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In Deutschland haben über 10 Millionen Menschen ein Alkoholproblem, mindestens zwei Millionen davon sind zusätzlich von Medikamenten abhängig. Höchste Zeit für dieses Buch, das eine ganzheitliche Sicht auf Suchtfragen gibt und Wege aus der Sucht aufzeigt. Es vermittelt die Hintergründe der Abhängigkeit, klärt über die Nebenwirkungen auf und bietet einen Selbsttest
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Seitenzahl: 169
Dr. med. Cornelia Dehner-Rau arbeitet als Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Klinik für Psychotherapeutische und Psychosomatische Medizin am Evangelischen Krankenhaus Bielefeld. Weitere Lebensmittelpunkte sind ihre Familie, Sport, Musik, Literatur und Reisen.
Prof. Dr. Harald Rau ist Psychologischer Psychotherapeut und Direktor mehrerer Entwöhnungskliniken der Zieglerschen Anstalten in Südwürttemberg. In seiner Freizeit sind ihm seine Familie und Musik wichtig – als Organist liegt ihm die Kirchenmusik besonders am Herzen.
Es sind unsere Patienten, die uns Wesentliches über das Wesen der Sucht und die Chancen für tief greifende Veränderungen gelehrt haben. Die vielen schönen Erfahrungen bei der Begleitung dieser Menschen auf ihrem Weg aus der Sucht machen uns immer neuen Mut. Daher widmen wir dieses Buch in Dankbarkeit unseren Patienten.
Sie wissen oder befürchten, dass Sie zu viel trinken? Oder Ihr Arzt hat Ihnen bereits eine Alkoholabhängigkeit bescheinigt? Möglicherweise ist bei Ihnen auch nicht das Trinken problematisch, sondern Ihr Konsum an Beruhigungsmitteln? Oder es geht gar nicht um Sie selbst, sondern um Ihren Partner oder Freund, der zu viel trinkt oder medikamentenabhängig ist? Wenn Sie aus den beschriebenen oder ähnlichen Gründen zu diesem Buch gegriffen haben, sind Sie hier richtig.
Und mit diesen Problemen befinden Sie sich in sehr zahlreicher Gesellschaft: In Deutschland sind ungefähr 1,4 Millionen Menschen abhängig von Alkohol, etwa ebenso viele von Medikamenten. Außerdem konsumieren über 10 Millionen Deutsche Alkohol auf eine riskante Weise und erhöhen damit die Wahrscheinlichkeit körperlicher und seelischer Erkrankungen.
Aufgrund der hohen Verbreitung müssten diese Themen eigentlich in aller Munde sein, sind sie aber nicht. Ganz im Gegenteil. Die meisten Betroffenen und vor allem deren Angehörige leiden im Stillen und betreiben einen großen Aufwand, um die Erkrankung zu verheimlichen. Nur die Minderheit der Betroffenen sucht aktiv Hilfe und Behandlung auf. Bei der Vertuschung spielen häufig auch die Kollegen und vor allem die Lebenspartner mit, die oft jahrelang die Alkoholsucht decken und alle Verantwortung übernehmen und – wir sagen es Ihnen lieber gleich – damit leider auch einen Beitrag zur Sucht leisten; man spricht in diesem Zusammenhang auch von co-abhängigem Verhalten. Nicht nur der Betroffene, sondern oft auch die Angehörigen sitzen in der Suchtfalle.
Aber es gibt Wege hinaus, und um die soll es in diesem Buch gehen. Häufig wird behauptet, eine Suchterkrankung offenbare »tiefer liegende« seelische Probleme – die Symptome der Suchterkrankung seien Folge einer grundsätzlicheren psychischen Störung. Wir vertreten einen anderen Standpunkt und verstehen Sucht als eine Erkrankung, die durch viele Faktoren beeinflusst wird. Allerdings sind psychisch stabile Menschen, die gut in viele Lebensbereiche integriert sind, weniger gefährdet, eine Suchterkrankung zu entwickeln. Und seelisch labile Menschen sind eher gefährdet. Daher beschäftigen wir uns hier auch mit der psychischen Stabilität. Wie kann man sie stärken? Was hält uns gesund?
Wir beleuchten die Hintergründe von Abhängigkeit, Missbrauch und Co-Abhängigkeit. Dabei stellen wir einige Fallgeschichten vor, die jeweils typische Merkmale der Sucht verdeutlichen. Wenn man das Wesen der Suchterkrankung versteht, lassen sich die hilfreichen Gegenmaßnahmen leichter nachvollziehen. Bevor Sie mit den nötigen Veränderungsschritten beginnen, ist es wichtig zu wissen, wo Sie »gerade stehen«, dazu beschreiben wir ein Stufenmodell, das Sie dabei unterstützt, sich über Ihre eigene Lage oder auch die eines süchtigen Angehörigen klar zu werden. Will man sein Suchtverhalten aufgeben, braucht man neue, gesündere Strategien und Verhaltensweisen. Sie finden daher diverse Übungsvorschläge und kleine Experimente, die Sie dazu anregen, Neues auszuprobieren und eigene Stärken zu entdecken und weiterzuentwickeln. Viele unserer Patienten berichten, dass ihnen ihr eigener Weg aus der Sucht wie eine zweite Geburt vorkommt, sie an sich selbst und ihrer Umgebung ganz neue Erfahrungen machen können und ihr Leben wieder aktiv gestalten. Der Kampf gegen die Sucht ist also auch ein Prozess des Wachsens und Reifens. Wir wollen Ihnen Mut machen, Ihren persönlichen Weg aus der Sucht oder der Co-Abhängigkeit zu beschreiten und Sie mit diesem Buch gern ein Stück dabei begleiten.
Bielefeld, Februar 2009
Prof. Dr. Harald Rau
Dr. Cornelia Dehner-Rau
Wie wirken Alkohol und Beruhigungsmittel? Warum können sie abhängig machen? An welchen typischen Zeichen erkennt man eine Abhängigkeit? Wie entsteht sie? Dieser erste Teil bietet Ihnen dazu grundlegende Informationen.
Zunächst stellen wir Ihnen wichtige Aspekte der Abhängigkeitserkrankungen vor. Wie entstehen sie? Welche bezeichnenden Merkmale gibt es? Schauen wir uns zunächst einige typische Patientengeschichten aus unserer therapeutischen Tätigkeit an.
Die folgenden Berichte beschreiben typische Verläufe. Möglicherweise finden Sie sich bereits in der einen oder anderen Aussage eines Betroffenen wieder. Auf diese Fallberichte werden wir in den weiteren Abschnitten immer wieder Bezug nehmen.
Info
Eine Vorbemerkung zum Begriff »Sucht«
In der Alltagssprache wird im Zusammenhang mit Abhängigkeitserkrankungen häufig von »Sucht« gesprochen. Dieser Begriff ist nicht verwandt mit dem Wort »suchen«, sondern geht auf »siechen« – also krank sein – zurück. In der Wissenschaftssprache haben sich dagegen die Begriffe »Abhängigkeit«, »schädlicher Gebrauch – Missbrauch«, »riskanter Konsum« eingebürgert; diese Begriffe werden auch bei der Beschreibung der diagnostischen und therapeutischen Konzepte verwendet. Von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wird der Begriff »Sucht« bereits seit 1964 nicht mehr gebraucht.
Wir haben für dieses Buch einen Mittelweg gewählt und verwenden überwiegend die wissenschaftlich gängigen Bezeichnungen, wollten aber dennoch nicht vollständig auf den im Alltag gebräuchlicheren Begriff verzichten, zumal er ja auch in Zusammensetzungen wie »Suchtmittel, Suchtdruck, Suchtgedächtnis« etc. unabdingbar ist.
»Ohne Alkohol kann ich den Tag nicht beginnen«
Frau S. berichtet: »Meine Tage beginnen immer gleich, schon seit etlichen Jahren: Ich wache früh auf und habe Angst. Und mich überkommt eine große Unruhe. Alles, was an diesem Tag kommen könnte, macht mir Angst; ich fühle mich verzweifelt und hoffnungslos. Ich schwitze und zittere, mein Herz rast. Wenn ich jetzt zur Flasche greife, habe ich wenigstens in den nächsten zwei Stunden Ruhe und kann erst mal den Tag beginnen. Wenn ich versuche, mich dagegen zu wehren, wird es nur noch schlimmer.
Ich weiß ja, dass der Alkohol keine wirkliche Lösung ist. Er hilft immer nur kurzfristig; er macht mich auf die Dauer immer schwächer, kleiner und kränker. Mein Selbstwertgefühl ist im Keller. Ich trinke fast nur allein, ich will schließlich nicht, dass jemand etwas merkt. Und ich trinke ja auch nicht so viel, dass ich torkele oder die Erinnerung verliere; also eigentlich verhalte ich mich nicht wie eine Betrunkene, aber ich glaube trotzdem, dass alle es wissen. Ich habe mich bisher noch niemandem anvertraut. Ich weiß zwar, dass meine beste Freundin ebenfalls trinkt. Aber die spricht auch nicht darüber.
Entzugssymptome. Frau S. erlebt einige typische Merkmale der Alkoholabhängigkeit: Sie hat körperliche Entzugssymptome, die sich bei ihr durch Schwitzen, Zittern, Herzrasen und das Gefühl der Unruhe bemerkbar machen. Diese spürt sie vor allem morgens beim Aufwachen, wenn der Alkoholspiegel über Nacht abgesunken ist.
Kontrollverlust. Obwohl sie weiß, dass der Alkohol langfristig nicht weiterhilft, setzt sie ihn als kurzfristige Lösung ein. Dieses typische Anzeichen einer Abhängigkeitserkrankung nennt man »Kontrollverlust«: Sie will eigentlich nicht zur Flasche greifen, tut es dann aber meistens doch, weil sie keine andere Möglichkeit sieht, zur Ruhe zu kommen.
»Ich musste die Medikamentendosis immer weiter steigern«
Frau W. ist Hausfrau und Mutter zweier halbwüchsiger Kinder. Sie erzählt: »Ich leide seit einigen Jahren unter Rückenschmerzen und war schon bei vielen Ärzten und Physiotherapeuten. Dann hat mir ein Orthopäde ein Präparat verschrieben, das die Schmerzen wirklich linderte. Das Medikament reduzierte nicht nur die Rückenschmerzen, sondern machte auch müde und schläfrig. Auf diese Weise konnte ich am Abend viel schneller einschlafen als früher.
Ich begann mit einer niedrigen Dosierung (eine viertel Tablette), erhöhte diese Dosierung aber nach einigen Wochen auf eine halbe Tablette. Nach einigen Wochen ließ die beruhigende, schmerzlindernde und schlaffördernde Wirkung nach. Ich habe also die Dosis erneut gesteigert, um den erwünschten Effekt aufrechtzuerhalten. Als ich nach einigen Monaten ein neues Rezept brauchte, sagte der Orthopäde, dass dieses Medikament wegen seines Suchtpotenzials nicht für den Dauergebrauch geeignet sei und ich die Dosierung wieder reduzieren solle. Dennoch verschrieb er mir das Medikament weiterhin – für insgesamt ein knappes Jahr. Danach weigerte er sich, es weiter zu verordnen. Aber mein Hausarzt hat mir dann für ein weiteres Jahr Rezepte ausgestellt, obwohl auch er mich dabei immer wieder auf das Suchtpotenzial hinwies. Da ich die Dosis weiter steigern musste, bin ich zu unterschiedlichen Ärzten gegangen, um gleichzeitig mehrere Rezepte für das Medikament zu erhalten. Alkohol hat die Wirkung intensiviert, damit konnte ich für eine Weile eine weitere Dosiserhöhung vermeiden.
Ich habe immer wieder versucht, mit einer niedrigeren Dosierung zurechtzukommen, aber dann konnte ich nicht einschlafen, die Schmerzen wurden stärker, und ich litt unter einer großen Unruhe. Es wurde immer schwieriger für mich, von den Ärzten die erforderliche Medikamentenmenge verschrieben zu bekommen. Irgendwann war mir klar, dass es so nicht weitergehen kann. Das war sozusagen der Auslöser, um mit einer Entwöhnungsbehandlung zu beginnen.
Bei Frau W. hat die Medikamentenabhängigkeit durch die ärztliche Verordnung eines Präparats begonnen, das Tetrazepam enthielt. Dieser Wirkstoff gehört zur Gruppe der Benzodiazepine, einer Medikamentengruppe, die schon nach kurzer Einnahmedauer abhängig machen kann (siehe → S. 20). Tetrazepam entspannt nicht nur die Muskeln und löst schmerzhafte Verspannungen, sondern erleichtert auch das Einschlafen. Eine Nebenwirkung, die Frau W. sehr willkommen war.
Gewöhnung (Toleranzentwicklung). Bei ihr äußerte sich relativ rasch ein wesentliches Merkmal der Abhängigkeitserkrankung: Es entwickelte sich eine Toleranz. Das heißt, ihr Körper gewöhnte sich an das Medikament, mit der Folge, dass sie die Dosis regelmäßig erhöhen musste, um die Wirkung beizubehalten.
Kontrollverlust. Ein weiteres wichtiges Merkmal der Abhängigkeitsentwicklung ist der Kontrollverlust. Genau wie bei Frau S., die immer mal wieder versuchte, den Tag ohne Alkohol zu beginnen und dann meist doch wieder zur Flasche griff, scheiterte auch Frau W. regelmäßig mit ihrem Vorhaben, die Dosis ihres Medikaments zu reduzieren. Sie war zunehmend damit beschäftigt, die Medikamente zu erhalten und die jeweiligen Ärzte zur Verordnung des Medikaments zu gewinnen.
Alkohol gegen Lampenfieber
Herr K. ist hauptberuflicher Orchestermusiker mit täglichen Proben und häufigen Auftritten. Er spielte schon als Jugendlicher in professionellen Orchestern: »Ich habe vor jedem Auftritt Lampenfieber und bin sehr unruhig. Das ist bei vielen Musikern so. Schon als Jugendlicher habe ich durch erfahrene Musiker Alkohol als Beruhigungsmittel kennengelernt. Das erleichterte meine Auftritte. Nach den Konzerten sind wir Kollegen dann oft noch einen trinken gegangen. Vor allem mit zweien ging es dann oftmals richtig zur Sache und wir haben uns mit Wodka regelrecht abgefüllt. Nach so einem Vollrausch konnte ich mich natürlich nicht mehr an alles erinnern.
Dann kam es irgendwann auch zu diesen Anfällen, ich wurde bewusstlos und wurde ins Krankenhaus eingeliefert. Die Ärzte sagten mir, dass es sich um Entzugskrampfanfälle handele, und ich blieb zur Entgiftungsbehandlung im Krankenhaus. Nachdem sich das ein paar Mal wiederholt hatte, habe ich mit einer Entwöhnungsbehandlung begonnen.
Herr K. hat zunächst episodisch Alkohol konsumiert, meist im Zusammenhang mit Konzertauftritten. Alkohol spielte hierbei die Rolle eines angstlösenden »Medikaments«, das ihn zu seinen Aufführungen befähigte. Ferner spielte der Alkohol eine wichtige Rolle bei der abendlichen Gestaltung; zur Geselligkeit im Kreis seiner Musikerkollegen gehörte wie selbstverständlich das Trinken dazu.
Durch das häufige und auch exzessive Trinken hat sich das Gehirn von Herrn K. an den Alkohol und dessen dämpfende Wirkung gewöhnt. Auf diese Zusammenhänge gehen wir auf → S. 57 genauer ein. Fehlte Alkohol, war das Gehirn von Herrn K. so leicht erregbar, dass Entzugskrampfanfälle auftraten.
»Zum Glück hat noch keiner gemerkt, dass mein Mann trinkt«
Frau E. leidet seit mehr als 15 Jahren unter dem Alkoholkonsum ihres Mannes: »Am schlimmsten ist es, wenn er mit seinen Sportkameraden im Vereinsheim feiert; dann kommt er spät nachts stockbetrunken nach Hause und schläft bis zum nächsten Mittag seinen Rausch aus. Ich rufe dann immer gleich morgens bei der Arbeit an, um ihn zu entschuldigen. Bisher ist es mir ganz gut gelungen, dass keiner etwas merkt.
Ich will auch nicht, dass unsere Freunde etwas mitbekommen. Wir können im Grunde genommen keine Einladung mehr annehmen, er reagiert ja gar nicht mehr auf meine Bitte, nicht so viel zu trinken. Ich habe gar keinen Einfluss mehr auf ihn. Er macht einfach immer weiter. Ich fühle mich dann völlig hilflos. Was soll ich denn machen? Ich will aber auch nicht, dass irgendwer denkt, dass mit uns etwas nicht stimmt, weil wir uns immer mehr abkapseln. Der Einzige, mit dem ich mal darüber gesprochen habe, ist mein Hausarzt. Eigentlich habe ich nur noch Kontakt mit meiner besten Freundin. Ich schäme mich so. Die ahnt bestimmt etwas.
Oft bin ich einfach nur traurig, wenn ich sehe, wie unser schönes Leben den Bach runtergeht. Er macht doch alles kaputt mit seiner Trinkerei. Dann wieder bin ich so wütend, dass ich ihm alles vor die Füße schmeißen will. Ich habe ihm auch schon öfters gedroht, mich zu trennen, wenn er nicht endlich mit dem Trinken aufhört. Aber ich kann ihn doch nicht allein lassen.
Co-Abhängigkeit. Frau E. hat die typischen Merkmale einer Co-Abhängigkeit entwickelt. Sie deckt die Abhängigkeitserkrankung ihres Mannes und versucht, nach außen das Bild einer intakten Familie aufrechtzuhalten. Sie selbst leidet sehr und schafft es nicht, die Problematik ihres Mannes wirksam zu verändern. Langfristig trägt das co-abhängige Verhalten von Frau E. dazu bei, dass sich das Krankheitsbild ihres Mannes festigt, obwohl sie dies natürlich gerade nicht beabsichtigt. Co-Abhängigkeit beeinträchtigt nicht nur die co-abhängige Person, sondern ist auch ein Faktor – neben vielen anderen –, der eine Abhängigkeitserkrankung stabilisieren kann und Veränderungen eher erschwert.
Zugegeben, »Co-Abhängigkeit« ist ein seltsamer Begriff und die Zusammenhänge, die dahinterstecken, sind auch nicht auf Anhieb zu durchschauen. Wir gehen später noch ausführlich darauf ein, welches Verhalten und welche Einstellungen die Abhängigkeit des Betroffenen eher festigen, und welche dies nicht tun (siehe → S. 45–47, 127–132).
Nicht jeder Gebrauch von Suchtmitteln führt zur Abhängigkeit. Im Gegenteil: Der größte Teil der Erwachsenen trinkt zumindest gelegentlich Alkohol, ohne eine Abhängigkeit zu entwickeln. Dabei stellt sich die Frage: Gibt es eine eindeutige Grenze zwischen einem »harmlosen« und einem schädlichen Gebrauch?
Diese Frage ist schwierig zu beantworten, da sich die Menschen aufgrund ihrer Veranlagung und körperlichen Verfassung stark voneinander unterscheiden. Deshalb kann dieselbe Menge für den einen Menschen schädlich und für den anderen noch erträglich sein. Ein großer Unterschied besteht zwischen Männern und Frauen: Der Körper der Männer kann den Alkohol besser verarbeiten, sodass Männer im Allgemeinen mehr Alkohol vertragen können als Frauen.
Ein »Standardgetränk« enthält 10 g Alkohol. Um den Alkoholkonsum zu beschreiben, wird der tatsächliche Alkoholgehalt in Gramm (g) angegeben, den jemand pro Tag konsumiert. Zur Vereinfachung wird häufig von einem »Drink« oder einem »Standardgetränk« gesprochen, das ungefähr 10 g Alkohol enthält.
In einem halben Liter Bier, einem Glas Wein bzw. Sekt oder drei Schnäpsen ist gleich viel Alkohol enthalten, nämlich jeweils 20 g (das entspricht zwei »Standardgetränken«).
Trotz der großen individuellen Unterschiede werden von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen einige Zahlen angegeben, um die Gefahr, die von einer täglich konsumierten Alkoholmenge ausgeht, besser abschätzen zu können. Hierbei werden ganz grob vier verschiedene Kategorien des Konsums gebildet: risikoarmer, riskanter, gefährlicher Konsum und Hochkonsum. Bewusst wurde eine Kategorie »ungefährlicher« Alkoholkonsum gar nicht gebildet.
Aus folgender Tabelle wird deutlich, dass Frauen bereits bei täglichem Konsum von mehr als einem halben Liter Bier Schäden davontragen können.
Übermäßiger Alkoholkonsum kann vielerlei Schäden verursachen:
Er zieht nicht nur die Leber in Mitleidenschaft, sondern auch viele andere Organe unseres Körpers;
er macht vergesslicher, reizbarer und umnebelt die Sinne, um nur einige psychische Auswirkungen zu nennen;
und auch Freundschaften, das Familienleben, das Arbeitsumfeld leiden darunter – er verursacht also auch soziale Schäden.
Auf diese körperlichen, psychischen und sozialen Schädigungen gehen wir auf → S. 26–27 noch ausführlicher ein.
Männer
Frauen
risikoarmer Konsum
bis 30 oder 40 g
bis 20 g
riskanter Konsum
bis 60 g
bis 40 g
gefährlicher Konsum
bis 120 g
bis 80 g
Hochkonsum
mehr als 120 g
mehr als 80 g
Die Alkoholangaben beziehen sich auf den durchschnittlichen täglichen Konsum reinen Alkohols.
Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen hat Schätzungen veröffentlicht, wie häufig diese Konsummuster in der deutschen Bevölkerung auftreten. Wir berichten daraus die Zahlen für die 18- bis 59-jährigen Menschen in Deutschland:
Abstinenz:
4 % konsumieren lebenslang keinen Alkohol, wobei Frauen häufiger abstinent sind als Männer.
Risikoarmer Konsum:
Etwa 75 % konsumieren Alkohol in einer risikoarmen Form.
Riskanter Konsum:
Etwa 10 % konsumieren Alkohol in riskanter Weise. Männer sind in dieser Kategorie etwa zwei- bis dreimal so häufig vertreten wie Frauen.
Gefährlicher Konsum:
Etwa 3 % bis 5 % konsumieren Alkohol auf gefährliche Weise; Männer kommen auch in dieser Kategorie mindestens doppelt so häufig vor wie Frauen.
Hochkonsum:
Zwischen 0,5 % und 0,9 % zeigen dieses Konsummuster, wobei Männer ungefähr dreimal häufiger als Frauen vertreten sind.
Die meisten Menschen, die medikamentenabhängig sind, nehmen sogenannte Benzodiazepine ein.
Bei der Medikamentenabhängigkeit spielen die sogenannten Benzodiazepine die größte Rolle. Verbreitet sind zum Beispiel die Wirkstoffe Diazepam, Lorazepam, Oxazepam, Bromazepam, Flunitrazepam. Auch Frau W. aus unserem Fallbeispiel auf → S. 14 hatte ein Präparat aus dieser Medikamentengruppe eingenommen. Werden solche Medikamente kurzfristig angewandt, können sie äußerst nützlich und sogar lebensrettend sein. So können Benzodiazepine epileptische Anfälle und schwerste psychische Krisen unterbrechen. Dies hängt mit ihrer hemmenden Wirkung auf das Nervensystem zusammen. Ein epileptischer Anfall bedeutet eine unkontrollierte und überschießende Aktivierung mehr oder weniger großer Nervennetze im Gehirn; diese Aktivität wird durch die Benzodiazepine schnell und wirkungsvoll unterdrückt – der Anfall unterbrochen. Mit dieser hemmenden Wirkung können auch Angstzustände bis hin zu Panikattacken äußerst wirkungsvoll und plötzlich unterbrochen werden. Durch ihre müde machende und den Schlaf herbeiführende Wirkung sind diese Medikamente auch wirksam bei Schlafstörungen. Bei psychischen Extremzuständen – zum Beispiel bei akuter Suizidneigung im Rahmen einer Depression, bei Krisen im Rahmen schizophrener Erkrankungen, bei akuten manischen Erscheinungen – werden Benzodiazepine erfolgreich kurzfristig eingesetzt und können diese Situationen wirkungsvoll entschärfen. Wegen ihrer muskelentspannenden Wirkung werden Benzodiazepine auch bei schmerzhaften muskulären Verspannungen angewandt.
Benzodiazepine sind deshalb gefährlich, weil sie relativ schnell zur Abhängigkeit führen können. Eine Abhängigkeit äußert sich vor allem darin, dass nach Absetzen der Medikamente Entzugserscheinungen auftreten können. Diese reichen von Angstzuständen, Schwindelgefühlen, Muskelzittern, Bauchkrämpfen und Übelkeit bis hin zu Halluzinationen und Krampfanfällen. Das andere wichtige Merkmal der Abhängigkeit von Benzodiazepinen ist, dass die ursprüngliche Dosis ihre Wirkung mehr und mehr verliert, sodass der Anreiz, die Dosis zu erhöhen, groß ist. Wenn Betroffene Benzodiazepine wegen anhaltender Angst- und Unruhezustände, Schlaflosigkeit oder Verspannungen einnehmen und sich die Ursachen für die Symptome nicht ändern, besteht die Gefahr, dass nach dem notwendigen Absetzen der Medikation die ursprüngliche Symptomatik – vielleicht sogar verschärft – wieder auftritt. Aus diesem Grund sollten Benzodiazepine nur äußerst zurückhaltend angewandt werden.
Benzodiazepine führen relativ schnell zur Abhängigkeit. Wenn Sie die Dosis erhöhen müssen, um die gleiche Wirkung zu erzielen, ist das ein Alarmsignal.
Werden Benzodiazepine über längere Zeit (mehrere Monate) regelmäßig eingenommen, können körperliche und psychische Auffälligkeiten wie Appetitlosigkeit, Vergesslichkeit, Gleichgültigkeit und das Gefühl ständiger Überforderung entstehen.
Ganz pauschal lässt sich sagen, dass der Konsum von Benzodiazepinen dann riskant ist, wenn er mehr als einige Wochen am Stück andauert. Wenn jemand bemerkt, dass die übliche Dosierung nicht mehr ausreicht, um die ursprüngliche Wirkung zu erzielen, ist dies ein untrügliches Zeichen für die Entwicklung einer Abhängigkeit.
Als einfacher Test für den Alkoholkonsum hat sich der »AUDIT-Fragebogen« bewährt, der auch von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfohlen wird. Er dient zur Frühdiagnostik von Alkoholproblemen. Wenn Sie überprüfen wollen, ob Ihr Alkoholkonsum als problematisch eingeschätzt werden muss, machen Sie den Test. Beantworten Sie jede Frage und tragen die entsprechende Punktzahl in die rechte Spalte ein.
Unter einem »Drink« ist ein Standardgetränk mit 10 g Reinalkohol gemeint. (So viel ist ungefähr in einem viertel Liter Bier oder einem achtel Liter Wein enthalten.)
Wenn Sie in der Summe mehr als 8 Punkte erreichen, ist es wahrscheinlich, dass bei Ihnen ein Alkoholproblem vorliegt. Dann sollten Sie auch den Test auf → S. 32 machen, um zu prüfen, ob sich bereits eine Alkoholabhängigkeit entwickelt hat.
Falls Sie 1 bis 8 Punkte haben, gehören Sie wahrscheinlich zu den »Genusstrinkern« und befinden sich nicht in akuter Gefahr, alkoholabhängig zu werden. Wir schlagen Ihnen vor, diesen Test regelmäßig zu wiederholen, um Veränderungen im Konsumverhalten frühzeitig zu bemerken.