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Mit Katja Diehl die Mobilitätswende aktiv gestalten Während die Mobilitätsexpertin und Bestseller-Autorin Katja Diehl in ihrem ersten Buch »Autokorrektur« Menschen mit ihren individuellen Bedürfnissen in Sachen Mobilität in den Fokus genommen hat, geht es ihr nun um die Hürden der Verkehrswende auf gesellschaftlicher und systemischer Ebene. Warum geschieht nichts? Warum verharren wir im Stillstand, obwohl das Wissen um eine zukunftsgerechte Mobilität uns allen zur Verfügung steht? Welche Stellschrauben sind rostig – gesellschaftlich wie politisch? Welche Rolle spielen Industrie und Medien? Was hat die Wissenschaft zu sagen und welche rechtlichen Hindernisse gilt es zu überwinden? Katja Diehl spricht mit zahlreichen Expert*innen, aber auch mit Gestalter*innen, die die Transformation bereits voranbringen. So zeigt sie, wie aus den Visionen von Mobilität eine liebenswerte Welt werden kann. »Wir könnten es schöner haben – und gesünder. Wenn es um die Frage geht, welche Rolle die Mobilitätswende dabei spielt, hat Katja Diehl viele gute Antworten. Mit ihrem Expertinnenwissen zeigt sie immer wieder konkrete Ideen und Konzepte auf, die uns aus der Abhängigkeit vom Auto befreien und die Städte sowie den ländlichen Raum lebenswerter machen würden.« Eckart von Hirschhausen »Katja Diehl hat ein Talent dafür, Lust auf Veränderung auszulösen. Bei der Mobilitätswende geht es ihr stets um die Menschen – das macht ihre Arbeit so wertvoll.« Claudia Kemfert »Die Menschenliebe ist Katja Diehls Motor, um sich unermüdlich für eine zukunftsfähige Mobilität einzusetzen. Sie ist eine wichtige und inspirierende Stimme zugleich.« Maren Urner
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Seitenzahl: 421
Katja Diehl
Während Katja Diehl in ihrem ersten Buch »Autokorrektur« Menschen mit ihren individuellen Bedürfnissen in Sachen Mobilität in den Fokus genommen hat, geht es ihr nun um die Hürden der Verkehrswende auf gesellschaftlicher und systemischer Ebene. Warum geschieht nichts? Warum verharren wir im Stillstand, obwohl das Wissen um eine zukunftsgerechte Mobilität uns allen zur Verfügung steht?
Die Mobilitätsexpertin schaut genauer hin: Welche Stellschrauben sind rostig – gesellschaftlich wie politisch? Welche Rolle spielen Industrie und Medien? Was hat die Wissenschaft zu sagen und welche rechtlichen Hindernisse gilt es zu überwinden? Katja Diehl spricht mit zahlreichen Expert*innen, aber auch mit Gestalter*innen, die die Transformation bereits voranbringen. So zeigt sie, wie aus den Visionen von Mobilität eine liebenswerte Welt werden kann.
Wer an Video- und Textmaterial der geführten Interviews in Originallänge interessiert ist: bitte QR-Code scannen und den Anweisungen folgen.
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Katja Diehl, geboren 1973, hat sich voll und ganz dem Mobilitätswandel verschrieben. Nach 15 Jahren in z.T. leitenden Funktionen der Mobilitäts- und Logistikbranche hat sie sich entschieden, das System von außen zu verändern. Sie hostet den Podcast »SheDrivesMobility«, berät Politiker*innen und hat für ihre Arbeit zahlreiche Preise erhalten. Ihr Buch »Autokorrektur« war wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste, sie selbst erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den Leserpreis des Deutschen Wirtschaftsbuchpreises 2022 und den Deutschen Mobilitätspreis in der Kategorie Menschen. Katja Diehl lebt in Hamburg.
Prolog Schnee von morgen
Teil 1 Problemzonen
Warum dieses Buch?
Verfügbarkeit
Sicherheit
Barrierefreiheit
Bezahlbarkeit
Die Ursachen
Über Macht und Politik
Über Freiheit
In eigener Sache – ein Rückblick auf Hass und Hetze
Teil 2 Der (Still)Stand der Dinge
Status quo Raum
Welche Stellschrauben sind rostig?
Status quo Lebensqualität und Gesundheit
Status quo Verkehrssektor und Autopolitik
Status quo Autoindustrie und Gesellschaft
Status quo der Alternativen zum privaten Pkw
Rechtliche Hemmnisse
Planungs- und Systemfehler, Lobbyismus und Industrie(politik)
Der Traum vom autonomen Fahren – und wie er die Mobilitätswende ausbremst
Medien
Gehirnschranken
Teil 3 Gestalter:innen
Transformation von Städten und Regionen
Berlin
Stadt und Region Hannover
Hamburg
München
Leipzig
Frankfurt am Main
Transformation der Mobilität
Transformation auf individueller Ebene
An einem Tag in – hoffentlich – nicht zu ferner Zukunft: Es war der erste Schnee meines Lebens –, und ich wusste nicht so recht, was ich von ihm halten sollte. Ein wenig wie winzige kalte Küsse auf meinen Wangen, zugleich ein etwas mulmiges Gefühl, ausgerechnet auf dem Fahrrad diese Premiere zu erleben. Und ich wusste jetzt schon, was mich zu Hause erwarten würde: Vorträge über »früher«. Jedes Weihnachten war es üblich, dass von »damals« erzählt wurde, wo es noch »weiße Festtage« gegeben hatte. Ein paar Fotos zeugten davon. Ich hatte das noch nie erlebt und wurde nun davon überrascht. Ich streckte die Zunge raus und fing einige der Flocken. Sie knisterten und verschwanden.
Dieses »Früher« ist für mich ein seltsamer Ort, den ich mir ohne all die Fotos und Videos auf den Geräten meiner Familie nicht vorstellen könnte. So absurd mutet manches an. Eingezäunte Plätze, zu denen die Kinder gebracht wurden, um unter der Aufsicht von Erwachsenen auf fest installierten Geräten »zu spielen«. Was für eine Kindheit sollte das sein? Kontrolliert von den sogenannten Vernünftigen, so dass nie zu hoch geklettert oder zu weit gesprungen wird, die eigenen Grenzen nicht gefühlt werden – was doch Teil des Lebens sein sollte. Dann diese kleinen Häuser, die neben den großen Häusern standen, in denen immer nur eine Familie wohnte. Häuschen so groß wie zwei Zimmer – um da ein Auto reinzustellen! Wenn meine Eltern von dieser Zeit erzählen, gebrauchen sie Wörter wie Parkdruck, ruhender Verkehr, Verkehrserziehung. Alles Begriffe, die nichts mehr mit meinem Leben zu tun haben, sich unwirklich anfühlen. Gedankenverloren radelte ich zwischen den Häusern in Richtung unserer Wohnung.
Und auch das hätte wohl in diesem »Früher« für aufgebrachte Erwachsene gesorgt. Denn es gab keinen freien oder sicheren Raum zwischen den Häusern. Dieser gehörte abgestellten, funktionslosen, auf Fotos riesig anmutenden Stahlschachteln. Maman hat sich auf einem der Bilder mit verschränkten Armen vor so ein Ding gestellt, die Motorhaube reichte ihr fast bis an die Schultern. So monströs sie waren, so wenig wurden diese Autos bewegt. Vor allem in Monaten, in denen z.B. die Linden ihren Blütensaft versprühten, wurde das deutlich – so erzählten es Maman und Mama, wenn wir mal wieder durch ihr »Früher« klickten. Die Windschutzscheiben waren dann komplett verschmiert und dadurch blickdicht. Windschutzscheibe – ein komisches Wort, wenn ich so drüber nachdenke, denn das Schönste am Radfahren ist für mich, den Wind auf dem Gesicht zu spüren.
»Früher« wurde das aber nicht hinterfragt, vor allem nicht von Menschen, die in diesem Autoraum groß geworden waren, sie empfanden Autos als Stadtmobiliar. Auch Maman und Mama erzählen, dass sie lange gar nicht wahrnahmen, was ihnen durch die Autos genommen wurde. Als sie es aber begriffen hatten, konnten sie nicht mehr wegsehen. Maman fing an, Papiersticker (Spuckis genannt) an Autos zu pappen, die – wie auch auf den Stickern zu lesen war – »scheiße geparkt« waren. Ihre Erzählungen von »früher« langweilen mich beizeiten. Ich glaube nicht, dass es so krass gewesen ist, wie sie es schildern. Aber ihre Begeisterung fürs Radfahren – die habe ich definitiv von ihnen geerbt.
Wenn ich mich an meine ersten Pedaltritte erinnere, muss ich unwillkürlich grinsen. Schon das Laufrad hatte mich so frei fühlen lassen. Klar, als kleines Kind kann man das noch nicht so beschreiben und begreifen, aber Maman erzählt heute noch davon, wie ich abends im Bett völlig übermüdet und mit dennoch strahlenden Augen erzählte, dass ich morgen wieder »Laufrad ballern« will. Klar, die Fahrten vorher im Lastenrad waren cool. Auch wenn ich Mama immer damit nervte, bei jedem Hund anzuhalten, weil ich selbst keinen haben durfte. Das war unser Deal, den sie wohl oft bereute. Denn es gibt viele Hunde in unserem Viertel. Aber Laufrad… DAS war Freiheit, das war ICH! Das erste Mal vielleicht einfach ICH. Mich spüren und erleben, was meine Muskeln und mein Körper zu bewirken in der Lage sind. So viel schneller als zu Fuß!
Und dann das erste Rennen. Mit Max auf seinem Dreirad. Ein wenig unfair, weil er den Status »Laufrad« einfach überspringen konnte. Meine Mama sagte mir immer, dass ich darüber nicht so nörgeln solle, Max habe Schwierigkeiten, allein zu laufen, und deswegen sei es fair, dass er schon so schnell auf seinem Dreirad war. Wir starteten stets nebeneinander – immer gewann er. Und es misslang ihm regelmäßig, dabei ein Pokerface zu bewahren. Das Strahlen fand immer einen Weg in sein erhitztes Gesicht. Er wohnte nebenan, mit ihm wuchs ich auf. Gemeinsam zur Kita, zur Grundschule. Mit vielen anderen. Es war schon cool, wie wir immer mehr werdend in einer bunten, plappernden Gruppe zur Kita gingen – die Kleinsten zogen wir in Bollerwagen hinter uns her.
Auch da muss dieses »Früher« ganz anders gewesen sein. Am schlimmsten fand ich bei den Videos von Maman und Mama den Lärm – und das Gefühl von Enge. Kein Wunder, dass sich da keine:r ohne Auto in die Straße traute. Anscheinend war es auch üblich, immer größere von diesen Pkw zu haben und trotzdem immer nur ein einzelnes Kind damit zum Ziel zu bringen. Wie gesagt: Ich glaube, meine Mütter übertreiben. Während ich so darüber nachdenke, weiß ich zudem auch gar nicht, wie sie ihr Leben organisiert hätten, bei der Zeit, die das gekostet hätte, mich zu fahren. Na ja, egal.
Das war es auch schon wieder mit dem Schnee. Dennoch fein, ihn mal gespürt zu haben. Auf der Haut.
Ich stellte mein Rad in eine der Boxen vor unserem Haus und checkte noch mal, was es im Tauschhaus gab. Leider diesmal keine spannenden Bücher dabei. Damit ziehen Maman und Mama mich immer auf, wenn ich von ihrem »Früher« gelangweilt bin. Aber mir sind Bücher lieber als das Lesen auf einem Bildschirm. Ich kann mir Passagen anstreichen, Eselsohren reinknicken und mit dem Papier arbeiten. Schade, dass es das heute für Autor:innen kaum noch gibt. Aber gerade deswegen liebe ich unser Tauschhaus so. Auch die Bank davor, wo vor allem die älteren Menschen des Viertels sich oft im Schatten der riesigen Bäume aufhalten. Es ist ein schönes Gefühl, die Gesichter und Geschichten derer zu kennen, die gegenüber und nebenan wohnen. Gruseliger Gedanke, dass Maman und Mama das nicht so kannten, als sie in meinem Alter waren. »Die Straße war wie Lava«, sagt Mama immer. Eigentlich sei sie immer, wenn sie aus dem Haus ging, auf der Straßenseite geblieben, weil davor zwei Reihen geparkte und zwei Spuren fahrende Autos waren. In einem WOHNgebiet. Absurd. Schon gut, dass ich im HEUTE und nicht im FRÜHER lebe.
Meine Smartwatch brummte, als ich die Tür der Box schloss. Es war Mama. Ich sollte noch beim Gemeinschaftsgarten vorbei und Grünkohl mitbringen. Sie hat eine Art inneren Kompass, der ihr sagt, wenn ich in der Nähe bin und noch was für sie erledigen kann. Aber nun gut, dann werde ich mal schauen, was die Natur uns heute noch zum Abendbrot geliefert hat.
Und damit endet meine Utopie. Was mir wichtig ist: Aus den Augen der Kinder von morgen wird unser Heute etwas sein, was überhaupt nicht mehr nachzuvollziehen ist. Das Schöne an Utopien ist, dass sie uns im Heute bewegen können, das Richtige zu tun, um diese Art von Zukunft zu schaffen. Dabei ist es nicht Ziel der Utopie, 1:1 umgesetzt zu werden, vielmehr stellt diese einen Sehnsuchtsort dar, der uns so magisch anzieht, dass wir bereit sind, den Status quo endlich als problematisch wahrzunehmen, und in Aktion gehen, Verbesserungen für alle zu erreichen. Ich möchte, dass alle Kinder so leben können wie das Kind in meiner Utopie: selbstbestimmt die eigene Mobilität entdeckend, unabhängig von Erwachsenen mit ihren Freund:innen die Welt für sich erobernd. Und das Beste daran: Wenn es allen gut geht, ist da auch kein Grund mehr für Hass. Wenn wir die Autos aus unseren Wohngebieten räumen, werden diese zu Lebensräumen mit vielen Freundschaften und sozialer Sicherheit. Doch vor dieser Utopie liegt – Sie ahnen es – noch etwas ganz Wichtiges: der erste Schritt. Der erste Schritt in die richtige Richtung. Der erste Schritt, das Offensichtliche, das Erkannte auch endlich anzuerkennen: Wir müssen weniger Wagen wagen. Nicht nur, um die Klimakatastrophe zu bekämpfen, sondern auch, weil eine Mobilitätswende so viel mehr Vorteile hat als die offensichtlichen in Sachen Umweltschutz. Da, wo des Deutschen liebstes Kind wieder das Kind und nicht das Auto ist, ist Raum für Begegnungen, für das Kennenlernen anderer Lebensentwürfe und für das Loslassen der Angst vor der/dem/den Fremden, die gerade zu viele von uns in die Arme rechter Parteien treibt. Es gibt keinen Grund mehr für diese Angst, wenn wir uns begegnen. Und diese bereichernden Begegnungen schafft, wer den Menschen in den Fokus nimmt. All das sind die Gründe, warum ich entgegen meinen Plänen so schnell ein zweites Buch schreiben musste. Alle Lösungen sind schon da. Aber Deutschland empfiehlt sich gerade als Worst Case der Verkehrswende. Ich habe mich aufgemacht, mit jenen zu sprechen, die uns Vorbild sein können. Aber beginnen möchte ich mit Expert:innen, die mit mir einen Blick darauf werfen, warum es uns so schwerfällt, die Welt mit deutlich weniger Autos und deutlich mehr Lebensqualität zu denken.
Gerechtigkeit – was ist das heute eigentlich? Eines kann ich jetzt schon verraten: Gerechtigkeit ist es nicht, die mich jeden Morgen manchmal leichtfüßig und frohen Herzens, manchmal eher schwerfällig und mit hängendem Kopf in den Tag starten lässt. Vielmehr Ungerechtigkeit. Wenn dieses Buch erscheint, ist mein erstes etwas über zwei Jahre alt. In Sachen Gerechtigkeit im Verkehrssystem hat sich kaum etwas getan, die Ungerechtigkeit ist es, die mich weiterhin keinen Feierabend spüren lässt. Mit dem ersten Buch habe ich eine Empathie-Einladung ausgesprochen, vor allem an all jene, die gern Auto fahren. Eine Einladung, Menschen kennenzulernen, die ohne Führerschein in Deutschland leben. Menschen, die durch eine Behinderung besondere Bedürfnisse an Mobilität haben. Wobei das »besonders« nur dadurch gekennzeichnet ist, dass unsere Norm einen sogenannten gesunden Menschen voraussetzt.
Mein zweites Buch ist getrieben von der Frage, warum wir nach wie vor im Stillstand verharren, was die Mobilitätswende angeht, obwohl doch sichtbar ist, dass die Bedürfnisse nach einer inklusiven, klimagerechten, zukunftsfähigen Mobilität vorhanden sind.
Mit der Frage, was Gerechtigkeit heute bedeutet, habe ich mich nach dem Erscheinen meines ersten Buches sehr viel auseinandergesetzt. Oft freiwillig, aber nicht selten auch gezwungenermaßen, denn plötzlich war ich eine öffentliche Person. Eine Person, die an allen möglichen und unmöglichen Orten beobachtet und bewertet wird. Eine Person, die an einem Tag als Teil der Autolobby gilt, dann aber wieder als Autohasserin bezeichnet wird. Du kannst noch so gefestigte Ansichten haben und vertreten – wenn anscheinend alles, was du äußerst, die Meinung von Menschen über dich prägt, wird es irgendwann anstrengend. Die anstrengendste Zeit in meinem Leben (ich hoffe einfach mal, dass sie damit auch hinter mir liegt) hatte ich im Februar 2023. In dieser Phase spielte Anna-Lena von Hodenberg, Geschäftsführerin von HateAid, eine wichtige Rolle für mich. Während ich diese Zeilen schreibe, stehen wieder Gespräche zu konkreten Bedrohungen gegen mich, zum Schutz meiner Person und Strategien gegen Hatespeech im Kalender. Und ja, auch während ich diese Zeilen schreibe, frage ich mich: Was ist Gerechtigkeit heute?
Ich kann keinen Gerechtigkeitsbegriff formulieren, der nicht globale Geltung hat. Und das ist schwer genug, weiß ich doch darum, dass ich – in ein liebevolles Elternhaus mit Zugang zu Bildung geboren, einen deutschen Pass besitzend – mit meinen Privilegien stets eher Teil des Problems denn der Lösung sein werde. Mein Lebenswandel als weiße Frau im Globalen Norden beruht auf Abhängigkeiten, die diesen Globus umspannen. Nahezu jedes von mir konsumierte »Ding« wirft einen Schatten der Ausbeutung, Ungerechtigkeit, Zerstörung hinter sich, den ich nur minimieren, aber nie eliminieren kann. Zumindest aber kann ich mir diesen bewusst machen, kann demütig und dankbar dafür sein, in diesem privilegierten Land leben zu können, weil ich bei der Geburtslotterie Glück hatte.
Was hat das mit Mobilität zu tun? Eine Menge!
Denn wenn ich eines jeden Tag aufs Neue und tiefergehend lerne, dann ist es der Fakt, dass Mobilität eben nicht »von A nach B kommen« bedeutet, sondern vielschichtig, verästelt und vor allem mit vielen Privilegien und Routinen verbunden ist, die eine sachliche Debatte zunehmend unmöglich machen. Wir alle wollen gute Menschen sein, verstärken aber dennoch in Deutschland den Trend, dass immer größere Pkw mit immer weniger Menschen an Bord immer weniger bewegt werden. Aufbauend auf Ressourcen, die aus dem Globalen Süden kommen. Gerechtigkeit sollte heute unter anderem bedeuten, Autos für Deutschland nur noch zu bauen, wenn sie effizient genutzt werden. Davon sind wir weit entfernt. Wir reißen weiter brachial wertvolle Rohstoffe aus der Erde anderer, schiffen diese um die gesamte Welt, damit vor unserer Haustür – und vor allem vor den Villentüren Wohlhabender – immer neue Autos platziert werden können.
Es lässt mich fassungslos staunen, dass ein Land wie Deutschland steigende Emissionen im Verkehrssektor genauso lethargisch akzeptiert wie immer mehr Ressourcenbedarf. Deutschland hat kaum eigene Ressourcen. Schauen Sie sich vor Ihrem inneren Auge mal ein deutsches Auto an und überlegen Sie, wie das aussähe, wären ausschließlich deutsche Materialien verwendet worden. Da bleibt nicht viel, oder?
Ich weiß, es klingt pathetisch, aber ich beginne jeden meiner Tage mit »danke« und »Demut«. Laut ausgesprochen. Weil ich um das Geschenk weiß, das mir gemacht wurde. Und deswegen ist der Kampf gegen Ungerechtigkeit auch der größte Antreiber meiner Arbeit. Gerechtigkeit in einer klimagerechten Welt bedeutet vor allem: Wie wollen wir in Zukunft leben – auch im Hinblick auf jene, die am schwersten unter den Folgen unseres hypermobilen Lebensstils leiden?
Mit diesem Buch möchte ich im ersten Teil wieder Expert:innen versammeln, die mit mir in die Problemanalyse gehen. Warum geschieht trotz aller Erkenntnis, aller wissenschaftlicher Fakten um planetare Grenzen, Kipppunkte und CO2-Restbudgets ausgerechnet im Verkehrssektor nichts, was Gerechtigkeit gewährleistet, vor allem zukünftigen Generationen und dem Globalen Süden gegenüber? Im Gegenteil: Wir fahren rückwärts! Steigende Emissionen und Autozulassungszahlen sind der Beweis der verfehlten Verkehrspolitik.
Fast schon reflexhaft werden »die Armen«, die »Arbeiter:innen, die ohne Auto nicht zur Arbeit kommen könnten«, »ältere Menschen im ländlichen Raum« und »Behinderte« vorgeschoben, wenn es um den notwendigen Umbau unseres autozentrierten Systems geht. Nie sonst interessieren sich Bürger:innen und Politik für diese Gruppen, es sei denn, sie können als Ausrede dienen, warum auch weiterhin kaum Geschwindigkeit bei der mobilen Transformation aufgenommen werden kann. »Wir müssen alle mitnehmen« ist ein vergiftetes Versprechen, weil es nicht ehrlich ist. Denn das »alle« bezieht sich ausschließlich auf jene, die heute noch im Auto sitzen. Es bezieht sich nicht auf die 26 Millionen Erwachsenen und Kinder ohne Führerschein. Es bezieht sich nicht auf die Radfahrer:innen und den Fußverkehr. Es fokussiert sich ausschließlich auf die Gruppe der Autofahrenden, von denen sicher nicht wenige aktuell noch vom Auto abhängig sind, um ihr Leben zu bestreiten.
Die Frage ist: Was sagt es über ein hoch entwickeltes Land wie Deutschland aus, dass in vielen Regionen nur leben kann, wer Führerschein UND Auto bezahlen kann? Wobei bezahlen ja so auch nicht stimmt, »die dicksten Karren sind eh geleast«, wie ein Banker in meinem ersten Buch sagte. Und auch diese als Automenschen gelesenen Personen gehen meist zu Fuß zum Auto oder fahren auch mal Rad. Sie haben Kinder und Enkel, denen es in der aktuellen Gesellschaft unmöglich gemacht wird, selbstbestimmt Mobilität zu erleben, weil es da draußen zu gefährlich ist – wegen der Autos.
Was für ein absurder Kreislauf!? Der erste Schritt des Kindes wird noch bejubelt, alle familiären Chatgruppen mit diesem überschwemmt. Danach lernt das Kind aber, diese Selbstbestimmung im Draußen wieder aufzugeben. Draußen geht nur in Begleitung Erwachsener, denn für Kinder wurde diese Welt nicht geschaffen. Sondern für Autos. Weil mich das schmerzt, gehe ich in diesem Buch auch auf das Phänomen des »Adultismus« ein, der Altersdiskriminierung von Kindern.
Zu meinem ersten Buch wurde mir häufig gespiegelt, dass es den Blick auf die Welt massiv verändert und belastet hat. »Da sind ja wirklich überall Autos!«, hieß es nicht selten als Feedback.
Ich fürchte, das wird auch nach diesem Buch nicht anders sein. Gehe ich doch mit »meinen« Expert:innen in eine schonungslos ehrliche Analyse des Status quo: Wie konnte es so weit kommen, dass der Deutschen liebstes Kind in allen Facetten des Lebens das Auto wurde – und nicht, was naheliegen würde, das Kind? Stellen Sie sich mal vor, die Welt würde den Bedürfnissen von Kindern folgend umgebaut. Ich glaube, da hätten wir Erwachsenen jede Menge Platz – im Gegensatz zu der Einschränkung, die die erwachsene Welt für die Kinder bedeutet.
Aber nicht nur durch meine Gespräche mit Expert:innen werden Sie zuweilen neue Erkenntnisse und Blickwinkel sowie Zusammenhänge kennenlernen. Denn natürlich möchte ich Sie nicht demotivieren, sondern entflammen für die Idee einer menschengerechten Mobilität, die allen zum Vorteil gereicht. Und deswegen habe ich die Macher:innen (auf)gesucht und mit ihnen, die sie die Welt bereits seit Jahrzehnten zum Besseren verändern, über ihre Antriebe, Ideen, Erfolge gesprochen.
Dieses Buch soll Hoffnung schenken und zeigen, dass alles möglich ist, wenn wir nur wollen und als Team zusammenwirken. Vielleicht braucht es dafür gar keine Bundespolitik; Mobilität und ein gutes Leben sind regional und lokal zu gestalten. Es gibt unfassbar viele Vorbilder, denen nachgeeifert werden kann. Ideen dürfen geklaut und Ideengeber:innen auch mal kontaktiert werden. Wie hast du das gemacht? Ich will das auch! Das kann ein guter Aufschlag sein, um selbst eine kleine Revolution zu starten. Denn weniger scheint es nicht zu sein, wenn wir weniger Wagen wagen.
Ich möchte Sie mit diesem Buch versetzen in den Status eines weißen Blatt Papiers: Was würden Sie sich wünschen, wenn Sie Ihren Alltag ideal gestalten sollten? Wenn wir JETZT beginnen würden, unsere Lebensräume zu gestalten: Ist das, was Sie vor der eigenen Haustür in der Stadt sehen, wirklich so erhaltenswert? Sind die Stunden, die Sie wöchentlich im Auto sitzen, weil Sie ländlich wohnen und kein Bus mehr fährt, wirklich so viel wert, dass Sie sie nicht gegen Familienzeit eintauschen wollen würden? Denken Sie mal nach: Was ist wirklich erhaltenswert, was ist einfach nur Routine oder vielleicht auch eine Bequemlichkeit, die sich allmählich gar nicht mehr so gut anfühlt, weil Sie sich der Konsequenzen Ihrer Automobilität für andere immer bewusster werden?
Ich lerne täglich etwas dazu in Sachen Gerechtigkeit und Bedürfnisse anderer Menschen. Dafür muss ich gar nichts anderes tun, als Bahn und Bus zu fahren, Lesungen und Vorträge zu halten, schlicht mit den Menschen in die Begegnung zu gehen, die nicht wenige mit dem Auto so gern vermeiden wollen. Auch in den toxischen Kommentaren zu meinen Äußerungen in Medien und auf Social Media finden sich Aussagen wie »Ich will aber nicht mit stinkenden Menschen im Bus sitzen« oder »Ich habe keine Lust auf Menschenmassen«. Alles valide Punkte für Menschen, die zukünftig reale Kosten für das Auto zahlen werden (müssen). Denn solche Aussagen zeigen, dass diese Menschen anscheinend auch anders und damit klimagerechter unterwegs sein könnten, sich aber weigern, ihren Teil beizutragen zur Verbesserung für alle. Es ist ungerecht, die Freiheit anderer für die eigene Freiheit bewusst einzuschränken. Auch wenn uns die FDP immer wieder anderes weismachen will.
Neben jenen, denen der Auto-Status-quo vielleicht sogar viel Freude bereitet, gibt es die Gruppe jener, die nicht Auto fahren kann. Und auch hinter dem Lenkrad sitzen viele, die gern anders mobil wären, die aber keine Wahl haben, als Auto zu fahren. In meinem ersten Buch habe ich verschiedene Stimmen gesammelt, Menschen »wie du und ich« haben mir von ihrer Mobilität erzählt, nicht wenige von ihnen fahren Auto. Aber tun sie das wirklich auch selbstbestimmt? Das wird ja immer behauptet, wenn die Zulassungszahlen jährlich steigen… Aktuell kommen auf jeden Menschen zwischen 0 und 120 Jahren in Deutschland 0,6 Autos. Nur maximal zehn Prozent der Pkw bewegen sich gleichzeitig, es stehen immer mindestens 90 Prozent irgendwo rum (nicht selten im Weg oder im öffentlichen Raum oder beides zugleich).
Würden alle Deutschen in alle Autos steigen, blieben alle Rückbänke leer. Im beruflichen Pendelverkehr liegen wir aktuell bei einem Besetzt-Grad von 1,057 Personen. Schon diese wenigen Zahlen beweisen, wie irrational Auto(im)mobilität ist. Das ist nicht gesund. Weder für die Insass:innen der Fahrgastzelle noch für jene, die ohne Auto mobil sein wollen. Dennoch wird das Auto nicht als Problem von Abhängigkeit erkannt, sondern als Lösung missdeutet. Jahrzehntelangem Konsum von Kinowerbung, Verfolgungsjagden in Krimis und FDP-Parteitagen sei Dank. Es gibt das Genre Roadmovie (maximale Ausnahme ein paar Motorradfilme) und Romane über Roadtrips. Geradezu untrennbar wird der Führerschein mit dem Erwachsenwerden verbunden, wobei ich manche Diskussion mit Autofans beizeiten eher als pubertär empfinde.
Um hier einen Perspektivwechsel hinzubekommen, hatte ich mit den Menschen, die aktuell Auto fahren, den immer gleichen Einstieg gewählt. Zwei Fragen: »Willst du oder musst du Auto fahren?« und danach »Kann ein Mensch ohne Führerschein dein Leben leben?«.
Die erste Frage hatte sich kaum eine autofahrende Person je zuvor gestellt, was zeigt, wie tief in uns steckt, dass Autofahren die »Werkseinstellung« von Mobilität in Deutschland ist. Ich erlebe bei manchen Lesungen, dass vor allem Herren, aber auch Damen, mich geradezu triumphierend fragen, welche Lösungen ich denn bitte schön für ihr Dorf oder ihre Stadt hätte. Natürlich denken sie, es gäbe keine. Bevor ich auf meine Ideen zu sprechen komme, frage ich gern: »Ich kenne mich hier vor Ort nicht gut aus, bin das erste Mal in XY. Und ich würde mich daher freuen, wenn Sie zunächst Ihre Ideen mit mir teilen, damit ich von Ihnen lernen kann.« Meist war die Person dann wütend auf mich, dass ich diese Frage einfach zurückgab. Weil sie keine Antworten hatte, ideenlos war – und es am liebsten auch bleiben wollte, weil der Status quo ihr nun mal echt gut passt – zumindest auf den ersten Blick.
Manch einer Person musste ich darüber hinaus noch den Unterschied erklären zwischen müssen und wollen. Ich versuchte es mit dem Bild einer Person, die kaum noch schlafen kann vor Vorfreude, bis es endlich wieder ins Auto geht, und einer, die am Frühstückstisch leicht genervt noch einen zweiten Kaffee trinkt, um das tägliche Stehen im Stau noch etwas hinauszuzögern.
Ergebnis: 80 Prozent der Autofahrten waren eher Müssen als Wollen. Und damit Zwang. Wie dieser Zwang entsteht, dazu komme ich noch. Die Menschen konnten durchaus Autofahrten benennen, die sie genießen. Meist an den Wochenenden (also an den Tagen mit mehr Zeit und weniger Verkehr), auf dem Weg zu einem Ziel, was Vorfreude erzeugt (und das ist meist nicht der tägliche Arbeitsweg), und unter idealen Bedingungen – bei Sonne, ohne Stau an einem freien Tag ein wenig cruisen. Diese Fahrten betreffen also nicht wirklich eine Mobilität, die den Alltag widerspiegelt, sondern die Ausnahme ist. Und in der Ausnahme dann eben auch Spaß macht. Na klar, es gibt Menschen, die jede Fahrt in ihrem Auto genießen, nicht umsonst habe ich es gerade mit Auto-Posern zu tun, die mich lächerlich machen oder behaupten, ich würde ihnen was wegnehmen wollen. Bei diesen Menschen kratzt das Auto aber schon an einem sehr kostenintensiven Hobby, was ich nicht auf die gleiche Hierarchieebene mit »meine Ziele erreichen«, also etwas Pragmatischem, setzen möchte.
Also: Was bringt die Menschen ins Auto bzw. was hält sie davon ab, es zu verlassen und auf andere Verkehrsmittel zu setzen? Ich identifiziere vier wesentliche Aspekte:
Um Menschen den Ausstieg aus dem privaten Pkw zu ermöglichen, braucht es verfügbare Alternativen. Es ist das eine, an einen Ort zu ziehen, wo es sich nur mit dem eigenen Auto gut leben lässt. Diese freiwillige Abhängigkeit kann ich nur verstehen, wenn ab dem ersten Tag im neuen Heim lautstark Alternativen eingefordert werden. Schon eine Erkrankung, die Einnahme eines Medikaments oder der Jobverlust – und damit weniger Geld – können dazu führen, nicht mehr Auto fahren zu können. Dann den Alltag zu organisieren, wird schwer. Auch hier haben viele Länder es besser gemacht als Deutschland. Entweder haben sie neben der Autozentrierung auch die klare Radzentrierung zugelassen (Niederlande, Dänemark), oder sie haben die phantastischen Nah- und Fernverkehrssysteme gepflegt und aufgebaut (Schweiz, Österreich), statt – wie in Deutschland – nur eine und dann auch noch private, hoch subventionierte und Dritte belastende Mobilitätsform zu pushen: das Auto.
Die Zerstörung nach dem Zweiten Weltkrieg, die in der Infrastruktur unseres Landes dafür vorgenommen wurde, übertraf jene der Kriegsjahre. Kirchen, Fachwerkhäuser, kleine Schlösser wurden abgerissen, um Autobahnen durch zuvor gesunde Viertel zu trümmern. Damit ist aber auch eines klar: Unsere Städte in Europa haben im Vergleich zu anderen Städten einen echten Vorteil: Es war der Mensch, der bestehende Struktur dem Auto untertan machte. In den USA und Asien entstanden Städte MIT dem Auto. Hier wird es wesentlich schwieriger werden, menschen- und klimagerechte Strukturen aufzubauen. Bei uns in Deutschland ist es eher ein »back to the roots«, eine Rückbesinnung auf die Stadt und das Dorf der kurzen Wege, die wir aufgaben, weil wir der Verlockung des Autos in völlig irrationalem Ausmaß erlagen.
Politik und Autolobby wollen nicht, dass Sie an die Wahrscheinlichkeit denken, auf der Straße zu sterben oder jemanden mit dem eigenen Auto zu töten. Im Durchschnitt wurde 2022 alle 20 Minuten ein Kind bei einem Unfall verletzt oder getötet. 25755 Kinder wurden (schwer) verletzt, 51 verloren ihr Leben.
Das muss sich dringend ändern. Vision Zero muss das Ziel sein, also null Verkehrstote. Wer das Ziel ernst nimmt, das sich versteckt auch im aktuellen Koalitionsvertrag findet, muss radikal anders denken und handeln. Die Schwächsten im Verkehr zu priorisieren, bedeutet, Autos ihre Privilegien zu nehmen. Denn Kinder, Ältere und Behinderte können sich nur dort sicher bewegen, wo für ihre Bedürfnisse gute und sichere Wege existieren. Also baulich getrennte Radwege, die verzeihen, wenn Kinder noch recht impulsiv Rad und Roller fahren. Autofreie Bereiche ohne Ampeln, damit altersbedingt langsame Menschen in ihrem Tempo die Stadt erkunden können. Und breite Gehwege mit guter Infrastruktur für Menschen mit Rollstuhl oder anderen heute noch unbefriedigten Bedürfnissen an selbstbestimmte Mobilität. Sicherheit ist immer auch Paradoxon, Dilemma und individuell. Fakten und Statistiken helfen eben nicht, Sicherheit zu fühlen, nur die Befriedigung der persönlichen Ansprüche an Sicherheit kann das.
»Erwartungsgemäß gibt es bei diesem Thema große Wahrnehmungsunterschiede zwischen Männern und Frauen. Kritik kam deshalb auch aus Kreisen der feministischen Stadtplanung, die Frauenparkplätze und Heimwegtelefone als reine Symptombekämpfung bemängelte. Frauen seien durch derartige öffentliche Hilfestellungen zwar nicht mehr vom Schutz ihrer Männer abhängig, stattdessen aber beispielsweise vom Nachtfahrangebot der städtischen Verkehrsbetriebe.«[1] In anderen Ländern gibt es ab Anbruch der Dunkelheit z.B. Busse, die auch zwischen Haltestellen stoppen, damit Fußwege verkürzt werden können. E-Scooter ersetzen in manchen Ländern weibliche Taxiwege und sparen somit Kosten für die Personen, weil sie sich auf dem Scooter stehend sicherer fühlen, als wenn sie zu Fuß gehen.
Bei Barrierefreiheit denken viel zu viele nur an Menschen im Rollstuhl. Und ja: Diese sind stark betroffen von unserem behindertenfeindlichen Mobilitätssystem vor allem im Fernverkehr der Bahn. Ich habe dazu Interviews geführt mit Menschen im Rollstuhl, die das nicht hinnehmen, Missstände aufdecken, aber auch kooperativ dieses phantastische Verkehrsmittel Richtung barrierefreie Zukunft entwickeln wollen.
Barrierefreiheit heißt aber auch, das »Zwei-Sinne-System« zu beachten. Also alle Angebote der Mobilität durch Ansprache von mindestens zwei Sinnen zugänglich zu machen. Behinderte wollen sich selbstbestimmt bewegen, und das müssen die Gesunden ihnen ermöglichen, die spätestens im Alter auch begeistert sein werden, wenn weniger Barrieren ihr Leben erschweren.
In meiner Podcast-Episode mit Viktoria Brandenburg vom Designstudio Die Informationsdesigner habe ich vertieft reingeschaut, wie normiert Informationen zur Automobilität sind. Autobahnschilder sind überall in derselben Farbe, derselben Schrift – ein durchgehend stringentes System in allen Ecken unseres Landes. Und wenn wir dann in den Nahverkehr gehen, in Busse und Straßenbahnen einsteigen wollen, ist das im Vergleich unfassbar verwirrend, weil jeder Verkehrsanbieter sich eigene Systeme ausgedacht hat. Und so kann es sein, dass Menschen deshalb nicht einsteigen bzw. aus dem Auto aussteigen, weil sie schlicht das System der Alternativen nicht verstehen. Kommunikation ist Basis jedweder Veränderung, wenn diese nicht stimmt, verändert sich nichts, weil der Status quo so viel vertrauter ist als das Neue.
Barrierefreiheit ist kein »nice to have«, es ist sogar im ÖPNV seit Jahren europaweit gesetzlich vorgeschrieben. Was manche Verkehrsanbieter:in nicht kümmert, weil dieses Recht ein zahnloser Tiger ohne Möglichkeit der Klage ist. So war 2023 nur ein Prozent der Autoladesäulen barrierearm – und wieder einmal haben die Betroffenen selbst angestoßen, hier die Standards neu festzuschreiben. Es ist unglaublich! Da wird eine völlig neue Infrastruktur in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts so gebaut, dass Menschen im Rollstuhl sie nicht nutzen können.
Daher bestehen zu Recht auch große Ängste bei Menschen mit Einschränkungen, in der Mobilitäts-Transition erneut nicht mitgedacht zu werden, so wie es seit Jahrzehnten nicht geschieht. Diese Ängste werden geschürt durch Politiker:innen, die keine Mobilitätswende, sondern paternalistisch das Auto im Leben der Menschen mit Einschränkungen manifestieren wollen. Wer mit diesen Menschen spricht, weiß, dass diese oft finanziell nicht gut aufgestellt sind und ein Auto eine echte Belastung sein kann. Damit kommen wir zum vierten und letzten Punkt, der Menschen im Auto verharren lässt.
Am Beispiel des Neun-Euro-Tickets wurde 2023 deutlich, was geschieht, wenn Menschen mobil gemacht werden. Das Ticket, das drei Monate parallel zum Tankrabatt lief, brachte Menschen in die Züge, die sonst keine Mobilität haben. Ich unterhielt mich mit älteren Damen, die mit ihren Freund:innen Ausflüge in die Region machten. Mit Jugendlichen aus kinderreichen Familien, die sich das Schülerferienticket nicht leisten können, für die nun aber vier Wochen Abenteuer in den Sommerferien erschwinglich waren. Von Norden bis Süden, von Osten bis Westen. Ich habe viele Gespräche zum Ticket geführt, weil dies in die Hochphase einer Lesetour fiel – so viele zauberhafte Begegnungen, Erzählungen und selbstbestimmte Mobilität! An manchen Stellen ist das System, wie nicht anders zu erwarten, an seine Grenzen geraten. Menschen mit Einschränkungen mieden den Nahverkehr, da sie in dieser Zeit noch schwächer im System gemacht wurden, als es eh schon geschieht. Dennoch: Dieser »Versuch« zeigte, dass es für viele Menschen auch das Geld ist, das klimagerechtes Reisen unmöglich macht.
Warum fällt es uns so schwer, weniger Wagen zu wagen, obwohl Pkw nachweislich nicht nur die deutlich größte CO2-Quelle im Verkehrssektor sind (noch vor Fliegen und Schwerlastverkehr zu Lande und auf der See!), sondern auch so viele weitere Probleme verursachen?
Es scheint fast so, als sei es das Unmöglichste, die Deutschen und viele andere aus dem Auto aussteigen zu lassen. Über nichts habe ich in den letzten Wochen mehr nachgedacht: Welchen Anteil hat unsere Autoabhängigkeit – das Podest, auf das wir das Auto heben, und das Leben, das wir um das Auto herum gestaltet haben – an der gesellschaftlichen Spaltung? Und wenn ich das auf Bühnen äußere, geht immer ein Raunen durch die Menge. Das möchte niemand zusammenbringen. Leider sehe ich durchaus einen Zusammenhang. Weil wir aneinander vorbeifahren, weil wir da einsteigen, wo wir alle kennen, und da aussteigen, wo wir alle kennen, begegnen wir einander nicht mehr zufällig. Selbst bei meinen Eltern im verstädterten ländlichen Raum beobachte ich kaum noch »Zaungespräche« oder »Gehweg-Begegnungen«, weil so viele für jeden Weg in ihr Auto steigen. So sind rollierend organisierte Geburtstagsabende zwar fester Teil der Nachbar:innenschaft, aber diese Begegnungen sind dann gerade im Alter auch das Einzige. Sich zufällig zu begegnen an sozialen Orten ist unmöglich, weil es diese hier nicht mehr gibt. Der kleine Supermarkt ist weg, der Kiosk, andere kleine Läden. Den nächsten Kaffee, den gäbe es an der Kuchentheke einer Bäckerei im Discounter auf der grünen Wiese.
In meinem ersten Buch habe ich den Status quo der Mobilitätswende historisch, in Bezug zu Raum und anderen Parametern gemeinsam mit meinen Interviewpartner:innen erörtert. Diese Gliederung möchte ich auch in diesem Buch nutzen, um die verschiedenen Facetten zu beleuchten, die Ursache des Stillstands sind. Denn seien wir ehrlich: Der Markt für das Auto ist längst übersättigt. Das zeigen Staus von einer Länge mehrfach um den Äquator, verlorene Lebenszeit und Gesundheit beim Pendeln und Parksuchverkehr mit einem Anteil von bis zu 40 Prozent am Stadtverkehr.
Die Dystopie, wie es bei höherer und paralleler Nutzung auf unseren Autostraßen aussähe, kann nur abschrecken. Eigentlich müssten alle Autofahrenden jeden Tag mit einem Dankesgruß an jene beginnen, die durch Nutzung anderer Mobilität klimagerechter unterwegs sind – und ihnen damit Platz machen. Es muss – auch ohne Klimakatastrophe – Schluss sein mit Autostraßenbau. Es müssen alle Ressourcen von Geld bis Personal investiert werden in alles von Fuß bis Bahn. Mobilitätswende ist kein Umwelt-, sondern ein Gerechtigkeitsprojekt. Aber noch nicht mal die Klimakatastrophe und das jetzt schon um uns herum kollabierende Ökosystem sind in der Lage, uns von der Auto-Nadel wegzubringen. Wie eine abhängige Person reden wir uns ein, dass das Toxische, das wir anderen – aber auch uns! – aktuell mit dem Auto antun, eine Art Naturzustand ist.
Geradezu prophetisch muten hier auch die Worte an, die der Ökolandwirt Ulf Allhoff-Cramer in unserem Austausch nutzte, lange vor den so genannten Bauernprotesten: »Wie soll man mit der traumatischen Erfahrung klarkommen, dass dieser Wald, den mein Vater vor 70 Jahren gepflanzt hat, innerhalb von drei Jahren abstirbt? Es gibt keine Chance mehr, den Wald in einen naturnahen Mischwald umzubauen, was mein Plan war. Früher gab es zwei Grundsätze, die eine unheimliche Bedeutung haben in der Landwirtschaft. Einmal: Die Natur gleicht alles aus. Und der andere war, dass alle Bauern versuchen, den Hof besser an ihre Kinder zu übergeben, als sie ihn übernommen haben. Beides ist in der Krise. Fundamentale Gewissheiten gelten nicht mehr. Aber die sind doch unser gemeinsames Erbe, ein intaktes Klima ist doch unser aller Menschenrecht. Das darf nicht in Frage gestellt werden durch eine Politik, die es offenbar wichtiger findet, fossile Konzerne wie die Auto-, die Flug- und die Kohleindustrie zu schützen. Irgendwie müssen wir schaffen, diese Ungerechtigkeit und dieses Fehlverhalten aufzuzeigen, so dass eine positive Stimmung für den notwendigen radikal wirksamen Klimaschutz entsteht im Land. Dieser Klimaschutz muss radikal sozialverträglich sein, damit er akzeptiert wird.
Es gibt keine Alternative dazu, jetzt das Ruder herumzureißen und die notwendigen Dinge zu tun. Diese Klimakrise ist schon bald nicht mehr heilbar.«
Was zieht Menschen in die Politik, in kommunale Ämter, in Positionen mit Gestaltungsmacht? Und wie unterscheiden sich diejenigen, die diese Macht der Allgemeinheit und nicht dem eigenen Machterhalt widmen, von anderen, die die notwendigen Transformationsprozesse auch in der Mobilität so stocken, bisweilen sogar rückwärts laufen lassen? Ich nehme nicht wahr, dass die Bevölkerung einer strukturierten und am Gemeinwohl orientierten Veränderung verschlossen ist. Studien zeigen hier eine Offenheit, die sich aber nur in die Veränderung von Routinen und Lebenswandel drehen kann, wenn Politik neue Regeln aufstellt. Wobei ich von Beginn an deutlich machen möchte, dass Politik nicht nur im Bundes-, Landtag oder in Landkreisen sitzt. Politik sind wir in der Demokratie alle. Wir alle sollten daher auch mitformen und -gestalten, was für uns die lebenswerte Zukunft ist. So auch Planer:innen von Stadt- und Landräumen, Wissenschaftler:innen mit ihren Erkenntnissen rund um Themengebiete, die die Mobilität mitprägen, Architekt:innen mit einem neuen, weil klima- und sozial gerechten Berufsverständnis.
Mobilitätsforscher Till Koglin berichtet aus seiner Wahlheimat, dass in Schweden Forscher:innen an Universitäten die Aufgabe hätten, Forschungsergebnisse an die Allgemeinheit zu bringen. Er schreibe daher viele Berichte auf Schwedisch, da wissenschaftliche Publikationen sonst nur auf Englisch erschienen, was eine sprachliche Barriere darstellen kann. Genutzt werde zudem eine einfache Sprache, oftmals mit Empfehlungen, was zu tun ist auf Basis der Ergebnisse. Auch die Energieökonomin Prof. Dr. Claudia Kemfert erklärt, dass Wissenschaftskommunikation ganz klar Auftrag ihrer Forschungsarbeit ist.
Maria Vassilakou ist ehemalige Bürgermeisterin von Wien. Sie sagt, Macht bleibe ohne Wirkung, wenn der Zwang zum Machterhalt überbordend wird. Macht sei ein Paradoxon. »Wenn du nicht weißt, was du tun willst und wenn es auch nichts gibt, was dich bewegt, für was du brennst, dann hast du de facto keine Macht. Du hast sie nominell, aber du weißt sie nicht zu nutzen. Und wenn du etwas tun willst, kommst du drauf, dass du nie genug Macht hast. Eigentlich ist Macht etwas, das man so gut wie nie hat, wenn und wofür man es braucht. Es gibt zwei Sorten von Politiker:innen. Die einen sind auf Machterhalt aus, da geht es eher um Verteilung von Ressourcen und Posten an diejenigen, die einem nahestehen. Und die anderen nehmen ihre Wahl als einen Auftrag zum Handeln, seitens derjenigen, die sie für bestimmte Ziele gewählt haben. Die stellen bald fest, dass die Macht nicht automatisch mit dem Amt kommt, sondern jeden Tag neu ausverhandelt werden muss.«
Eine ähnliche Sicht auf Macht hat Kirsten Pfaue, Amtsleiterin Mobilitätswende Straßen in Hamburg: Macht zu haben empfindet sie als etwas Positives. »Macht beschreibt die persönlichen Gestaltungsmöglichkeiten und den Wirkungskreis. Macht hilft, Entscheidungen herbeizuführen, Lösungen zu finden, Konflikte zu lösen, die Umsetzung von Maßnahmen voranzutreiben. Was häufig an ein Schachspiel erinnert.«
Alle von mir interviewten Menschen verkörpern das, was ich sehen möchte, ob in politischen Ämtern oder Machtfunktionen an anderer Stelle: Die Gestaltung der Zukunft in einer Gegenwart, die nicht mehr zeitgemäß ist, die Lenkung des Blickes zurück auf die Menschen und damit weg vom Auto. Keine:r von ihnen will (so wie auch ich) Autos komplett abschaffen, diese aber um ihre Privilegien erleichtern, sie zurückführen auf das, was sie sein sollten: eine Mobilitäts-Form von vielen, gerade auch in der Stadt, mit Ausstrahlung in ländliche Räume hinein. Denn sind erst mal richtig lebenswerte Räume und ein gutes Miteinander in der Stadt entstanden, dann bemerken vielleicht auch die Menschen auf dem Land, wie groß die Vorteile eines Alltags ohne Autodominanz sein können.
Anja Sylvester von LandLogistik kennt das von ihren Projekten im ländlichen Raum. Sie erlebe Macher:innen vor Ort, die ein Potenzial erkennen und entscheiden: »Wir packen das jetzt an!« Diese Menschen haben den Mut, eine Entscheidung zu treffen, und stehen dafür ein. Es brauche diese starken Multiplikator:innen, die über ihren Schatten springen und trotz bestehender Richtlinien und Hemmnisse neue Wege zum Wohl ihrer Region beschreiten, da sie selbst von der Chance des möglichen Ergebnisses überzeugt sind.
Und das möchte ich mit meinem Buch erreichen: Jenen, die in Macht sind, zurufen, dass sie viele hinter sich haben, die die Veränderung wollen, aber auch jene wachrütteln, die die Transformation herbeisehnen, diesen Wunsch aber kaum wahrnehmbar platzieren. Wir machen überall den Fehler, auf jene zu hören, die laut brüllen, Hauptsätze verwenden und Komplexität unlauter vereinfachen. Die uns vorlügen, es könne alles so bleiben, wie es ist. Die Klimakatastrophe leugnet kaum noch ein Mensch öffentlich, aber die Ableitungen, was gegen sie unternommen werden muss, werden in Zweifel gezogen. Die Transformation wird so mutwillig aufgehalten, nicht zum Besseren für alle, sondern vor allem für eine bestimmte Industrie und hochmobile, fossile Lebensstile.
Beim Verein Lobbycontrol beschäftigt sich Christina Deckwirth mit den Rahmenbedingungen, die eine Autopolitik erst möglich machen. Und im Umkehrschluss natürlich auch damit, wer eben nicht an der Verkehrspolitik beteiligt wird. Bei der Autolobby ist es laut Christina immer noch selbstverständlich, dass sie in die Politik einbezogen wird. Das Verkehrsministerium könnte sich eigentlich Straßenbau- und Autoministerium nennen. Den Autoverkehr in den Mittelpunkt zu stellen, sei DNA dieses Ministeriums, wo es immer noch eine Selbstverständlichkeit sei, dass die Hauptgesprächspartner die Autokonzerne und der VDA, der Verband der Automobilindustrie, seien.
Die Bundesregierung trete in Brüssel als Lobbyistin oder verlängerter Arm der Autoindustrie auf. Präsident des VDA war lange der ehemalige Verkehrsminister Wissmann. Der habe praktisch Gesetze geschrieben und an die Ministerien herangetragen. Schon bevor andere ins Spiel kamen, war also alles ausgedealt. Das sei immer noch so möglich. Laut Christina müsse die Politik adressieren, dass Verkehrspolitik mehr ist als Autopolitik.
Der Verkehrswissenschaftler Heiner Monheim beobachtet dieses Phänomen seit Jahrzehnten: »Der Bund ist bei der Verkehrswende eher der Bremser und keinesfalls der Antreiber. Die Fixierung auf die Antriebswende ist ein ›Placebo‹ anstelle der dringend erforderlichen ›Totaloperation‹. Dass über 1000 Kommunen ein Netzwerk für Temporeduzierung gegen den Bund bilden müssen, belegt die tiefe Verfassungskrise.«
Noch deutlicher formuliert es Jürgen Resch von der Deutschen Umwelthilfe: »Die wirklichen Extremisten und Gewalttäter sind diejenigen, die internationale Vereinbarungen wie das Pariser Klimaabkommen missachten und dann aus Angst vor unseren Klagen das Klimaschutzgesetz entkernen. Recht und Gesetz gilt für alle. Wer bei Rot über die Ampel fährt, kassiert einen Monat Fahrverbot. Wie können dann die Automobilindustrie und der Staat Schutzvorschriften für in unseren Städten giftige Autoabgase einatmende Menschen einfach ignorieren?«
Tatsächlich merke ich, dass das Entsetzen zunimmt, dass Bundespolitiker:innen Völkerrecht und Bundesrecht brechen. Aber nicht selten kippt es auch (gewünscht?) in Erschöpfung und Resignation. Was bedeutet das für unsere Zukunft? Was bedeutet das für die Vorbildfunktion unserer gewählten Vertreter:innen? Wo bleibt der Aufschrei?
Durchaus in Teilen amüsant, wenn auch in der Konsequenz des Besprochenen so gar nicht witzig war in dieser Sache mein Austausch mit Jacob Spanke, er ist Volkswirt und arbeitet in der Bahnforschung. Wir unterhielten uns über Best Cases, warum Deutschland in Sachen Mobilitätswende keinen aufweisen kann und was die Ursache ist. So etwas wie eine Abwrackprämie oder die E-Fuel-Diskussion kommt laut Jacob nur in Deutschland so stark auf, weil wir am Verbrenner hängen. Sich stumpf für Autos einzusetzen, das gebe es nur in Deutschland. Hier existieren keine Best-Case-Modelle, sondern nur ein Worst-Case-Modell. Doch Autos seien schlecht für uns Menschen und unsere Gesellschaft.
Zugegeben, Jacob ist ein junger weißer Mann. Das »beunfähigt« ihn in manchen Kreisen schon, so eine Analyse platzieren zu können. Schwenken wir daher doch mal zu einem mittelalten weißen Mann: dem Sozialwissenschaftler Andreas Knie. Der sieht die Sache allerdings ähnlich. Es seien die alten grauen Männer, die Politik machen. Und was die alle gemein hätten, sei das Lobbying im Kopf. Es gebe Ministerpräsidenten, die müssen gar nicht direkt »besät« werden, sondern »die denken selber schon, was mache ich mit den Arbeitsplätzen in der Autoindustrie, die gehen ja verloren«. Dass die eh jedes Jahr weniger werden, würden die gar nicht mitkriegen. Und wenn Männer etwas erfinden, dann fragen sie laut Andreas nicht mögliche Nutzer:innen, sondern sie fragen andere Männer, wie die das denn fänden. Sagt der andere dann »super«, dann sei das Ding »schwuppdiwupp« quasi schon fertig. Es könne nur keine:r nutzen, weil es keine:r verstehe.
Ein Phänomen, das übrigens nicht nur für Autopolitik und Autoindustrie gilt. Auch die Faszination an Flugtaxis und Hyperloop für den Einsatz in Deutschland kommt aus dieser Ecke. Die Rad- und die ÖPNV-Industrie wurden ebenfalls sehr lange sehr homogen von diesen Männern geführt – gerade in Sachen Nahverkehr und Bahn sogar von Männern, die noch nicht mal diese Produkte selbst nutzten, die sie verantworteten.
Dr. Stefan Carsten ist Zukunftsforscher und hat es in seiner Arbeit nicht selten mit Menschen zu tun, die vielleicht sogar überfordert sind von der Geschwindigkeit, die die Transformation nun aufnehmen muss, die sich dies aber nicht eingestehen, sondern das Bestehende bewahren wollen. »Vertraut ist immer nur dieser ganz kurze Moment von ›jetzt‹ und die Vergangenheit. Schon das Morgen zu denken, fällt daher vielen schwer, da das Morgen viele Varianten enthalten kann, absurderweise gerade dann, wenn verweigert wird, es aktiv zu gestalten. Politik und Industrie glauben zu wissen, wie die Zukunft aussieht. Aber das Gegenteil ist der Fall. Viele Unternehmen sind vielmehr durch ein massives Managementversagen und eine gescheiterte Industriepolitik zu Übernahmekandidaten geworden. Die politischen Akteure in Berlin und vor Ort bewirken, dass massiv Arbeitsplätze vernichtet werden.«
Viele Expert:innen sehen das Thema ähnlich. Mike Köppe etwa: Er kann das durch seine Insights aus der Autoindustrie, etwa bei Škoda, nur bestätigen – leider. Auch er sieht es als unabdingbar an, eine gestaltende und weitsichtige Verkehrspolitik zu installieren, die sich vom Dogma des Autos zu lösen in der Lage wähnt. Die Möglichkeit zu einem sanften Wandel sei über Jahrzehnte verschlafen worden, doch für den jetzt notwendigen schnellen Wandel werde eine Regierung benötigt, die zusammensteht.
Wasilis von Rauch vom Verband Zukunft Fahrrad sieht hier ganz klar Vorbilder im europäischen Umland, die schon zeigen, dass umgedacht wird und neue Wege mit starken Industrien beschritten werden. Anderswo werde das Fahrrad als Wirtschaftsfaktor politisch erkannt und gefördert: In Frankreich etwa gebe es einen Plan der Regierung, die heimische Fahrradbranche zu stärken. Die Produktion von Fahrrädern soll bis 2030 auf zwei Millionen mehr als verdoppelt werden. Länder wie Portugal siedeln erfolgreich Fahrradproduktion von großen Marken an. »Damit bestätigen Frankreich, Portugal, aber auch die EU einen Trend. Ausgehend von den Chancen und nicht den Bedenken ist viel möglich, was schlicht pragmatisch in die richtige Richtung führt. Wenn die Gestaltung dieser Zukunft dann auch noch Spaß macht – worauf warten wir eigentlich noch? Und auch die Erklärung der EU zur Bedeutung des Radverkehrs ist zwar nicht bindend wie ein Gesetz, jedoch eine Basis dafür, dass das Fahrrad dem Auto vor allem in wirtschaftlicher Betrachtung und Entwicklung gleichgesetzt werden könnte. Denn im Vergleich zu Infrastrukturkosten für Autos sind jene für das Rad fast zu vernachlässigen, erst recht, wenn schlicht Flächengerechtigkeit hergestellt werden würde.«
Die EU-Erklärung besteht aus 36 Forderungen, die im Gegensatz zu vorherigen Papieren einen echten Fortschritt bedeuten. So z.B. mit Schwerpunkt auf Sicherheit als eine der Grundvoraussetzungen, vor allem für Gruppen, die noch zögern, aufs Rad zu steigen – darunter viele Frauen, Kinder und ältere Menschen. »Zusätzlich … müssen alle Elemente des Konzepts des sicheren Systems sowohl auf den Radverkehr als auch auf motorisierte Fahrzeuge und Autofahrer angewandt werden, die Fahrer, die die Straße mit Radfahrern teilen. Dazu gehören sichere Geschwindigkeiten, sichere Straßennutzung und sichere Fahrzeuge, die durch die konsequente Durchsetzung der Straßenverkehrsordnung gestützt werden«, heißt es in der Erklärung. Plus: »Die europäische Fahrradindustrie ist weltweit innovativ und führend sowie ein wichtiger und wachsender Wirtschaftszweig. Sie umfasst derzeit über 1000 mittelständische Unternehmen und eine Million Arbeitsplätze, mit einem Potenzial für viele weitere.«[1]
Zumal tolle Räume für Radfahrende auch stets Aufenthaltsqualität für alle anderen ohne Auto nach sich ziehen. Denn hier geht es nicht um »Verkehrspolitik«, sondern um die Erzählung lebenswerter Räume. Mehr Fahrrad bedeutet mehr Lebensqualität, als es das Auto je schaffen kann. Das denkt auch Prof. Dr. Dirk Messner, Leiter des Umweltbundesamtes: »Studien belegen empirisch, dass lebenswerte Städte – in denen Raum ist für Begegnung, für Öffentlichkeit und für Gemeinsamkeit – intensiv genutzt und ›belebt‹ werden von ihren Bürgerinnen und Bürgern. In Städten, durch die sich Autokolonnen schieben, fahren die Menschen nach der Arbeit direkt wieder nach Hause.«
Aber fossilen Status-quo-Wahrer:innen stehen – das ist das Schöne! – inzwischen sehr pragmatisch an der Realität orientierte, aber von Menschenliebe angetriebene Personen gegenüber. Wie dem belgischen Politiker Filip Watteeuw: »Ich bin in der Politik, um etwas zu verändern. Das Wunderbare daran, stellvertretender Bürgermeister für Mobilität und öffentliche Arbeiten zu sein, besteht darin, viel verändern zu können. Ich sehe die Plätze, die neu sind. Ich sehe die Orte, an denen es vor vielen Jahren noch Staus gab und die unsicher waren. In der Zeit, in der ich als stellvertretender Bürgermeister begann, hat es auf bestimmten Fahrradrouten jeden Tag etwa 3000 Radfahrende gegeben. Jetzt sind es 8000–9000. Ein Fluss von Radfahrenden. Wenn ich das sehe, bin ich glücklich.«
Für Winfried Hermann als Landesminister in Baden-Württemberg arbeite ich im ehrenamtlichen Beirat »Mobilitätsdaten«. Er findet gute Bilder, um zu verdeutlichen, wie er seine politische Gestaltungskraft einschätzt: »Schon bald lernte ich: für Veränderungen braucht es die Ungeduld als Triebkraft und die Geduld als Durchhaltekraft. Wer Politik als Sprint begreift, wird kaum erfolgreich sein. Es braucht das Durchhaltevermögen eines Marathonläufers, um etwas zu erreichen. Es braucht einen klaren Kompass und pragmatisches Geschick, die Fähigkeit zum Kompromiss und zu Zwischenschritten, ohne das Ziel aus den Augen zu verlieren. Passender sind aber Bilder aus dem Mannschaftssport, denn erfolgreich ist man in einem Team mit verschiedenen Rollen. Manche sind sichtbarerer, andere fast unsichtbar, aber auf das Zusammenwirken kommt es an. Wenn ich über das Erreichte spreche, so steht jedes ›Ich‹ für ein großes ›Wir‹. Was ich als Minister vorweisen kann, ist auch das Ergebnis der Arbeit von vielen sehr engagierten und fachkundigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Ministerium sowie der politischen Mitstreiter:innen in Parlament und Partei.«
Mit diesen letzten Worten im Zitat zeigt er auf, was ebenfalls alle eint, die ich interviewen konnte und die täglich etwas bewegen: Teamwork. Klar, bestimmte Aufgaben, die zu übernehmen einen Gestaltungsrahmen beinhalten, werden bzw. müssen mit einer gewissen Eitelkeit angetreten werden. Natürlich macht es Freude, nach jahrelanger zumeist zäher Arbeit festzustellen, dass Dinge bewegt worden sind, Pläne aufgingen. Ich denke, das geben alle zu, die in Machtpositionen sind. Wenn dann noch Politik mit Visionen vorangeht, haben es auch die Menschen, die mit ihnen zusammen die Mobilität gestalten, sehr viel leichter, in die notwendige Transformation zu gehen.
Carlos Moreno führt Forschungen zu intelligenten und nachhaltigen Städten durch und gerät ins Schwärmen, als ich mit ihm über den Umbau von Paris zu einer menschenzentrierten Stadt spreche. »Seine« Bürgermeisterin, Anne Hidalgo, ist mit diesem Wahlversprechen angetreten, hat an diesem mit zum Teil sehr umfassenden temporären Verkehrsmaßnahmen gearbeitet – und wurde wiedergewählt. So dass es in ihrer zweiten Amtszeit jetzt um Verstetigung und Ausweitung gehen kann. Ja! Sie wurde wiedergewählt. Und ich kann mir sogar vorstellen, dass einige, die zuvor nicht mehr zu Wahlen gingen, weil sie sich nicht vertreten sahen, durch die klare Vision und das wahrnehmbare Gestalten von Anne Hidalgo diese Politikerin wählten. Weil sie nicht austauschbar agierte, sondern sogar Machtverlust riskierte, um Paris den Menschen zurückzugeben.
»Wir haben in Paris das Glück, eine Frau wie Anne Hidalgo zu haben«, sagt Carlos Moreno.