Der Ritt in die Sonne - Paul Rosenhayn - E-Book

Der Ritt in die Sonne E-Book

Paul Rosenhayn

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Beschreibung

Berlin in Zeiten der Depression der 1920er Jahre. Auf einer Bank im Berliner Tiergarten treffen sich drei abgerissene, obdach- und arbeitslose Gesellen: Fritz Jacobsen, Jonny Reimers und Hans Hieronimy. Des Lebens überdrüssig und ohne alle Hoffnung, beschließen sie, ihren kläglichen Existenzen mit einem Sprung in den Landwehrkanal ein Ende zu machen. Doch Fritz Jacobsen hat eine andere Idee: Nebenan befindet sich die Villa eines reichen Millionärs. "Ich will euch einen Vorschlag machen. Ich werde hinaufgehen und Anzüge für uns holen. Ich werde einen Zettel zurücklassen. Darin verpflichten wir uns, die Anzüge innerhalb einer Woche zurückzubringen. In einer Woche müssen wir es geschafft haben. Bringen wir das nicht fertig, dann passen wir nicht in die Welt; dann sind wir reif für den Kanal." Gesagt, getan; kaum hat Fritz die drei mit kostbaren, vornehmen Anzügen ausgestattet, geschieht auch schon das Unglaubliche: Eine teure Limousine hält neben ihnen, und sie werden gebeten einzusteigen. Glaubt der Fahrer doch, im armen Fritz Jacobsen den Millionärssohn Cornelius Vandergult zu erkennen. Eine turbulente Zeit beginnt: Plötzlich finden sie sich bei teuren Speisen und Zigarren im Hotel Adlon wieder, und gerade als sie glauben, der Schwindel fliege nun auf, weil sie für ihre Prassereien nicht zahlen können, taucht ein Bankier auf, der mit Vandergult seine Geschäfte machen will, und überreicht Fritz eine Million in bar ... Während Hans Hieronimy das neue Leben zu Kopf steigt und er auf die schiefe Bahn gerät, beginnt für Fritz und Jonny ein abenteuerliches, schwelgerisches Leben in London und Paris. Plötzlich ist Fritz sogar in die reiche, schöne Dina d'Orsay verlobt und beginnt sie auch wirklich zu lieben. Allein: Intrigen holen sie ein, der Schwindel fliegt auf, und es zeigt sich, was Liebe wert ist ... Doch dann wartet dieser überaus spannender, turbulenter und humorvoller Liebes-Schelmen-Hochstapler-Roman, der Haken schlägt wie ein Hase auf der Flucht und rasant ist wie ein italienischer Sportwagen, mit noch einer weiteren, letzten überraschenden Wendung auf ... "Kleider machen Leute" einmal ganz anders – und äußerst amüsant!-

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Paul Rosenhayn

Der Ritt in die Sonne

Roman

Saga

Der Ritt in die Sonne

© 1926 Paul Rosenhayn

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711592632

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

I

Auf einer Bank im Tiergarten sassen drei junge Männer.

Regen troff nieder; Autos hasteten jenseits der kahlen Bäume vorüber.

Die drei sassen unbeweglich. Es war in der Nähe der Rousseau-Insel: zwischen dem Neuen See und den Renaissance-Häusern um die Gegend der Hitzigstrasse.

Die drei hatten manches Gemeinsame. Keiner von ihnen besass einen Schirm, keiner einen Paletot. Ihre Kragen waren defekt und ihre Schuhe zerrissen.

„Mit dem Adressenschreiben ist es auch nichts,“ sagte der eine. „Denn seht mal, man braucht dazu eine warme Stube. Oder auch, das kommt ja vor, man kann die Arbeit bei jemandem im Bureau machen. Das ist alles ganz schön. Aber seid ihr mal irgendwo gewesen, wo Adressenschreiberei zu vergeben war?“

Der zweite winkte mit der Hand, an der der Rest eines fabelhaften Handschuhs prunkte. „Ob ich da war! Einmal? Hundertmal. Schlange gestanden. Als ich oben war, war die Arbeit vergeben.“

„Ich bin ein Hamburger Fahrensmann,“ sagte der dritte. „Aber jetzt, um diese Zeit — die meisten Kasten liegen im Dock. Vor sechs Wochen habe ich abgemunstert.“

„Abgemustert,“ verbesserte ihn der Adressenschreiber.

„Heute werde ich mal sehen, ob ich in der ‚Palme‘ unterkomme.“

„Geben Sie diesen Versuch von vornherein auf,“ sagte der erste mit einem halben Blick auf seinen Nachbar. Er zog einen kleinen Spiegel, der keinen Rand besass, aus der Tasche, und indem er aufmerksam hineinblickte, versuchte er unter Zuhilfenahme von etwas Spucke seinem Kragen den trügerischen Glanz der Sauberkeit zu verleihen. „Es ist überfüllt im Asyl für Obdachlose, jede Nacht überfüllt. Und wenn Sie schon wirklich hineinkommen, was haben Sie dann? Man plündert Sie vollends aus.“

„Gut,“ sagte der dritte. „Gut. Es ist ja schliesslich egal. Nicht wahr? Ein bisschen früher oder ein bisschen später, das macht wenig Unterschied.“ Er warf einen Blick in die Runde und sagte mit tiefer Stimme, so, als ob er einen wichtigen Entschluss gefasst hätte:

„Dann werde ich heute abend einen Spaziergang nach dem Landwehrkanal machen, von dem ich wohl nicht mehr zurückkehren werde.“

Der zweite nickte. „Das ist eine gute Idee. Wenn Sie erlauben, komme ich mit.“ Und indem er sich seinem Nebenmann zuwandte, fragte er leise:

„Und du?“

Dieser hob eben eine verrostete Musterklammer vom Boden auf. „Welch ein ausgezeichneter Kragenknopf!“

„Und du? Oder, nichts für ungut: und Sie? Wollen Sie dieses gottverdammte Leben weiterführen?“

Der Gefragte liess den Kragenknopf mit einer hilflosen Gebärde fallen. „Ich hab’ ein Mädel ...“

„So so. Ein Mädel!“ mischte sich der dritte ins Gespräch. Er kniff die Augen zusammen wie ein gestrenger Examinator. „Schickt sie dir Wurst? Geld? Brot?“

„Nein.“

„Also worauf wartest du?“

„Man hofft,“ sagte jener leise. „Ich bin doch noch so jung ...“

„Du siehst am reduziertesten von uns allen aus. Glaube mir, mein Junge, ich kenne das: wenn erst mal die Schale zum Teufel ist, dann ist es aus. Jeder Schutzmann fühlt sich berechtigt, dir einen Tritt zu geben. Also mach’ keine Geschichten — in acht Tagen bist du doch so weit. Das geb ich dir schriftlich. Wozu die lange Quälerei? Je schneller daran, je schneller davon. Ich hab’ noch ein paar Groschen. Wir besaufen uns. Und dann ...“

„Ja.“

„Sieh mal, dort drüben, wo die Sonne untergeht! Siehst du die lange Baumreihe?“

„Ja.“

„Dort ist die Ruhe, mein Junge. Dort drüben, schau mal genau hin, dort ist der Kanal.“

Und ermunternd sagte der zweite: „Warum soll man noch länger warten? Ein paar Minuten Angst und Würgen. Na ja, das geht auch vorüber. Und dann — dann ist es aus mit dem verfluchten Elend. Bedenk’ mal, was das heisst: keinen Hunger mehr! Du brauchst nicht die Nächte in Regen und Kälte auf ’ner Bank zu schlafen. Was sag’ ich, zu schlafen — zu zittern. Keine Sorge mehr um morgen. Niemand, der uns hetzt. Keiner, der sich so ein armseliges Vergnügen daraus macht, dir zu antworten: für Sie habe ich keine Arbeit. Also komm, hörst du?“

Die drei standen auf.

„Ich heisse Fritz Jacobsen,“ sagte der erste.

Wie über einen guten Witz lachten die beiden andern.

Der zweite nannte seinen Namen: „Jonny Reimers.“

Und auch der dritte stellte sich vor: „Hans Hieronimy.“ Wobei man ihm ansah, dass er die Notwendigkeit eines solchen Zeremoniells durchaus nicht einsah.

„Man will doch wissen,“ sagte Jacobsen, „mit wem man zusammen beerdigt wird.“

Die drei gingen durch die aufgeweichten Wege, in denen Laub des Sommers gelb und modernd lag. Der Regen hatte ein wenig nachgelassen, aber die Luft war erfüllt von grauer Feuchtigkeit, die, halb Dunst, halb Nebel, alle Dinge in ihre beklemmende Farbe hüllte.

„Wie Busstag,“ sagte Reimers.

„Da freut man sich eben auf einen ‚Klaren‘.“ Hieronimy zeigte hinüber.

Die Budike war erfüllt von Lärm und von Geruch. Der Seemann schien hier nicht fremd zu sein. Der Schnaps lief den dreien durch den Hals wie rinnendes Feuer.

„So,“ sagte Hieronimy. Seine einfache und energische Art hatte etwas Mitreissendes; der letzte Gang schien ihm eine Handlung der Disziplin zu sein wie jede andere.

Langsam gingen die drei quer über den Asphalt, in den Tiergarten zurück. Hieronimy stapfte gleichmütig, sichtlich von keinen Bedenken beschwert, dem Ziel zu; aber die Schritte der beiden andern verloren ihre Zuversichtlichkeit, und ihre Augen wichen sich aus.

Plötzlich blieb Fritz Jacobsen stehen. Er legte die Hände an die Schläfen und sagte laut und entschlossen:

„Nein!“

Eben glitt ein offenes Auto an den dreien vorüber. Darin sass ein Herr im Pelzmantel, an seiner Seite eine elegante Halbweltdame. Die beiden schauten die drei Vagabunden mit der völlig verständnislosen Neugier an, mit der man etwa ein Tier im Käfig betrachtet.

„Das könnt’ dir wohl so passen!“ Der Seemann grinste: „Ein Auto und eine Villa. Und eine Freundin vom Ballett. Ich glaub’s schon!“

„Ich tu’s nicht.“

„Dann lass es bleiben. Dann gehen wir allein. Komm, Reimers!“

„Ihr sollt es auch nicht tun.“

„Was stierst du bloss immer hinter dem Auto hèr? Bist du denn ein Kind, dass du meinst: wenn ich so was sehe, dann muss ich’s haben? Mein lieber Junge, lüg dir doch nichts vor. Die Welt ist schön für die Reichen. Die anderen können sich aufhängen. Oder in den Kanal gehen. Oder sich totschiessen — die Wahl wird ihnen gnädig überlassen.“

„Was zum Teufel ist denn für ein Unterschied zwischen uns und denen? Das bisschen Kleidung? Du lieber Gott!“

„Wenn man null Pfennige in der Tasche hat,“ sagte Reimers, „dann ist dieser Unterschied verdammt gross. Also komm!“

„Passt mal auf!“ Jacobsen wies hinüber nach den Häusern. „Seht ihr die weisse Villa dort drüben?“

„Natürlich sehen wir die. Wir sind ja nicht blöd’.“

„Dort wohnt ein reicher Millionär.“

„Millionäre sind gewöhnlich reich.“

„Ein Millionär. Der ist nicht bloss Millionär, sondern auch verreist.“

„Willst du etwa bei ihm einbrechen?“

„Das ist nicht das richtige Wort. Nicht einen Pfennig Geld möchte ich haben. Nicht einen Wertgegenstand. Übrigens sind alle Zimmer dreifach verriegelt und verrammelt. Bloss im Zimmer des Dieners hängen ein paar ganz gut erhaltene Anzüge.“

„Sag’ mal, woher weisst du denn das?“

Ein bisschen verlegen antwortete Jacobsen: „Ich kenne den Diener.“

„So. So.“

„Er hat mir neulich mal erlaubt, eine Nacht in seiner Kammer zu schlafen. Jetzt ist er mit seinem Herrn nach dem Süden gefahren. Ich will euch einen Vorschlag machen. Ich werde hinaufgehen und Anzüge für uns holen. Was meint ihr dazu?“

„Das lässt sich hören.“

„Nur geliehen. Ich werde einen Zettel zurücklassen. Darin verpflichten wir uns, die Anzüge innerhalb einer Woche zurückzubringen. Versteht ihr wohl? Das ist kein Scherz. Das ist ein Vertrag, den wir mit dem Mann schliessen. Ein Ehrenwort, das wir geben. In einer Woche müssen wir es geschafft haben. Bringen wir das nicht fertig, dann passen wir nicht in die Welt; dann sind wir reif für den Kanal. Also hört ihr: Können wir in einer Woche die Kleider nicht zurückgeben, so werden wir heute über acht Tage das tun, was wir heute verschoben haben: wir werden in den Kanal gehen.“

„Gott, ja,“ sagte Reimers. „Warum schliesslich nicht?“

Hieronimy zuckte die Achseln. „Er ist ein Kind. Aber weiss Gott, Kinder picken manchmal im Dunkel auf ein blindes Huhn.“

„Du meinst: ein blindes Huhn pickt manchmal ein ...“

„Das ist doch ganz egal, wer pickt. Mach’ schon und hol’ die Anzüge.“

Jacobsen stelzte, die Hände in den Hosentaschen, quer über den blätterbedeckten Asphalt. Die Dämmerung nahm seine armselige Gestalt auf, und während er drüben in das graue Dickicht hineintrabte, schien er völlig eins zu werden mit den trostlosen Konturen der herbstlichen Bäume. Die beiden sahen ihm schweigend nach. Nun hatte das dunkle Grau ihn vollends verschluckt.

„Ob er wohl wiederkommt?“ sagte Reimers nach einer kleinen Weile.

„Der kommt wieder.“ Hieronimy zwinkerte. In der Tiefe seiner dunklen Augen schien ständig ein verschleiertes Lächeln zu glimmen. „Der kommt wieder.“

„Er ist ein fixer Kerl,“ nickte Reimers. „Ich trau ihm schon zu, dass er was mitbringt.“

„Hm. Bloss kein Geld. Das behält er allein.“

Reimers blickte an sich nieder: ein einziger Knopf baumelte an einem letzten Faden seines Jacketts, das zerbeult und bauchig war von Regen, Wind und Sonne. „Das war mal Marengo,“ lachte er. „Ein güet Fraueli hat ihn mir geschenkt; in Basel. Warst du mal in Basel? Und guck’ mal die Hosen. Wenn die richtig aufgebügelt werden und gewendet und Knöpfe dran kommen, und ein bisschen geflickt, dann kann man sie im Dunkeln immer noch sehr gut tragen.“

„Wenn er das fertigbringt,“ sagte Hieronimy, „und mir einen Anzug besorgt, weisst du: dann kann ich direkt irgend etwas unternehmen. Man geht zum Beispiel in ein Zigarrengeschäft und kauft sich sechs Zigarren und steckt sich eine an. Dann entdeckt man plötzlich, dass man sein Portemonnaie vergessen hat. Was will er machen? Dir die angesabbelte Zigarre aus dem Mund nehmen?“

„Er kann dich verhaften lassen.“

„Mein lieber Junge, du denkst als Vagabund; denk’ mal als feiner Mann. Er macht einen Bückling: ‚Darf ich mir Ihren werten Namen notieren? Nicht wahr, Sie bringen die Kleinigkeit gelegentlich mit vor?‘ Und wenn du Glück hast, gibt er dir die anderen fünf in der Tüte noch mit.“

„Wenn man anständig angezogen ist,“ sagte Jonny Reimers leise, „dann haben die Leute Vertrauen zu einem. Dann kann man Arbeit finden. Sonst denken sie ja doch bloss, man lauert auf eine Gelegenheit, mit dem Silberzeug davonzugehen.“

„Ein bisschen langweilig, das mit der Arbeit,“ meinte der Seemann. „Montag früh fängst du an, und Sonnabend abend machst du glücklich fünfzehn Mark. Wovon willst du von Montag bis Sonnabend leben?“

„Es ist natürlich schwer. Man muss die Zähne zusammenbeissen.“

„Wenn man in Schale ist,“ sagte Hieronimy sinnend, „dann kann man sich mit heransetzen, wenn sie irgendwo Karten spielen. Das lässt sich schon machen; man hat eben kein Kleingeld bei sich, und die Hundertmarkscheine will man doch nicht in den Pot schmeissen. Verstehst du? Du spielst also auf Krampf. Geht’s gut, steckst du deine zehn Mark freundlich lächelnd in die Tasche. Geht’s schief, türmst du.“

„Irgendwo draussen,“ sagte Jonny Reimers und wischte sich den Regen aus dem Haar, „irgendwo draussen ein Häuschen. Und eine liebe Frau. Und vielleicht zwei Kinder.“

„Warum nicht gar eine Geflügelfarm ...“

„Wär’ auch nicht schlecht. Auf jeden Fall: ein paar Hunde, so ein paar rechte, lustige Halunken. Hast du mal junge Hunde gesehen? Das ist schön, weisst du.“

„Die Hauptsache ist eben, dass man auftreten kann. Ich wette mit dir: in einer Woche habe ich tausend Mark gemacht.“

Reimers tat einen Pfiff. „Gibt es denn eine Arbeit, die tausend Mark die Woche einbringt?“

Hieronimy wölbte den Mund, als ob er eine dicke Zigarre rauche. „Pass’ mal auf: ein paar Mark besorgt man sich schon. Man verspricht einer ältlichen Dame, dass man ihr Holz hacken will. Oder: man markiert den Dusslichen, und sie gibt einem einen Taler mit und einen Einholkorb. Oder: man macht was mit einem gut erhaltenen Paletot — so was gibt’s in den Kaffeehäusern und vor den Kleidergeschäften — also kurz und gut: du gehst auf die Zeitung und gibst ein Inserat auf: ‚Zehn Prozent Zinsen pro Woche garantiere ich unternehmenden Kapitalisten.‘ Am andern Morgen um acht reissen sie dir die Klingelschnur kaputt. So was wie Klante-Konzern.“

„Und dann?“ fragte Reimers kopfschüttelnd. „Wie willst du denn zehn Prozent die Woche damit verdienen?“

„Ich mach’ ja nur Scherz.“ Hieronimys Gesicht wurde plötzlich gespannt, und seine Augen hefteten sich auf einen Punkt jenseits der Strasse. Reimers wandte sich herum.

Dort kam Jacobsen, den Arm mit Kleidern bepackt.

„Es hat geklappt,“ keuchte er halb lachend. „Hier ist ein blauer für dich. Hier ist ein schöner Kötteweh. Hier sind braune Stiefel dazu. Und hier dieser schwarz und weiss gestreifte passt mir wie angegossen. Ich habe ihn gleich angezogen. Dann ist hier noch ein Überzieher; einer war bloss da. Den müssen wir abwechselnd tragen.“

„Das ist ja ein nagelneuer Raglan,“ staunte Hieronimy.

Jacobsen nickte. „Fragt sich bloss: wer soll anfangen?“

„Das knobeln wir aus.“

„Unsinn.“ Reimers schob Hieronimy beiseite. „Jacobsen hat ihn gebracht; Jacobsen soll ihn tragen.“

„Geht mal ins Gebüsch und zieht euch um.“

Die beiden verloren sich in der triefenden Dämmerung. Man hörte ein lustiges Pfeifen, und ihre Schritte schienen straffer geworden zu sein.

Jacobsen knöpfte wohlgefällig den dunklen Gürtelmantel zu. Wahrhaftig: hier in der Tasche steckten Nappa-Handschuhe — und in der kleinen Billettasche klimperte es. Er fasste hinein; siebzig Pfennige!

Hieronimy war der erste, der zurückkam.

„Ein Gentleman vom Broadway,“ sagte Jacobsen lachend.

„Wie richtig du das aussprichst,“ wunderte sich der Seemann. „Direkt mit Manhattan-Akzent!“

„Ich war zwei Jahre drüben.“

„Hat dir nicht viel genützt, was?“

Schon kam Jonny Reimers. Er stopfte noch an den Hosenträgern; dann knöpfte er, vor Erregung zitternd, die Weste um einen Knopf schief zu.

„Also so was hält’ ich mir nicht träumen lassen.“ Reimers versenkte die Hände behaglich in die Jacketttaschen. „Die sind ja heil,“ konstatierte er verblüfft.

„So was gibt’s,“ bestätigte Jacobsen. „Und denk’ mal, siebzig Pfennige habe ich gefunden.“

„Mensch, heute gehen wir ins Palais de Danse!“

„Jacobsen sieht aus wie ’n Graf,“ sagte Jonny Reimers.

„Wie ’n Graf,“ wiederholte Hieronimy geringschätzig. „Er sieht direkt aus wie ’n Hochstapler.“

Die drei gingen, mutig den Dingen ins Auge blickend, am Rande des Tiergartens entlang. Dort drüben glühte die Laternenreihe der Charlottenburger Chaussee. Und, seltsam genug, in der Haltung der beiden andern schimmerte ein ganz leiser Respekt vor dem raglantragenden Jacobsen auf.

„Jetzt ein paar Würste,“ meinte Reimers, „und dazu ein Glas Bier.“

„Und ein paar Zigaretten,“ setzte Jacobsen hinzu.

„Warum nicht gleich Sekt,“ lachte Hieronimy. „Ihr seid Phantasten. Weiss Gott, was uns blüht.“

Jacobsen drückte den Hut, diesen wunderbaren, steifen, ledergefütterten Hut, zärtlich auf die Schläfen. „Vergesst nicht; dies alles haben wir uns geliehen. Diese Anzüge und diesen Mantel und die Hüte und die Schuhe. Eine Woche lang gehört es uns. Wir wollen nicht überschnappen, weil wir Glück gehabt haben. Wir bleiben zusammen und warten ab, was da kommt.“

„Da kommt zunächst ein Auto,“ sagte Hieronimy, „nimm dich in acht.“

Ein dicker Herr, der Typ eines Kommerzienrats, sass im Fond des Wagens. Sein Blick streifte die drei Männer — nein, die drei Herren — und plötzlich, während seine Augen über Jacobsen glitten, zog er den Hut. Gleichzeitig rief er seinem Chauffeur etwas zu. Knirschend stoppte der Wagen.

Die drei sahen sich an. „Was will denn der?“ erkundigte sich Jacobsen.

„Frag’ ihn,“ spottete Hieronimy.

Der Schlag des Wagens öffnete sich. Der Insasse ging, den Hut in der Hand, auf die drei zu. Und indem er Jacobsen die Rechte entgegenstreckte, sagte er in jubelndem Ton:

„Welch eine Freude, Mr. Vandergult, Sie in Europa zu treffen!“

Jacobsen warf einen Blick nach links auf Reimers und einen Blick nach rechts auf Hieronimy. Die sahen beide interessiert geradeaus.

„Jawohl,“ sagte er.

„Sie kennen mich doch noch?“ fragte der fremde Herr mit einer Stimme, die noch jubilierender klang als zuvor. „Kommerzienrat Sudicatis! Darf ich fragen, was Sie in Berlin machen? Übrigens, wo wohnen Sie? Dumme Frage,“ lachte er sich selbst aus, „im Adlon natürlich. Und diese beiden Herren? Wohl Geschäftsfreunde? Also im Tiergarten muss man suchen, wenn man den reichsten Mann Amerikas treffen will. Nein, wie komisch!“

„Ja,“ sagte Jacobsen. „Es ist zum Totlachen.“

„Ich glaubte fast, Sie wären abgereist, ohne mir überhaupt die Ehre erwiesen zu haben!“

„Ich bin in der Tat sozusagen nur auf der Durchreise da.“

„Wissen Sie, woran ich Sie erkannt habe? An Ihrem Ulster. Es gibt nur einen Mann auf der Welt, der diese fabelhaften Stoffe trägt. Der ist, wenn ich nicht irre, aus Ihrer eigenen Weberei.“

„Natürlich,“ sagte Jacobsen.

„Bin ich ein Textilfachmann?“ triumphierte Herr Sudicatis. „Ein Blick, und das Fabrikat der Weberei Vandergult ist entdeckt.“

„Es ist fabelhaft,“ sagte Jacobsen.

„Als ich diesen Ulster sah, wusste ich: dort geht Cornelius Vandergult spazieren. Wie ein einfacher Bürgersmann. Aber da sieht man die Kultur des wahren Reichtums. Oder den Reichtum der wahren Kultur. Oder man könnte auch sagen ...“

„Sie werden entschuldigen,“ sagte Jacobsen. „Um es Ihnen offen zu sagen: wir haben nämlich Hunger.“

„Welch ein wundervolles Deutsch Sie sprechen! Man merkt sofort, dass Sie in Deutschland studiert haben. Und Hunger haben Sie? Meine Herren, das ist goldig. Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen? Erweisen Sie mir die Ehre und steigen Sie in meinen Wagen — Ihre Geschäftsfreunde ebenfalls, und nehmen Sie bei mir einen kleinen Imbiss.“

„Gott,“ sagte Jacobsen und sah sich achselzuckend nach den beiden um. Die zwinkerten ihm lebhaft zu.

„Also sagen Sie schon ja.“

Die drei stiegen ein; der Chauffeur hielt die Hand salutierend an die Mütze.

Eine Villa tat sich vor den dreien auf — ein Herrenzimmer, ein Speisesaal mit französischen Gobelins, mit Langusten und Fasan, mit Kapaun-Croquetts, mit kalifornischen Früchten und mit Bordure Madeleine. Und eine Halle mit Klubsesseln von unergründlicher Tiefe — mit Importen in zwanzigerlei Kisten, mit Queen, mit Cointreau und mit Grand Marnier Lapostolle Cordon Rouge.

Und der Kommerzienrat Sudicatis konstatierte mit geschmeichelter Andacht, dass er sich nicht erinnern konnte, jemals Gäste beherbergt zu haben, die einen derartigen Appetit entwickelt hatten wie Herr Vandergult und seine Freunde. Während der fünf Gänge des Desserts bereits hatte der Gastgeber seinen illustren Besucher von der Seite angeblinzelt; eben, als er ihm eigenhändig die Sahne in den Mokka goss — doppelt soviel als nötig war, hier war alles reichlich — sagte er blinzelnd:

„Ich habe eben eine unglaubliche Entdeckung gemacht. Soll ich Ihnen sagen, was Sie sind?“

Jacobsen schob den Sessel mit einer schreckhaften Bewegung zurück und blickte hinüber zu den beiden Freunden. Auch sie hatten die alarmierenden Worte vernommen.

„Sie sind obdachlos,“ sagte der Kommerzienrat.

Jacobsens Hand klatschte auf die Lehne. „Woher ... Woher ...“

Der Kommerzienrat zog den goldenen Chronometer. „Alle Züge sind fort. Und Ihr Gepäck ist natürlich mit. Sie haben kein Stück mehr hier in Berlin.“

Jacobsen bestätigte diese Vermutung.

„Also, das ist grossartig. Soll ich Ihnen die Wahrheit sagen? Ich habe schon ans Hotel Adlon telephoniert, dass Sie heute dort übernachten werden. Und draussen steht ein kleiner Koffer, fertig gepackt mit dem Notwendigsten, was der Mensch so braucht. Das hatten Sie nicht erwartet, was?“

„Nein,“ sagte Jacobsen.

Die beiden Freunde zündeten sich eben beruhigt Zigarren an von Dimensionen, die sie noch vor zwei Stunden nicht für möglich gehalten haben würden. Jacobsen sah ein, dass er über ihre Haltung wachen müsse. Er erhob sich ein ganz klein wenig unsicher.

„Lieber Kommerzienrat. Ich bin wahrhaftig müde. Wenn Sie also nichts dagegen haben ...“

„Aber wie sollt’ ich! Das Auto steht vor der Tür. Ich begleite Sie selbstverständlich.“

Während sie die Treppe hinuntergingen, sagte der Kommerzienrat: „Sehen Sie mal.“ Dabei streichelte er zärtlich seine Hose. „Kennen Sie das?“

Fritz kannte es nicht, und er verstand überhaupt nicht, was Herr Sudicatis meinte.

„Vandergult. Weberei Vandergult. Alles Vandergult.“

„Ach so. Natürlich.“

Der kleine Koffer mit dem Notwendigsten erwies sich als ein rindledernes Ungetüm mit tausend Dingen, von denen die drei bisher nur zum Teil gehört hatten: vom seidenen Oberhemd bis zu den glacéledernen Slippers fehlte nichts. Daneben Necessaires in allen Grössen, mit so vielen Scheren, Bürstchen, Feilen, dass Hieronimy sofort innerlich seine Taxation fertig hatte: Gesamtwert unter Brüdern 1000 bis 2000 Mark.

Das Auto hielt vor dem nächtlichen Hotel. Ein Spalier sich tief verneigender Livrierter empfing Herrn Vandergult aus Newyork, der inzwischen auch für seine beiden Geschäftsfreunde — sie hatten ihre Anschlüsse nach auswärts ebenfalls versäumt — Zimmer verlangt hatte.

In dicken Läufern ertrank der Lauf ihrer Schritte. Lichtsignale dirigierten geräuschlos einen Stab gehorsamer Diener — weisse Türen öffneten sich, führten in schimmernde Gemächer voll Duft und Glanz und Farbe. Seidene Frauenröcke knisterten, leuchtende Augen musterten voll unterwürfiger Neugier den interessanten Gast, dessen Name wohl schon durch das Haus schwirrte.

Bei einer Flasche Burgunder sassen die drei zusammen auf Jacobsens Zimmer und besprachen die Ereignisse dieses seltsamen Tages. Aber ihren müden Händen entfielen die dampfenden Zigarren, und ihre Hirne, überanstrengt, verwirrt und überwältigt von den unfassbaren Dingen dieser Stunden, waren nicht imstande, Neues aufzunehmen. „Und dann Klante-Konzern,“ sagte eben Hieronimy und blickte sich um.

Keiner antwortete; die beiden lagen in ihre Sessel zurückgelehnt und rührten sich nicht.

Da machte auch er sich’s bequem. Und während er noch behutsam die Zigarre auf dem Lederbezug des Schreibtisches auslöschte, schlief er ein.

Fritz Jacobsen — nein: Cornelius Vandergult, sass am Fenster und frühstückte. Unten, auf dem Asphalt der Strasse Unter den Linden brauste hundertfältig das Leben der Grossstadt vorüber. Autos jagten, Schutzleute kommandierten, der Menschenstrom wogte, staute sich, ebbte in die Seitenstrassen, zerrann, flutete aus neuen Kanälen wieder herein. Drüben, auf der französischen Botschaft, wehte die Trikolore.

Der Kellner, dessen Schritt völlig unhörbar war, hatte eben den Teller mit den Überresten des gebratenen Fisches mit einer neuen Schüssel vertauscht: Porridge. Er schob mit einer zärtlichen Bewegung den Streuzucker heran und schenkte, immer mit dieser streichelnden Lautlosigkeit, den Kaffee ein, dessen Aroma das Zimmer bereits kräftig und verheissungsvoll erfüllte.

„Was ist das eigentlich für ein Lärm da draussen?“

Der Kellner lächelte diskret.

„Ich höre es schon seit einer halben Stunde. Einmal war es mir, als ob hier jemand an die Tür klopfte.“

„So ist es, Mr. Vandergult. Der Lärm gilt Ihnen.“

„Wieso?“ fragte Jacobsen verwundert.

„Hm. Nämlich Mr. Vandergult: es sind Bittsteller, die darauf warten, dass ... dass Mr. Vandergult das Zimmer verlässt.“

„Bittsteller ... Also Leute, die Geld haben wollen?“

„So ist es.“

„Sagen Sie den Leuten, ich hätte selber nichts.“

Der Kellner versuchte, ein todernstes Gesicht zu machen. Aber es gelang ihm nicht; er platzte heraus: „Das werden sie mir wohl nicht glauben, Mr. Vandergult. Aber ich werde die Leute fortschicken.“

Der Kellner verschwand. Man hörte draussen einen Wortwechsel und das Geräusch von trippelnden, widerwillig sich entfernenden Schritten.

Die Tür ging auf; es waren Reimers und Hieronimy.

„Also das war ein Frühstück!“ Reimers warf sich in den Sessel und streckte sich mit einer glückseligen Gebärde aus. „Es wird ja nun in einer halben Stunde aus sein mit der Herrlichkeit, taxiere ich. Aber ich kann sagen, zwei Tage halt’ ich’s aus. So viel habe ich eingepackt. Mein Gott, was es hier alles gibt! Und das nennen sie das kleine Frühstück.“

„Es ist eben englisches Breakfast,“ sagte Hieronimy belehrend. „Die Weintrauben habe ich gegessen; die Bananen und Äpfel habe ich mir auf alle Fälle eingesteckt. Und dann habe ich mir überlegt: die Zuckerschalen und die Zuckerzangen sehen mir verteufelt nach echtem Silber aus. Was meint ihr, wenn man ...“

„Du bist wohl ganz von Gott verlassen,“ tadelte Reimers. „Mach’ Jacobsen keine Unehre.“

„Reimers hat recht,“ sagte Jacobsen. „Verlier nicht den Kopf. Wenn Herr Vandergult oder seine Freunde hier Zuckerschalen einstecken, dann ist es natürlich auf der Stelle aus mit der Herrlichkeit. Also tu mir den Gefallen und beherrsch’ dich. Hier, steck’ dir eine Zigarette an.“

„Woher hast du denn die?“

„Ich hab’ mir eine Schachtel zum Frühstück mitkommen lassen.“

„Wissen möchte ich,“ sagte Reimers sinnend, indem er eine von den Korkgetippten aus der Schachtel nahm, „wie das enden wird.“

„Ja.“ Hieronimy nahm sich zwei Zigaretten. „Wer soll zum Beispiel eigentlich den ganzen Kram bezahlen?“

„Das weiss ich auch nicht. Vielleicht der Kommerzienrat. Oder sonst — was kann uns passieren? Sie sollen uns einsperren. Schlechter als im Tiergarten ist es auf dem Alexanderplatz auch nicht, denke ich.“

„Alexanderplatz,“ nickte Hieronimy. „Draussen stehen zwei Herren. Die sehen mir akkurat so aus, als wenn ... als ob ...“

„Warum kommen sie nicht herein?“

„Wird schon werden.“ Eben erschien der Kellner, um abzuräumen.

„Was sind das für Herren da draussen? Haben Sie ihnen nicht gesagt, dass ich ...?“

„Gewiss, Mr. Vandergult, ich habe ihnen gesagt, Sie hätten keine Zeit.“

„Nun, und? Warum gehen sie nicht?“

„Ich weiss auch nicht. Sie haben mir geantwortet, sie hätten Zeit.“

„Na also,“ nickte Hieronimy. Dann gab er Reimers heimlich ein Zeichen; die beiden schlenderten mit nervöser Langsamkeit zum Zimmer hinaus.

Die unbehagliche Stimmung eines beginnenden Katzenjammers lagerte sich über den Raum. Eben erreichten die ersten Strahlen der jungen Morgensonne die äussersten Winkel. Sie füllten sie mit tropfendem Gold, und die leuchtenden Streifen wurden sichtlich breiter. Wie herrlich war das Leben! War es nicht doppelt furchtbar, nach einer Nacht in diesen Räumen wieder hinaus zu müssen in Dunkelheit und Armut?

Es klopfte.

„Herein!“

Es war ein Boy in Livree.

„Was wünschen Sie?“

„Ihr Auto steht unten, Mr. Vandergult.“

„Was für ein Auto?“

„Ihr Auto.“

„Woher kommt es? Wer schickt es?“

„Das weiss ich nicht, Mr. Vandergult.“

Also schön. Warum nicht ja sagen zu allem, was sich bot? Diese Minuten des Glücks waren kurz bemessen, und jede Wendung, die den Rausch verlängerte, war ein Gottesgeschenk, das ein armer Teufel nicht zurückweisen durfte.

Da waren die beiden Herren. Sie sahen in der Tat aus, wie ... wie ... Hieronimy hatte wohl einen scharfen Blick für so was. Sie sahen ihm entgegen mit jener sachlichen Neugier, die nichts und alles sagte. Nun war er bei ihnen angelangt. Jetzt würden sie die Hände ausstrecken nach ihm; jetzt war es aus.

Nichts dergleichen geschah. Die beiden Herren griffen à tempo nach den Hüten. Sie machten stumme Verbeugungen und traten einen halben Schritt zurück, um ihn ungehindert passieren zu lassen.

Aber sie blieben stehen.

Kellner und Boys salutierten; untertänig grüssten die Herren an der Rezeption. Ein paar Mützentragende stürzten an den Drehausgang. Draussen nahm ihn der Portier in Empfang und geleitete ihn, einen halben Schritt hinter ihm bleibend, an die Bordschwelle.

Dort stand eine lackglänzende Limousine.

Es war wie im Märchen.

Die Tür des Autos öffnete sich von innen. Ein Herr im Pelz stieg aus.

Jacobsen wusste sofort, dass er dieses Gesicht kannte. Und dann erinnerte er sich: es war der Herr, der gestern im Auto an ihm vorübergefahren war, an der Seite jener schönen Halbweltdame.

„Herr Vandergult? Sie kennen mich nicht. Mein Name ist Oskar Richwald. Ich bin der bekannte Filmfabrikant. Nur eine Stunde, Herr Vandergult, nicht mehr. Wir fahren nur eben ins Atelier am Zoo. Dort drehe ich meinen grossen Welt-Monumental-Film: ‚Das Trikot-Paradies‘. Ich will nichts von Ihnen, Herr Vandergult. Sie sollen es sich bloss ansehen. Heute ist die grosse Szene, wo fünfhundert junge Damen im Paradies erscheinen; Kleidung völlig paradiesisch. Es wird Ihnen gefallen, es sind die fünfhundert schönsten Mädchen des Kontinents. Mit nichts bekleidet als ihrer Unschuld tanzen sie den grossen Reigen der Keuschheit. Das ist fabelhaft! Das müssen Sie sehen! Wenn es Ihnen gefällt ... na ja, dann sagen Sie eben Ja.“

„Wieso Ja?“

„Dann legen Sie hunderttausend Dollars ein. Oder sagen wir: fünfzigtausend Dollars.“

„Und wenn es mir nun nicht gefällt?“

„Dann haben Sie zwei Stunden etwas Schönes gesehen.“

Das Auto setzte sich bereits in Bewegung.

„Ich glaube kaum, Herr Richwald, dass ich in der Lage sein werde, mich mit fünfzigtausend Dollars zu beteiligen.“

„Aber wir wollen gar nicht davon reden. Sie sind mein Gast. Lassen Sie diesen Rausch der Schönheit an sich vorüberziehen; nach drei Stunden fahre ich Sie wieder heim.“

Die Hardenbergstrasse! Wie ganz anders wirkten diese Häuser, dieser Asphalt, diese Menschen, wenn man sie durch die Scheiben eines herrschaftlichen Autos betrachtete. Hier war er gestern, mit zerrissenen Schuhen, an der Seite von Reimers und Hieronimy getrabt!

Fünfzig Jupiterlampen leuchteten auf, als er an der Seite des Filmdirektors das Atelier betrat. Blühende Frauenschönheit leuchtete ihm entgegen — fünfhundert junge Schönheiten, die durch nichts als durch die Temperatur des Ateliers gegen Erkältung geschützt schienen. Der Reigen der Keuschheit verzichtete auf eigentliche choreographische Ambitionen — aber fünfhundert schimmernde Frauenkörper waren ihrer Wirkung sicher. Vandergult konnte dies nicht leugnen, als es ihm der Direktor zuflüsterte; übrigens flüsterte er so, dass man in den entferntesten Winkeln des Ateliers jedes Wort bequem verstand.

„Nun kommt erst was Schönes,“ sagte er.

Alles blickte zu Vandergult hinüber: interessiert, gespannt, erwartungsvoll, halb siegessicher, halb ängstlich. Er hatte das Gefühl, dass dieser Raum mit allem, was darin war, sich ihm zu Füssen lege. Dass er nur die Hände auszustrecken brauche — dass Macht, Erfolg, Reichtum, Glück demütig des Herrn warteten, der sie mit seinem Griff zwang.

Dann kam Bianca Bell. Die Diva.

Fritz Jacobsen — Cornelius Vandergult erkannte auf den ersten Blick die Dame von gestern; in dieser selben Haltung hatte sie sich an ihren Begleiter geschmiegt, als sie im Tiergarten an ihm vorübergefahren war. In der Kleidung unterschied sie sich erheblich von der pelzvermummten Erscheinung von gestern. Diese Dame schien in Extremen zu schwelgen: mal zuviel, mal zuwenig. Gleichwohl wirkte sie dezent, das kosige Rund ihrer Schultern und ihrer Hüften gewährte künstlerisches Entzücken.

Sie tanzte nicht schlecht. Hinter dem Apparat stand der Ballettmeister und dirigierte mit leiser, scharfer Stimme; ihre weichen Bewegungen folgten den Kommandos nachlässig und graziös.

Dann gingen die beiden Herren ins Bureau.

Der Direktor öffnete die Importenkiste. „Ich würde Sie selbstverständlich am liebsten zu einem guten Essen einladen, Herr Vandergult. Aber wir haben hier nur eine Kantine, und das ist wahrhaftig kein Raum, in dem man einen Vandergult bewirten kann.“

„Jawohl,“ sagte Fritz.

„Auch ist das Essen ein bisschen primitiv. Und nun will ich Sie mit keiner Silbe drangsalieren. Überlegen Sie, was Sie beschliessen wollen. Ich komme morgen früh zu Ihnen ins Hotel und hole mir Ihren Bescheid ab. Oder ...“ — ein schneller Seitenblick traf den Gast — „oder haben Sie vielleicht schon einen Entschluss gefasst?“

„Ja,“ sagte Vandergult. „Ich will Sie nicht hinhalten, Herr Direktor. Um es offen zu sagen: Ich bin bei weitem nicht so reich, wie Sie vermuten.“

Hier gestattete sich der Direktor einen kleinen Heiterkeitsausbruch.

Ich bin deshalb zu meinem Bedauern nicht in der Lage, mich an Ihrem Unternehmen zu beteiligen.“

Die Tür ging auf. Bianca Bell trat ein; in Zivil. „Herr Vandergult — meine Frau.“

Bianca ging mit einem Blick auf Vandergult zu, wie ihn Fritz Jacobsen in seinem bisherigen Leben nicht für möglich gehalten hätte. Das war kein Blick — das war ein Feuerstrahl. Was sage ich: ein Feuerstrahl? Das war ein Bombardement, das war eine Kanonade.

„Herr Vandergult will eben ins Hotel zurückfahren, mein Kind.“

„Das ist herrlich,“ antwortete Bianca. Auf den etwas erstaunten Blick Vandergults fügte sie erklärend hinzu:

„Ich muss nämlich nach der Friedrichstrasse. Wollen Sie mich bis zum Hotel mitnehmen?“

Der Direktor begleitete die beiden bis an den Wagen. „Wissen Sie, Herr Vandergult,“ sagte er, sich ängstlich zur Linken des erlauchten Gastes haltend, „man erkennt mit einem Schlage den smarten Amerikaner. Jeder Europäer hätte beim Anblick dieser fünfhundertundeinen Schönheit bestimmt die Besinnung verloren und hätte Ja gesagt. Sie erzählen mir von Ihren beschränkten Mitteln. Diese kühle Skepsis, Herr Vandergult, mit der Sie über den Dingen stehen, ist etwas, was wir euch nicht nachmachen. Meine Hochachtung, Herr Vandergult.“

„Jawohl,“ sagte Fritz.

Der kleine Ruck, mit dem das Auto anzog, genügte, um Bianca Bell so aus dem Gleichgewicht zu bringen, dass sie mitten auf Herrn Vandergult hinauffiel. Sie entschuldigte sich aber sofort und streichelte ihm, Verzeihung bittend, den Arm. Und, offenbar eingedenk ihrer schweren Mission, den Kampf mit der kühlen Skepsis eines Mannes aufzunehmen, der über den Dingen stand, lehnte sie das Köpfchen an seine Wange.

Eben fuhr das Auto über jene Stelle des Tiergartens, an der Fritz mit seinen beiden Kumpanen gestern diesem selben Wagen, dieser selben Insassin nachgestarrt hatte.

Trèfle duftete. Weicher Pelz streifte seine Hände, eine zärtliche Frauenwange lockte.

Plötzlich fing Bianca an zu weinen.

Ehrlich erschüttert wandte sich ihr Begleiter zu ihr herum. Es bedurfte mehrfacher Fragen, um sie zu einer Erklärung zu bringen. Aber auch dann war nicht sonderlich viel zu verstehen. Sie sei entsetzlich unglücklich.

Wieso, um Gottes willen?

Das könne sie ihm unter keinen Umständen verraten. Es wäre was mit ihrem Mann und so.

Sie möge Vertrauen zu ihm haben.

Sie werde jetzt kein Wort mehr sprechen. Seit einer Stunde wisse sie überhaupt erst, was Liebe sei. Ihr Mann sei eine Verirrung ihrerseits. Glücklicherweise sei er gar nicht ihr Mann. Bloss so. Es sei ihr also glücklicherweise durchaus Gott sei Dank die Möglichkeit gegeben; hier brach sie ab.

Fritz glaubte trotz ihrer unklaren Worte einigermassen zu wissen, was sie meine.

Das Auto fuhr durchs Brandenburger Tor.

Sie reichte ihm Abschied nehmend die Hand; eine neue unglückliche Bewegung des Wagens warf sie an seine Brust. Sie wollte sich losmachen; aus irgendeinem Grunde schien das nicht recht zu gehen. So begnügte sie sich damit, ihm ins Ohr zu flüstern:

„Wenn Sie mir noch länger so zureden, so würde ich am Ende gar vielleicht unter Umständen mit Ihnen hier hinaufgehen.“

Fritz konnte sich nicht erinnern, ihr zugeredet zu haben; aber sie verstand das wohl besser. So gab er ihr die nach seiner Meinung durchaus die Situation klärende Versicherung, dass er ihr in keiner Weise zu nahe zu treten gedenke, zumal er so gut wie verlobt sei.

Der Wagen fuhr langsamer. Bianca murmelte etwas von einer Beteiligung.

„Meine liebe gnädige Frau,“ sagte er, „auch wenn ich wollte, ich habe wirklich kein Geld, mich zu beteiligen.“ Hierauf brach sie in unbändiges Lachen aus, zog seinen Kopf mit einem Ruck an sich heran und küsste ihn. Und während er halb betäubt ausstieg, hörte er sie noch entsetzt rufen: „Was haben Sie getan?“

II

Die beiden Herren standen noch auf dem Korridor. Ihre Mienen waren noch immer von jenem amtlichen, halb gleichmütigen, halb energischen Ausdruck, und ihre Schritte hatten in diesen langen Stunden nichts von ihrer geräuschlosen Bestimmtheit eingebüsst. Sie sahen dem Ankömmling schweigend entgegen.

„Herr Vandergult?“ fragte der eine.

„Ja.“

„Darf ich Sie einen Moment auf Ihr Zimmer begleiten?“

„Ja,“ sagte Fritz.

Der Zimmerkellner eilte diensteifrig herbei und schloss auf. Dann zog er sich mit einer Verbeugung zurück, nicht ohne einen gewissen ahnungsvollen Blick auf das Gesicht des vierschrötigen Fremden zu werfen, der geschlagene vier Stunden auf dem Korridor gewartet hatte.

Der andere stand unbeweglich auf seiner Stelle, den Blick auf die Tür geheftet, hinter der die beiden verschwunden waren.

„Bitte nehmen Sie Platz,“ sagte Fritz.

„Danke. Sie erlauben wohl, dass ich stehen bleibe.“

Fritz antwortete nicht.

„Sie werden sich vielleicht gewundert haben, dass wir einen halben Tag lang draussen herumgestanden haben. Es hat seine guten Gründe, Herr Vandergult. Sie werden sofort alles erfahren.“

Er trat auf Fritz zu und legte ihm die Hände mit eisernem Griff auf die Schulter: „Mr. Vandergult — es ist das drittemal, dass ich den Sprung ins Glück wage.“

„Nanu,“ sagte Fritz.

„Das drittemal. Die beiden ersten Male bin ich zu kurz gesprungen. Reichen Sie mir Ihren Arm, dann komme ich hinüber über den Graben.“

„Darf ich vielleicht fragen ...?“

„Sofort. Das erstemal wollte ich Bankier des Zaren werden. Da wurde er abgesetzt. Das zweitemal stand ich in Verbindung mit Hugo Stinnes — da starb er. Heute gilt es. Wenn ich’s heute nicht schaffe, schaff’ ich’s nie.“

„Was denn eigentlich?“

„Machen Sie mich zu Ihrem Hofbankier, Herr Vandergult.“

Vandergult öffnete den Mund zu einer Antwort; aber sein Besucher liess ihn nicht dazu kommen. „Ich weiss, was Sie sagen wollen. Ich weiss, dass drei Bankiers unten in der Halle sitzen und warten. Ich bin der erste; ich habe dem Etagenkellner hundert Mark gegeben. Ich weiss, was Sie sagen wollen: Sie brauchen für Ihre Geschäfte den Bankier Rothermel nicht.“

„Na also,“ sagte Vandergult.

Herr Rothermel schien einen furchtbaren innerlichen Kampf mit sich selbst auszufechten. „Was kann ich bloss tun, um Ihnen ein Interesse an meinen Propositionen zu bieten? Das einzige, was ich habe, ist Geld. Und damit ist Ihnen natürlich nicht beizukommen.“

„Natürlich nicht,“ sagte Vandergult.

„Ich würde an Ihr gutes Herz appellieren; aber ich weiss, das ist geschäftlich unfair. Und ausserdem macht es, glaube ich, auf einen Amerikaner keinen Eindruck. Also was um Gottes willen soll ich tun?“

„Ich kann Ihnen nicht helfen, Herr Rothermel.“

„Sie zwingen mich zum Äussersten.“

Voll Spannung blickte Vandergult auf den Bankier. Dieser machte ein entschlossenes Gesicht; dann ging er zum Erstaunen Vandergults mit schnellen Schritten zur Tür hinaus.

Gleich darauf öffnete sich die Tür wieder. Aber es war Reimers.

„Wir müssen Schluss machen. Die Geschichte wird brenzlig.“

„Wo ist Hieronimy?“

„Der ist schon ausgerückt. Wir sitzen hier vorm Rest.“

„Ja,“ sagte Fritz, „dann heisst es wohl scheiden. In welchem Hotel werden wir heute Nacht schlafen?“

„Im Hotel zum Tiergarten, denke ich. Dritte Bank links von der Siegesallee. Sieh hier, es fängt an zu regnen. Ach du, Fritz, das war ein schöner Tag, den ich dir verdanke.“

„Mir?“

„Du hast doch den grossartigen Einfall gehabt, mit den Anzügen. Du bist ein famoser Kerl. Wir bleiben zusammen, Fritze! Wir werden die Augen offen haben, da müsst’ es mit dem Teufel zugehen, wenn es nicht zwei jungen Kerls wie uns eines Tages glücken sollte. Bloss Kurage. Komm, Fritze.“

Es klopfte.

„Das ist der Kellner mit der Rechnung.“

Nein, es war nicht der Kellner. Und es war auch keine Rechnung. Es war Herr Rothermel, der Bankier.

„Ich sehe, Sie haben schon wieder eine neue Konferenz, Herr Vandergult. Keine Angst, in einer Sekunde bin ich wieder draussen. Also hier mein Vorschlag: hier ist eine Million in bar. Bitte, widersprechen Sie nicht; ich halte mir die Ohren zu, ich will kein Wort hören. Nehmen Sie die Million, behalten Sie sie, machen Sie damit, was Sie wollen. Ich bestelle jetzt neue Briefbogen: das Bankhaus J. C. Rothermel vertritt die europäischen Interessen des Hauses Cornelius Vandergult. Bitte, widersprechen Sie nicht, lassen Sie mich machen, was kann Ihnen passieren?“

„Ich bin vorläufig sprachlos, Herr Rothermel.“

„Gott sei Dank; ich flehe Sie an, bleiben Sie’s. Verbuchen Sie das Geld als Beteiligung meines Bankhauses an Ihren Unternehmungen.“