, grauhaarige Frau mit grauen Augen und schmalen Lippen. Sie geht gebückt und stützt sich mit dem rechten Arm auf einen Stock. Wie immer hat sie ihre graue Ordenstracht an. Alles an ihr ist grau. Ein silbernes Kreuz baumelt auf ihrer Brust. In der linken Hand hält sie ein Gebetbuch mit silbernem Schloss. Ein Riemchen an ihrer Sandale ist gerissen.

Zusammen gehen sie in den Kreuzgang. Neben einem dort aufgestellten alten Marmor-Sarkophag bleibt die Oberin stehen, hustet und zieht pfeifend Luft in ihre Lungen. Dabei fällt das Gebetbuch zu Boden. Raffaela hebt es auf und gibt es ihr. Zum ersten Mal bemerkt sie einen säuerlichen Geruch.

Dieses Mal will sie nicht wieder über ihr Los klagen, sie will nicht wieder hören, was alles sie noch lernen muss. Stattdessen zeigt sie ihr die Skizze, die sie von Sandro Botticelli gezeichnet hat. Die Oberin sagt: »Du weißt, was ich davon halte. Kunst ist etwas für Männer. Du hast andere Aufgaben zu erfüllen.« Raffaela spürt einen Stich im Herzen. Dann erzählt sie – und während sie es erzählt, bereut sie es schon – dass sie Botticelli begegnet ist in Santa Maria Novella.

»Botticelli sollte mehr Bilder mit biblischen Inhalten malen«, sagt die Oberin streng. »Er soll soeben ein Bild, eine Darstellung des Frühlings, fertig gestellt haben ...« Raffaela, aufgeregt, fällt ihr ins Wort: »Wo kann man es sehen?«

»Ein Bild mit nahezu nackten Frauen. Ist das etwa Gott gefällig? Wenigstens will er es nicht verkaufen. Sonst würde es am Ende noch in einer Kirche hängen. Heut zu Tag ist ja alles möglich. Moral und Sitten verfallen. Ich verstehe nicht, weshalb der edle, gottesfürchtige Lorenzo de’ Medici, ohne dessen Unterstützung wir hier schließen könnten, ihn fördert.«

Was Botticelli über die Medici gesagt hatte, behält Raffaela für sich.

»Du solltest dir in der Brancacci-Kapelle von Santa Maria del Carmine die Fresken von Masaccio ansehen. Besonders >Die Vertreibung aus dem Paradies.< Aus den schmerzerfüllten Gesichtern von Adam und Eva kannst du lernen, wohin es führt, wenn man gegen Gottes Willen handelt.«

Raffaela hört nicht mehr zu, sie hört nicht mehr die üblichen Ermahnungen.

»Was ist heute mit dir?«, fragt die Oberin. »Du bist anders als sonst, stiller. Sonst bist du immer zu lebhaft und geschwätzig.«

Raffaela hat das Gefühl, dass sie hier fremd ist. Auch das sagt sie nicht, sondern: »Ich muss jetzt gehen, ich muss Vater helfen bei der Arbeit. Sonst bekomme ich wieder Prügel.«

Die Oberin überhört es. Sie schlägt ihr Gebetbuch auf.

Raffaela ist entlassen.

Margherita hat sich nicht blicken lassen. Das gibt ihr das Gefühl, umsonst gekommen zu sein. Sie geht Richtung Ausgang, da kommt sie ihr entgegen. Sie drückt ihr ein Buch in die Hand und sagt: »Du und die Malerei. Du bist ja doch nicht davon abzubringen. Ich habe es für dich abschreiben lassen. Du kannst es behalten.«

Raffaela kniet vor ihr nieder und küsst ihr die Hand zum Abschied und diese Geste kommt aus ihrem Herzen. »Wie gut, dass ich hier lesen gelernt habe. – Hoffentlich bekommst du jetzt deshalb keinen Ärger.«

Margherita gibt ihr zum Abschied einen Kuss auf die Backe und sagt: »Lass das meine Sorge sein.«

Draußen setzt sie sich auf die Steintreppe und schaut zurück, als könnte die Oberin sie dabei ertappen, dann schlägt sie das Buch auf. ‚Il Libro dell' arte o trattato della pintura.' Andrea Cennini, ein Florentiner Maler, hat es geschrieben. Raffaela weiß, wie sorgfältig die Künstler ihre Geheimnisse hüten, dass Lehrlinge jahrelang in den Ateliers ihrer Meister wohnen, wo sie Pigmente zerreiben müssen und Leinwände grundieren, und dass ihnen vielleicht nach vielen Jahren gestattet wird, Hintergründe und Nebenfiguren zu malen. Dieses Buch ist eine Fundgrube der Geheimnisse. Hier steht geschrieben, wie man Farben herstellt, wie man mit Ziegenpergament, das man so lange schabt, bis es durchscheinend wird, eine Meisterzeichnung kopieren kann. Cennini schreibt, wie er als Junge von seinem Vater an den Fuß eines Hügels im Val d' Elsa bei Siena mitgenommen wurde, wo sein Vater mit einem Spaten am Abhang kratzte und Schichten verschiedenster Farben zum Vorschein kamen: Ocker, heller Ocker, schwarz, sogar blau und weiß, woraus sein Vater Farben herstellte. »Ciao Raffaela!« Sie schreckt hoch aus den Geheimnissen der Malerei und sieht über sich Tommaso, die Narbe. Was für ein Zufall. Was will der denn hier? Und plötzlich ist ihr klar, das ist kein Zufall. Jetzt steht er dicht neben ihr und schaut auf sie herab. Seine Füße in den Sandalen sind schmutzig. Der Zehennagel der einen großen Zehe ist blauschwarz. Er riecht nach Farben und Schweiß.

Raffaela sagt: »Du stinkst« und sie rückt ein Stück von ihm weg. Woher kennt der Kerl meinen Namen? Als könne er ihre Gedanken lesen, sagt er grinsend: »Ich habe Giovanni gefragt, wie du heißt. Für wenig Geld hat er mir viel über dich erzählt.« Wie blöd Giovanni doch ist, denkt sie und sagt: »Hau ab, du bist unerträglich.«

»Mich wirst du nicht mehr los.« Plötzlich würgt es sie im Hals, ein bitter-säuerlicher Geschmack im Mund, da bricht es auch schon aus ihr heraus, sie kotzt ihm auf die Füße. Schnell steht sie auf. Sie will nur noch weg hier.

In einiger Entfernung spült sie den bitteren Geschmack mit einem Schluck aus ihrer Wasserflasche hinunter.

Am Ende der Piazza sieht sie sich um. Tommaso steht immer noch dort und schaut blöde auf seine Füße.

Als sie nach Hause kommt, sitzt Giovanni auf den ausgetretenen Stufen vor der Türe und blinzelt in die Abendsonne. »Der Alte ist bei seiner Hure«, sagt er, wie als Begründung für sein Nichtstun, und spuckt einen Olivenkern aus. Genau vor ihre Füße. Schweigend lässt sie ihn links liegen und steigt hinauf in ihre Kammer. Sie versteckt das Buch und ihren Skizzenblock unter dem Strohlager und legt sich hin. Tommaso geht ihr nicht aus dem Sinn. Er macht ihr Angst. Sie überlegt, ob sie dem Patrone davon erzählen soll. Dann bekommt Tommaso eine Tracht Prügel. Vielleicht lässt er sie dann in Ruhe.

Geweckt wird sie durch das Gebrüll des Vaters und das Geheul Giovannis. »Zum letzten Mal, woher hast du den Viertel-Fiorino?«, schreit der Alte. Raffaela hört ein Klatschen und das Gewimmer Giovannis. »Du hast die Münze mir gestohlen.«

Sie rennt die Treppe hinunter. Giovanni liegt zusammengekrümmt am Boden, den Kopf zwischen den Armen. Der Alte steht neben ihm und tritt ihn in die Rippen.

»Ich weiß, woher er das Geld hat.« Der Alte hört auf zu prügeln. Giovanni lächelt ihr schmerzverzerrt-dankbar zu und versucht auf die Füße zu kommen.

Sie erzählt nun von der Begegnung mit Tommaso. »Giovanni hat das Geld wohl dafür erhalten, dass er ihm meinen Namen genannt hat.« Giovanni stöhnt: »Ja, so ist es.«

Der Alte schreit wieder: »Willst du für Geld etwa meine Raffaela verkuppeln, noch dazu an einen Nichtsnutz von Maler, du mieses Schwein«, und er prügelt ihn erneut. Raffaela geht dazwischen, da hört der Alte endlich auf.

»Das wollte ich wirklich nicht«, sagt sie zu Giovanni, dessen rechtes Auge zugeschwollen ist. Er schleppt sich wimmernd die Treppe hoch und verschwindet in seiner Kammer.

»Wenn ich dich mit diesem Farbenschmierer erwische«, sagt der Vater. »He, was lachst du?«

»Ich habe ihm heute Mittag auf die Schuhe gekotzt.«

Er weiß wieder mal nicht, was er davon halten soll und verschwindet in der Latrine. Seine Fürze übertönen Giovannis Gewimmer.

Grüne Farbe könne man mittels Weinessig leuchtender machen, liest sie. Und »dass die Hand des Künstlers durch eine gewisse Sache zitternder sein wird als ein Blatt im Wind, und dieses ist zu häufiger Umgang mit Weibern.«

Wie immer nach einer deftigen Aufregung wird sie albern, kichert vor sich hin und sagt zu sich selbst: »Wie ist es wohl bei Sandro? Auf seinen Bildern ist kein Zittern, also hat er keinen zu häufigen Umgang mit Weibern. Und das ist gut so. Raffaela, das reicht jetzt. Nimm dich mal zusammen.«

Dieses Buch ist eine Fundgrube bisher verschlossener Geheimnisse. Sie liest, Nuss- oder Mohnöl sei ein weitaus besseres Bindemittel als Tempera. Und Ultramarinblau sei so teuer wie Gold, weil es aus einem Mineral, Lapislazuli, hergestellt werde, das nur in Asien vorkomme. Und weil es so teuer ist, wird es nur für das Gewand der Jungfrau Maria verwendet.

So, jetzt weiß ich schon eine Menge mehr über Farben und Malerei, aber was nützt mir das alles, hier in der Kneipe? Das sollte ich beim nächsten Besuch Margherita fragen. Oder wäre ich damit undankbar?

Zwei Tage später ist das Buch weg. Es ist nicht mehr unter ihrem Strohlager. Sie sucht die Kammer ab, schaut in die wurmstichige Truhe in der Ecke. Es ist weg. Unauffindbar und endgültig. Ihr kommen die Tränen. Da sie es, wenn es nach dem Patrone geht, gar nicht besitzen darf, kann sie ihn auch nicht fragen. Sie ist sicher, dass er es, wer sonst, gefunden und vernichtet hat, obwohl er gar nicht wissen kann, was darin geschrieben steht, denn er kann nicht lesen. Außer Gebetbücher und Bibel hält er alles Geschriebene für Teufelszeug. Auch wenn er noch nie eine Kirche von innen gesehen hat. Und Margherita? Sie würde ihr nie mehr etwas schenken, wenn sie es erführe.

Der Skizzenblock ist auch weg. Vielleicht hat der Alte ja die Skizze gesehen, die ich von seinem Gesicht gemacht habe. Hoffentlich nicht.

Sie zittert plötzlich am ganzen Leib und beschließt, sich ein, zwei Tage ins Bett zu legen.

Irgendwann tappt der Patron herein, um zu sehen, wo sie bleibt. Der Lehmboden der Kneipe muss geschrubbt werden.

Sie behauptet, ihr sei schlecht. Er schaut sie misstrauisch an: »Du bist doch nicht etwa schwanger? Dann bringen wir den Balg ins Ospedale.« Vor sich hin brummend geht er die Treppe wieder hinunter.

Am nächsten Morgen kommt Giovanni und versucht, ihr mit seinem rechten Auge, das inzwischen die Farbe eines Veilchens angenommen hat, zuzuzwinkern. Sie schließt die Augen. Giovanni soll nicht sehen, dass sie weint. Da setzt der Kerl sich auf ihr Bett. Sie zieht die Decke enger um sich. Mit immer noch geschlossenen Augen sagt sie matt, und sie erschrickt darüber, wie erschöpft sie ist: »Gleich schreie ich. Dann kriegst du wieder Prügel.«

Vor ihrem Gesicht ist ein Luftzug. Etwas raschelt. Giovanni kichert: »Mach doch die Augen auf.«

Sie traut ihren Augen nicht: Er wedelt mit dem Buch. Ihren Skizzenblock hat er auch. Sie nimmt seinen Kopf zwischen ihre Hände, zieht ihn zu sich herunter und küsst ihn auf die immer noch geschwollene Backe. »Autsch«, sagt er und küsst sie schnell auf den Mund.

Dann erzählt er, wie jeden Abend hat ihn der Alte mit dem Abfalleimer an den Arno geschickt, um den Müll des Tages in den Fluss zu werfen. Und wie jeden Abend hat er den Eimer auf Verwertbares untersucht. »Ein Buch«, sagt er, »kann in diesem Haus nur dir gehören, dachte ich mir und hoffte auf einen Kuss von dir.« Er legt ihr seine Hand auf den Bauch und beginnt sie zu streicheln.

»Den Kuss hast du dir ja genommen«, sagt Raffaela. »Und jetzt schließe die Türe von außen.« Giovanni zögert. »Na, wird's bald?« Jetzt endlich geht er.

Das Buch hat ein paar Flecken, es riecht auch nach Fisch, aber Hauptsache, es ist wieder da. Sie schlägt es auf und beginnt zu lesen und sie liest, bis der Alte sie zur Arbeit ruft.

Tage später, als sie am Morgen aufwacht, sieht sie Eisblumen an der Fensterscheibe. Es ist vier Wochen vor Weihnachten. Der Himmel ist klar und blau.

»Mir ist so kalt«, stöhnt Raffaela, als der Alte nach ihr schaut. Sie liegt in ihren beiden Kleidern auf dem Strohsack unter der dünnen Decke und zittert am ganzen Körper.

Mit einer schnellen Bewegung reißt er die Decke weg. »Du willst doch nur faulenzen.«

»Sono in pezzi, ich bin kaputt. Und ich habe Kopfweh.«

»Du ziehst sofort das Sonntagskleid aus und gehst an deine Arbeit«, sagt er und reißt sie am Arm hoch. »Oder muss ich dich runterprügeln?«

In der Küche bricht sie zusammen. »Das erzähle ich der Oberin im Ospedale «

Da befiehlt er Giovanni, sie wieder hochzutragen.

Giovanni legt ihr seine Hand auf die Stirn. »Du hast Fieber.« Er geht und kommt bald zurück mit seiner Decke und einem Becher heißen Kräutertee.

Am Abend schaut er wieder nach ihr, da schüttelt sie ein Husten. Und in ihrer Brust rasselt etwas Feindseliges. Ihr Gesicht ist bis zur Nasenspitze weiß wie Kalk.

»Heilige Mutter Gottes, was soll ich denn tun?«, stöhnt er hilflos. »Du brauchst einen Arzt.«

Doch davon will der Alte nichts wissen. »Die Quacksalber ziehen dir nur das Geld aus der Tasche. Halt! Wo willst du hin, du Bastard?« Giovanni hört ihn nicht mehr. Er ist schon auf der Gasse und rennt zur Via Sant' Agostino, wo Doktor Romano wohnt.

Doktor Romano ist ein großer, schlanker, vielleicht vierzigjähriger Mann, der nach Lavendelseife riecht. Er ist einer der Ärzte, die von der Stadt bezahlt werden, damit sie arme Leute behandeln.

Auf dem Weg zur Kneipe erzählt ihm Giovanni, dass Raffaela eine Gettata ist aus dem Ospedale degli Innocenti.

»So, so. Und die frische Narbe unter dem Auge, woher hast du die?«

»Der Alte hat mich verprügelt. Da bin ich gegen die Tischkante gefallen.« Bis zur Kneipe reden sie nicht mehr.

Beim Eintreten in die Gaststube rümpft der Arzt die Nase. Der Alte schnauzt ihn an: »Für deine Heilkunst bekommst du nur Gotteslohn. Geld habe ich keines.«

Der Arzt lässt die Türe weit offen und sagt ganz ruhig: »Hier muss frische Luft rein. Wo ist die Kranke?« Der Alte deutet auf die Treppe.

Der Doktor fühlt Raffaela den Puls. Er hat schmale Hände und unter seinen Fingernägeln ist kein Dreck. Er legt ihr das Ohr auf die Brust, dreht sie mit Giovannis Hilfe auf den Bauch und horcht den Rücken ab. Raffaela stöhnt leise. »Sie hat eine Entzündung der Lunge. Ein Tag später, und es wäre aus mit ihr«, sagt er. »Ich werde mit deinem Patrone reden. Sie braucht Hühnerbrühe zur Stärkung. Und ich schicke einen Gehilfen, der bringt dir einen Beutel mit getrocknetem Bockshornklee. Daraus kochst du einen Sud. Den musst du ihr so oft wie möglich einflößen. Du bekommst auch eine Salbe, damit reibst du ihr morgens und abends die Brust ein. Einreiben, sage ich. Nichts sonst. Hast du mich verstanden?« Giovanni wird rot im Gesicht und nickt so verlegen, als sei er bei etwas Unanständigem erwischt worden.

Der Arzt grinst und sagt: »Deinen Viertel-Fiorino kannst du behalten. Wo hast du den eigentlich her? Doch kaum von dem Alten?« Giovanni läuft schon wieder rot an. Der Arzt klopft ihm auf die Schulter. »Du bist ein guter Bursche. Wenn du nicht mehr weiterweißt, ich brauche immer mal einen tüchtigen Gehilfen.«

»Raffaela sollte weg hier. Sie will Malerin werden.«

»Malerin, oho. Passe gut auf sie auf. So, ich muss los. Morgen schaue ich wieder nach ihr. Ciao, Giovanni.«

Giovanni geht, so oft ihn der Alte lässt, zu Raffaela und reibt ihr Brust und Rücken mit der stark riechenden Salbe ein.

Irgendwann lächelt sie ihn an und bedankt sich. Tage später kann sie aufstehen. Von allem was war, weiß sie nichts.

Nach zwei Wochen ist Raffaela wiederhergestellt. Im Haus geht alles seinen gewohnten Gang: sie muss wieder Gäste bedienen und putzen. Ungewöhnlich ist nur, dass der Patrone sie nicht mehr verprügelt, und dass er ihr zum Frühstück Oliven und Käse spendiert. Sie darf sogar das Buch behalten und muss es nicht mehr verstecken. Doch traut sie dem Frieden nicht; ihr ist es, als sei es die Ruhe vor dem Sturm.

Eine Woche vor dem Fest, an dem die Geburt des Herrn gefeiert wird, sind Dächer und Straßen von Florenz weiß. Endlos rieselt Schnee vom grauen Himmel. Schnee hat Raffaela noch nie erlebt.

Der Himmel ist tagelang geschlossen grau. Die Sicht ist begrenzt und trübe, die Geräusche klingen gedämpft und unwirklich. An den zu kurzen Tagen wird es nie richtig hell. Nur der Vater ist zufrieden, denn seine Kneipe ist zum Bersten voll wie selten zuvor und es wird sehr viel Wein getrunken, bis er fürchtet, sein Vorrat gehe zu Ende. Denn neuer Wein ist nicht zu bekommen, die Straßen außerhalb von Florenz sind nicht mehr passierbar. So bleibt ihm nichts Anderes übrig, als den Wein mit Wasser zu strecken, so lange, bis die Gäste ihn zu beschimpfen beginnen oder wegbleiben.

Dann ist der Arno zugefroren. Ein Gast verkündet in der Kneipe, »zuletzt hat es das im Winter 1461 gegeben. Ich weiß es noch genau, denn damals ist meine Frau gestorben.«

Die Menschen rücken eng zusammen und begraben ihren Streit bis auf Weiteres.

Unaufhörlich schneit es weiter. Irgendeinen Grund muss es für dieses Unheil doch geben, den man nur finden müsste, um alles wieder ins rechte Lot zu bringen.

Die Geistlichen predigen gegen den Aberglauben und das Böse in der Welt und in den Menschen an. Sie fordern zur Reue, Buße und Umkehr auf und die Spenden fließen reichlicher in die Opferstöcke als ehedem.

Auf dem Heimweg vom Gottesdienst oder danach in den Tavernen stellen die verstörten Florentiner allerlei finstere Überlegungen an: »Es ist eine Warnung des Himmels vor der zunehmenden Sittenlosigkeit.«

Andere schimpfen auf die Reichen: »Sie leben in Saus und Braus, sie werfen mit Geld um sich, täglich feiern sie Orgien. Sie bereichern sich auf Kosten der Bürger, auf unsere Kosten.«

»So ist es. Man sollte dem ein Ende machen. Man sollte sie alle aufknüpfen.«

Ein junger Mann, ein Tuchhändler, sagt: »Und der Papst? Ich habe gehört, er verkauft Ämter, das Geld steckt er ein und bezahlt damit seine Kurtisanen, mit denen er Unzucht treibt. Nur deshalb ist es so schlimm gekommen.«

Diese Stimmung erreicht ihren Höhepunkt, als ein Dominikanermönch als Bußprediger durch die Stadt zieht, der gegen die Kirche wettert, gegen den Ablasshandel, die Völlerei der Bischöfe und Kardinäle.

Als er auch noch predigt, »dieser schlimme Winter ist ein Zeichen Gottes gegen die Verschwendungssucht der Medici und anderer«, wird er von der Guardia, der Polizei, festgenommen.

Dass die Zuhörer die Guardia beschimpfen und rufen, »er hat doch recht«, hilft ihm nichts. Er wird in das Gefängnis Le Stinche geworfen.

Als die Glocken der hundert Kirchen von Florenz zum Fest Christi Geburt läuten, ist er erfroren.

Florenz, 1475 Meister Filippino Lippi

Ein paar Tage später ist der ganze Spuck vorbei. Der Schnee ist weggeschmolzen. Die Sonne scheint, der Himmel ist klar und blau. Nur fegt der Tramontano noch kalt von den Bergen herab durch die Straßen von Florenz.

Der Alte ist immer noch friedlich und hat ihr erlaubt ins Ospedale zu gehen.

Sie erinnert sich gerne an die ruhige, sanfte Margherita, die ihr Lesen, Schreiben und Rechnen beibrachte und ihr zur Belohnung jedes Mal ein kleines Stück Marzipan schenkte. Als Leonora vom Marzipan erfahren hatte, wollte sie auch Schreiben und Lesen lernen.

Schon davor, als sie etwa fünf Jahre alt war, hatte sie Schreibversuche gemacht, indem sie mit einem Stift in ein Gesangbuch gekritzelt hatte. Dafür hatte ihr die Oberin den nackten Hintern versohlt.

Als sie noch sehr klein war, wurde sie von einer Nonne oft durchgekitzelt, und erst wenn sie vor Lachen keine Luft mehr bekam, war das schöne Spiel zu Ende.

Es gab auch üble Kinder dort. Einmal hatte ihr ein Junge nachts in ihre Schuhe gekackt. Sie hatte es erst bemerkt, als sie morgens hineingeschlüpft war. Es hatte gestunken. Und als sie aus Ekel auch noch ihr Kleid vollgekotzt hatte, schimpfte die Oberin sie.

Da hatte sie zum ersten Mal gefühlt, dass die Oberin sie nicht leiden konnte. Zu den anderen Kindern, sogar zur frechen Leonora, war sie netter. Was war mit ihr? Was hatte sie an sich, dass die Oberin so zu ihr war? Hatte es mit ihrer Mutter zu tun?

Schrecklich war es auch gewesen, als sie einem anderen Kind ihre Holzpuppe nicht geben wollte, die eine Nonne ihr geschnitzt hatte. Die Oberin sagte: »Ich meine es nur gut mit dir. Du sollst teilen lernen.« Sie musste die ganze Nacht in einer dunklen Zelle verbringen, in der außer einem Kreuz an der Wand und einem Nachttopf nichts war. Durch ein kleines Fenster fiel blasses Licht herein, das irgendwann verlosch.

Leonora, ihre Freundin, hatte ihr noch schnell ein Stück Brot zugesteckt.

Sie hatte die ganze Nacht gegen ihre Angst angesungen und ungeduldig auf die Morgendämmerung gewartet. Aber erst als es bereits eine Stunde hell war, kam Margherita und ließ sie raus. Dann musste sie als Erstes den Nachttopf auswaschen. Genau so, wie jetzt in der Taverne den des Alten.

Lange danach noch fürchtete sie sich im Dunkeln.

Was wohl aus Leonora geworden ist? Sie überlegt, während sie durch die Loggia geht, ob sie die Oberin danach fragen soll. Die Türe zum Raum der Oberin ist angelehnt. Raffaela hört Stimmen und späht durch den Türspalt.

Eine junge Frau sagt, sie möchte den Knaben, den sie durch die Klappe geschoben hat, wiederhaben.

»Wann war das denn genau?«, fragt die Oberin und zählt Goldmünzen in einen Beutel. Die Frau nennt ohne zu zögern ein Datum vor einem Jahr.

Es ist eine vornehm gekleidete Dame. Sie trägt einen weißen, durchsichtigen Schleier auf dem Kopf, darunter sieht man einen Goldreif, von dem auf die Stirn eine Perle baumelt. Um den Hals hat sie eine Kette aus goldgefassten, grünen Edelsteinen.

Seltsam. Weshalb gibt eine so vornehme Frau ihr Neugeborenes ab?

Die Oberin schaut in einem Buch nach, blättert und fährt mit dem Finger Zahlenreihen rauf und runter, dabei bewegen sich ihre Lippen. Jetzt schaut sie auf und zuckt die Schultern. Die Dame legt einen Fiorino auf den Tisch und noch einen. Und noch einen. »Mehr habe ich nicht«, flüstert sie. Es klingt, als sei sie verlegen.

»Gottes Lohn«, sagt die Oberin. Und dann: »Ah, da haben wir ihn ja.« Jetzt strahlt die Frau.

In Raffaelas Kopf ist kein einziger Gedanke, als sie zurückgeht um zu warten. Sie weiß nur, sie muss die Oberin fragen. Da kommt sie auch schon auf sie zu. Raffaelas Herz klopft bis zum Hals.

»Du warst lange nicht hier«, sagt die Oberin und es klingt tadelnd.

»Ich war todkrank, eine Entzündung der Lunge.«

Was sie eigentlich sagen will, bringt sie nicht über die Lippen. Die Oberin hört ohnehin nicht zu. Vielleicht zählt sie ja in Gedanken immer noch die Goldmünzen. Jetzt steht sie auf und kramt in einer Truhe. Sie zieht ein Gebetbuch heraus und schenkt es Raffaela.

Als die Oberin sich von ihr verabschieden will, fasst sie sich ein Herz und fragt, ob sie in diesem Buch nicht auch zu finden wäre mit einem Datum oder dem Namen der Mutter. Im selben Augenblick merkt sie, das würde ihr nicht weiterhelfen. Sie hat umsonst verraten, dass sie gelauscht hat. Die Oberin, und Raffaela ist es, als denke sie immer noch an etwas anderes, sagt: »Deine Mutter ist eine Dame aus der Familie der ...« Jetzt stutzt sie. Und wie immer, wenn sie zornig ist, erscheint über ihrer gebogenen Nase eine tiefe Furche und die Lippen werden noch schmaler. »Du hast gelauscht. Ich bin sehr enttäuscht von dir.« Sie hustet und tupft mit einem Tüchlein die Lippen. Raffaela sieht hellrotes Blut auf dem weißen Stoff. »Ist das dein Dank für unsere jahrelange Mühe mit dir? Ich will dich hier nicht mehr sehen. Nie mehr. Gehe jetzt«, sagt sie mit schneidender Stimme. »Halt! Das Gebetbuch bleibt da.«

Raffaela hat das Gefühl, als gehe ein tiefer Riss durch ihre kleine Welt.

Wie betäubt läuft sie zurück. Die Oberin weiß, wer ihre Mutter ist. Doch das wird sie nie erfahren. Sie hat alles falsch gemacht. Am schlimmsten ist, dass sie Margherita nie mehr besuchen kann.

Als sie an der Kirche Santo Spirito vorbeikommt, zögert sie kurz, dann geht sie weiter. Unterwegs bemerkt sie, dass ihre monatliche Blutung eingesetzt hat. »Auch das noch«, stöhnt sie. »Wäre ich doch nur ein Mann. Männer haben es leichter.«

Sie erinnert sich, wie sie vor einem Jahr zur Oberin ins Ospedale ging und ausgerechnet dort die Blutung zum ersten Mal einsetzte. Sie war furchtbar erschrocken, sie hatte gedacht, sie sei krank. Die Oberin hatte ihre Verstörung bemerkt und streng gesagt: »Raffaela, jetzt bist du eine Frau. Du solltest dich nicht darauf einlassen, wenn Männer etwas von dir wollen.«

Was die Oberin meinte, wusste sie, denn in der Kneipe redeten die Männer oft darüber: »Gestern habe ich es meiner Frau wieder richtig besorgt.« Dabei griffen sie sich zwischen die Schenkel und lachten.

Auf ihrem Heimweg bleibt sie immer wieder vor Geschäften stehen und schaut die Auslagen an: Kleider, Schuhe, Ledergeschäfte mit Taschen und Gürteln, Juweliere mit Schmuck.

»Mach', dass du nach Hause kommst«, redet ein Händler sie an. »Hier wird nichts gestohlen. Oder soll ich die Guardia rufen?«

»Ich bin keine Diebin«, sagt Raffaela, den Tränen nahe und trollt sich.

Es wird schon dunkel, als sie zur Kneipe kommt. Ein paar barfüßige, schmutzige Kinder werfen johlend Steine gegen den Fensterladen.

Pater Patrone schaut aus der Türe und schreit: »O Herode, dove sei tu hora?« O Herodes, wo bist du jetzt?

Sie will allein sein. Ihr ist egal, was passiert. Sie geht hinauf in ihre Kammer und legt sich hin. Nebenan hört sie Giovanni schluchzen. Auch das ist ihr egal, sie hat keine Kraft mehr.

Irgendwann geht sie doch hinüber zu ihm. Blut läuft ihm aus der Nase. Er sieht überhaupt schrecklich aus.

»Was ist passiert?« Er stöhnt: »Er hat den zweiten Viertel-Fiorino gefunden, den ich noch hatte. Hätte ihn Doktor Romano doch nur genommen. Ich haue heute Nacht ab, wenn er seinen Rausch ausschläft. Du solltest mitkommen.«

»Alles ist so sinnlos«, sagt Raffaela und geht in ihre Kammer hinüber.

Wie war das mit dem Viertel-Fiorino und Doktor Romano? Plötzlich versteht sie. Sie geht noch einmal zu Giovanni, doch der schläft schon.

Mitten in der Nacht schreckt sie aus dem Schlaf hoch. Erst weiß sie nicht, wo sie ist. Es riecht nach Olivenöl. Dann sieht sie den Patrone, ein Schatten nur im flackernden Licht der Öllampe, die er auf den Tisch gestellt hat. Er lässt eben schnaufend seine Hose herunter. Sein Schwanz steht steif. Sie springt hoch und will zur Türe. Er wirft sie auf den Strohsack und greift nach ihren Brüsten. Sie will Giovanni zu Hilfe rufen, doch er hält ihr mit der einen Hand den Mund zu und zerrt ihr mit der andern das Hemd hoch über die Hüften. Keuchend legt er sich auf sie und versucht, seine Knie zwischen ihre zusammengepressten Schenkel zu zwängen. Er stinkt nach Wein und Knoblauch.

»Du wirst den Nonnen nichts mehr erzählen. Ich weiß, bei denen bist du unten durch«, ächzt er. Raffaela beißt ihn in die Hand, er schlägt ihr ins Gesicht, sie schreit und zappelt. »Was sträubst du dich? Ich werde dich heiraten. Also mach mit.«

»Ich habe meine Blutung«, stöhnt sie. »Umso besser. So kannst du nicht schwanger werden.« Schon spürt sie seinen steifen Schwanz zwischen ihren geöffneten Schenkeln, er versucht mit der Hand nachzuhelfen, da fühlt sie plötzlich etwas Kaltes an ihrer Hand – der Nachttopf, der am Kopfende auf dem Boden steht. Sie bekommt ihn am Rand zu fassen und schlägt zu. Ein gellender Schrei. Pater Patrone rollt von ihr und plumpst auf den Boden. Als sie fast schon an der Türe ist, hört sie ihn hinter sich ächzen und an der Treppe packt er sie. Sie stößt ihn weg, er stolpert und mit einem letzten Schrei rumpelt er die Treppe hinunter. Dann ist Ruhe. Sie zieht schnell ihre beiden Kleider übereinander an und die Schuhe, steckt Buch und Skizzenblock in ihren Beutel und ihre Wasserflasche, die hätte sie beinahe vergessen, und will gehen. Da fällt ihr Giovanni ein. Sie schaut in seine Kammer. Das zerwühlte Bett ist leer. Die offene Truhe auch. Giovanni ist weg.

Sie geht vorsichtig hinunter und lauscht, da wäre sie fast über den Alten gestolpert, der seltsam verdreht am Fuß der Treppe liegt. Sie schließt die Türe auf und steht auf der Straße. Der Vollmond kommt hinter einer Wolke hervor. Raffaela rennt hinunter zum Arno und setzt sich unter die Ponte vecchio auf einen Stein. Es riecht nach totem Fisch. Sie fühlt etwas Feuchtes im Gesicht und wischt es ab. Es ist Blut, das Blut des Alten, den sie in die Hand gebissen hat. Sie wäscht die Hände im Flusswasser und fährt sich dann übers Gesicht.

Ein einbeiniger Bettler, der dort sitzt, ruft etwas. Sie schaut hin und sieht, wie er die Fica macht, indem er den Zeigefinger der rechten Hand zwischen dem Zeigefinger und dem Mittelfinger der linken Hand hin und her bewegt, eine Geste, die sie aus der Kneipe kennt.

Jetzt erst merkt sie, dass sie alle ihre Knochen schmerzen. Eine herumstreunende Katze kommt mit erhobenem Schwanz miauend auf sie zu und reibt den Rücken an ihrem Bein. Als Raffaela sie kraulen will, springt sie weg.

Was ist, wenn der Alte tot ist? Dann wird man sie einsperren. Oder gar aufhängen? Besser wäre es, gleich in den kalten Fluss zu springen. Sie ist verrückt vor Angst. Den Bettler lässt sie nicht aus den Augen.

Vielleicht ist der Alte ja gar nicht tot. Da fällt ihr siedend heiß ein, dass Giovanni den Abfalleimer in den Arno leeren muss, und da Giovanni geflohen ist, muss es der Alte jetzt selbst machen – wenn er noch lebt. Sie muss hier verschwinden. Und sie muss wissen, ob er noch lebt. Sie hat aber nicht die geringste Ahnung, wie sie es herausfinden könnte.

Als die Sonne über den Hügel steigt, auf dem San Miniato liegt, geht sie los. Vorsichtshalber macht sie einen Umweg, sie geht durch den Borgo Sant' Jacopo und füllt dort an einem Brunnen ihre Flasche. Vor einem Spiegel, den ein Händler eben neben der Türe seines Ladens aufgestellt hat, bleibt sie stehen und betrachtet sich. Im Gesicht hat sie einen Kratzer, der Ärmel des Kleides ist zerrissen und die Haare sind zerzaust. Schnell geht sie weiter, biegt ein in die Via Maggio und sieht plötzlich Doktor Romano in Richtung der Kneipe gehen. Vorsichtig folgt sie ihm und dann sieht sie, wie er mit der Faust gegen die Türe der Taverne hämmert. Ihr fällt ein gewaltiger Stein vom Herzen – der Alte ist's, der öffnet. Um eine Hand hat er einen Lappen gewickelt, sie sieht Blutflecken. Mit der andern stützt er sich auf einen Stock. Diesmal wird er den Doktor wohl oder übel bezahlen müssen.

Mit der Erleichterung spürt sie nun den Hunger in sich aufsteigen. Im Ospedale gab es am Morgen Brot und Oliven, am Sonntag sogar Käse und Salbeitee. Beim Alten immer nur Wasser und trockenes Brot. Jetzt gibt es gar nichts.

Sie ist ärmer als jeder Bettler. Das ist's, ich muss betteln, am besten vor einer Kirche. Zwar wird der Alte vorerst keine Ausflüge machen können, trotzdem, Santo Spirito liegt zu nah bei der Kneipe. Ein paar Straßen weiter ist Santa Maria del Carmine. Schon immer wollte ich dort in der Brancacci-Kapelle die berühmten Fresken Masaccios ansehen, von denen die Oberin erzählt hatte, doch war die Kapelle wegen Bauarbeiten dauernd geschlossen.

Die Häuser entlang der engen Straße lehnen sich aneinander, als würden sie sich gegenseitig stützen. Ihre vielen Fenster sind wie ständig offene Augen.

Auf einer Fensterbank stützt sich eine Frau auf ihre Arme. Hinter ihr steht ein Mann und bewegt sich heftig. Er schaut genau zu ihr herunter. Die Frau beginnt zu stöhnen. Im Hintergrund weint ein Kind. Schnell geht sie weiter und kommt bald auf den kleinen Platz vor der Kirche. Die niedrigen, kleinen, bunten Häuser umgeben die gewaltige Kirche wie ein Chor. Jenseits einer Mauer ragt grün die Krone eines Baumes. Die Stufen zum Eingang liegen noch im Schatten. Sie setzt sich neben das Portal auf ihr Buch und holt den Skizzenblock heraus. Ein Arbeiter, der auf dem Dach der Kapelle schadhafte Ziegeln austauscht, pfeift ihr zu und ruft etwas.

Mit dem Kohlestift schreibt sie auf ein Blatt: »Ich habe nichts zu essen.« Sie reißt das Blatt ab und legt es neben den offenen Beutel. Der Wind weht das Blatt weg. Sie läuft hinterher und dann legt sie einen Stein darauf.

Nun beginnt sie die Häuser der Piazza del Carmine zu zeichnen. Die vorderen Häuser größer, die weiter hinten immer kleiner und genau so macht sie es mit den Menschen. Doch sie ist nicht zufrieden. So zerreißt sie das Blatt. »Schade«, sagt eine sanfte Stimme. »Zeigst du mir die anderen Skizzen?« Sie schaut hoch. Neben ihr steht ein schon älterer Mönch in einer langen, braunen Kutte. »Geld habe ich keines«, sagt er. »Aber Brot und Käse kann ich dir geben.« Er betrachtet ihre Skizzen. Jetzt bleibt sein Blick auf einem Blatt hängen. Raffaela bemerkt, wie ihr Gesicht ganz heiß wird und vermutlich rot. »Das ist wohl Botticelli«, sagt er. »Du kannst etwas.«

Sie gehen erst durch eine Türe rechts von der Kirche, dann an der Kirche entlang. »Hier wartest du.«

Plötzlich fällt ihr ein, wo sie ihn schon einmal gesehen hat: Mit der Oberin im Garten des Ospedale degli Innocenti. Ihr Herz klopft vor Aufregung und sie überlegt, ob sie nicht schnellstens verschwinden sollte. Doch da kommt er schon wieder. Auf einem Holzbrett balanciert er ein Messer, Brot und Käse. Jetzt ist alles egal, denkt sie und sagt: »Ich bin eine Gettata.«

Er gibt ihr das Brett mit Brot und Käse und sieht sie sehr nachdenklich an. »Eine Gettata, so so.« Jetzt ist alles aus. Wenn er mich zu den Nonnen zurückbringt. Oder zu Pater Patrone.

»Vielleicht möchtest du mir etwas erzählen«, sagt er freundlich. Da beginnt sie zu weinen. Er tätschelt ihren Rücken und Raffaela erzählt den ganzen Schrecken ihres kurzen Lebens. Zum Schluss sagt sie: »Ich will nicht wieder in die Taverne. Bitte.«

»Was möchtest du denn?«

Schnell schluckt sie ein Stückchen Käse hinunter. »Ich will Künstlerin werden.«

»Dachte ich mir's doch«, sagt er und lächelt. »Vor uns liegt die Brancacci-Kapelle. Gehen wir hinein.«

»Vorsicht«, sagt der Mönch. Sie kann gerade noch einer Leiter ausweichen, die zwischen Farbeimern, Lappen, Kellen und anderem Zeug auf dem Steinboden liegt. In einer Ecke stehen Säcke voll Sand und Kalk. »Meister Lippis Gehilfe hat alles einfach fallen gelassen, als er gestern nach Hause ging. So, jetzt erklärst du mir, was du siehst.«