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Kathrin Rögglas literarischer Bericht aus New York über den Terroranschlag vom 11. September und die Folgen. Kathrin Röggla war am 11. September nur etwa einen Kilometer vom World Trade Center entfernt. »zunächst stand ich vor der frage, was ich damit mache, mit diesem haufen an authentizität, mit diesem scheinbaren aufgehen in einem Ereignis, in diesem zu großen bild, in das man plötzlich wie eingezogen ist oder eingezogen wurde.« In der Folge verfasste sie eine Serie von Texten, die die Veränderungen in New York in den Blick nehmen. Sie beschreibt die Reaktion der Amerikaner auf die Anschläge, lässt einzelne Leute zu Wort kommen, beobachtet das Geschehen in den Straßen von New York und kommentiert die Inszenierung amerikanischer Politik in den Medien. Über die momentane Aktualität hinaus versucht sie, Muster amerikanischer Wirklichkeit sichtbar zu machen.
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Seitenzahl: 95
Kathrin Röggla
really ground zero
11. september und folgendes
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11. september und folgendes
jetzt also hab ich ein leben. ein wirkliches. in meinem wirklichen leben hab ich ihn schon von weitem laufen gesehen, ich dachte nur nicht, dass er ins haus wolle. er raste direkt hinein in den aufzug, blieb auch erst da stehen neben mir und hat mit seltsamer stimme, so, als müsste er es sich zunächst selbst erzählen, gesagt: »new york is definitely the wrong city to live in at the moment!« jetzt schweigt er. eine weile stehen wir nebeneinander, bis ich ein vorsichtiges »you’re right!« von mir gebe. vorsichtig aus scheu vor dem, was er erlebt haben könnte, komme ich doch selbst gerade von der straße, wo ich menschen schreien gesehen habe, heulen, gestikulieren. aber auch eigentümlich ruhige menschen, die einfach nur geradeaus blickten richtung wtc »or the place formerly known as the world trade center«[1], manche mit radios in der hand, die informiertheit suggerieren und so zu kommunikativen anziehungspunkten werden. einen tower haben wir hier eben brennen und einstürzen sehen, ca. einen kilometer entfernt von unserem platz an der ecke houston/wooster street mit ziemlich guter perspektive auf das, was man euphemistisch »geschehen« nennen könnte und was doch weitaus zu groß zu sein scheint, um es irgendwie integrieren zu können in eine vorhandene erlebnisstruktur.
ja, da unten sehe ich mich stehen, wie ich für einen augenblick nicht mehr in meinem wirklichen leben vorhanden bin, denn ich sehe nicht nur mich, ich sehe auch einen film. der film heißt: »you can really see it melting.« das verrät mir die junge frau aus dem 22nd floor mit tonloser stimme und meint damit den tower. sie findet es total krank, dass die leute fotos davon machen. »i can’t believe it! they are taking pictures of a catastrophe!« ich nicke und werde bald genau zu den leuten gehören, die wahllos losfotografieren – doch jedem seine strategie, damit klarzukommen, moralische urteile auf dieser ebene scheinen heute disfunktional. nun, es stehen tatsächlich eine menge fotografierender und filmender leute vor unseren silver towers – das sind die drei wohnblocks zwischen bleecker und houston street mit jeweils ungefähr 30 stockwerken, die zu verlassen die meisten um neun uhr morgens nicht alleine aus neugier unternommen haben, sondern schlicht und einfach aus angst. man wisse ja nicht. schließlich wurde auch eine meldung gebracht, dass da insgesamt acht flugzeuge entführt wurden, also noch vier in der luft sein müssten. und dann seien zudem mehrere szenarien vorstellbar. was da noch kommen könne. da ist auch sofort die angst vor einem »krieg«, paranoide vorstellungen, die man hier im augenblick mit vielen menschen teilen kann, unter anderem mit den meisten politikern.
als der zweite tower explodiert – ein anderes wort scheint mir unpassend –, ist es nicht das laute bild, welches das gefühl auslöst, dass »das da« wirklich stattfindet, sondern das relativ leise geräusch. ton- und bildschiene fallen entschieden auseinander in ihrer psychischen wirkung, und wieder ist es die cineastische metapher, die man in den kleinen gesprächen zwischen den herumstehenden menschen in der bleecker street ständig bemüht. gespräche, die man führt, um sich in seine wahrnehmung wieder einzubinden, sich einer realität zu versichern in kleinen kommunikativen gesten voller redundanzen und wiederholungen. trotzdem wird das geschehene dafür nicht nur weitaus zu groß sein, es fehlen bald auch die politischen und historischen kategorien, es in einem größeren zusammenhang zu beschreiben und zu situieren.
später laufe ich meinem wirklichen leben schon etwas hinterher durch greenwich village richtung hudson river. weg von dem rauch, hinaus ins vermeintliche »freie«, ans wasser, und man kann mich inzwischen ruhig unter die »picture taking perverts« einreihen, wobei mir das fotografieren nicht wirklich gelingt. es bleibt eine leere geste, nichts wird darauf zu sehen sein. zumindest nicht dieser mitdreißiger, den ich sofort als vietnamveteran beschreiben würde, wäre er nicht zu jung dazu. er regelt auf der kreuzung seventh/greenwich avenue den verkehr. einen geisterverkehr, wie ich feststellen muss, denn er schreit autos an, die es nicht gibt, winkt sie durch. und wenn diese geste doch einmal auf ein real existierendes auto trifft, scheint er es gar nicht zu bemerken. es sind militärische und zugleich panische gesten, die ihn vollkommen besetzt halten. später werde ich noch zwei dieser zivilen fanatiker kennen lernen, die sich in diesen ritus des verkehrsregelns retten. ein eigenartiges amerikanisches phänomen, aber vielleicht meinem fotografieren verwandt. ansonsten relativ wenig durchgeknallte auf der straße. einen kleinen mann sehe ich direkt bei einer ampel stehen. er scheint sich was zu erklären, während es rot wird, während es grün wird, während es rot wird und blinkt. auch davon gibt es einige. doch die meisten wirken einfach wie stillgestellt. man findet sich in gruppen zusammen vor kleinen geschäften, vor die tv-geräte postiert wurden oder radiolautsprecher, in einer gefasstheit, die etwas deplatziert wirkt. der katastrophentourismus wird erst am zweiten tag einsetzen, es kommt einem auch einfach nicht der gedanke, dahin zu gehen, zu »ground zero«, »really ground zero«, dieser mischung aus todeszone, nuclear fall out area und mondlandschaft, die im fernsehen nicht abbildbar zu sein scheint. sie wirkt wie überbelichtet, seltsam flächig, denn dieses bräunliche weiß schluckt alle kontraste, kassiert die räumliche tiefe, zementiert das bild in monochromie. menschen aus dieser gegend kommen »hier oben« in greenwich village völlig verstaubt an, und auch die transportfahrzeuge, die die west street entlangrasen sind bedeckt mit diesem schlickigen staub – zementstaub, so bürgermeister giuliani, ungefährlich, doch wer weiß.
immer noch versuchen alle zu telefonieren. jeder zweite hält in einer mischung aus lethargie und hektik ein handy am ohr, vergeblich, nur selten kommt jemand durch – handies waren an diesem tag auch überall: in den entführten maschinen, im world trade center während der katastrophe, und auch jetzt noch kommunizieren die im schutt eingeschlossenen via handy mit den rescue-leuten. sie scheinen die einzigen werkzeuge der »individuals« zu sein, die wir geworden sind in der sprache der einsatzleitung, und man klammert sich obsessiv daran.
am anfang versuchen sie zu klären, ob das ein »second pearl harbor day« ist, darüber muss man sich erst einmal einig werden. ob es ein »really second pearl harbor day« ist oder nicht. das ist wichtig, da wird noch mal nachgefragt. das ständige anstellen der vergleiche nimmt sich als weiterer versuch einer einbindung des geschehens aus. erst am nächsten tag höre ich die beruhigende aussage: »this is not world war two. we have to be careful with those comparisons.« aber am tag des geschehens einigen sich moderator und militärexperte letztlich irgendwie doch auf pearl harbor. und »pearl harbor day two« klingt ja auch schon wieder nach kino, also fasslich. ansonsten sagen die reporter noch: »can you tell me what’s exactly happening there?« oder: »what’s to do now?«, am häufigsten sagen sie aber: »thanks for your update« und »let me update you on what’s happened« – »update«, das ist das wichtigste wort des tages. es impliziert schon und könnte so die ohnehin ständig gestellte frage ersparen: »what’s next?« eine rhetorik, die pragmatismus behauptet, vernünftiges handeln, aber deutlich hysterische züge trägt. da fehlen dann nur noch die »fresh videos«, also amateur-videos, die ab dem späten vormittag in den news auftauchen und immer neue ansichten von den flugzeugen bieten, wie sie in die towers eindringen. gezeigt werden auch augenzeugen, fire fighters, die sich durch dieses wahnsinnige pfeifen und diesen ascheregen fortbewegen, langsam gegenstände anheben oder herumirrende menschen ansprechen – und schon ist das programm perfekt.
»thank you for your update. what’s next?«, steht an der spitze einer vielzahl von rhetoriken und audio-visuellen gesten im amerikanischen fernsehen »on high alert«, die ständig ins hysterische oder ins chauvinistisch-paranoide umzukippen drohen. da schalten sie z.b. auf so krude weise die vermeintlich panikerzeugenden aussagen weg, sodass umso mehr panik entstehen muss. zum beispiel der arzt, der sagte, dass der einsatz von biologischen kampfstoffen nicht auszuschließen sei und er deswegen prophylaktisch antibiotika eingenommen habe. kaum benennt er das medikament, ist er auch schon weggeschaltet – zurück bleiben wir vor unseren tv-geräten. alles, was panik erzeugt, wird in diesem pragmatischen diskurs gleichzeitig beschworen und ausgeblendet, sodass sich die hysterie immer mehr hochschrauben kann. zur beruhigung kommen dann ehemalige polizeichefs, ehemalige senatoren und generäle, »former fbi« zum einsatz, die ein irgendwie geartetes know-how suggerieren sollen, anscheinend ohne wirklich eine politisch relevante oder präzise aussage von sich geben zu können. nur einschätzungen außenstehender, so ahnt man nach einer weile.
oder es wird uns die bedeutung der lage folgendermaßen erklärt: einer spricht von einem »huge wake up call for this city!«, und ein anderer sagt: »this was an act of war.« dieser andere ist george w. bush bei seiner mittwochvormittagsrede. am vortag hat er gesagt: »we – will – hunt – them – down!« und »punish those responsible!« ja, das ist er, unser bush, wie er von anfang an keine unterschiede zwischen staaten, die die terroristen verstecken, und den terroristen macht – na, wenn das nur gut geht, wo doch alles noch relativ unklar zu sein scheint. doch bush wäre nicht bush, wenn er nicht bush von allen seiten wäre, eben der starke mann der stunde, der auch genau weiß, wer der feind ist. »einer, der sich feige versteckt« und den »wir« kriegen werden. auch war von ihm der merkwürdige satz zu hören, dass »sie« den amerikanischen stahl nicht wirklich schmelzen könnten. dieses »not really!«, das er hier als verbale waffe trotzig gegen die massive narzistische kränkung amerikanischen nationalbewusstseins hochhält, wird später nur noch von dem adjektiv »true« getoppt: »the true symbol of financial power is gone.«
inzwischen dominieren auch draußen die militärgeräusche. an die wird man sich hier wohl gewöhnen müssen: denn flugzeugträger sind schon vor der stadt, die navy fährt auf, und ständig hört man die hubschrauber über einem – das einzig vertraute geräusch in den ohren einer berlinerin. sirenen gehen los, und kampfflugzeuge und dahindonnernde transporter bestimmen immer wieder die akustik. den ewigen rauch am himmel hört man ja nicht, der ist nur zu riechen, das aber ziemlich heftig, weswegen am mittwochnachmittag eine odyssee nach atemmasken beginnt. im vierten laden klappt es dann. sie sind wahrscheinlich sinnlos, aber man setzt sie lieber auf, denn das gibt einem so ein gefühl der »security«.