Razzia der Liebe - Paul Rosenhayn - E-Book

Razzia der Liebe E-Book

Paul Rosenhayn

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Beschreibung

„Razzia der Liebe" – hinter diesem ungewöhnlichen Titel verbirgt sich nicht etwa ein Liebesroman, sondern ein rasanter Thriller, in dem freilich auch die Liebe eine besondere Rolle spielt. Jens Ose aus Kopenhagen hat eine außergewöhnliche Erfindung gemacht, mit der sich, fast in der Art eines Perpetuum mobile, die Kräfte des Universums nutzbar machen lassen, so dass der Gebrauch der Kohle fortan unnötig wird. Doch niemand scheint ein Interesse an seiner Erfindung zu haben. Oder sind da etwa Kräfte am Werk, die die Nutzung seiner revolutionären Erfindung zu verhindern trachten? Tief verschuldet und soeben auch noch mit gekündigter Wohnung, lernt Ose die geheimnisvolle junge Amerikanerin Daisy Macdonald kennen. Es ist Liebe auf den ersten Blick, doch nach einem rauschenden Liebesnachmittag verschwindet Daisy spurlos. Ist sie etwa entführt worden? Zugleich entdeckt Jens Ose, dass all seine offenen Rechnungen von Unbekannten beglichen worden sind. Kurz darauf begegnet er Daisy unerwartet in Gesellschaft seines etwas obskuren Jugendfreundes Erik Blomquist wieder, der sie ihm unter dem Namen Agnes Svenstrup als seine Verlobte vorstellt. Doch mit der Beziehung scheint irgendetwas nicht zu stimmen, und sogleich ist sie wieder verschwunden – sowohl aus Jens Oses wie aus Erik Blomquists Augen. Die Spuren führen nach Hamburg, wo Jens Ose jedoch statt der Geliebten einen Ermordeten findet, dessen Namen er gut kennt. Während sich die Ereignisse zunehmend überstürzen, wird die ganze Geschichte immer mysteriöser … In seinem auch zeit- und industriegeschichtlich hochinteressanten Kriminalroman entfaltet Rosenhayn eine Vision vom bevorstehenden Ende des Kohlenzeitalters, eben in dem Moment, als sich das Erdöl anschickt, die Kohle als Energiequelle Nummer eins zu verdrängen. – Paul Rosenhayn schrieb bereits Anfang des 20. Jahrhunderts atemlos spannende Thriller, wie wir sie heute in Deutschland etwa von Autoren wie Sebastian Fitzek kennen und die es unbedingt wert sind, der Vergessenheit entrissen zu werden.

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Paul Rosenhayn

Razzia der Liebe

Roman

Saga

Razzia der Liebe

© 1922 Paul Rosenhayn

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711592588

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

I.

Frau Nikoline Lornsen hatte die Arme in die Hüften gestemmt. Das war ein Zeichen, dass keine irdische Macht imstande gewesen wäre, ihren Entschluss zu erschüttern.

„Also es bleibt dabei, Herr Ose. Heute abend ziehen Sie aus.“

„Aber wenn ich Ihnen sage ...“

„... und überhaupt — es ist ja lächerlich. Ich soll wohl mein gutes Geld noch hinter dem schlechten herwerfen? Es ist ein sehr feiner Herr, der auf das Zimmer reflektieret; er zahlt beinah das Doppelte von dem, was Sie mir — schuldig bleiben. Nee, Herr Ose, wenn ich auch nur eine alte dumme Witwe bin — was zu viel ist, ist zu viel. Es sind jetzt beinahe vierhundert Kronen, die Sie mir schuldig sind, und jeden Tag wird es mehr.“

„Frau Lornsen, Sie wissen doch, ich brauche bloss meine Erfindung ...“

„Um Gottes willen hören Sie mir auf mit Ihrer Erfindung! Neulich war einer hier, der kaufte Alteisen — dem habe ich sie angeboten.“

„Sie sind wohl nicht ganz ...“

„Meinen Sie, er hat sie genommen? Proste Mahlzeit — nicht mal dazu ist sie gut. Die ist ja innen hohl, hat er gesagt. Also kurz und gut: heute abend ziehen Sie aus. Leben Sie wohl, Herr Ose.“

Damit schlug Frau Nikoline Lornsen die Tür hinter sich zu.

Jens Ose ging mit langsamen, gewissermassen schuldbewussten Schritten die Treppe hinunter. Er trat auf die schmale Fiolstraede hinaus, über der der warme Glanz des jungen Augustmorgens leuchtete, und seine Augen schweiften trübselig zu den Fenstern des vierten Stocks hinauf, in dem sein bescheidenes Zimmerchen lag. Frau Nikoline war nicht ganz im Unrecht, wenn sie ihm zürnte. Sie hatte es weiss Gott nicht reichlich. Aber Jens Ose war kein Zauberer: und wenn er sich auf den Kopf gestellt hätte — so würde nicht mehr auf das Trottoir gefallen sein als eine Krone und ein paar Örestücke.

Er trottete die Fiolstraede hinunter in der Richtung nach dem Aarboutevarden. Am Sofienweg wohnte doch Sigurd Larslund. Merkwürdig, diese ganze letzte Zeit war ihm Sigurd Larslund nicht eingefallen — und doch lag es so nahe, an ihn zu denken. Denn er war der beneidenswerte Sohn eines Millionärs ...

Jens versank in andächtiges Sinnen, als er an ihn dachte. Seine Gedanken spannen sich spielerisch hinüber in die Welt der Millionen und in ein Leben, in dem es von Autos, schönen Frauen und Opernlogen nur so wimmelte.

Da war er schon auf dem Sofienweg.

Seltsam — an Larslunds Fenstern waren die Jalousien heruntergelassen.

Jens Ose hatte heute seinen schlechten Tag. Sigurd Larslund war verreist — irgendwohin — zum Vergnügen, mit einer Freundin. Nach dem Kontinent, meinte der reservierte englische Diener. Und schon stand Jens wieder auf dem Asphalt. Er zuckte die Achseln: abwarten, irgend etwas würde sich schon finden. Die Welt war gross und schön, und er war jung und gesund — lächerlich! Direkt frivol war es, hier zu verzagen. Und was tat’s schliesslich, wenn man mal eine Nacht ohne Bett war? Der Oersteds-Park hatte viele Bänke, und die Nächte waren warm!

Die hellen Signale der Autos umschwirrten ihn, Strassenbahnen rasten vorüber — das Gewühl der Kjöbmagergade nahm ihn auf. Er sog mit Behagen den Klang des Lebens ein, der ihm hundertfältig aus dem eilfertigen Schritt der Menschen, aus den lockenden Auslagen der Kaufhäuser entgegenströmte — und im Nu war der letzte Rest seiner schwermütigen Stimmung in ein Nichts aufgelöst. Von dem Wäschehändler hier zur Linken, der die feinsten Oberhemden und die märchenhaftesten Krawatten von ganz Dänemark führte und den diese herrlichen Dinge mit Recht längst zum Millionär gemacht hatten, von dem erzählte man sich, dass er noch vor zehn Jahren ein armer Schlucker gewesen sei, den man eines Nachts ganz gegen seinen Willen aus dem Sortedamsee gezogen hatte. Und dort drüben — der Besitzer des Lichtspieltheaters hatte noch vor gar nicht allzulanger Zeit auf dem Raadhuspladsen gestanden: zwei Oere die laufende Maus! Und er — Jens Ose? War er nicht der glückliche Schöpfer einer der genialsten Erfindungen die je und je die Welt revolutioniert hatten? Freilich — sie wollten zunächst nicht an seine Erfindung glauben, alle diese blöden Menschen. Aber war es nicht jeder grossen Idee so ergangen? Galilei — Kolumbus — Volta? Hatte nicht sogar in unserer allerjüngsten Zeit ein Auer seine Erfindung wieder und wieder vergeblich angeboten — bis ein Aussenseiter kam, der ihm ihre Ausführung ermöglichte und dadurch das Gasglühlicht schuf? Es würde schon werden!

Er wurde in seinen Gedankengängen ganz plötzlich unterbrochen. Denn was gibt es Wichtigeres auf der Welt, wenn man achtundzwanzig Jahre alt ist, als ein entzückendes Mädchen?

Wenn Jens Ose später in vertrautem Kreise von diesem Tage sprach, so nannte er ihn nie anders als den Wendepunkt seines Lebens. Erst allmählich — gewissermassen aus einer über den Dingen liegenden Perspektive heraus, hat er die seltsame Konstellation der Dinge erfasst, die zusammenkommen mussten, wie die einzelnen Teile eines feinen Schlüssels, der jenes Tor öffnete. Hinter diesem Tor aber blinkten in reinem Sonnenlicht die Stufen der goldenen Treppe, auf die Jens Ose zögernd und ungläubig den Fuss setzte ...

Sie stand vor einer Kunsthandlung und sah andächtig und bewundernd die neuen Zeichnungen von Clarence Underwood an. Jens trat fast auf den Zehenspitzen neben sie, und während er scheinbar furchtbar interessiert an ihr vorbeisah, dahin, wo ein entsetzliches ausgeschnittenes Holzbild in einem runden Rahmen prangte, blickte er mit heimlichem Entzücken verstohlen in ihr Gesicht. Einen Augenblick schien es ihm, als ob langsam ein leises Lächeln in ihre Züge trete. Dann aber wieder sagte er sich, dass dieses Lächeln, selbst wenn es keine Täuschung gewesen wäre, bestimmt nicht ihm gegolten haben konnte. Denn sie hatte ihn sicher überhaupt nicht bemerkt. Sie war von mittlerer Grösse, schlank und brünett, mit einem wundervollen weichen Profil und einer Haartracht, die bestimmt nicht dänisch war.

Jens Ose kam zu der Überzeugung, dass es nicht schicklich gewesen wäre, wenn er noch länger auf das Holzbild gestarrt hätte. Und fast als ob sie seine Absicht erraten hätte, wandte sie sich just im selben Moment herum, so als ob sie sich zum Weitergehen anschicke. Und plötzlich traf ihn ihr Blick. Nicht erstaunt oder verwirrt, wie durch die unvermutete Anwesenheit eines Zweiten, sondern so — er sagte es sich mit ungläubigem Entzücken — als ob sie ihn schon längst gesehen hatte. Sozusagen als ob sie mit seiner Nähe rechne. Sie ging nach dem Kongens Nytorv zu. Und wenn es sein Leben gekostet hätte — er wäre ihr gefolgt.

Mit schnellen graziösen Schritten ging sie über den Fahrdamm. Ein paar Droschkenchauffeure setzten sich in Positur. Das machte ihn merkwürdig stolz — er wunderte sich selbst darüber. Aber dann wusste er’s: das war eine Bestätigung seines guten Geschmacks. Eine junge Lady!

Sie ging am Königlichen Theater vorüber in der Richtung nach dem Neuhafen. Am Südportal blieb sie stehen. Sie studierte eifrig den Zettel, der dort hinter dem kleinen Gitter hing. Dann, mit einer kaum merklichen Bewegung, wandte sie den Kopf und blickte zu ihm hinüber. Etwas Heisses schoss ihm ins Gesicht — aber dann plötzlich war er sich klar, dass er sich geirrt haben musste. Oder doch nicht? Er nickte tiefsinnig. Das Arsenal einer Frau war eine komplizierte Angelegenheit!

Sie setzte ihren Weg fort. Aber als wenn ein gütiger Himmel ein Einsehen gehabt und den Beschluss gefasst hätte, dass Herrn Jens Ose an diesem Tage, der so traurig begonnen hatte, unbedingt und auf alle Fälle noch etwas Liebes passieren müsse: in diesem Augenblick kam ein Auto um die Ecke der Heibergstrasse — und die junge Dame wäre unfehlbar überfahren worden, wenn nicht Jens sie im rechten Augenblick zurückgerissen hätte. Das heisst: ganz so schlimm war es eigentlich nicht gewesen. Aber das konnte sie gar nicht so genau beurteilen, und Jens Ose hatte keinen Grund, sich darüber auszulassen. Kurz und gut — sie dankte ihrem Retter mit einem freundlichen Lächeln.

Sie war sicher keine Kopenhagenerin. Überhaupt wohl keine Dänin. Denn sie sprach mit einem leicht fremdländischen Akzent — angelsächsisch, wie es schien.

Sollte er das Glück dieser Minute leichtfertig aus seinen Fingern gleiten lassen? Das wäre eine Frivolität sondergleichen gewesen. Und ein Blick in das energische Gesicht der jungen Dame sagte ihm, dass sie ein solches Benehmen wahrscheinlich nicht einmal als Ritterlichkeit, sondern als Dummheit aufgefasst haben würde. Er stellte sich vor.

Sie lächelte wieder und neigte den Kopf, ohne aber ihren Namen zu nennen.

„Nicht wahr,“ fragte sie nach einer kleinen Weile, „es geht hier nach Klampenborg?“

„O nein,“ sagte er — wie wohl ihm heute das Schicksal wollte! — „dort drüben durch die Bredgade führt der Weg. Aber ich nehme an, dass Sie die dänischen Strassenschilder gar nicht lesen können. Es wird das richtigste sein, wenn ich Sie führe.“

„Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, mein Herr,“ antwortete sie mit einer weichen Mezzosopranstimme. „Aber ich fürchte, Sie versäumen meinetwegen Ihre Geschäfte.“

Er lachte herzlich. „Durchaus nicht, mein gnädiges Fräulein. Es trifft sich gut — ich bin heute vollkommen frei. Und wenn es Sie nicht geniert, so möchte ich Ihnen fast einen Vorschlag machen ...“

„Bitte?“ fragte sie ein ganz klein wenig streng.

„Ich meine,“ fuhr er zögernd fort, „natürlich, wenn es Ihnen nicht unangenehm ist — ich war sehr lange nicht in Klampenborg und könnte mich Ihnen dort vielleicht nützlich erweisen.“

„Das wird nicht nötig sein,“ sagte sie lächelnd, „denn ich wohne in Klampenborg und kenne dort jedes Haus. Aber ich habe nichts dagegen, Herr — —“

„Ose!“ ergänzte er mit einer Verbeugung.

„— — — dass Sie ein wenig in meiner Gesellschaft bleiben. Ich hatte allerdings die Absicht, einen Augenblick in ein Kaffeehaus zu gehen, um den New York Herald zu lesen.“

Es gab ihm einen Stich. Unwillkürlich fasste er in die Tasche. Wenn sie keinen Kuchen ass, ging’s.

„Sie sind Amerikanerin?“

Sie nickte. „Ich wohne in einem Boarding-House in Klampenborg. Dort erwarte ich meinen Vater, der eine Reise durch Europa macht. In Geschäften natürlich.“

„Und Sie sind ganz allein in Dänemark? Eine so junge Dame?“

„Warum nicht? Ich finde es herrlich, allein zu sein.“

Er sah sie erschrocken an. „Denken Sie dabei an mich?“

„Nein,“ sagte sie lachend. „Ich bin Ihnen doch Dank schuldig. Kommen Sie, wir wollen ins Café d’Angleterre gehen.“

Das erste, was Jens Ose tat, nachdem die beiden Platz genommen hatten, war, dass er den New York Herald besorgte. Dann bestellte er Kaffee, und als der Kellner diensteifrig zum Büfett eilte, hielt er seiner schönen Begleiterin einen längeren Vortrag über die Ungeniessbarkeit der Kuchen in diesem Kaffeehaus. Was richtig den Erfolg hatte, dass sie dankend ablehnte, als der Kellner Gebäck offerierte. Freilich schien es ihm, als ob sie dabei ein ganz klein wenig lächle. Aber er musste sich geirrt haben. Warum sollte sie gelächelt haben? Er atmete auf. War es der Kaffee, der sein Herz höher schlagen machte? Oder die Nähe dieses süssen jungen Weibes? Sie war wirklich entzückend — dabei natürlich und von einer dezenten Sicherheit, die ihm etwas ganz Neues war.

„Haben Sie vielleicht einen Fahrplan?“ wandte sie sich an Jens.

„Ja. Ein Monatsheft.“

„Einen grossen — ich will morgen nach Stockholm fahren.“

Da hatte er’s. Winkte ihm einmal irgendwo ein Zipfelchen vom Glück — schon kam irgendeine rauhe Hand und riss es ihm wieder fort!

„Auf längere Zeit?“ fragte er, indem er das kleine Buch durchblätterte und die Seite sechzehn suchte.

Sie zuckte die Achseln. „Vielleicht für immer.“

„Aber Ihr Herr Vater?“ wandte er schüchtern ein. „wenn der nun kommt und sein Töchterchen nicht vorfindet?“

„Dann kommt er mir nach — nach Stockholm,“ antwortete sie munter. „Oder sonstwohin, wo ich mich gerade aufhalte. Aber ich glaube, ich muss jetzt fort.“

Er fuhr zusammen. Nein, das ging nicht! Ein so kurzes junges Glück widerspruchslos sich aus der Hand gleiten zu lassen — dazu war Jens Ose zu jung und zu stürmisch und — man konnte es wohl sagen — schon zu verliebt. Hier musste etwas geschehen. Etwas Grosses, Radikales. Er blickte verstohlen zu dem Kellner hinüber. Der hatte ihn schon mal irgendwo bedient. Den konnte man anborgen. Sicher. Der Kellner sagte weder ja noch nein, sondern zog stumm die Brieftasche und nahm drei Zehnkronennoten heraus. Worauf zu seinem Erstaunen Jens Ose eine Flasche Sekt bestellte.

Noch ein bisschen erstaunter aber war die junge Dame, als Jens ihr mit unerbittlicher Entschiedenheit erklärte, er könne sie so unmöglich fortlassen, er müsse mit ihr unbedingt vorher ein Glas Champagner trinken. Sie sah auf die Armbanduhr. Dann lachte sie und nahm sich eine Zigarette aus der Schachtel, die Jens vom Büfett mitgebracht hatte.

Der Sekt kam. Jens schenkte ein. Die beiden tranken sich zu und sahen sich in die Augen. „Wie heissen Sie eigentlich?“ fragte er ganz unvermittelt.

„Raten Sie einmal!“

Er schüttelte resigniert den Kopf. „Die einzigen amerikanischen Namen, die ich kenne sind Rockefeller, Woodrow Wilson und Edison. Auf diese Weise wird es nicht gehen. Sie müssten denn schon gerade einen von diesen drei Namen haben.“

Nein. Sie hiess weder Rockefeller, noch Wilson, noch Edison. „Geben Sie mir noch ein Glas Sekt.“

Eilfertig kam er dem Befehl nach. Wieder tranken sie. Dann, indem sie das Glas auf die Marmorplatte stellte, sagte sie mit leiser Stimme:

„Daisy Macdonald.“

„Welch ein schöner Name!“ sagte er aufrichtig begeistert und sah ihr verzückt in die Augen. Sie gab sein Lächeln zurück. Er fasste nach ihrer Hand — sie schüttelte ein bisschen den Kopf und entzog sie ihm.

„Eigentlich muss ich mich wundern,“ begann er mit einem nachdenklichen Seufzer, —

„Worüber?“

„Dass Sie mit mir hierhergegangen sind.“

„Sie sind sehr höflich!“

„Sie haben mich nicht verstanden. Ich meine, dass Sie mit mir hierhergegangen sind.“

„Ich verstehe Sie noch immer nicht.“

„Oh ja, Sie verstehen mich schon. Wenigstens so ungefähr. Wenn ich eine junge Dame wäre, ich würde nicht mit mir ins Kaffeehaus gehen.“

„Und warum eigentlich nicht?“

„Du lieber Himmel“ ... er zuckte mitleidig die Achseln. „Ich bin weiss Gott kein Adonis.“

„Halten Sie das Äussere eines Mannes für so wichtig?“

„Oh ja. Ganz ohne Frage.“

„Es interessiert mich nicht, ob ein Mann hübsch oder hässlich ist.“

„Dann begreife ich um so weniger, dass Sie mit mir hierhergegangen sind.“

„Wieso?“

„Mein Äusseres ist das einzige, was Sie bisher von mir gesehen haben. Meine geistigen Qualitäten können Sie unmöglich gereizt haben, denn Sie kennen sie nicht. Also bitte ...?“

Sie lachte. „Ich bin geschlagen. Also, mein Herr, Ihr Äusseres hat einen so überwältigenden Eindruck auf mich gemacht, dass ich nicht anders konnte, als ja sagen.“

„Jetzt verhöhnen Sie mich!“

„Sie fordern es heraus mit Ihrem schrecklichen Gespräch über derlei Äusserlichkeiten.“

„Nein. Bleiben wir einmal bei der Sache. Soll ich es Ihnen gestehen — wenn ich in den Spiegel sehe, bin ich für den ganzen Tag nicht mehr zu brauchen.“

„Sie sind entsetzlich eitel, mein Herr.“

„Sie haben gut reden. Wenn man so aussieht wie Sie, kann man so tun, als wäre man über alle diese Dinge erhaben. Ein Reicher hat leicht über den Reichtum zu spotten.“

„Also in Gottes Namen, was finden Sie denn so hässlich an sich?“

„Sehen Sie sich einmal in diesem Raum um. Von allen Männern, die Sie hier sehen, bin ich so ziemlich der längste ...“

„Halten Sie das für einen so grossen Fehler?“

„... der längste und ungeschlachtste.“

„Weiter.“

„Mein Haar ist flachsblond und so wirr, als hätte ich es seit Tagen nicht gekämmt.“

„Es gibt mehrere geschickte Friseure in dieser Stadt.“

„Hab’ ich alles versucht. Hat nichts genützt. Und dann bitte, sehen Sie sich meine Augen an. Sie sind viel zu hell und ausdruckslos.“

„Hm. Ich glaube, Sie haben kluge Augen.“

„Ich spreche hier von Dingen, die die Frauen interessieren. In der Liebe kommt es nicht darauf an, kluge, sondern schöne Augen zu haben.“

„Geben Sie mir lieber Sekt.“

Er griff glücklich nach der Flasche, die glucksend aus dem Eiskübel schnappte, und schenkte ein.

„Also Prosit, Sie Hässlichster von allen!“

In der kurzen Stunde, die jetzt folgte, schwirrten durch den kleinen Raum, an dem des das brausende Leben des Kongens Nytorv vorüberraste, alle jene tausend holden Nichtigkeiten, aus denen sich seit Bestehen der Welt das süsse Kapitel der Liebe zusammenbaut. Was kümmerte ihn die Rechnung der Frau Nikoline? Das Glück dieser seligen Minuten war lohnend für hundert trübe Stunden im voraus, wog lachend alle Mühseligkeiten und Lasten eines Jahres auf.

„Ich muss gehen,“ sagte sie endlich und stand auf.

„Nein,“ entschied er mit einer Selbstverständlichkeit, die ganz natürlich klang. Sie senkte den Blick — dann sah sie ihn zögernd, fast ein wenig unsicher, an. Er lehnte seinen Kopf an ihre Wange und flüsterte ihr leise etwas ins Ohr. Sie antwortete nicht. Schweigend trat sie an seiner Seite auf den Asphalt der Strasse.

Er rief ein Auto an: „Nach dem Solitudevej!“

Und durch das kleine Zimmer in dem verschwiegenen Pensionat rauschen alle Wonnen des Himmels, lachen und schluchzen alle seligen Melodien der Liebe.

Als die beiden am späten Nachmittag sich trennten, krampft Jens seine Hand in die seiner schönen jungen Geliebten.

„Wann sehen wir uns wieder?“

Sie schüttelte den Kopf und schwieg.

„Ich werde arbeiten,“ sagte er froh und glücklich. „Jetzt ganz bestimmt — irgend etwas, was mich schnell zum reichen Mann macht. Weiss ich doch jetzt, wofür ich’s tue. Hörst du? Ich danke dir viele, viele tausend Male für alles. Du weisst ja nicht, was es für mich bedeutet, was du mir gegeben hast. Keine Frau weiss es. Keine begreift es so recht. Ganz sicher — ich werde bald ein reicher Mann sein. Du sollst dich meiner nicht zu schämen brauchen. Nein, das sollst du nicht, Daisy! Sag’ mir noch einmal, dass du mich lieb hast — warum sprichst du nicht?“

Er sah ihr ins Gesicht. „Woran denkst du? Sag’ mir doch noch einmal eine von den tausend Zärtlichkeiten, die du vor einer Stunde für mich hattest.“

Sie schweigt.

„Habe ich dich gekränkt?“

Sie schüttelt den Kopf.

„Oder tut dir’s leid? Dann will ich dir sagen, dass du dich irrst. Ich bin kein Unwürdiger — ganz gewiss nicht — glaube es mir! Ich weiss auch, dass wir uns wiedersehen werden — jeden Tag — jede Stunde, wenn du willst. Und jedesmal will ich dir schönere Dinge sagen und alle Reichtümer der Welt will ich erringen, um sie dir zu Füssen zu legen.“

Sie blieb plötzlich stehen. „Wir müssen uns hier trennen,“ sagte sie mit leiser Stimme.

„Du bereust also?“

„Nein,“ sagte sie fest. „Ich bereue nicht. Es war schön — ich danke dir.“

„Und wann ...“ er stockt vor ihrem traurigen Blick.

„Nie!“ sagte sie. „Nie! Hörst du? Du musst es mir versprechen: solltest du mich jemals sehen — wann und wo und mit wem es sei — du kennst mich nicht. Hörst du — wenn du mich wirklich lieb hast, so muss es dabei bleiben. Leb’ wohl.“

Hastig — fast laufend — bog sie in die Norrebrogade ein. Sie stieg in das vorderste der dort haltenden Autos, das angekurbelt bereit stand. Regungslos sah er ihr nach. Sie blickte sich nicht um, während der Wagen davonschoss — in der Richtung nach Südosten, der Dronning Louise Bro zu. — „Merkwürdig!“ ging es ihm durch den Kopf; „der Chauffeur fährt einen falschen Weg — er müsste Blegdamsvej fahren.“

Der Wagen tauchte in dem silbrigen Schleier der ersten Dämmerung hinein; nun war er nur noch ein dunkler Fleck, der kleiner und kleiner wurde.

Seufzend riss Jens sich los. Und plötzlich, wie mit einem hellsichtigen Ahnen, fühlte er, dass in diesem Moment der rollende Ball seiner Lebensbahn eine jähe Kurve machte.

Alle Schatten des Trübsinns lagen über der Fiolstraede, als Jens Ose die vier Treppen zu seinem Stübchen hinaufklomm.