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Joe Jenkins erhält eines Abends in Oslo einen geheimnisvollen Besuch. Der Porphyrwerkbesitzer Hjalmar Waggeryd ist völlig aufgelöst. Beim Abendessen ist ihm plötzlich kein anderer als er selbst gegenübergesessen und hat ihm, bevor er genauso plötzlich wieder verschwunden ist, in der Zeitung "Aftenposten" seine eigene Todesanzeige präsentiert: "Durch einen unerklärlichen Unglücksfall verschied heute Herr Hjalmar Waggeryd. Er ertrank im See von Sollihögda. Die trauernden Hinterbliebenen." Waggeryd macht sich verstört auf den Rückweg nach Hause – und wird am nächsten Tag prompt in der Tat tot im See von Sollihögda aufgefunden. Zur gleichen Zeit ist dort ein rätselhafter Schlittschuhläufer gesehen worden. Das Erscheinen des geisterhaften Schlittschuhläufers, so weiß man, bedeutet einen nahen Todesfall. Als Nächstes erscheinen zwei rätselhafte Frauen auf der Bildfläche, die in besonderen Beziehungen zum Toten gestanden zu haben behaupten.¬ Und prompt taucht der Schlittschuhläufer wieder auf … Wen wird es diesmal treffen? "Der Schlittschuhläufer" ist ein weiterer packender Vertreter von Paul Rosenhayns spannender Romanreihe um seinen berühmten Detektiv Joe Jenkins. Paul Rosenhayn (1877–1929) war ein deutscher Schriftsteller und Drehbuchautor. Am 11. Dezember 1877 in Hamburg als Sohn eines Handelskapitäns geboren, wuchs Rosenhayn zunächst in England auf, wo er auch zur Schule ging, bis er auf ein deutsches Gymnasium wechselte. Er studierte zunächst einige Semester Jura, entschied sich dann jedoch für eine journalistische Laufbahn. Er reiste ausgiebig durch Europa und Amerika, lebte mehrere Jahre in Indien und schrieb während dieser Zeit für verschiedene englische und deutsche Zeitungen. Nach Beginn des Ersten Weltkriegs ließ er sich in Deutschland nieder und begann, Kriminalgeschichten zu verfassen. Sich vage am Vorbild Sherlock Holmes orientierend, schuf er den ähnlich scharfsinnigen, aber wesentlich tatkräftigeren Detektiv Joe Jenkins. Rosenhayns zweites Standbein wurde die aufstrebende Filmindustrie. Er schrieb insgesamt etwa 40 verfilmte Drehbücher, wobei er den Krimi bevorzugte. Dank seiner Zweisprachigkeit konnte Rosenhayn seine Werke auch im Ausland anbieten. Der Weg über den Atlantik und eine Zukunft in Hollywood schienen nahe, als Paul Rosenhayn am 11. September 1929 im Alter von nur 52 Jahren in Berlin starb. In den Jahren der Nazidiktatur geriet Rosenhayns allzu kosmopolitisches Werk in Vergessenheit. Erst jetzt wird das Werk dieses vielseitigen, engagierten und fruchtbaren Autors, der viele Jahre zu den Größen der deutschen Unterhaltungsliteratur und des Unterhaltungsfilm gehörte, im E-Book-Format wiederentdeckt.
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Seitenzahl: 162
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Paul Rosenhayn
Detektivroman
20. Tausend
Saga
Schlittschuhläufer
© 1921 Paul Rosenhayn
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711592595
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com
Ein paar dumpfe Nebelhorntöne grollten vom Hafen herüber in die Karl Johansgade. Die Augustnacht war mit trübem Dunst gesättigt, der wie eine rötliche Wolke das schlafende Christiania einhüllte.
Über den Asphalt des Eidsvoldsplatzes glitt noch ein spätes Auto: ein Signal brüllte. Der Schutzmann drüben an der Ecke der Rosenkrantzgade sah einen Augenblick neugierig hinüber. Das Auto hielt vor dem Hotel Belvédère.
Der Schutzmann winkte mit einer Kopfbewegung den Kollegen Nummer 17 heran und sagte, unter dem Schirmrand hinüberblickend:
„Das ist doch der Herr, der alle vierzehn Tage bei Nobel absteigt. Mir scheint, der irrt sich ein bisschen!“
Nummer 17 lachte.
„Der wird irgendwo auf Umwegen eine Alkoholkarte gekauft haben — und nun weiss er nicht mehr, wo er hingehört. Ja, ja, diese Leute haben’s gut!“
„Wohnt bei Nobel und geht um halb zwölf ins Belvédère“, beharrte der Kollege eigensinnig auf seinem Gedankengang. „Und so was kommt dann zu uns aufs Kommissariat und meldet: Beraubung und so. Ein paar liebenswürdige Damen im Yachtklub kennengelernt ... Na, ja. Dann die übliche Reise durch das Tivoli, das Cafè Français und die Windsor-Bar ... und schliesslich das Aufwachen in irgendeinem Auto; keine Spur von Erinnerung, wie er da hineingekommen ist.“
Ein paar feste Schritte kamen über den Fahrdamm; die beiden salutierten: der diensttuende Kontrollbeamte erschien mit seinem Notizbuch, um den Nachtbericht abzufordern.
Der Gegenstand dieser Unterhaltung: der Herr, der eben vor dem Hotel Belvédère vorgefahren war rechtfertigte in nichts diese spöttischen Verdächtigungen. Sein Gang war aufrecht und sicher, seine Augen klar und scharf — höchstens dass sich in ihnen eine gewisse finstere Unruhe bemerkbar machte. Eben kam der Boy, den er mit der Karte hinaufgeschickt hatte, zurück.
„Mr. Joe Jenkins hat eine lange Fahrt hinter sich und ist sehr müde. Er lässt fragen, ob es Ihnen vielleicht möglich wäre, Ihren Besuch morgen zu wiederholen?“
Der Gefragte zog die Uhr. „Es geht auf Mitternacht“ sagte er nickend; „ich gebe zu, es ist ein bisschen viel verlangt. Dennoch muss ich Mr. Jenkins bitten, mit mir eine Ausnahme zu machen. Was ich ihm zu sagen habe, wird auch ihn ausserordentlich interessieren; vor allem aber ist es für mich von Wichtigkeit. Ja — sagen Sie Mr. Jenkins, dass es sich vielleicht um mein Leben handelt.“
Der Junge glitt mit dem Fahrstuhl wieder in die oberen Stockwerke empor.
Das Vestibül des Hotels war leer. Eine fast vollkommene Ruhe lag über dem Hause, und die teppichbelegte Treppe führte wie ein dunkler stiller Schacht nach oben: dorthin, wo eine einsame Lampe von den abzweigenden Korridoren her ein spärliches Licht auf den Plafond warf.
Auch in der Halle wuchs das Dunkel. Von aussen kamen dumpf und zerrissen die Hupensignale eines fernen Autos, das irgendwo in die Nacht hinausrasen mochte, nach Hegdehaugen oder Homansby.
Ein surrender Ton klang auf, der sich verstärkte: der Fahrstuhl landete wieder im Parterre.
„Mr. Jenkins lässt bitten.“ — — —
Das Zimmer, das der späte Ankömmling betrat, war leer. Zwischen den beiden hohen Fenstern, deren geschlossene Vorhänge bis auf den Boden herabfielen, stand ein grosser dunkler Schreibtisch, dessen brauner Lederbezug mit Briefen und Telegrammen bedeckt war. Alle uneröffnet, wie der Besucher unschwer feststellen konnte — ein Beweis, dass dieses Zimmer noch nicht lange die Ehre hatte, seinen Besucher zu beherbergen. Darauf deutete auch der gleichfalls geschlossene Koffer, der schräg in einer Ecke lehnte, und die achtlos auf das Sofa geworfenen Gegenstände: Hut und Mantel und ein langer Shawl.
Die Tür zum Nebenzimmer öffnete sich; ein Herr trat ein, der den Besucher um Haupteslänge überragte. Sein frisches Gesicht glänzte in leuchtender Bräune, und die grauen Augen blickten ruhig und verbindlich auf den Fremden.
„Ich bitte um Entschuldigung, mein Herr, dass ich Sie habe warten lassen. Aber ich komme geradenwegs von Stavanger, und da habe ich mir vor allem ein Bad geleistet. Sie sehen“ — er deutete auf den Schreibtisch — „ich bin noch nicht einmal dazu gekommen, meine Post zu öffnen.“
„Es tut mir leid, Mr. Jenkins, dass ich Ihnen nun noch obendrein dazwischen platze. Es ist im höchsten Grade ungehörig, ich weiss es. Um so ungehöriger, als Mitternacht vorüber ist.“
Der Amerikaner machte eine abwehrende Handbewegung. „Ich kann mir denken, dass es etwas Ungewöhnliches ist, was Sie zu mir führt. Bitte machen Sie es sich bequem — legen Sie ab.“
Der andere öffnete den Paletot; darunter kam ein tadelloser Frack zum Vorschein. Die beiden Herren setzten sich.
„Mein Name ist Hjalmar Waggeryd. Ich bin der Inhaber der Porphyrwerke Sollihögda.“
„Sollihögda? Ist das in der Nähe?“
„Es liegt westlich von Christiania — in der Luftlinie sind es fünfundzwanzig Kilometer. Aber das Terrain ist bergig, und die Strecke ist daher in Wirklichkeit länger.“
„Wollen Sie heute nacht noch zurück?“
„Ja.“
„Wann geht Ihr Zug?“
„Ich bin mit meinem Auto hier.“
„Ah — Sie sind also nicht an eine bestimmte Zeit gebunden.“
„Wir hatten heute Verbandstag — mit wir meine ich den Verband der Steinbruchbesitzer der Drei Königreiche. Es waren wichtige Beschlüsse zu fassen. Aus diesem Grunde habe ich meinen Schwiegersohn Doktor Brinjulf Jarl nach Christiania mitgenommen.“
„Versteht Herr Jarl etwas von Ihren Geschäften?“
„Er ist mein Geschäftsführer.“
„Hängt das, was Sie mir mitzuteilen haben, mit dieser Konferenz zusammen?“
„Nein. Mit einem späteren Ereignis.“
„Warum hat Ihr Herr Schwiegersohn Sie nicht zu mir begleitet?“
„Er ist mit dem Halbeinuhr-Zug zurückgefahren. Von dem Erlebnis, das ich Ihnen berichten will, weiss er nichts, denn ich war allein, als es sich abspielte.“
„Sie haben Ihren Schwiegersohn also im Laufe des Abends verlassen?“
„Die Konferenz dauerte nicht lange. Ich war schon kurz nach zehn Uhr im Boulevard-Restaurant, um dort Abendbrot zu essen.“
„Boulevard-Restaurant? Das ist in der Nähe, nicht wahr? Ich entsinne mich, den Namen gelesen zu haben.“
„Es liegt drüben am Eidsvoldsplatz.“
„Wo steht Ihr Auto?“
„In der Garage des Hotel Nobel.“
„Das ist nebenan in der Karl Johansgade?“
„Ja. Das zweite Haus von Ihrem Hotel, Mr. Jenkins.“
„Waren Sie in Gesellschaft, als Sie ins Boulevard-Restaurant gingen?“
„Nein. Ich ging ganz allein.“
„Wie kommt das? Man sollte meinen, da Sie sich mit Ihren Herren Kollegen aus ganz Skandinavien doch wahrscheinlich nur selten treffen, so liegt eigentlich der Gedanke nahe, dass ...“
„Um die Wahrheit zu sagen: ich hatte mich über verschiedene Dinge, die sich in der Konferenz ergaben, geärgert.“
„Aber Ihr Schwiegersohn ...“
Der Besucher lächelte. „Jarl wollte die Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, seine Kenntnisse von dem nächtlichen Christiania ein wenig aufzufrischen. Nun — ich bin ein vernünftiger Schwiegervater und werde meiner Tochter nichts davon verraten. Die Hauptsache ist, dass er rechtzeitig den letzten Zug erreicht, denn wir haben morgen früh grosse Sprengungen in Sollihögda und müssen beide um halb sieben auf dem Posten sein.“
„Sie sagen also, die Konferenz verlief ein wenig ungemütlich. Aus diesem Grunde verliessen Sie sie?
„Mir knurrte ausserdem der Magen. Also kurz und gut, ich ging allein, nahm mir im Boulevard-Restaurant eine gemütliche Ecke in der Nähe der Tür und bestellte ein gutes norwegisches Abendessen: ein paar horsd’oeuvres mit Austern und Hummern und Aquavit — getrüffelten Fasan — Tournedos — dazu Marnier und Mokka und eine Flasche Sekt.“
„Sie machen mir Appetit, Herr Waggeryd“, lachte Joe Jenkins. „Ich habe seit heute früh nichts gegessen.“
„Halte ich Sie etwa vom Abendessen — — —?“
„Nicht im geringsten. Würde ich jetzt anfangen, so würde mein Appetit mit dem Essen wachsen. Und das wäre gegen alle Gesundheitsregeln der Welt. Nun muss ich’s schon bis morgen früh aushalten. Fahren Sie nur fort.“
„Man isst im Boulevard-Restaurant einfach klassisch — so gut wie bei Delmonico oder im Café de la Paix. Jedenfalls — als ich so beim dritten, vierten Glase Sekt angelangt war und mich, noch mit herzinniger Freude über den herrlichen Fasan, an die Ananasbaisers machte da — erschien mir die ganze Welt wieder in rosigem Licht. Ich sah ein, dass ich ein Dickkopf gewesen war — sowohl die Angestelltenversicherung als auch die Ausfuhrzölle waren schliesslich Dinge, über die sich reden liess. Man konnte sich eben auf halbem Wege entgegenkommen — schliesslich: die Geschichte der Menschheit besteht aus lauter Kompromissen. Ich würde morgen ein Zirkularschreiben an die Mitglieder ergehen lassen, meinen Standpunkt nochmals begründen — versteht sich — aber dabei durchblicken lassen, dass ich eventuell nicht abgeneigt sein würde — — — Und während sich mir so das vierte oder fünfte Glas einschenkte, bemerkte ich plötzlich zu meinem Erstaunen, dass ein Herr mir gegenüber Platz genommen hatte.“
„Ist das so auffällig?“ fragte der Detektiv lächelnd.
„Wenn Sie diesem Herrn gegenüber gesessen hätten, so würden Sie diese Frage nicht stellen, Mr. Jenkins. Der Herr, der mir gegenübersass, war kein anderer als ich selbst.“
„Oho!“
„In jedem Zuge mein Ebenbild. Derselbe etwas grau melierte Spitzbart. Dieselbe Art, mit den Fingern der linken Hand auf den Tisch zu klopfen. Derselbe Brillantring am Ringfinger der rechten Hand. Dieselbe Chatelaine-Uhrkette wie ich — und dazu das auffällige Benehmen: er blickte mir unverwandt ins Gesicht. Ich rieb mir die Augen, denn offen gestanden, Mr. Jenkins, ich glaubte zunächst, ich hätte über den Durst ...“
„Der Gedanke liegt nahe.“
„Nicht wahr? Aber ich war vollkommen nüchtern, das dürfen Sie mir glauben.“
„Redeten Sie ihn an?“
„Ich wollte es eben tun, als sich mein Erstaunen steigerte: er fasste plötzlich in den Eiskübel, nahm die Sektflasche heraus — meine Sektflasche — und schenkte sich ein. Etwa ein halbes Glas.“
„Stellten Sie ihn nicht zur Rede?“
„In jedem anderen Falle hätte ich das getan. Ich bin wahrlich der erste, wenn es gilt, einen frechen Witzbold in seine Schranken zu verweisen. Hier brachte ich kein Wort über die Lippen. Ich starrte ihn nur unentwegt an.
Und nun kommt das Seltsamste, was mir in meinem Leben widerfahren ist. Mein Vis-à-vis fasste, immer seine Augen in die meinen gesenkt, in seine Tasche, zog eine Nummer der Aftenposten hervor und schob sie mir langsam zu. Ich warf einen Blick auf das Blatt und sah ihm wieder ins Gesicht. Er deutete mit einer gebieterischen Handbewegung auf eine bestimmte Stelle. Unwillkürlich folgte mein Auge seiner Bewegung, und ich sah zu meinem Erstaunen ein Inserat, das meinen Namen in Fettdruck aufwies. Ich konnte ihn deutlich lesen, obwohl das Blatt verkehrtherum lag. Wie unter einem hypnotischen Zwang griff ich nach der Zeitung und drehte sie herum. Und was ich jetzt erblickte, ist das Unglaublichste, was Ihnen je ein Klient berichtet haben mag: das Inserat war meine eigene Todesanzeige.“
„Das klingt fast wie ein Traum“, sagte Joe Jenkins, indem er nachdenklich das Etui zog und eine Zigarette herausnahm.
„Nicht wahr? Und denken Sie sich: als ich den Kopf wieder hob, war mein Tischnachbar verschwunden.“
„Gingen Sie ihm nicht nach?“
„Selbstverständlich. Ich sprang auf und rannte nach dem Ausgang. Vergeblich.“
„Wäre es möglich, dass Sie einen Augenblick eingenickt wären und dass das alles, was Sie mir hier erzählen, der Gegenstand eines blitzschnellen Traumes gewesen wäre?“
„Aber die Zeitung, Mr. Jenkins!“
„Nun — auch die Zeitung könnte ein Produkt Ihres Traumes gewesen sein. War sie noch zur Stelle als Sie zurückkehrten?“
„Nein.“
Der Detektiv erhob sich und nahm eine Schachtel Streichhölzer vom Schreibtisch. „Sie war verschwunden“, nickte er lächelnd. „Das sieht fast aus, als ob meine Vermutung ...“
„Nein, nein, Mr. Jenkins! Glauben Sie mir um Gotteswillen, jedes Wort ist volle und reine Wahrheit. Er hat mir gegenübergesessen — er hat mir meine Todesanzeige gezeigt — und er hat genau ausgesehen wie ich — — Wenn Sie mir das nicht aufs Wort glauben, ist natürlich jede Intervention, die ich von Ihnen erhoffe, sinnlos und aussichtslos.“
„Was geschah weiter?“
„Als ich zurückkehrte, räumte der Kellner gerade den Tisch ab.“
„Hatten Sie denn schon bezahlt?“
„Nein. Das ist es ja eben. Ich stellte den Kellner zur Rede. ‚Ich glaubte, Sie würden nicht mehr wiederkommen‘, sagte er. ‚Ich pflege ein Lokal nicht zu verlassen, bevor ich bezahlt habe‘, antwortete ich mit gebührender Schärfe im Ton. Darauf sagte er zu meinem Erstaunen, indem er lächelte: ‚Aber, mein Herr, die Fünfzig Kronen lagen doch unter der Serviette!“
Joe Jenkins schüttelte den Kopf. „Das ist allerdings fast der Gipfel der Seltsamkeiten.“
„Ich fragte nach der Aftenposten. Der Kellner hatte sie mit fortgeräumt.“
„Er musste schliesslich wissen, wohin.“
„Ich habe mit ihm gesucht. Die Zeitung war nicht mehr zu finden. Und nun sagen Sie mir, Mr. Jenkins — was bedeutet das?“
„Darauf kann ich Ihnen natürlich im Augenblick nicht die Spur einer Antwort geben, mein lieber Herr Waggeryd. Ein solcher Hexenmeister bin ich nun doch nicht. Ich kann nur Schritt für Schritt vorgehen wie ein guter Rechner, der höchstens ein bisschen schneller rechnet als andere. Zunächst sagen Sie mir einmal: haben Sie versucht, eine neue Nummer der Aftenposten zu bekommen?“
„Natürlich. Sofort. Und Pech, wie ich nun einmal heut habe: kein Händler mehr zu sehen. Die wenigen, die ich treffe, haben alle Zeitungen ausverkauft.“
Der Detektiv steckte die Hände in die Taschen und ging ein paarmal im Zimmer schweigend auf und ab. Er zog einen der Fenstervorhänge rasselnd zurück; draussen lag brodelnder, warmer Nebel über der stillen Strasse, durch die gelb und fahl das Licht der Bogenlampe schimmerte. Schweigend wandte sich der Amerikaner um, schweigend sah er seinem Besucher ins Gesicht. Dann riss er das Fenster auf, schleuderte die Zigarette in den wallenden Nebel hinaus, den sie in einem leuchtenden Bogen zerschnitt, und schloss das Fenster wieder mit einem krachenden Ruck. Dann, indem er sich plötzlich seinem Besucher zuwandte, sagte er:
„Mein lieber Herr Waggeryd, die Tatsache, dass Sie sich an mich wenden, nachdem Ihnen das widerfahren ist, was Sie mir da erzählen, lässt bereits einige ganz bestimmte Schlüsse zu. A priori ist nämlich Ihr Erlebnis viel eher Sache eines Nervenarztes als eines Detektivs. Das wissen Sie natürlich genau so gut wie ich. Wenn Sie trotzdem zu mir kommen, anstatt einen Arzt aufzusuchen, so geht daraus hervor, dass Sie sich im Grunde Ihrer Seele bereits eine Art von Kommentar gebildet haben, den Versuch einer Erklärung für das von Ihnen Gesehene. Diese Erklärung, an die Sie vielleicht selbst nicht glauben, die sich Ihnen aber doch, je mehr Sie sie überlegen, als Wahrscheinlichkeit aufdrängt, ist eine Drohung, die Sie herausfühlen.“ Und indem der Detektiv seinem Besucher die Hand auf die Schulter legte, fragte er in verändertem Tonfall: „Habe ich recht?“
Der Steinbruchbesitzer blickte zu Boden: „Es ist möglich, dass Sie recht haben.“
„Es ist gewiss“, sagte der Amerikaner. „Die Erscheinung dieses Mannes, der Ihnen aufs Haar ähnlich sieht — so ähnlich sieht, dass Sie ihn als Ihr zweites Ich bezeichnen — hat in Ihnen bestimmte Kombinationen erweckt. Sie müssten kein Norweger sein, Herr Waggeryd, wenn es nicht so wäre. Wäre es nicht so, so wären Sie — ich wiederhole es — nicht zu mir gekommen; denn zu mir kommen, heisst: meinen Schutz wünschen.“
Der Besucher nickte. Nun ja, Mr. Jenkins, Sie haben wohl recht. Sie haben Dinge in mir mit Worten benannt, die ich vielleicht nur erfühlt habe, über die ich mir selbst keine Rechenschaft gegeben habe. Es ist wohl in der Tat so: ich empfinde die Erscheinung dieses meines zweiten Ichs als den Vorboten eines Unglücks. Sie hatten nur zu recht, als Sie meine Nationalität betonten. Wir Norweger neigen zum Grübeln. Unser Land ist zerklüftet und verschneit, den grössten Teil des Jahres in einen undurchdringlichen Winter gehüllt; an unseren Küsten rast ein erbarmungsloses Meer und durch die Lüfte zieht heulend der Tross des Wilden Jägers. In unseren Fjorden spukt es und in unseren Königsschlössern gehen nächtliche Stimmen als Künder des Unheils um; und unsere Seeleute, wenn sie heimkehren von China und vom Kap Horn, erzählen uns tausend Dinge von Sturm und Not und vom Fliegenden Holländer. In der Tat, Mr. Jenkins, wir sind ein abergläubisches Volk.“
„Ich glaube,“ sagte der Amerikaner, „an die Erscheinung des zweiten Ichs knüpft sich ein ganz bestimmter Aberglaube? Der sich übrigens nicht nur in Skandinavien findet.“
„Man sagt,“ nickte der Fremde fast flüsternd, „dass es den baldigen Tod bedeute, wenn man sich selbst begegne.“
Der Detektiv zog die Uhr. „Es geht auf eins. Vielleicht bleiben Sie diese Nacht im Hotel Nobel?“
„Das ist leider unmöglich. Wir haben morgen früh wichtige Sprengungen — ich sagte es Ihnen schon. Ich muss um halb sieben auf dem Platze sein. Der früheste Zug aber läuft erst um sieben in Sollihögda ein.“
„Ist Ihr Chauffeur zuverlässig? Ich meine, falls er sich inzwischen vielleicht ebenfalls ein wenig in Christiania umgetan hätte ... Auge und Hand pflegen unter dem Einfluss des Alkohols nicht eben sicherer zu werden ...“
Der Besucher lachte: „Ich steuere mein Auto selbst.“
„Ah!“
„Ich kann auch nicht eigentlich sagen, dass es etwas Körperliches ist, wovon ich mich bedroht fühle. Ich bin von Natur nichts weniger als ängstlich.“ Er streckte mit einer kräftigen Geste den Arm. „Ich stehe meinen Mann.“
„Dann also glückliche Fahrt — und sollte sich irgend etwas ereignen, so rufen Sie das Hotel Belvédère an.“
Der Steinbruchbesitzer reichte dem Detektiv die Hand. „Die Unterredung mit Ihnen hat mich mehr beruhigt, als Sie glauben, Mr. Jenkins. Es tut wohl, einem Manne zu begegnen, der auch dem Ungewöhnlichen gegenüber den Kopf oben behält und der einen daran erinnert, dass in der ganzen Welt mit Wasser gekocht wird. Ich danke Ihnen — und gute Nacht.“
Der Amerikaner behielt einen Augenblick die Hand seines Besuchers in der seinen. „Sie sind Witwer, Herr Waggeryd?“
„Ja. Seit achtzehn Jahren.“
„Ist Ihre Tochter, die mit Herrn Doktor Jarl verheiratet ist, Ihr einziges Kind?“
„Ja. Thora ist vor kurzem zweiundzwanzig geworden. Ich selbst gehe ins fünfzigste Lebensjahr.“
„Warum haben Sie nicht wieder geheiratet?“
Waggeryd sah dem Fragenden ins Gesicht und einen Moment lang schien es, als ob eine flüchtige Röte über seine Züge ging. Dann, indem er die Hand auf die Klinke legte, sagte er:
„Leben Sie wohl, Mr. Jenkins.“
Der Detektiv trat ans Fenster und blickte in die Nacht hinaus. Der Nebel hatte sich ein wenig verzogen. Ein leichter Wind kam vom Fjord her, der feuchte Tropfen von dem dunklen Grün der Bäume gegen die Scheiben schleuderte.
Joe Jenkins nahm Hut und Paletot von der Chaiselongue, warf einen schuldbewussten Blick auf den von Briefschaften und Telegrammen bedeckten Schreibtisch und verliess das Zimmer.
Die Kellner, die eben mit unfreundlicher Geschäftigkeit die Tische und Stühle aufeinander stapelten, blickten erstaunt auf den späten Gast.
Es war keine ganz leichte Arbeit, den Übermüdeten, die feindselig dreinblickten, weil sie ihren Feierabend gefährdet sahen, klar zu machen, um was es sich handle. Volle zehn Minuten währte es, bis Joe Jenkins den richtigen Kellner gefunden hatte.
Ja. Er erinnerte sich jenes Gastes. Er hatte am Ecktisch in unmittelbarer Nähe der Tür gesessen und ein Souper eingenommen. Dazu Sekt. Gesamtbetrag fünfundvierzig Kronen; fünf Kronen Trinkgeld.
„Stimmt. Weiter: ist Ihnen eine Ähnlichkeit mit dem zweiten Herrn aufgefallen, der am gleichen Tische sass?“
„Mit was für einem zweiten Herrn?“
„Mit dem zweiten Herrn mit graumeliertem Spitzbart, einem Brillantring an der rechten Hand — er hat sich aus der Flasche des ersten Herrn ein halbes Glas Sekt eingeschenkt und es ausgetrunken. Darauf ist er gegangen.“
Der Kellner hatte bei diesen Worten immer erstaunter dreingeblickt. „Ein zweiter Herr? Der genau so ausgesehen haben soll wie der andere?“ Und, indem sich in sein Gesicht ein breites Lächeln eingrub, sagte er mit einer energischen Kopfbewegung: „Nein, mein Herr. Ich habe keinen zweiten Herrn gesehen.“
„So. Nun sagen Sie mir, was für einen Eindruck machte denn der eine Herr? Wäre es möglich, dass er vielleicht ein bisschen ...“
Der Kellner spitzte die Lippen, als ob er pfeifen wollte. „Das wäre durchaus nicht unmöglich, mein Herr. Er war ziemlich rot im Gesicht. Und einmal,