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Demenz ist kein Schicksal.
Die aktuelle Demenz-Forschung ist der Überzeugung, dass Demenz durch altersbedingte Abbauprozesse und Ablagerungen im Gehirn verursacht wird. Leicht verständlich und mit überzeugenden Argumenten macht Gerald Hüther, einer der führenden Hirnforscher, deutlich, dass diese im letzten Jahrhundert entwickelte Vorstellung nicht nur unzutreffend ist. Sie hat auch den Blick für das Phänomen verstellt, das tatsächlich für die Herausbildung von Demenz verantwortlich ist: die Unterdrückung der normalerweise bis ins hohe Alter vorhandenen Regenerations- und Kompensationsfähigkeit des Gehirns. Dieses neuroplastische Potential verlieren wir aber fast alle zwangsläufig in einer Welt, in der uns die Freude am eigenen Entdecken und am gemeinsamen Gestalten beim Älterwerden zunehmend abhandenkommt.
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Seitenzahl: 156
Prof. Dr. Gerald Hüther, geb. 1951, gehört zu den renommiertesten Entwicklungsbiologen und Hirnforschern Deutschlands. Er ist Autor zahlreicher Fach- und Sachbücher. Ein besonderes Anliegen ist dem dreifachenVater, neue Wege anzustoßen, wie wir Kindern ihre angeborene Begeisterung fürs Lernen erhalten können.
Gerald Hüther
RAUS AUS DER
DEMENZ
FALLE!
Wie es gelingen kann, die Selbstheilungskräfte des Gehirns rechtzeitig zu aktivieren
INHALT
Eine ermutigende Perspektive: Paradigmenwechsel in der Medizin
Die lange Kette aufeinander aufbauender Demenzvorstellungen:Auch Theorien können alt und dement werden
Wenn die Kette von Erklärungskonzepten plötzlich reißt:Die Gefahren des Erfolgs und die Chancen der Ratlosigkeit
Auch Expertenköpfe sind rund, damit das Denken seine Richtung ändern kann:Neue Erkenntnisse verlangen neue Erklärungen
Es bleibt alles graue Theorie, was sich nicht in der Praxis bewährt:Neue Erklärungen ändern die Sicht auf die eigene Lebensgestaltung
Es ändert sich nichts, wenn wir weiter so zusammenleben wie bisher:Wir wollen das Richtige, aber es gelingt uns nicht richtig
Wir wollen alle ohne Angst leben
Wir wollen alle glücklich sein
Wir wollen alle verbunden bleiben und uns frei entwickeln
Niemand will dement werden
Sie können heute noch damit beginnen, die Selbstheilungskräfte Ihres Gehirns zu stärken:Es ist nie zu spät, wenigstens etwas gesünder zu leben als bisher
Wer seinen Körper vernachlässigt, vernachlässigt auch sein Gehirn
Wer sich selbst nicht mag, neigt dazu, sich und andere zu verletzen
Wer sich nicht mit anderen verbunden fühlt, bleibt auch mit seinen Problemen allein
Wer seine Lust am Lernen verloren hat, hat auch keine Lust mehr auf das Leben
Wer sich nicht bewusst macht, wer er sein will, kann sich nur verlieren
Wer sich nicht entscheidet, wofür er leben will, kann sich nur verirren
Ein aufklärender Blick zurück:
Das Kohärenzgefühl stärken
Anhang
Anmerkungen
Weiterführende Literatur
Hinweis
Register
Eine ermutigende Perspektive:
PARADIGMENWECHSEL IN DER MEDIZIN
Wann genau es so weit sein wird, lässt sich jetzt noch nicht vorhersagen.Vielleicht dauert es noch ein oder zwei Jahrzehnte. Aber dass es so kommen wird, ist gegenwärtig bereits absehbar. Wer dann als Suchbegriff »Paradigmenwechsel in der Medizin« in sein Notebook – oder wie immer diese digitalen Geräte dann heißen mögen – eingibt, wird dort einen bemerkenswerten Eintrag finden.
»Ein zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Gang gekommener Prozess des Umdenkens, der in kurzer Zeit alle Bereiche der Heilkunde erfasst hat und zu einer grundsätzlichen Neuorientierung nicht nur von medizinischer Forschung und Theoriebildung, sondern vor allem auch der therapeutischen Praxis führte. Bis zur Jahrtausendwende war noch die historisch gewachseneVorstellung verbreitet, Erkrankungen seien die Folge der Einwirkung schädlicher äußerer Einflüsse oder im Körper entstandener, angeborener oder imVerlauf des Lebens eingetretener Fehlfunktionen und Störungen. Aus diesem Grund wurde damals mit großem Aufwand versucht, die als objektive Ursachen von Erkrankungen betrachteten Einwirkungen und krankmachendenVeränderungen möglichst früh zu erkennen und sie durch entsprechende Eingriffe abzustellen. Diese aus dem Funktionsmechanismus von Maschinen abgeleitete Betrachtungsweise wurde abgelöst durch die Erkenntnis, dass jeder Organismus grundsätzlich in der Lage ist, von außen stammende oder in seiner inneren Organisation entstandene Störungen durch die Mobilisierung eigener Abwehrkräfte zu unterbinden, zu kompensieren oder auszugleichen. Was bis dahin als eine durch geeigneteVerfahren zu bekämpfende Erkrankung betrachtet worden war, erwies sich nun als Folge einer Überlastung oder einer unzureichenden Wirksamkeit der Fähigkeit des Organismus zur Selbstheilung. Aus dieser Erkenntnis erwuchs nicht nur ein neuesVerständnis über das Zusammenspiel von krankmachenden und gesundmachenden Prozessen. Es begann sich auch die Erkenntnis durchzusetzen, dass niemand einen Patienten heilen, sondern nur mit größtmöglicher Kompetenz dafür sorgen kann, die Fähigkeit des betreffenden Patienten beziehungsweise seines Organismus zur Selbstheilung wirksam zu stärken.
Diese neue Erkenntnis bedeutete das Ende der Reparaturmedizin. Angedeutet hatte sich der Paradigmenwechsel schon länger. Die ihm zugrundeliegende neue Betrachtungsweise war sogar bereits von Anfang an in der Heilkunde angelegt. Sie wurde auch schon in derVergangenheit von einzelnenVertretern immer wieder aufgegriffen und weiterentwickelt. Aber durchsetzen konnte sich dieser Ansatz nicht. Dazu war die ausschließlich auf die Bekämpfung von Krankheiten und die Reparatur gestörter Funktionen oder den Austausch defekter Körperteile orientierte Medizin über lange Zeit viel zu erfolgreich. Kaum jemand hatte es deshalb zu Beginn des 21. Jahrhunderts für möglich gehalten, dass sich ein so tiefgreifender Paradigmenwechsel in der Heilkunde innerhalb eines so kurzen Zeitraumes ereignen könne.«
Das Umdenken fällt uns Menschen nicht leicht. Allein das Nachdenken über irgendeine Entwicklung, die wir beobachten, bereitet uns Mühe. Das hat einen sehr einfachen Grund: Schon im Ruhezustand, also wenn wir überhaupt nichts tun und an nichts denken, verbraucht unser Gehirn etwa zwanzig Prozent der vom Körper bereitgestellten Energiereserven. Sobald wir uns erheben und zu denken anfangen, steigt dieser Energieverbrauch rapide an. Da die innere Organisation und die Arbeitsweise des Gehirns darauf ausgerichtet ist, die dort ablaufenden Prozesse und Beziehungen so zu ordnen, dass möglichst wenig Energie verbraucht wird, ist das Nachdenken oder gar das Umdenken, bildlich gesprochen, nicht das, was unser Gehirn am liebsten macht. Deshalb halten wir uns lieber an das Bewährte und versuchen das beizubehalten, was bisher gut geklappt hat und im Gehirn so gut gebahnt worden ist, dass es nun fast automatisch abläuft. Und je erfolgreicher wir bisher mit einer bestimmtenVorstellung oder Handlungsstrategie vorangekommen sind, desto schwerer fällt uns das Umdenken. Damit wir dazu bereit sind und uns darauf einlassen, muss schon etwas sehr Gravierendes passieren. Es muss etwas geschehen, das diese bewährten alten Denkmuster völlig infrage stellt. Wir müssen ein Problem haben, das sich mit diesem Denkansatz überhaupt nicht lösen lässt. Oder noch einfacher: Wir müssen uns mit unseren bisherigenVorstellungen und Strategien in eine Falle hineinmanövriert haben, aus der wir so nicht wieder herauskommen.
Aus diesem Grund lautet jetzt die spannende Frage: Was war Anfang des 21. Jahrhunderts so Einschneidendes geschehen? Was war damals der entscheidende kräftige Strahl oder der ausschlaggebende Tropfen, der den Wassereimer der bis dahin von der überwiegenden Zahl von Medizinern geteilten Überzeugungen zum Überlaufen und sogar zum Umkippen brachte? Um eine politische Entscheidung wird es sich dabei nicht gehandelt haben. Es war sicher auch kein Beschluss oder eine Erklärung einer Ärzteversammlung. Es musste wohl etwas gewesen sein, das nicht nur einige wenige Mediziner zum Nachdenken zwang, sondern sehr viele. Möglicherweise also ein Befund, der etwas zutage gefördert hatte, das bis dahin niemand für möglich hielt. Und der ein völlig neues Licht auf eine Erkrankung warf, an der sehr viele Menschen litten und für die es mit den bisher verfolgten Strategien nicht gelungen war, eine wirksame Behandlung zu finden. Krebserkrankungen beispielsweise. Aber auf diesem Gebiet war Anfang des Jahrhunderts nichts Einschneidendes passiert. Wenn also Krebs ausfiel, bliebe nur noch die andere große Plage der Menschheit im 21. Jahrhundert übrig: Demenz. Demenzerkrankungen erfüllen alleVoraussetzungen unserer Überlegungen. Sie breiteten sich damals immer weiter aus und stellten die Gesundheitssysteme vor enorme Herausforderungen. Seit Jahrzehnten war auf diesem Gebiet erfolglos geforscht und nach geeigneten Behandlungsmethoden gesucht worden.
Versuchen wir es einmal, und geben wir in unsere Suchmaschine »Demenz« ein. Das Ergebnis: 5,3 Millionen Treffer. So kommen wir nicht weiter. Also spezifischer: »Demenz, bahnbrechende Studien«. Ziemlich weit oben taucht nun »Nonnenstudie« auf, eine etwas seltsame, salopp wirkende Bezeichnung. Doch dazu gibt es dann noch mehr zu finden. Und beim Lesen wird klar, dass das Ergebnis dieser offenbar recht sorgfältig durchgeführten und nicht so leicht angreifbaren Untersuchung an Nonnen damals jedes Medizinerhirn in Wallung gebracht haben muss. Denn laut dieser Nonnenstudie gibt es offenbar Personen, deren Gehirn genauso degeneriert und mit Ablagerungen übersät ist wie das von Patienten mit einer schweren Alzheimer-Demenz, bei denen aber – und jetzt halten Sie sich bitte fest – bis ins hohe Alter, bis zu ihrem Tod kein Gedächtnisverlust oder andere Symptome einer Demenz aufgetreten sind.1
Das ist nun in der Tat ein Befund, der so ziemlich alles auf den Kopf stellt, was Mediziner und Demenzforscher im vergangenen Jahrhundert geglaubt und zur Grundlage ihrer Suche nach einer wirksamen Behandlung gemacht hatten. Wenn es nicht die objektiv sichtbaren und messbaren Degenerationen und Ablagerungen im Gehirn sind, die eine dementielle Erkrankung mit all ihren Symptomen verursachen, was ist es dann?
Fast zwei Jahrzehnte sind nun schon seit derVeröffentlichung dieser Nonnenstudie vergangen. Das Ungeheuerliche ihrer Ergebnisse beginnt erst jetzt allmählich in das Bewusstsein all jener zu gelangen, die sich mit der Erforschung und Behandlung dementieller Erkrankungen befassen. Aber jeder Paradigmenwechsel – nicht nur in der Medizin, sondern auch in allen anderen Wissenschaftsdisziplinen – beginnt mit einer Beobachtung, die mit den bis dahin für zutreffend erachtetenVorstellungen unvereinbar ist.
Wenn wir also in ein oder zwei Jahrzehnten die anfangs erwähnten Erklärungen zum Suchbegriff »Paradigmenwechsel in der Medizin« bis zum Ende lesen, könnte dort der Hinweis stehen: »Ausgelöst wurde diese Entwicklung durch die Ergebnisse einer bahnbrechenden Studie auf dem Gebiet der Demenzforschung, die als Nonnenstudie bezeichnet wird.«
Aber wir leben nicht in der Zukunft. Und dieser große Paradigmenwechsel hat noch nicht stattgefunden. Er ist lediglich jetzt schon absehbar. Und wie bei jedem grundlegenden und tiefreichendenVeränderungsprozess, den eine Wissenschaftsdisziplin, eine Gesellschaft oder auch ein einzelner Mensch durchläuft, wird sich auch in diesem Fall erst im Nachhinein sehr gut beschreiben lassen, wie er seinen Anfang nahm und welche ungeahnte Kettenreaktion er auslöste. Ob es sich dabei, wie im ausgehenden Mittelalter, um ein grundlegend neuesVerständnis vom Aufbau unseres Planetensystems handelt oder um die Auflösung des Ostblocks und die friedliche Revolution in der DDR oder um eine endlich vollzogene Trennung von einem anderen Menschen nach vielen Jahren einer unglücklichen und unerfüllten Partnerschaft – immer geht es dabei weniger um die Frage, wie ein so grundlegender und offenbar auch notwendigerVeränderungsprozess im Einzelnen abläuft, sondern warum es so lange dauert, bis er endlich in Gang kommt.
Das gilt auch für den bevorstehenden Paradigmenwechsel in der Medizin. Welche Gründe gibt es dafür, dass eine moderne Gesellschaft mit ihren exzellenten Grundlagenforschern, mit ihren auf dem neuesten Erkenntnisstand ausgebildeten Ärzten, mit ihren weltumspannenden Informationssystemen und ihrem so gut organisierten Gesundheitswesen so lange und mit solch enormem Aufwand an einer einmal entstandenen Krankheitsvorstellung auch dann weiter festhält, wenn sie damit in eine Sackgasse geraten ist? Genau dieser Frage möchte ich in diesem Buch nachgehen, und zwar am praktischen Beispiel der Demenz. Dabei kommt mir als Autor der Umstand zugute, dass ich die Entwicklungen in diesem Bereich nicht als Beteiligter, sondern als Beobachter verfolgen kann.
Weder bin ich Experte auf dem Gebiet der Demenzforschung noch verfüge ich über einschlägige Erfahrungen bei der Behandlung dementieller Erkrankungen. Aber ich befasse mich seit vielen Jahren mit der Frage, was Menschen brauchen, um ihre angeborene Lernfähigkeit nicht zu verlieren und das in ihrem Gehirn angelegte Potential auch noch im Alter zur Entfaltung zu bringen.Vor diesem Hintergrund bin ich besorgt über die wachsende Zahl dementieller Erkrankungen wie auch über die nun schon so lange andauernde Erfolglosigkeit aller bisherigen Bemühungen, diese Entwicklung aufzuhalten. Für beide Phänomene wird von den einschlägigen Experten das zunehmende Alter verantwortlich gemacht, das ein ständig wachsender Anteil der Bevölkerung in den hochentwickelten Gesellschaften seit einigen Jahren erreicht. Aber gibt es nicht auch immer mehr Menschen, die sehr alt werden, ohne irgendwelche Anzeichen einer Demenz zu entwickeln? Ist dann nicht zu vermuten, dass es beim Älterwerden günstigere oder ungünstigere Bedingungen für die Ausbildung einer Demenz gibt? Und wenn das so ist: Warum ändern wir die Bedingungen, unter denen Menschen älter werden, nicht so, dass immer weniger von ihnen eine Demenz entwickeln? Wissen wir nicht, worauf es dafür ankommt, oder sind wir nicht in der Lage, das, worauf es ankäme, auch wirklich umzusetzen? Wieso sind wir überhaupt dazu bereit, die Herausbildung einer Demenz als ein schicksalhaftes und unabwendbares Geschehen zu betrachten?
Das sind nur einige der Fragen, für die ich in diesem Buch nach einer Antwort suche.Vermutlich wird sich darauf auch keine Antwort finden lassen, solange die Herausbildung dementieller Erkrankungen weiterhin als ein Problem betrachtet wird, das allein in den Zuständigkeitsbereich der Medizin gehört und das sich durch dieVerbesserung der dort eingesetzten diagnostischenVerfahren und therapeutischen Interventionen oder durch die Einrichtung von geeigneteren Demenzkliniken lösen ließe.
Auch Mediziner können sich irren. Auch sie folgen bisweilen mit ihren diagnostischen und therapeutischenVerfahren anfangs noch sehr überzeugendenVorstellungen, die sich später als fatale Sackgassen erweisen. Jeder Arzt ist ja unter bestimmten Bedingungen aufgewachsen, zur Schule und zur Universität gegangen und für seine spätere Tätigkeit ausgebildet worden. Dabei hat er sich zwangsläufig auch die dort vorherrschenden Überzeugungen zu eigen gemacht. Er ist zudem eingebettet in ein medizinisches System und hat den dort akzeptiertenVorstellungen zu folgen. Das medizinische System ist selbst wiederum ein Teilbereich eines übergeordneten gesellschaftlichen Systems und kann daher auch nur im Rahmen der in dieser Gesellschaft vertretenenVorstellungen und Regeln agieren. Sie sind Ausdruck historisch gewachsener, Orientierung bietender Konzepte und Grundüberzeugungen, die sich über Generationen hinweg ausgebreitet haben und der betreffenden Gesellschaftsform ihre jeweilige Struktur und Stabilität verleihen. Diese in Regeln und Gesetze umgesetzten Grundüberzeugungen wiederum bestimmen die Erfahrungen, die Mitglieder der betreffenden Gesellschaft – dazu zählen eben auch die Ärzte – als Heranwachsende, als Erwachsene und als älter werdende Personen machen, und die werden dann als eigeneVorstellungen, Erwartungen und Überzeugungen in ihrem Gehirn verankert.
In dieses auf unterschiedlichen Ebenen ausgeprägte, voneinander abhängige, sich wechselseitig bedingende Gefüge vonVorstellungen und Überzeugungen, von Regeln undVorschriften ist auch das Phänomen eingebettet, das wir als Demenz bezeichnen. Und Sie beginnen jetzt vielleicht schon zu erahnen, warum es so lange dauert, bis sich innerhalb eines solchen Gebildes historisch entstandener und miteinander verflochtenerVorstellungen und Interessen eine neue Erkenntnis ausbreiten und schließlich sogar einen Paradigmenwechsel bewirken kann. Gelingen kann das nur, wenn diese neue Erkenntnis die bisher für zutreffend erachtetenVorstellungen nicht nur auf einer Ebene – im Fall der Demenz also innerhalb der Medizin –, sondern gleichzeitig auch auf allen anderen Ebenen hinreichend tief und nachhaltig zu erschüttern vermag. Genau das möchte ich mit diesem Buch versuchen, indem für die Herausbildung dementieller Erkrankungen nicht länger irgendwelche Ablagerungen im Gehirn verantwortlich gemacht werden, sondern sehr ungünstige, im Gehirn sehr vieler Menschen abgelagerteVorstellungen. Damit stelle ich freilich bisher als selbstverständlich betrachtete Grundannahmen nicht nur in der gegenwärtigen Medizin, sondern auch in der gegenwärtigen Gesellschaft infrage. Aber das nehme ich gern in Kauf, wenn zumindest einige Leser und Leserinnen auf die Idee kommen, ihre bisherigen Überzeugungen und ihre daraus abgeleitete und damit begründete Lebensweise zu überdenken.
Die Hoffnung, dass mir das gelingt, schöpfe ich aus dem Umstand, dass wir Menschen nicht über genetisch programmierte und von Anfang an in unserem Gehirn verankerte neuronale Netzwerke verfügen, die unserVerhalten steuern. Die enorme Lernfähigkeit unseres Denkorgans ermöglicht es uns, auf einen gesunden Entwicklungspfad zurückzufinden, wenn wir mit unserenVorstellungen einen Irrweg beschritten haben. Wir sind und bleiben deshalb Suchende. Und dabei laufen wir ständig Gefahr, mit den bei dieser Suche entwickeltenVorstellungen in eine Falle zu geraten. Das Einzige, was uns davor bewahren kann, ist unsere Fähigkeit, aus den einmal gemachten Fehlern zu lernen, wie es besser gewesen wäre. Genau das, was wir dabei lernen, kann uns aber helfen, künftig solche und ähnliche Irrtümer und Fehlentwicklungen zu vermeiden. Dazu möchte ich Sie mit diesem Buch sehr herzlich einladen, auch ein wenig ermutigen, und vielleicht gelingt es mir sogar, Sie zu inspirieren, Ihr Leben und Ihr Zusammenleben mit anderen künftig so zu gestalten, dass Sie glücklich und ohne Demenz älter werden können.
Die lange Kette aufeinander aufbauender Demenzvorstellungen:
AUCH THEORIEN KÖNNEN ALT UND DEMENT WERDEN
Sie können es ja selbst einmal ausprobieren und jemanden aus Ihrem Bekanntenkreis fragen, was eine Demenz ist. Wahrscheinlich werden Sie zunächst etwas befremdlich angeschaut, so als könnten Sie nicht bis drei zählen. Aber dann bekommen Sie doch eine mehr oder weniger ausführliche Antwort. Wer in unserem Kulturkreis aufgewachsen ist, hat auch irgendwo schon einmal etwas über Demenz gehört oder gelesen: im Gespräch mit anderen, in Büchern oder Zeitschriften, im Radio oder Fernsehen oder im Internet. Eine gewisse Grundkenntnis über Demenz gehört in unserer modernen Informationsgesellschaft zum Allgemeinwissen. Das war vor fünfzig Jahren in geringerem Umfang auch schon so, aber vor hundert Jahren definitiv nicht. Damals nannten die Leute das, was heute Demenz heißt, noch Altersschwachsinn, und sie hatten keine Ahnung, warum der Opa oder die Oma das bekommen hatte.
Dabei hatte Alois Alzheimer schon 1906 beschrieben, wie desolat das Gehirn von völlig verwirrten Leuten mit diesem Altersschwachsinn aussieht: erheblich geschrumpft und völlig durchlöchert mit lauter abgebautem Nervengewebe, den sogenannten Plaques.2 Aber damals gab es eben auch all diese modernen Medien noch nicht, über die wir heute innerhalb weniger Stunden informiert werden, wenn irgendein Demenzforscher irgendwo auf der Welt etwas Wichtiges über diese Erkrankung herausgefunden hat. Und die Leute hielten vor einem Jahrhundert – wie in all den vielen Jahrhunderten davor – denVerlust des Gedächtnisses auch noch nicht für eine Krankheit. Zudem wurden die Menschen damals nur selten sehr alt. Deshalb gab es auch nicht so viele, die das bekamen. Aber gegeben hatte es den Altersschwachsinn schon immer, sogar schon zu Pharaos Zeiten vor ein paar Tausend Jahren.3
Eines war jedoch schon damals genauso wie heute: All das, was die Experten, die sich mit diesem Phänomen nachlassender Geisteskraft beschäftigten, herausgefunden hatten, gaben sie an ihre Nachfolger weiter. Auf diese Weise ist eine lange Kette irgendwann einmal entwickelter und anschließend nacheinander darauf aufbauenderVorstellungen entstanden. Deren Anfangsglieder waren ursprünglich auch gar nicht von Ärzten, sondern vorwiegend von Philosophen geschmiedet worden.
Es war der griechische Philosoph und Naturforscher Aristoteles, der dieVorstellung entwickelt hatte, das Alter sei so etwas wie eine natürliche Krankheit, die zwangsläufig mit der Herausbildung einer Reihe von Krankheitssymptomen einhergehe. Dazu zählte auch schon für ihn die Unvernunft (anoia), die zweitausend Jahre später dann seniler Schwachsinn hieß. Unsere heutigen Experten nennen sie nun Demenz, und wie damals schon Aristoteles gehen sie noch immer davon aus, dass es sich dabei um eine altersbedingte Erkrankung handelt.