Ramons Lebenslüge - Werner Braun - E-Book

Ramons Lebenslüge E-Book

Werner Braun

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Beschreibung

Ramon, ein junger lebenslustiger Student, lernt die weltoffene recht sorglos lebende Studentin Hermine kennen. Sie verlieben sich und heiraten. Bald werden zwei Kinder geboren und ein jahrelanges, ungetrübtes Familienglück beginnt. Etwa sechs Jahre nach dem zweiten Kind kommt ein weiteres Kind, ein Mädchen, zur Welt. Ramon vergöttert und verwöhnt die Nachzüglerin, wo er nur kann. Hermine dagegen lässt in Erinnerung einst eigener Schwächen mehr Strenge walten, was zu Konflikten in ihrer Ehe führt. Das kleine Mädchen entdeckt bald seinen Vater als ideale Spielwiese, sobald dieser auf der Couch Frühabendsendungen im Fernsehen verfolgt. Anfänglich begrüßt Hermine dieses gute Verhältnis von Vater und der jüngsten Tochter. Doch als diese gegenseitige Anhänglichkeit während der Pubertät des Mädchens nicht nachlässt, erhebt sie energischen Einspruch. Ramon hat seit jeher eine gewisse Schwäche für hübsche anziehende Frauen und spürt dies auch seiner jungen attraktiven Tochter gegenüber. Er vertraut sich seinem besten Freund an, dessen Ratschlag er zunächst vehement ablehnt, sich dann aber doch überreden lässt, ihn zu befolgen.

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Gedanken zum Phänomen der Lebenslüge (aus Wikipedia, Stand 2022)

Eine Lebenslüge ist eine Selbsttäuschung,

auf der eine Person ihr Leben aufbaut.

Sie bezeichnet eine Unwahrheit, die jemand während seines Lebens oder einer zeitlich begrenzten Phase seines Lebens für Wahrheit hält. Dabei sind mehrere Möglichkeiten denkbar: Die Person kann völlig unbedarft mit einer Lebenslüge leben, wenn sie sie nicht als solche erkennt. Oder sie müsste oder könnte ihr auch bewusst sein – nur nimmt sie sie nicht zur Kenntnis respektive ignoriert sie und lebt stattdessen weiter in ihrer selbst gewählten Selbsttäuschung.

Herkunft: In den allgemeinen Gebrauch wurde der Begriff „Lebenslüge“ von dem Dramatiker Henrik Ibsen Ende des 19. Jahrhundertseingeführt. Er stellt sie als allgemein-menschlich dar, denn eshandle sich um einen, das Selbstgefühl sichernden und damitberuhigenden Strom des Lebens. Er wandelte ihn schließlich in denBegriff des „Lebensirrtums“ um.

„Die Lebenslüge“ ist ein deutscher Fernsehfilm von Peter Sämann aus dem Jahr 2009.

Man bekommt im Leben nichts geschenkt. Irgendwann kommt die Rechnung und man hat zu bezahlen.

W. B.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 1

Sonntagnachmittag. Herbstliche Sonnenstrahlen fanden trotz einiger Haufenwolken am Himmel ihren Weg aufs ganze Land, auf Straßen und Plätze der Stadt München, die Häuser und Gärten in den Vororten, fielen auch durch die Balkontüre im ersten Stock einer stadtnahen großzügigen Doppelhaushälfte in ein Jungmädchenzimmer, tauchten den Raum in mildes Licht und beleuchteten ein halbes Dutzend Kuscheltiere am Kopfteil einer Couch. Wohlig entspannt auf dem Bauch hingestreckt lag hier eine Fünfzehnjährige, das Handy in der Hand und mit über die Tasten huschenden Fingern vertieft in die unter Freundinnen und Freunden übliche kurzatmige Kommunikation – als anklopfend und zugleich die Tür öffnend ihr Vater im Türrahmen stand und einen knappen Schritt ins Zimmer machte.

Auch wenn es für ihn bisher selbstverständlich war, das Reich der Tochter unvermittelt zu betreten, ohne sich viel dabei zu denken, wirkte er dennoch unsicher. Denn seit Längerem schon reifte in ihm die Erkenntnis, dass „einfach reinplatzen“ ins Zimmer einer Fünfzehnjährigen vielleicht doch nicht mehr so opportun sei wie früher, weshalb er, noch recht ungewohnt, sich entschlossen hatte, anzuklopfen, um dann aber doch nicht förmlich zu warten, reingebeten zu werden. Andererseits wollte er ja nichts Weltbewegendes von seiner Tochter, halt nur kurz mit ihr reden; er hatte ein Anliegen und wartete geduldig, bis sie sich ihm zuwenden würde. Sie machte aber keine Anstalten dazu, sondern schien gerade in eine längere Message vertieft, um gleich daraufhin eine eigene Nachricht einzutippen …

Sein Blick schweifte durch den hellen freundlichen Raum mit seinen großen Postern von Bands und in wüsten Posen Gitarre spielenden Idolen an den freien Wänden über dem Bett, einem hellbraunen Schrank, in dessen offenen Fächern Spiele und Bücher lagen und dem aufgeräumt wirkenden Schreibtisch rechts des Fensters. Noch vor wenigen Jahren spielte hier ein kleines Mädchen unbeschwert in seinem Reich … Und heute? Was für eine wohlproportionierte Jungmädchengestalt räkelte sich da auf dem mit einer Tagesdecke sorgfältig abgedeckten Bett. Die dunkel-brünetten leicht gewellten langen Haare verdeckten sowohl ihr Gesicht als auch das Handy, das man nicht sah, aber wegen ihrer eifrigen Handbewegungen beim Tippen auf das kleine Gerät ahnen konnte. Ein dünnes Doppelkabel, sich zwischen ihren dichten Haaren verlierend, deutete auf Knopf-Kopfhörer in ihren Ohren hin. Ob sie ihn überhaupt hatte reinkommen hören?

In solchen kurzen „auszeitartigen“ Momenten wurde ihm bewusst, wie schnell das Mädchen in letzter Zeit herangewachsen war. Eigentümlich ambivalente Gefühle erwachten in ihm: Ohne Zweifel: Sie ist einerseits auf dem Weg, eine junge attraktive Frau zu werden, andererseits umgeben von einer ganzen Kohorte Plüschtiere sowie einem Teddy mit schmuddeliger Trägerhose, abgeliebt durch x-maliges aus- und wieder anziehen in langen Kinderjahren aber auch heute noch brandaktuell ihr Begleiter trotz mancher Teenager-Allüren. Seine Tochter! Seine wohlgeratene Tochter auf die er stolz sein konnte! Er verfolgte interessiert die Bewegungen ihrer flinken Finger über die kleine Bildschirmtastatur fliegend, inzwischen offener zu sehen.

Er räusperte sich vernehmlich …

Erst nach kurzen indifferenten Momenten wandte sie den Kopf. Anscheinend hatte sie sein Erscheinen doch mitbekommen trotz der Musik oder was auch immer aus den Kopfhörern klang. Sie sah den stattlichen Mann, ihren Vater, mit dem immer bisschen verwildert aussehendem Wuschlhaar unschlüssig dastehen. Als ob er nicht wisse, warum er hier sei, was natürlich nicht stimmte, denn selbstverständlich wusste er, was er wollte, nämlich nachfragen, was seine Tochter am Abend vermutlich vorhatte, weil ihm dieses Unterfangen ein wenig heikel vorkam. Schon vor paar Tagen hatte sie am Abendbrottisch beiläufig was angedeutet.

Reste von leichtem Bammel, in früheren Generationen Respekt genannt, hatte sie schon noch vor ihrem Vater, obwohl sie ihn sehr mochte, denn er hatte immer ein offenes Ohr für sie und auch ihre Wünsche. Eine sanfte Röte schoss ihr ins Gesicht, was sie spürte und ihr höchst unangenehm war: „Rot werden bei meinem Vater? Was soll das, was reagiert da für ein Quatschverhalten in mir“, ärgerte sie sich, überlegte aber zugleich, was ihn veranlasst haben könnte, zu ihr rauf zu kommen, was er von ihr denn wollen mochte … Vermutlich wegen heute Abend, ahnte sie, wegen des Treffens in der Studentenkneipe in der Hallerstraße, nicht gerade mit dem allerbesten Ruf, ja, wusste sie auch, aber was solls. Ist die einzige hier im Viertel, wo sich junge Leute gerne treffen. Dort hatte sie sich mit ihren Freundinnen verabredet und dorthin gehen zu dürfen, wollte sie unter allen Umständen durchsetzen. Sie drehte sich ein wenig zur Seite, wandte ihm ihr Gesicht zu über das ein paar Haarsträhnen flossen und wusste sein fragendes Mienenspiel richtig deutend, umgehend genau, weshalb er da war, und kam ihm deshalb zuvor.

„Papa, ich wollte nur fragen, … ähm …“

Weiter kam sie nicht, denn wegen ihrer Verwirrung durch den Hauch von Röte im Gesicht saß ihre Befangenheit doch tiefer und blockierte kurz ihre Gedankenführung, was aber nicht weiter ins Gewicht fiel denn ...

„… Weiß schon, Hetti, deshalb bin ich ja raufgekommen. Natürlich darfst du“, kam der Vater ihr zuvor und befreite sie von umfänglichen zurechtgelegten Begründungsarien und anschließenden langwierigen Diskussionen, wie sie typischerweise mit den Eltern anstanden, nämlich ob das denn nötig sei etc. Mit einer Mischung aus Verwunderung über die Verlegenheit der Tochter als auch seine eigene, gewissermaßen vorauseilend-wohlwollende Bereitschaft in der Bestätigung ihrer Wünsche betrachtete er die anmutig hingefläzte Mädchengestalt: Immer noch leicht kindliche Gesichtszüge mit Resten früherer Pausbacken kontrastierten mit bereits deutlich sichtbar werdender Oberweite, sich unter dem leichten T-Shirt abzeichnend. Das wird nicht mehr lange dauern, vielleicht wars auch schon so weit, und sie wird alle Attribute eines jungen Teenagers zeigen, dachte er nachdenklich. Zweifellos ein reizvolles Mädchen, wohl bald dem Geriss der jungen Burschen ausgesetzt. Seine Tochter! Er ärgerte sich ein wenig darüber, sich selbst in dieser ganzen Situation leicht verlegen gefühlt zu haben. Warum eigentlich?

Ja, sie wollte heute Abend mit ihren Freundinnen ausgehen. Die Rede war von der kleinen Studentenkneipe „Hall of Music“, gerade mal fünfzehn Gehminuten entfernt, deshalb beliebter Treffpunkt vieler gleichaltriger Schulkameraden, sicherlich auch welcher aus der Oberstufe, und natürlich auch sonstigem jungem Vorstadt-Volk oder jungen Erwachsenen. War zwar egal, aber … Erneut fixierte er die hübsche lässige Gestalt in knallengen blauen Jeans auf der Couch, die langen Haare lässig offen über die Bettkante herabhängend, das Handy in der Hand – und spürte Vorbehalte … So egal wars ihm eben doch nicht. Es ging schließlich um den Umgang, den seine Tochter hatte. Über den sollte man schon Bescheid wissen, einigermaßen wenigstens. Oder war er etwa eifersüchtig auf die jungen Burschen, die ihr wohl, wenn nicht schon jetzt, dann sehr bald nachstellen dürften?? Quatsch, schalt er sich, so amüsiert sich eben die Jugend, war bei mir nicht anders ...

„Sag maaal …, wer will da alles mitkommen, Hetti?“

„Wieso? Die Üblichen halt: Jutta, Marion, Heida, vielleicht auch die Gusti, aber die wusste noch nicht, ob sie kann.“ Überrascht-unwillig kam diese Information von ihr, als ob es ihr lästig sei, alle namentlich aufzählen zu müssen.

„Und Jungs?“

„Mein Gott bist du neugierig, Papa! Ben und Justin und der Freund von Marion sicher, wer sonst noch, keine Ahnung – wozu willst du das eigentlich alles wissen?“ Ihre Stimme klang inzwischen ein wenig genervt. Sie liebte ja ihren Papa über alles, nicht nur, weil er ihr vieles erlaubte, wo Mama oft Bedenken vorbrachte. Aber wenn es um urpersönliche Angelegenheiten ging, konnte sie schon mal pampig werden – auch bei ihrem Vater.

„Ich möchte nur immer wieder mal wissen, mit wem meine Tochter näheren Kontakt hat“, rechtfertigte er sich mühsam-bemüht. An sich vertraute er seiner Tochter, aber mal eben nachfragen, das müsse man schon dürfen, fand er …

„Papa, ehrlich, alles ok! Einige kennst du ja schon. Also überlass das bitte mir, ja?“ Hettis schnippischer Tonfall war jetzt unüberhörbar geworden und Ramon sah sich wieder mal als überflüssig neugierig ertappt oder als Erziehungsberechtigter nicht ernst genommen, was davon mehr zutraf, war mehr oder weniger offen. Solche Diskussionsmuster häuften sich in letzter Zeit. Das Mädchen begann, die Selbstständigkeit zu proben. Er zwang sich aber zur überlegenen Ruhe, was auch gelang, fuhr sich verlegen übers Haar, und meinte im bewusst versöhnlichen Ton, ohne den nötigen Klartext zu verwässern:

„Aber um zehn Uhr ist Zapfenstreich, da bist du wieder zu Hause, nicht wahr? Du bist erst vor Kurzem fünfzehn geworden. Die berühmte Altersgrenze Sechzehn erreichst du erst nächstes Jahr, ja, und außerdem gilt natürlich: Morgen um sieben Uhr ‚steht die Kompanie‘. Weggehen am Abend? Ist okay, aber am Morgen bist du da wie d‘ Brez’n (manchmal verlor sich Ramon im bayrischen Dialekt). Da ist Schule!“

Ein klares väterliches, ein elterliches Gebot, garniert mit liebevollem Kasernenhofton. Trotz ihrer oftmaligen Aufsässigkeit, ihrem lustvoll-geprobten Widerspruchsgeist, bei dem sie stets Argumente der Eltern recht intelligent zu entkräften verstand, sowie ihrem beginnenden kaum zu bändigenden Freiheitsdrang hielt sie sich letztlich zuallermeist an solche Anordnungen, auch wenn sie ihr bisweilen despotisch vorkamen. Andere Eltern seien nicht so … (wie oft hatten er und Hermine dieses „Pseudoargument“ von ihr schon vernommen), aber da biss sie auf Granit, da waren die überlegen, das wusste sie, denn gerade ihre Mutter hatte schon in der Vergangenheit oft genug eben diese „anderen Eltern“ kontaktiert – hatten ihr die Freundinnen zugesteckt. Und sie musste kleinlaut zurückrudern. Gegeneinander ausspielen lief bei denen nicht, weshalb sie meist nach kurzem mehr formelhaften Geplänkel einlenkte.

„Klar doch, Papa, wir treffen uns schon gegen neunzehn Uhr, und die Studentenkneipe kennst du doch, oder? Mit den Freundinnen und Freunden zusammen sein, was trinken und quatschen und so.“ Die leichte Gesichtsröte war längst verschwunden.

Ganz realistisch dachte ihr Vater natürlich weiter …

… na ja, und flirten, vielleicht sogar bisschen knutschen draußen im Schatten der herbstlich bunt gefärbten Ahorne und Kastanien im Vorgarten der Kneipe. Von den paar Mädels in ihrem Alter haben sicher einige schon einen Freund – und seine Tochter? Die pflegte zwar auch Kontakte mit männlichen Schulkameraden, das wussten die Eltern aus verschiedenen Andeutungen, aber Genaueres ließ sie bisher kaum raus. Hübsch anzusehen mit ihren welligen dunkel-brünetten langen Haaren, dem allerliebsten Stupsnäschen und den großen wachen Augen war sie ja und schwatzen konnte sie wie ein Buch, zumindest im Kreis ihrer Gleichaltrigen; das hörten er und Hermine regelmäßig, wenn Hetti mal Besuch hatte in ihrem Zimmer. Da gings meist hoch her. Oft schien sie im Zentrum des Interesses zu stehen und sich pudelwohl zu fühlen. Nein, von einem angehenden festen Freund wussten sie beide nichts. Nach allem was sie so „zwischen den Zeilen“ mitbekamen, mochte es bei ihr, wohl unbewusst sogar sein, sich noch gar nicht binden zu wollen, lieber das männliche Jungvolk sozusagen hinzuhalten, was ihr wohl mehr Spaß versprach. Sie konnten das alles nur indirekt aus der zu Hause in solchen Angelegenheiten eher minderen Gesprächigkeit schließen oder erahnen, aber sie schien hier erfolgreich zu sein. Möglich auch, sie könnte es faustdick hinter den Ohren haben, meinten (oder befürchteten, je nach gerade anstehenden Entscheidungen) beide Eltern: Wie man so sagt: Ein „stilles, aber tiefes Wasser“ zu sein bzw. zu werden. Würde sich sicher bald zeigen.

Mit – man ist versucht zu sagen: laszivem Augenaufschlag (was ihr, der angehenden „jungen Dame“, wohl noch unbewusst, aber schon recht gut gelang) wollte sie ihren Vater wieder aus ihrem Zimmer hinauskomplimentieren. Sie wandte sich wieder ihrem Handy zu.

„Ach ja, eine Frage noch, Hetti, morgen hast du Matheschularbeit, soweit ich mich erinnere. Vor paar Tagen meintest du, es gäbe noch paar Unklarheiten? Hast du dich darum gekümmert?“

„Pa—pa!!?? Also bitte!! Ich weiß, was ich zu tun habe. Ich bin kein kleines Kind mehr, bei dem man hinterher sein muss wegen allem und jedem! Ich sag schon, wenn ich dich brauche, ja?“ Hetti blitzte ihren Vater mit funkelnden Augen in diesem Moment vorwurfsvoll an.

Das saß. Ramon wusste um die Brisanz solcher Fragen. „Schon gut, schon gut, okay, okay, war ja nur ’ne Frage. Du weißt ja, wenns brennt kannst du jederzeit kommen!“ Ja, das wusste sie und sie war, ohne es sonderlich zu bewerten, dankbar dafür, in ihm notfalls eine unbedingte Hilfe und Stütze zu haben. Aber jetzt? Jetzt galt das Motto: Ab die Post!

Hetti widmete sich demonstrativer als vor wenigen Minuten ihren WhatsApp-Meldungen – viel interessanter momentan als der Vater. Für sie gabs keine offenen Fragen mehr.

Leicht betreten und gedankenverloren wandte sich Ramon von seiner selbstbewussten Tochter ab, die das wohl gar nicht mehr registrierte, verschwand durch die offene Tür, schloss sie leise hinter sich und blieb kurz stehen, um durchzuatmen. Wie unterschiedlich unsere drei Kinder doch sind, ging ihm durch den Kopf. Anna und Eric sind schon Jungerwachsene, aber Hetti, die kleine Nachzüglerin forderte ihnen am meisten ab.

Sooo selbstbewusst und irgendwie eigenwillig waren ihre beiden älteren Geschwister bei weitem nicht gewesen. Eric, ein handsamer Typ, bisweilen äußerlich ein wenig verträumt wirkend, nur sechs Jahre älter und damit eigentlich nahezu noch demselben Zeitgeist zugehörig wie seine jüngere Schwester, hatte sich wesentlich leichter führen lassen als Hetti. Voriges Jahr hatte er sein Abitur gemacht und immerhin mit der Durchschnittsnote Zwei abgeschlossen. Damit lag er im oberen Drittel seiner Mitabiturienten an der Schule. Noch im selben Herbst nahm er ein Angebot für „Work & Travel“ in Australien an. Er hatte wohl Tipps von woher auch immer bekommen und selbstständig, ohne groß darüber zu reden schon mal vorab alle Möglichkeiten recherchiert, was da zu beachten wäre. Schließlich weihte er seine Eltern ein, weil er dann doch ihre Unterstützung brauchte, zum Beispiel was Versicherungen und ähnlich Elementares anging und natürlich gings auch ums Geld, denn den Flug mussten natürlich die Eltern bezahlen. Seinen in diesem Auswärtsjahr mitunter wöchentlichen manchmal auch nur vierzehntägigen Telefonaten oder Handy-Meldungen zufolge schien es ihm bestens gefallen zu haben. Und man würde auch vor Ort, wenn nötig, Hilfe bei Problemen bekommen.

Erst vor wenigen Wochen war er wieder nach Hause zurückgekehrt, hatte viel erzählt von seinem Aufenthalt dort und was er so alles erlebt habe. Auch eine junge Frau habe er kennengelernt, paar Jahre älter als er. Die wohne auch in München und er wolle sie demnächst mal kontaktieren, weil sie schon ein Vierteljahr vor ihm zurückgeflogen war. Die Eltern fühlten beide einigen Stolz über ihren Sohn, vor allem wie er sich gemausert hat in diesem Jahr. Deutlich souveräner war er geworden, was zwangsweise dazu führte, jetzt in der Familie ein reichlich unbekümmertes Leben zu führen. Nur: Noch immer wusste er nicht, wohin ihn sein weiterer Weg führen sollte: Studium oder Ausbildung und vor allem die Sparte war offen. Die Eltern ließen ihn gewähren, denn bei Eric konnte man darauf vertrauen, dass er „die Kurve kriegen“ würde, auch wenns etwas dauern mochte. Den heutigen Sonntag verbrachte er bei einem Freund und wollte erst gegen Abend heimkommen. Eine längere herbstliche „Radltour“ stünde auf ihrem Programm, sagte er noch, bevor er nach dem Frühstück abdampfte.

Und Anna, die Erstgeborene? Bei der mussten er und Hermine als einst frisch gebackene junge Eltern die „Spielregeln der Erziehung“ erst erkunden. Sie machte ihnen, ebenfalls anders als Hetti heute, nur wenig Probleme, selbst in der Pubertät. Allenfalls gabs bisweilen heiße „Prinzip-Diskussionen“, mit provozierender Lust ausgetragene unterschiedliche Meinungen und Ansichten, die sich oft erst in längeren Disputen mit den Eltern, vornehmlich der Mutter, lösen ließen, oder auch mal in beiderseitiger Erschöpfung endeten, sozusagen im beiderseits akzeptierten Remis. Hermine, selbst noch jung, konnte manche Argumente verstehen, wenn auch nicht immer teilen, verhielt sich aber letztlich eher großzügig. Gröbere Konflikte gabs selten, denn Anna hatte meist keine übertriebenen Selbständigkeits-Anwandlungen, vor allem nicht so ausgeprägte wie Hetti heute. Jetzt erschien sie nur noch an Feiertagen aus Tübingen, wo sie seit Studienbeginn vor zwei Jahren in einer WG wohnte. Es schien ihr gut zu gehen, wie sie erzählte: Einen Freund habe sie auch (den die Familie aber noch nie zu Gesicht bekommen hatte).

Dagegen Hetti? Völlig anderer Typ! Ein wahres Energiebündel. Verlangte ihnen viel Diplomatie ab. Mit strikten Anweisungen (gleichsam einem „bierernst“ genommenen Erziehungsauftrag) kam man bei ihr kaum mehr an, weil sie eigenwillig, man könnte auch sagen eigensinnig reagierte. Entsprachen Entscheidungen nicht ihren Vorstellungen, musste alles haarklein begründet werden, und selbst dann fügte sie sich nur widerstrebend. Einen leichten Stand hatten die beiden Eltern nicht. Andererseits konnten sie sich nicht beschweren: Hetti war eine gute Schülerin, nicht mit Spitzennoten aber stets ordentlichen Zensuren und oftmaligem Lob der Lehrerschaft bei den Sprechstunden.

Die behaupteten, erfahrungsgemäß hätten vor allem die Zielstrebigeren meist mit vierzehn … fünfzehn längst das Lernen gelernt. Ob auch Hetti schon so weit war, konnte man nicht sagen, aber sie schien auf dem Weg dahin zu sein. Das Angebot, ihr zu helfen, wenns mal nötig sei, nahm sie jedenfalls gerne an: Er für die naturwissenschaftlichen Fächer, Hermine für Sprachen und Deutsch und alles sonstige Schulische. Aber mal nachfragen, wie alles denn so liefe, das ließen sie sich nicht nehmen, nur machte Hetti da keinen Unterschied: Nachfassen und nachfragen war für sie dasselbe – und ihr ausgesprochen lästig.

Irritiert hat ihn vorhin eher ihr Gehabe mit Worten und Gesten und vor allem ihre noch völlig unbewusste Körpersprache in dem kurzen Disput gerade eben. Immer diese Mischung aus „ihn-zugleich-reizen-und-bisschen-bloßstellen“, und dabei sicherlich ohne es bewusst zu wollen ungeniert ihre beginnenden weiblichen Reize auszuspielen. Auf solche, wenn verbunden mit attraktivem Aussehen und ansprechendem Wesen egal in welchem Alter – das musste er sich eingestehen – reagierte er seit jeher mit erhöhter Aufmerksamkeit, eigentlich immer schon. Wohl ein Überbleibsel aus den freizügigen Studentenjahren. Auch seine einstige Freundin und heutige Ehefrau hatte ihn damals in dieser Weise angemacht. Heute kam diese, seine Eigenschaft, wenn sie sein Ansinnen (in Bezug auf andere Frauen) bemerkte, gar nicht mehr gut bei ihr an. Er war sich dabei aber keinerlei Schuld bewusst: Sei doch ein völlig harmloses Verhalten, sagte er sich beschwichtigend, jedenfalls aus seiner Sicht, was Hermine aber offenbar ganz anders deutete. Sie fand sein Verhalten öfters schlicht unpassend, ja unnötig. Man müsse nicht jedem Rock nachschauen, würde sie vermutlich innerlich gedacht haben.

Auch Hetti dürfte sich sehr bald zu einer recht hübschen jungen Maid auswachsen. Darüber war er sich im Klaren, immer wenn er sie so beiläufig beobachtete im Alltag. Und so ein Juwel in seinem Haus und zugleich seine Tochter? Da musste man ja stolz drauf sein …

Hetti wird jedenfalls sehr schnell spitzkriegen, welchen Einfluss sie auf die angehende Männerwelt auszuüben imstande ist, überlegte er, egal ob in ihren gleichaltrigen Kreisen oder bei Älteren … Und ihr erwachendes Interesse an ihnen wird zugleich die Rolle ihres Vaters als „erstem männlichem Vorbild“ in die richtigen, nämlich nachgeordneten Bahnen lenken. Auch wenn derzeit noch nichts auf diesen Verlauf hindeutete, und er immer noch eine entscheidende Rolle bei ihr zu spielen schien, wird das in naher Zukunft sicher anders werden. „Läuft doch alles super“, dachte er. „Soll sie doch – bei Anderen, ihren kommenden Verehrern und ich als Vater, bin dann schnell abgemeldet … – recht so! Sie ist jung.“ Seinen Segen hatte sie, das stand fest

Rasch suchte er sein Arbeitszimmer auf. Seine Frau war in die Stadt gefahren, wollte sich heute Nachmittag mit ihrer Freundin treffen und erst zum Abendessen wieder da sein. Jetzt hatte er die Ausgeh-Angelegenheit entschieden und war zufrieden mit sich. Zu Hause als Eltern, einzeln oder getrennt ausreichend Beachtung für Anordnungen zu erfahren war das Mindeste, worauf sie beide Wert legten, darin waren sie sich einig. Natürlich: Hermine pflegte naturgemäß von Frau zu Frau einen tiefergehenden Kontakt mit der Tochter, was nicht verhinderte, dass es zwischen ihnen beiden bisweilen gewaltig funkte. Hermine ließ sich nämlich nicht so leicht „rumkriegen“ wie er. Natürlich wusste er, dass das, was man früher mit „Respekt“ bezeichnet hat, in heutigen Zeiten und insbesondere bei sehr jungen Menschen nur noch geringen Stellenwert hat. „Respekt“ ist zum Fremdwort, zum Auslaufwert geworden. Alter Zopf, urteilten die, wenn ihnen solches Verhalten mal angedient, oder von „höherer Warte“ ganz altmodisch eingefordert wurde. Und führte dann regelmäßig zu jugendbedingter Missbilligung. In seiner Jugendzeit galten „Die Erwachsenen“ noch wesentlich mehr als heute, und seinen Eltern glaubte er, stets, oder meistens jedenfalls, respektvoll begegnet zu sein. Allerdings: „Ein Halbstarker“ (wie man viele männliche Jugendliche damals nannte) war auch er einst gewesen und habe seinen Eltern manchen Kummer bereitet, wie sie ihm irgendwann später bekannt hatten. Heute geht man in der Familie, wenn es gut läuft – „wie bei uns in der Regel“, beruhigte er sich – eher kollegial miteinander um, also irgendwie gleichberechtigt. Aber das entbindet halt nicht davon, Richtlinien zu erlassen, was eben „unwillkommene Weisungsbefugnisse zum Zweck eines vernünftigen Verhaltens“ mit sich brachte. Schon daran, was als „vernünftig“ gelten sollte, schieden sich die Geister. Dagegen war die „Gleichung“ Weisung gegen Freiheitsdrang kaum lösbar. Letztlich liefs, zumindest was ihn betrifft, auf den kleinen, aber wesentlichen Unterschied hinaus: Papa – als „Gleicherer“ unter (vermeintlich) Gleichen, mehr war de facto nicht oder nur selten (manchmal nur unter Protest) erreichbar, aber es reichte normalerweise, die Beziehung in der Spur zu halten.

Es war für ihn und seine Frau nicht immer leicht, das Szepter weise zu führen, den Freiraum für die Kinder peu á peu, also Jahr für Jahr, um ein paar Freiheiten zu verbreitern, um diesen ein Gefühl für altersbedingte Grenzen zu vermitteln, die Hand in Hand mit der zunehmenden Reife erweitert werden sollten, so postulierten sie unisono. Auch bei den beiden Älteren war das nicht immer einfach gewesen, bei Hetti fiels ihnen jedoch besonders schwer, weil ihr Freiheitsdrang ausnehmend stark ausgeprägt war.

***

Im Flur hörte er Schlüssel an der Korridortür. Seine Frau stand in der geöffneten Tür und stellte gerade den nassen Regenschirm zum Trocknen in die Ecke. Draußen hatte sich das Wetter geändert, es war inzwischen durchgehend bewölkt, ein herbstlicher leichter Wind wehte und ein paar Tropfen fielen vom Himmel. Ramon trat aus seinem Arbeitszimmer hinaus in den oberen Flur und schaute die Treppe hinunter.

„Da bist du ja wieder, Hermine. Wie wars im Café mit deiner Freundin“, platzte er übertrieben hektisch-aufgedreht in ihr Heimkommen, während sie im Flur noch aus ihrer warmen Windjacke schlüpfte und die Schuhe wechselte.

„Ja, alles okay, voll wars wie immer dort, liegt ja im Stadtzentrum Nähe Viktualienmarkt. Hatten aber einen hübschen Platz in der oberen Etage ergattert, nachdem jemand gerade gegangen war. Schon recht fortschrittlich: Früher war das Café Frischhut nur eine Art Frühstückscafé, von ganz früh am Morgen bis etwa Mittag geöffnet, jetzt hat es länger auf bis achtzehn Uhr. Malu jammerte mir wieder die Ohren voll. Mein Gott: Ein Zirkus ist das mit ihrem Mann. Alle seine Probleme im Job lasse er an ihr aus, wie an einem Blitzableiter, klagte sie. Wie oft schon habe sie mit ihm über Alternativen, also einen Arbeitsplatzwechsel, sprechen wollen, sie wäre auch bereit, in eine andere Stadt zu ziehen, aber er tut einfach nix, jammert und ärgert sich – und lässts dann doch laufen. Aber zu Hause vergiftet diese Situation die Atmosphäre. Und die beiden kleinen Mädchen bekommen leider alles mit. Könnte ja auch sein, meinte Malu nachdenklich, dass ihm obendrein die Midlife-Crisis zu schaffen macht. Darunter leiden angeblich viele Männer in seinem Alter. Er bräuchte Hilfe, sie könne das nicht leisten, da stoße sie auf taube Ohren ... Na ja, und und und. Ich wollte ja beizeiten nach Hause und musste das Gespräch mit ihr mit Blick auf die Uhr abbrechen. Ab achtzehn Uhr räumen die die Stühle auf die Tische, dann wird’s ungemütlich.“

„Wundert mich nicht, Hermine. Otto ist ja so weit ganz nett, wenn die beiden mal bei uns sind, aber manchmal hab ich in der Unterhaltung schon den Eindruck, dass seine bisweilen kruden, exzentrischen Ideen nicht überall gut ankommen. Vor allem im Geschäftsalltag mit Kollegen, die nicht immer so wohlmeinend sind wie Freunde. Da könnte es schon mal Probleme geben, denke ich, wenn ich mir ihn so vorstelle. Ja, man müsste ihm helfen. Wir als Außenstehende, obwohl Freunde, können da nicht viel tun, das müssen die beiden selbst regeln. Wenn wir mal wieder zusammenkommen, sollten wir dieses heikle, schwierige Thema besser nicht anschneiden, sonst beherrscht es den ganzen Abend.“

Ramon fand Malus Ehemann manchmal recht anstrengend. Sie kamen zwar mehrmals im Jahr zum Ratschen, Kartenspielen und einem Glas Wein zusammen, weil Hermine und Malu gut befreundet sind, aber er war regelmäßig froh, wenn die beiden „wieder weiter waren“, wie er leicht respektlos sich ausdrückte.

„Ach ja, bevor ichs vergesse: Hetti will hernach um neunzehn Uhr sich mit paar Freundinnen in der Hall of Music-Kneipe treffen. Hatte ja vorgestern schon so was verlauten lassen beim Abendessen.“ – „Ja, weiß ich, wir hatten noch drüber geredet am Abend. Und? Wie hast du entschieden? Dieses Lokal hat nicht den besten Ruf, weißt du schon, oder?“ – „Ja, weiß ich, musste es ihr aber erlauben, ging nicht anders, aber zweiundzwanzig Uhr hat sie wieder da zu sein. Auf Mathe habe sie sich anscheinend ausreichend vorbereitet, sagte sie.“

„Wieso ‚musste‘? Gar nix musst du!“, meinte Hermine kurz angebunden und sah ihn auffordernd und leicht erregt an. – „Na ja …, du kennst sie doch, die probt immer gleich den Aufstand, wenn man nicht in ihrem Sinn entscheidet.“ – „Ja, weiß ich auch, aber wir Eltern haben doch auch noch was zu melden und müssen nicht zu allem und jedem Ja und Amen sagen, oder? Und sie ist noch keine sechzehn.“

„Eben! Deshalb die Begrenzung auf zweiundzwanzig Uhr, das hab ich ihr eingebläut!“ – „Also ich bin nicht so begeistert davon“, meinte Hermine und verschwand vernehmlich grummelnd in der Küche: „Immer das Gleiche: Wenn die was will, darf sie das bei dir – unbesehen. Wenn das so weitergeht, haben wir bald überhaupt nix mehr zu sagen bei unserer Tochter …“

Nachdenklich blieb er zurück. Wieder mal wie schon so oft: Er, der Papa, zu nachsichtig, sie, die Mama zu streng. Ja natürlich muss sich ihre Kleine gewissen Grenzen beugen, tut sie ja auch, ob sie’s innerlich akzeptiert, ist die Frage, ist aber erstmal zweitrangig. Den ihr zustehenden Freiraum darf sie schon nutzen und die Hall of Music-Kneipe? Mein Gott, man kann Hetti doch nicht in Watte packen. Seiner Meinung nach ist Hermine immer eine Spur zu restriktiv. Lag es daran, dass Hetti als Nachzüglerin eben ein Nesthäkchen in der Familie war und ihrer Ansicht nach besonders beschützt werden müsste? Passt eigentlich gar nicht zu Hermines eigenem Freiheitsdrang, vor allem, weil sie den als junge Erwachsene einst selbst hatte und ihn ausgiebig nutzte. Ja, ist lange her. Erinnert sie sich da nicht mehr daran? Landläufig heißt es zwar immer, bei Spätgeborenen seien die Eltern eher nachsichtig (und für ihn gilt das ja auch), auch weil der „Kampfmodus“ auf Elternseite, wenn man älter wird, doch langsam nachlässt, und nicht zuletzt man alles schon mal bei den älteren Kindern durchexerziert hat, aber bei Hermine war davon nichts zu spüren. In dieser Hinsicht ist sie, verglichen mit früher, eher unnachgiebiger geworden, argumentierte und vor allem handelte auch oft entsprechend. Er konnte sich nicht erklären warum, aber es war halt so. Bei der Erziehung ihrer beiden Erstgeborenen zogen sie, ohne viel zu diskutieren noch am selben Strang, er entsann sich keiner fundamentalen Differenzen. Bei Hetti galt das nur noch bedingt. Vor allem bei ihrem Drang nach Unabhängigkeit und selbstentscheiden-wollen waren sie sich oft uneins. Konnte partout oft auch kaum behoben werden – zu verhärtet die jeweiligen Ansichten. Hermine handelte oft nach festgelegten Vorstellungen, seiner Meinung nach mit kaum nachvollziehbaren Begründungen.

Andererseits: Beide konnten mit diesem Spagat leben. So viel gegenseitige Unabhängigkeit gestanden sie einander zu.

Er, Ramon, ließ seiner Jüngsten vieles durchgehen, neigte dazu, auf ihre Wünsche einzugehen, zumal die meist obendrein von noch kindlich den Papi-umgarnenden Kulleraugen begleitet waren: Wenn er das junge Ding so betrachtete und sie ihn neben aller sonst demonstrativen Coolness mit eben solchen bittend-fragenden Augen ansah, ihn „gleichsam damit um den Finger wickelte“, fiels ihm einfach schwer, „nein“ zu sagen. Heute wars wieder mal so weit gewesen. Oft folgten anschließend Grundsatzdiskussionen mit Hermine, die er hasste wie die Pest und ihnen, wenn möglich gerne aus dem Weg gehen würde. Wenigstens zogen sie meistens letztlich doch an einem Strang.

Hermine akzeptierte Ramons Entscheidung, was die Kneipe betraf.

***

Es klingelte. Ramon stand gerade im Flur und öffnete.

Hettis Freundin Marion stand vor der Tür mit zugeklapptem Schirm, denn es hatte zu regnen aufgehört. Sie ist zwei Jahre älter, ein nettes schon deutlich erwachsener wirkendes Mädchen, flott gekleidet und auffallend geschminkt, die roten Lippen reichlich grell, fand Ramon missbilligend. Jedenfalls eine reizvolle Erscheinung. Hettis beste Freundin. Sie hingen nachmittags oft zusammen auch ohne in derselben Klasse zu sein, weil sie sich seit früher Kindheit als Nachbarschaftskinder kannten.

Hetti kam aus ihrem Zimmer im ersten Stock runtergeschossen und die beiden plapperten umgehend munter drauf los. Marion empfand keinerlei Scheu vor Erwachsenen, auch weil sie schon öfters hier war und mit Hettis Vater gequatscht hatte, meist über Schulangelegenheiten, oder wohin sie mit den Eltern in die Ferien fahren würde und solche Sachen. Ramon schätzte Marions entwaffnende Unbekümmertheit, suchte durchaus selbst den kurzen „Talk im Flur“ ein wenig zu verlängern, was dem jungen selbstsicheren Mädchen nicht nur nicht schwerfiel, sondern die lockeren Bemerkungen des älteren Mannes, Hettis Vaters, lachend kommentierte, grad dass sie nicht miteinander schäkerten. Er wusste, dass sie einen Freund hatte und im Umgang mit Männern wohl schon Erfahrung gemacht haben dürfte, was man auch aus ihrem recht abgeklärten Gehabe deutlich schließen konnte. Weshalb er Marion beinahe so wie einer erwachsenen Frau gegenübertrat, dabei die wenig inspirierende Durchgangssituation hier im Flur reichlich fehleinschätzend völlig ignorierte. Marions Lockerheit imponierte ihm jedenfalls, würde einen guten Einfluss auf Hetti haben.

Mit gewöhnlichen Straßenschuhen in die „In-Kneipe“? Natürlich nicht! Hetti gruschtelte im Schuhschrank nach ihren leichten Jugend-Pumps mit den halbwegs akzeptabel hohen Absätzen, schlupfte hinein, zog die flott geschnittene hellblaue Jacke über und war bereit. Schon standen sie und Marion an der Korridortür.

Ramon legte seine rechte Hand leicht auf Hettis linke Schulter.

„Also viel Spaß und – du weißt! – zweiundzwanzig Uhr bist du wieder da, ja?“

„Klar, Papi, schon okay.“ Hetti war bester Stimmung, was ein kurzer betörender Blick auf ihren Vater nachdrücklich unterstrich. Für ein…zwei Sekunden sah er wieder seine kleine süße Hetti, wie er sie als Grundschulkind in Erinnerung hatte, dann fast ineinander übergehend die reizvolle junge Teenager-Gestalt, die sie im Begriff ist zu werden, genau genommen schon ist. Sehr bald wird sie die Allüren blutjunger Frauen annehmen und allein mit ihrer Erscheinung die junge Männerwelt aufmischen, dachte er noch, als die beiden nach kurzem Hin und Her schließlich fröhlich schwatzend abrauschten und er ihnen nachsah. Bei Marion wars eindeutig schon der Fall.

Hermine hatte durch die offenen Türen im Haus alles mitbekommen, was da so an Worten zwischen den dreien hin und hergeflogen war. Sie ärgerte sich über die offensichtliche Anbiederei ihres Mannes Hettis Freundin gegenüber. Etwas mehr Distanz würde ihm als erwachsener „Respektsperson“ besser anstehen, fand sie.

Dass sie das nicht in Ruhe ließ, erfuhr Ramon spät nachts beim Zu-Bett-Gehen. Hetti war längst pünktlich zurückgekehrt und schlief schon …, auch Eric hatte sich nach der Radtour mit seinem Freund am frühen Abend kurz zurückgemeldet, sich in der Küche noch ein Brot geschmiert und dann in sein Zimmer zurückgezogen.

Schon im Bett, in das er sich reichlich zerstreut gelegt hatte, setzte sie sich auf. „Sag mal? Was sollte das eigentlich? Ich hab ja alles mitbekommen, was da so rumgealbert wurde im Flur!“

„Bitte? Wovon redest du?“

„Als Marion Hetti abholen kam. Du hast dich unglaublich danebenbenommen.“

„Was daneben?“

„Pardon, du bist mit mir verheiratet und nicht mit Marion. Nur zur Erinnerung, damit deine lange Leitung wieder mal dort zündet, wo sie zünden sollte.“

„Marion ist ein hübsches nettes und vor allem aufgeschlossenes Mädchen. Sind nicht alle. Guter Umgang für unsere Tochter.“

„Gewiss …, aber – sorry – nicht für dich!“ Hermine wirkte aufgebracht.

„Hermine, du weißt, dass ich dich liebe – nur dich!“

Schuldbewusst fühlte er sich zwar nicht, aber wohl war ihm auch nicht in seiner Haut. Denn, und das reflektierte er bei sich mehr instinktiv, solche Aussagen nach Situationen wie heute Abend grenzten bei ihm an Gewohnheitsplattitüden. Was darf ich eigentlich noch? Mit wem darf ich eigentlich noch unbeschwert reden, wenn es Frauen sind? War die Selbstverständlichkeit unserer Beziehung für Hermine nicht mehr so kristallklar und unzweifelhaft gegeben, wenn andere Frauen auf der Bildfläche erschienen, fragte er sich. Seine Gedanken rauschten an ein paar anderen vergleichbaren Begebenheiten in der letzten Zeit vorbei. Es gab zwar keinen äußerlich sichtbaren Abstieg in ihrer beiderseitigen Liebe, aber gefühlt machten ihm viele eingefahrene Gewohnheiten in Richtung „Funktionsehe“ in ihrem gemeinsamen Leben bisweilen zu schaffen. Ob das auch noch unter „Liebe“ fällt? Und leichte Eifersuchtsanflüge gehörten zu Hermines Wesen, das kannte er von Anfang an bei ihr.

„Mann … immer sagst du sowas, wenn ich das Gefühl habe, du sehnst dich nach einer Anderen.“

Ramon ängstigte dieser offensichtliche siebte Sinn seiner Frau, denn der überinterpretierte einfach manche unvermeidbaren Begegnungen mit anderen Frauen bei gesellschaftlichen Anlässen. Es ist eben so, dass man nach über zwanzig Jahren Ehe nicht mehr pausenlos nur in die Augen des Partners, der Partnerin blickt, sondern auch das Umfeld wahrnimmt, sogar würdigt. Er, Ramon, kann da nichts Verwerfliches erkennen. Er war seiner Frau noch nie untreu geworden, hatte nie eine, wenn auch noch so kleine „echte“ Affäre, von harmlosen offenen Situations-Flirts mal abgesehen.

„Unsinn! Herminchen …, jetzt komm …, sei nicht so!“ Und drehte sich zu ihr, um sie in die Arme zu nehmen.

„Mein lieber Ramon Waldeck“, hub sie recht förmlich an, „ich bin jetzt nicht in Stimmung, hörst du? Vor wenigen Stunden hast du die gründlich versemmelt.“ Hermine sah ihn mit abweisend-ernstem Blick an.

„Ach sei nicht so streng mit mir.“ Er rückte ihr unwillkürlich bisschen weiter auf die Pelle, strich ihr übers Haar und machte dann Anstalten, ihren vom Schlafgewand verhüllten Körper zu berühren.

„Du, ich will das heute nicht. Ich habe Nein gesagt, ja? Hörst du nicht?“

Ihr strafender Blick traf ihn wie ein Schwerthieb. Er wollte ihr ja gar nicht „näherkommen“, hatte nur ‘ne harmlose Wiedergutmachungsgeste im Sinn, aber sie schien dieses Ansinnen gar nicht als solches verstanden zu haben, schlimmer, es womöglich gar abzulehnen. Das Band ihrer ehelichen gegenseitigen Verständigung ist recht kompliziert geworden, stellte er resigniert fest.

Beleidigt drehte sich Ramon um auf die andere Seite. Hermine knipste das Licht aus.

„Was hab ich denn schon falsch gemacht, außer mich locker zu unterhalten mit Marion“, fragte er sich betreten, eingekuschelt unter der Bettdecke. „Erst ihre nur notgedrungene Zustimmung zu Hettis schlichtem Ausgehwunsch, dann offenbar unstatthaft mit Marion unbeschwert blödeln auf dem Flur und jetzt der Disput?“

Manchmal zweifelte er an sich: „Kann doch nicht sein, ständig alles ‘falsch zu machen‘?“ Ramon haderte mit sich und sinnierte erneut, was er hätte anders machen sollen. „Nein, nichts. Ich bin okay“, beruhigte er sich. „Ist Hermine zu kritisch oder zu empfindlich oder beides? Mag sein. Sie ist halt so, ich kanns nicht ändern, muss damit leben.“

Mehr als sich über den unguten Disput zu ärgern, litt er darunter, den Tag im Streit mit seiner Frau zu Ende gehen zu sehen: Völlig überflüssig! Es belastete ihn, und an baldiges Einschlafen war nicht zu denken. Dumm nur: Morgen musste er in aller Frühe raus, noch bevor die Familie aufwachte. Keinerlei Chance auf schnelle Versöhnung. Wie so oft: Business as usual statt Zeit für eheliche Versöhnung.

Er ist nach Frankfurt beordert worden in ein Meeting bei einer Firma, für deren Produktabsatz im süddeutschen Raum er zuständig werden soll. Es geht um einige Neuheiten in der Produktpalette. Die Besprechung ist auf elf Uhr anberaumt und mit dem ersten Frühzug wird er pünktlich dort ankommen und erst vermutlich kurz vor Mitternacht wieder zu Hause eintrudeln. Ein langer Tag. Solche Kurzgeschäftsreisen von ein…zwei Tagen gehörten eben zu seinem Job.

Unruhig wälzte er sich immer wieder mal auf die andere Schlafseite, die Gedanken fuhren Achterbahn in ihm. Warum nur kamen er und Hermine immer wieder hintereinander, jedenfalls zu oft, aber vor allem in Bezug und in Verbindung mit Hetti? Natürlich: Es sind gerade die schwierigsten Jahre ihres jungen Mädchenlebens. Fünfzehn ist sie, vor wenigen Jahren noch ein Grundschulkind; inzwischen eine rasante körperliche Entwicklung, die Brüste wachsen, „ihre Tage“ haben vor einem knappen Jahr eingesetzt, die Ablösung von den Eltern steht vor der Tür, erste Versuche, die scheinbare Elterndespotie abzustreifen, ein stärker werdender Freiheitsdrang und so weiter. Wenn man sich als Eltern einig wäre, dann sollte das alles kein größeres Problem darstellen, ja wenn … Ramon grübelte in sein Kissen hinein.

Gut über zwanzig Jahre waren sie jetzt verheiratet. Und lange glücklich miteinander gewesen. Ihre Beziehung gründete auf einer gemeinsamen Basis, die nur wenige Jahre nach Hettis Geburt schwieriger zu werden begann: In der ersten Euphorie freuten sie sich über ihre ständigen kleinen Entwicklungsfortschritte, dann wachte das „Ich“-Bewusstsein bei ihr auf und sie wurde ein Kindergartenkind mit deutlich sicht- und erlebbaren kleinen Eigenheiten in ihrem Wesen. Ob Hermine die irritierten? War doch alles völlig normal, nichts Befremdliches dabei. Und dieses Gefühl, wiewohl gelegentlich wechselnd, schien sie nie mehr ganz verlassen zu haben – bis heute! Was war da mit ihr geschehen? Er konnte sich keinen Reim daraus machen.

Der raue Ton vorhin beim Einschlafen wegen seiner angeblich ungebührlichen „Arien im Flur“, aber auch die Differenzen wegen des Ausgehwunsches waren geschehen, weil sie beide gerade in der „Causa Hetti“ nicht mehr an einem gemeinsamen Strang zogen. Hetti musste irgend etwas in ihr verändert, irgendeinen Schalter umgelegt haben, was dann auch auf ihr Verhalten zu ihm ausstrahlte. Bei den beiden Erstgeborenen gabs keinerlei Probleme, nach den ersten Jahren mit Hetti hat sich das langsam, aber stetig verändert.

Ramon konnte keine Ruhe finden, es grübelte in ihm ständig im Kreis. Hermine lag längst im seligen Schlummer, er hörte ihr gleichmäßiges Atmen.

Er liebte seine Frau nach wie vor, aber im Lauf von über zwei Jahrzehnten Ehe war eben aus der einst heißen Zuneigung eine „gedämpfte Gewohnheitsliebe“ geworden. Ob sie das auch so sah?

Und wohl nicht zuletzt auch deshalb, das muss er sich selbst zugeben, ließen ihn vor allem attraktive weibliche Wesen bisweilen aufblühen, wenn sie in seinem Umfeld auftauchten. Wie auch heute Abend Marion. Kaum wirds merklich vertrauter, kaum nimmt er sich persönliche Freiräume und hält sich nicht strikt zurück, schon gibts Ärger mit der Ehefrau. Da kannte sie dann kein Pardon. Vertraut sie ihm nicht, oder nicht mehr? Kann doch nicht sein!

Es war nach Mitternacht geworden, bis ihn endlich der Schlaf von seinen zweifelnden Gedanken erlöste.

Die unruhige recht kurze Nacht endete am sehr frühen Morgen mit dem auf „verhalten gedämpft wecken“ eingestellten Weckruf des Weckers. Er verließ sich stets darauf, damit aufzuwachen. Seine Frau drehte sich nur zur Seite, wachte aber nicht auf. Sie musste ja nicht raus. Völlig verschlafen und transusig taumelte er ins Bad und schaufelte sich erstmal mit den Händen eine Ladung kaltes Wasser ins Gesicht. Im Spiegel glotzten ihn zwei große Augen an, gerahmt von den typischen leicht gekerbten Falten einer gestandenen unrasierten Männervisage, die jedes altersmäßig „fortgeschrittene“ Männergesicht charakterisiert. „Soso, das bin also ich …“ – Ramon trugs mit Fassung und wendete sich ab. Nein: „Alt“ war das noch keineswegs zu nennen, sondern „reif“. Klingt schon viel positiver, sagte er sich. Nochmal ins Schlafzimmer schauen? Nein, lieber nicht. Gestern Nacht, der blöde Zwist …, lass sie schlafen, besser so.

Knappe Toilette im Bad, die Geschäftsklamotten angezogen, Proforma-Kurzfrühstück im Stehen in der Küche, die bereitstehende Aktentasche gepackt, dann war er schon draußen aus der Korridortür …

***

Er saß im ICE mit noch zwei Männern im selben Abteil, wie er vermutlich auch Geschäftsreisende und ließ den Gedanken freien Lauf: Nichts zu machen: Der nächtliche Streit mit Hermine belastete ihn nach wie vor, aber die aktuelle Situation, die geschäftsmäßige Abteil-Atmosphäre, gewohnt zwar, aber eben kein Alltag, überdeckte gnädig aufkommende trübe Gedanken. Draußen flogen liebliche Landschaftsszenarien genauso wie hässliche Industrieanlagen oder gesichtslose Vorortsiedlungen vorbei. Das Wetter war besser geworden, die Sonne spitzte durch. Er schaute in die Zeitung. Die war voll von Meldungen zur gerade halbwegs überstandenen Finanzkrise. Er erinnert sich, dass erst vor wenigen Jahren die große amerikanische Bank Lehman Brothers zusammengebrochen war, und in der Folge vor allem in den USA viele Hauskredite notleidend wurden und Tausende deutscher Rentner ihre Ersparnisse einbüßten. Zum Glück hatte ihn das nicht getroffen. Jetzt wars die Eurokrise, die die Welt in Atem hielt, ausgelöst auch wegen totaler Überschuldung Griechenlands.

Zwei…drei Jahren hatte er um seinen Arbeitsplatz gebangt, aber inzwischen war der Kelch an ihm vorübergegangen, seine finanziellen Verhältnisse in Ordnung und die Abzahlungen für die Doppelhaushälfte blieben im Rahmen. Dankbar lehnte er sich zurück und legte die Zeitung zur Seite.

„Guten Morgen, meine Damen und Herren, wir von der Deutschen Bundesbahn begrüßen Sie auf Ihrer Reise nach Frankfurt am Main. Unser nächster Halt ist …“

Ramon hörte gar nicht mehr hin. Er kannte dieses stereotype Gelaber im ICE zur Genüge, gehört zum heute üblichen Kundenservice der Bahn, nahm erneut die Zeitung zur Hand und widmete sich einem Artikel, den er vorhin zu lesen grundlos abgebrochen hatte. Jetzt wollte er ihn fertiglesen, blieb aber erneut nicht dabei, lauter Schmus, viel zu detailliert. Sein Interesse ging gegen Null und er legte das Blatt achtlos und gelangweilt wieder zur Seite, jetzt endgültig.

Er schaute kurz in die Runde im Abteil. Von den beiden Mitreisenden, ihrem Outfit nach wie er Geschäftsreisende, hatte keiner im Moment ein Bedürfnis nach Unterhaltung, das zeigten ihre „Beschäftigungen“: Dösen mit geschlossenen Augen, dann wieder zum Fenster rausschauen, oder sich in den Laptop vertiefen. Er selbst hatte auch kein Kommunikationsbedürfnis.

Gleichmäßiges leises ratatadam --- ratadadam --- ratadadam, vom Körper mehr gefühlt als gehört. Die Schwellennähte der Schienen verursachten auch im komfortablen ICE ein sanftes mildes Holpern.

Inzwischen draußen durchgehend grüne Natur, Felder, Einzelbäume, Wälder und Büsche vom frühmorgendlichen Dunst übergossen, den Sonnenstrahlen zunehmend aufzulösen gedachten. Seit paar Minuten flogen riesigen Hopfenstangen mit Pflanzengrün stark umwuchert vorbei: Die bayrische Kulturlandschaft Hallertau. Ragten wie Igelspitzen aus den bodennahen Nebelschwaden in den Himmel. Die Hopfenernte ist eigentlich längst vorbei, es ist ja schon Mitte Oktober. Im schnellen Vorbeiflitzen des ICE konnte er nicht erkennen, ob die Dolden bereits abgeerntet waren und es nur noch Grünmasse war, was an den Stangen hing.

Erinnerungen stiegen in ihm auf. Der erlebbare Fluss der ablaufenden Zeit, ihrer ganz eigenen Stetigkeit, angeregt durch das gleichmäßige Vorbeigleiten der Landschaft beim Blick durch die Fenster:

Was war Hermine einst für eine tolle, lebenslustige junge Frau gewesen, obendrein auch gut vorzeigbar. Man muss keine Filmschönheit sein, das lernte er bereits damals als junger Student im näheren Kontakt mit so mancher Weiblichkeit. Letztlich kams auf andere Qualitäten an. Ein braver Engel war sie nicht gewesen in dieser Zeit, ganz und gar nicht, eher ein flatternder Schmetterling, „keine männliche Blüte auslassend“. Neben dem Studium fand sich bei ihr stets Platz für Treffen mit den näherstehenden Kommilitonen und Kommilitoninnen: Partys und Feten standen hoch im Kurs. Nächtliches Abtanzen in den einschlägigen Locations und die halbjährlichen Studentenbälle gegen Semesterende. Natürlich zog sie als flotte, junge und redegewandte Frau immer wieder Verehrer an. Allein war die so gut wie nie, erinnerte er sich. Bisweilen mochte man den Eindruck gewinnen, sie spiele mit geradezu diabolischem, fröhlichem Vergnügen „Katz-und-Maus“ mit ihren Bewunderern. War eben ihr Wesen, verbunden damit, alles andere als prüde zu sein, was gerade im Umgang mit ihren männlichen Bekanntschaften auch schlicht bedeutete: „Mal sehen, was der draufhat“, oder auch „Frechheit siegt!“ Ob mit energischem Widerspruch bei anmaßenden Kommentaren oder scheinbarem Eingehen auf Anmache, um diese dann umso lustvoller entlarven zu können (seltener sie ernst zu nehmen) oder sonst was. Ihr Repertoire schien unerschöpflich. Hermine neigte in ihrem ganzen Wesen immer ein klein wenig zum Leichtsinn, mit dem sie bewusst oder unbewusst ihre unkonventionelle Lebensführung damals als Zwanzigjährige unterstreichen wollte. Andererseits oder genau deshalb galt sie für viele ihrer männlichen Kommilitonen als so anziehend.

Auch er war einer ihrer Verehrer-Schar gewesen, die sich stets im Dunstkreis Hermines aufhielten. Sein Aussehen mit stets leicht zerzaustem Haarschopf, einem wachen Blick, guten Umgangsformen und immer einen passenden Spruch auf Lager hoben ihn heraus aus der Menge der anderen. Dass er stets seine Umgebung taxierte (auch und vor allem die weibliche …), schien die Mädels seltsamerweise eher anzuziehen als abzuschrecken. Solche Aufmerksamkeiten hatte er in vollen Zügen genossen, erinnerte er sich. Es waren wohl gewisse verführerische Casanova-Allüren damals, die ihn interessant für die weibliche Schar machten (und es zählte stets nur der Augenblick).

Ramon blieb ein paar Minuten bei diesen Erinnerungen …

Stimmt schon: „Man hielt mich damals für einen flotten manchmal draufgängerischen Kerl, was mir heute noch schleierhaft ist; war mir eigentlich gar nicht bewusst gewesen, aber ich musste wohl so gewirkt haben. Na ja, die Mädels zu jener Zeit …, ja schon …, die ließen sich durchaus um den Finger wickeln, wenn sichs ergab. Manchmal war ich Hahn im Korb ergebener Hennen …“. Ramon schmunzelte in sich hinein bei diesen Erinnerungen …

Und heute mit meinen etwa fünfzig Jahren? Die damalige Spritzigkeit? Hatte die sich eben doch verflüchtigt? Oder war sie nur der normalen „Abnutzung“ in einer langjährigen Ehe zum Opfer gefallen? Na ja, nicht ganz! Er musste sich ehrlich eingestehen, auch heute noch (oder gar heute wieder?) mit hübschen oder interessanten Frauen lockere Unterhaltung zu suchen, wenn sich bei Einladungen, Partys, oder sonstigen Anlässen entsprechende Gelegenheiten boten. Um geeignete, vor allem „erwachsenen-adäquate“ wohlfeile Sprüche oder gerade passende Themen war er noch nie verlegen gewesen. Dass er das nicht verlernt hat, wusste auch seine in etwa gleichaltrige Hermine … Und was das alles bedeuten konnte, für sie, für mich, für uns beide? Der angebliche Flirt mit Marion gestern?

Ramon verwarf das irritierende Thema: Damals war damals und heute ist heute. Manches ändert sich, anderes nicht. Aus. Schluss.

Ja, die umtriebige Hermine war damals was Besonderes gewesen, hatte auch ihm sehr gefallen und nach einigen Anläufen ist es ihm gelungen, den jungen unsteten Wildfang zu fokussieren – auf ihn, Ramon! Ohne all seine anscheinend anziehenden Eigenschaften hätte er bei ihr vermutlich keinerlei Chance gehabt. Irgendwann wurde sie seine Freundin.

Eine wunderbare, aufregende, ja „heißblütige“ Zeit. Hermine war damals nahezu abgefahren auf ihn. Lebendiges, kurzweiliges Paarleben inmitten all ihrer gemeinsamen weiteren sozialen Kontakte. So oft es ihr möglich war, besuchte sie ihn in seiner kleinen gemieteten Studentenbude, denn Hermine wohnte noch schön brav bei ihren Eltern in einem Vorort der Stadt. Weil die ihrer Tochter kaum dreinredeten, empfand sie keinerlei Einschränkungen in ihren Aktivitäten und Vorstellungen.

Beide studierten ja noch, weshalb naturgemäß Verhütung eine wichtige Rolle zu spielen hatte. Seit wenigen Jahren war „die Pille“ ihr ständiger Begleiter gewesen, nötig zwar und auch schon „vor ihm“. Er war nicht der „Erste“ gewesen, da gabs keinen Zweifel. Die Pille war zwar praktisch, aber Hermine hegte trotzdem Vorbehalte gegen sie, vor allem wegen der „unnatürlichen Hormoneinnahme“, wie sie pseudo-kundig dozierte.

Ohne sie würde es aber begreiflicherweise auch nicht gehen, weshalb sie sich insgeheim geschworen hatte, sie so bald als möglich oder wenn es ihr opportun erschien abzusetzen.

Von diesen, ihren Gedanken hatte er in ihrer ersten gemeinsamen Zeit keine Ahnung gehabt, nahm eher an, wie viele Männer, „dass sich die Freundin schon um Verhütung kümmern würde“. Erst nachdem sie beschlossen hatten, zusammenzubleiben, eröffnete sie ihm ihre Vorstellungen dazu. Ramon fand diese zwar reichlich daneben: „Alle nehmen doch die Pille, oder?“, akzeptierte aber schließlich die sonderbaren Allüren seiner Freundin, kurzfristig froh, dass ja vorerst alles „so bleiben solle wie es bisher war“, also „erstmal nichts passieren könne“. Und langfristig? Wird man sehen.

Damit war dieses Thema für sie beide fürs Erste durch.

Bei aller Lebenslust: Ihr Studium der Germanistik hat Hermine stets ziemlich ernst genommen und sie wurde mit einem guten Abschluss belohnt.

Ramon besaß gemeinsam mit seinem alten Schulfreund Carlo Tischer eine englische „5O5“er Segeljolle. Sie wollten eigentlich lieber einen FD (Flying Dutchman) erstehen, hierzulande bekannter und mehr verbreitet, aber leider viel zu teuer auch als Gebrauchtboot. Die vergleichbare 5O5 war Carlo von einem älteren Segler günstig angeboten worden und befand sich in einem Top-Zustand. Wegen der flachen geschwungenen Rumpfform sei sie angeblich noch „filigraner“ zu segeln als ein FD. Carlo und Ramon kauften die Jolle gemeinsam und waren so zu Eigentümern geworden, zugleich auch zu einer Segler-Crew. Auch alle Kosten für Unterhalt und Liegeplatz teilten sie sich. Damit blieb die Jolle auch finanziell für beide als noch junge Leute erschwinglich. Viele Wochenenden verbrachten die beiden Freunde auf dem Wasser und Ramon konnte seine Hermine gelegentlich mitnehmen. Obwohl bisher mit dieser Sportart nicht vertraut, erwies sie sich nach kurzer Zeit als durchaus begabte Vorschoterin auch bei höheren Windstärken.

Carlo war nur ein knappes Jahr jünger als er. Schon im Gymnasium und im anschließenden Studium hingen sie befreundet oft zusammen und verloren sich auch als Erwachsene während des späteren Arbeitslebens nie aus den Augen.

***

Gerade erst vor einem dreiviertel Jahr fertig geworden mit ihrem Germanistikstudium und eine Erststelle bei einem Verlag als Lektorin ergattert, überraschte Hermine ihn mit freudigem Strahlen, in etwa sieben Monaten zu dritt zu sein. Mit betörendem Augenaufschlag und den bedeutungsvollen Worten: „Du hast doch schon seit über einem Jahr eine auskömmliche Anstellung“, meinte sie jovial, und „da könne man doch an Nachwuchs denken“, setzte sie beschwichtigend hinzu. Ramon hatte ein Jahr zuvor schon sein Studium in BWL abgeschlossen.

Ramon reagierte anfangs reichlich überrascht, ja sogar leicht pikiert, hatte er doch mit „so was“ überhaupt nicht gerechnet. Typisch Hermine: Einfach mit nicht abgesprochenem einsamem Entschluss die Pille absetzen und mit „fantasiereicher Steuerung der Leidenschaften“ (damit es nicht auffiel) eine Zeit lang auf die unsichere natürliche Verhütung zu setzen – ohne mit ihm da lange diskutieren zu wollen. Wenn Hermine sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann zog sie das auch durch, immer schon. Und die Konsequenz in diesem Fall folgte trotz aller Vorsicht (oder etwa mit Absicht?) auf dem Fuße: Schwangerschaft.

Ernsthafte Zwiste entstanden zwar nicht, aber Unverständnis gabs bei ihm schon, und er konnte nicht umhin, ihr doch kurz vorzuwerfen, warum sie ihn nicht informiert habe, die Pille „abzusetzen“. Und Hermine? Hatte nur mit den Achseln gezuckt. Spielen mit dem Risiko: Der Reiz des Unvorhersehbaren, auch früher schon in Vielem ihre Lebensspielart, es drauf ankommen zu lassen und dann sehen, wies weiterginge und was sich daraus ergeben könnte. Hermine in ihrer grund-positiven Lebenseinstellung rechnete stets damit, dass damit Neues, Aufregendes in ihr Leben treten könne – diesmal wars der sich ankündigende Nachwuchs – und es somit von selbst abwechslungsreich und aufregend werde. Dass dieser Schuss auch mal nach hinten losgehen könnte mit womöglich irreversiblen Entwicklungen, hatte in ihrem Denken keinen Platz, desgleichen nicht, ob andere sich damit auf die Füße getreten fühlen könnten, von der neuen Verantwortung ganz abgesehen. Ramon fand das alles ausgesprochen egoistisch, aber er liebte sie einfach, und zwar trotzdem.

Irgendwann Nachwuchs bekommen? – Grundsätzlich stimmte dem auch Ramon zu und somit erlosch der kleine Zwist schnell ganz von selbst. Also kein „Unfall“, sondern letztlich ein unfreiwillig-willkommener Ausrutscher. Ob Nachlässigkeit bei der Beachtung ihrer Fruchtbarkeitstermine – oder gar Vorsatz, blieb Hermines Geheimnis. Jetzt wars passiert und weiter darüber zu räsonieren, erübrigte sich.

Hermine wusste ganz genau, dass ihr Verhalten in dieser Sache heutzutage absolut nicht state of the art war, manche, vor allem Freundinnen, mit denen sie über diese Themen diskutierte, nannten es schlicht verantwortungslos, „so was“ nicht zu planen, stattdessen sich ohne Not einer „Zufallsschwangerschaft“ auszusetzen, denn ein Kind zu bekommen sei schließlich nichts Temporäres, Vorübergehendes, sondern eine Lebensentscheidung. Hermine ließ sich kaum von anderen beeinflussen, auch nicht von ihren Freundinnen, mochten die denken was sie wollten. Unübersehbar ein kräftiger Schuss Eigensinn. Gehörte generell zu ihrem Wesen.

Schließlich alles paletti für sie und Ramon: Sie sahen dem neuen Erdenbürger mit Freude entgegen.

Dann kam Anna zur Welt. Hermine blieb anfangs zu Hause, konnte sich aber über einen ziemlich holprigen Netzzugang ins interne Verlagsnetz einwählen und am PC vieles vom heimischen Schreibtisch erledigen. Eine klassisch-normale junge Familie, allerdings ohne Trauschein. Durch das kleine Baby bekamen sie schnell Kontakt mit anderen Freunden aus früherer Zeit, die inzwischen auch Familien gegründet hatten (zumeist mit Trauschein …). Die noch Ledigen gerieten aus dem Blickfeld. Gemeinsame Interessen führen eben zusammen. Bis auf Carlo. Mit ihm blieben sie weiterhin in Kontakt. Die gemeinsame Segeljolle verband sie, aber auch die langjährige Freundschaft zwischen ihm und Ramon seit den Schultagen. Carlo, ein flotter junger Mann, nach wie vor ungebunden, aber stets hübsche Freundinnen an der Hand, dachte nicht an eine feste Bindung. Ob er seine Freiheit in Gefahr sah und deshalb allem diesbezüglichen Ansinnen seiner Freundinnen auswich? Er schien kein Bedürfnis nach Ehe, Kinder und Familienpflichten und so weiter zu haben.

***

Ramon, vertieft in diese frühen Zeiten hatte den Halt des ICE in Nürnberg nur indirekt mitbekommen, eigentlich nur dadurch, dass eine junge Frau den vierten und letzten reservierten Platz in ihrem Viererabteil gleich neben der Abteiltüre eingenommen hatte. Keine Geschäftsfrau, das sah man sofort. Lockerer Freizeitlook, industriell verwaschene und an zwei Stellen künstlich eingerissene Jeans, hellblauer Pulli, dezent geschminkt, Reisetasche mit Schwung auf die Ablage gehievt (noch bevor die Männer Anstalten machen konnten, behilflich zu sein), machte sie es sich bequem auf ihrem Platz, zog aus der Umhängetasche ein Buch heraus, klappte es am Lesezeichen auf und vertiefte sich hinein. Von den Mitreisenden nahm sie kaum Notiz. Jetzt saßen sie halt zu viert im Abteil, der einzige Unterschied zu vorher. Auch Ramons kurzes Interesse (eine junge Frau!) erlahmte deshalb rasch. Auch nur beiläufiges Ansprechen verbot sich angesichts der Mitreisenden. Interessiert hätte ihn der Titel des umfangreichen Schmökers schon, den sie auf dem Schoß hielt. Aber darauf zu warten, dass sie ihr Buch mal hochhob? So wichtig wars nun auch wieder nicht. Durchs Fenster der vorbeijagenden Landschaft folgend gab er sich wieder seinen Erinnerungen hin ...

Kinder sollten möglichst in einer „richtigen“ Familie aufwachsen. Alle möglichen Gründe sprachen dafür, nicht zuletzt das Gebenze der beiderseitigen Großeltern – weshalb noch während der Schwangerschaft geheiratet wurde. Sonderlich viel „Gesums“ um dieses Fest machten sie nicht. Mochten andere pompöse Feste zelebrieren, sie hatten dieses Bedürfnis nicht. Ein Kind im Anmarsch? Also wird geheiratet – notwendigen Akten entzog man sich nicht, gebot schon die Vernunft und notgedrungen paar familiäre Einflüsse. Einen anderen Grund gabs nicht. Liebe? Selbstverständlich, und wie! Sonst hätte es ja kein Kind gegeben, beteuerten sie sich einander tief in die Augen schauend, vor allem unbekümmert (unübersehbar aber auch samt einem Schuss Naivität). Ob Sex wegen Liebe oder Liebe wegen Sex? Einerlei. Die beiden fragten da nicht nach Hintergründen, schon gar nicht nach „philosophisch-soziologischen“. Sie glaubten sich sicher und taten was sie antrieb. Und gut wars! Gefeiert wurde dann in einem überschaubaren Rahmen mit der engeren Verwandtschaft und den beiderseitigen Freunden.

Bis zur Geburt des zweiten Kindes dauerte es nur knapp zwei Jahre samt ein paar einschlägiger Absprachen zwischen den beiden. Das war neu gewesen: Nun eben doch wenigstens eine Idee von „Planung“ ... Hermine hatte es sich zu Herzen genommen, ihren Ramon nicht erneut „überfahren zu dürfen“. Es wurde ein Junge. Sie nannten ihn Eric. Wie sie auf diesen Namen gekommen waren, erinnerte er sich nicht mehr. Möglich nach einem fernen Onkel von Hermine. Beide freuten sich an ihrem neuen vierköpfigen Familienglück mit den beiden kleinen Kindern. Er half seiner jungen Frau, wo er nur konnte. In jeder Hinsicht ungetrübtes Familienglück.

Zwei kleine Kinder! Familienpflichten en masse, bald Kindergarten für die Ältere, andere Mamas und Papas, die Großeltern (vor allem Hermines Eltern, die von Ramon lebten weiter weg in Würzburg) gerierten sich wie aus dem Häuschen, verzogen die beiden Kleinen nach Strich und Faden, wenn sie mal Babysitter spielten, hatten, zum Nachmittagskaffee erschienen, respektive während eines Kurztrips aus dem Frankenland, immer was zum Naschen dabei. Typische Großeltern also.

Ballspielen, herzen, basteln auch mit Besuchskindern befreundeter Familien, wobei sie auch deren Eltern näher kennenlernten – sie saßen alle im selben Boot – nur kaum mehr in ihrem Sportsegelboot. Das Leben änderte sich in Windeseile und mit ihm auch urprivate Interessen. Er behielt zwar die Eigentümergemeinschaft mit Carlo an der Sportjolle noch ein paar Jahre bei, trat dann aber seinen Anteil an ihn schweren Herzens ab, weil er nur noch selten Zeit „fürs Wasser“ hatte, vor allem nicht mehr mit Hermine, denn einer musste ja bei den Kindern bleiben und das war Hermine. Sie bedauerte das zwar, aber was sollte sie machen? Jetzt gabs Wichtigeres. Er könne das Boot jederzeit ausleihen, meinte Carlo als rechter Freund und Ramon drückte ihm warmherzig die Hand nach Abschluss der Transaktion.

Carlo und seine damalige Freundin meldeten sich so oft es nur ging bei Segelregatten an, was zumeist mit Reisen samt dem Bootstrailer verbunden war und fuhren sogar Erfolge ein, denn einen Platz im ersten Drittel der Teilnehmer zu erringen, bedeutete Können, also mithalten mit den paar Segler-Koryphäen aus der in Deutschland eher dünnen 5O5-Gemeinde. Die machten normalerweise die Spitzenplätze unter sich aus. Carlo bedauerte trotzdem, dass die ruhigeren windarmen Schönwetter-Segelpartien mit Ramon und Hermine kaum noch stattfinden konnten – entspannt entlang der Uferbereiche am nördlichen Starnberger See zu schippern, stets dicht unter Land, um die liebliche Landschaft vom Wasser aus zu genießen. Viel Wald, unterbrochen von Wiesen und manchen eleganten Villen mit eigenem Seezugang.

Ansonsten: Als richtiger Segelnarr wollte er, sobald „ordentlich Wind wehte“, also mindestens Windstärke „4“ aufs Wasser, und weil seine Freundin nicht immer Lust oder Zeit hatte, sprang eben Ramon ein – das klappte auch, wenngleich eher selten. Wenn Carlo und seine Freundin bei ihnen zu Besuch waren, dauerte es nicht lange und das Thema Segeln beherrschte den Rest des Abends.

***

Was für Zeiten …, wir waren jung und trotz Familie unternehmungslustig. Leider alles Vergangenheit, bedauerte Ramon. Gelangweilt und gedanklich entrückt schaute er in die vorbeirauschende Natur und seufzte lautlos in sich hinein.

Wie unbeschwert verlief doch ihr damaliges Leben.

Und heute? So viel anders! Die Familienstruktur ist eine andere geworden. Damals mit zwei Schulkindern, die heute erwachsen sind, und heute nur ein Schulkind, eine Nachzüglerin, die sie ziemlich forderte.

So oft diese ärgerlichen Zwiste. Kann doch alles nicht wahr sein, grübelte er … Ist es aber, wie der gestrige Vorfall mit Hetti und Marion erneut gezeigt hat – immer noch brennend aktuell in seinen Gedanken … eine typische Szene von vielen unterschiedlichen und trotzdem ähnlichen inzwischen …: Ständig „stimmte“ irgendwas nicht, und meist lags in Hermines Augen angeblich an ihm. Sie ist mit den Jahren deutlich konservativer geworden, nicht altmodischer, keinesfalls, aber einfach stringenter in allem, rigoroser und unnachgiebiger, als ob bei ihr lange verschüttete Werte wieder zum Vorschein kamen. Aber woher? Nichts hat in den ersten Jahren ihres Zusammenseins auch nur annähernd auf solche „schlummernden fatalen Leitbilder“ hingedeutet. Deshalb eigentlich untypisch für sie, wenn er an die unbeschwerte, lockere junge Frau dachte, die er einst geheiratet hatte. Natürlich: Auch er wird nicht mehr derselbe geblieben sein wie früher. Mit solchen Veränderungen muss jeder und jede in der Ehe zurechtkommen.

Damals jedenfalls, in ihrer Zeit als vierköpfige Familie war davon nichts zu bemerken gewesen …, aber eben später, seit einigen Jahren – jetzt …

***

Und damals? Der elementare Kontakt mit den beiden Kleinen lief wie überall üblich über die Mutter. An den Wochenenden jedoch fiel die Unterhaltung der Kinder in seine Zuständigkeit. Er freute sich an seinen beiden erst Kindergarten-, dann Grundschulkindern, tobte mit ihnen im Garten herum, baute eine Schaukel, sogar ein kleines Baumhaus soweit es der einzige größere Baum im Garten zuließ. Spielte Ball mit ihnen und fangen, wobei er sich absichtlich tollpatschig und ungelenk anstellte, damit die Kleinen eine Chance und vor allem was zum Lachen hatten. Alle Freunde bewunderten sein kleines Kinderpärchen mit der älteren Schwester eines jüngeren