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Vor einem Jahrzehnt war Darrow der Held einer Revolution, von der er glaubte, sie würde die Gesellschaft verändern. Statt Frieden und Freiheit hat sie nur endlosen Krieg gebracht. Jetzt muss er alles, wofür er gekämpft hat, in einer einzigen letzten Mission riskieren. Darrow glaubt nach wie vor, er könne jeden retten. Aber kann er sich auch selbst retten? Red Rising war die Geschichte vom Ende eines Universums. Asche zu Asche ist die Geschichte von der Erschaffung eines neuen. Der Beginn einer aufregenden neuen Saga von New-York-Times-Bestsellerautor Pierce Brown.
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Seitenzahl: 1043
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PIERCE BROWN
ASCHE ZU ASCHE
ROMAN
Aus dem Amerikanischenvon Claudia Kern
Die deutsche Ausgabe von RED RISING: ASCHE ZU ASCHE
wird herausgegeben von Amigo Grafik, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg.
Herausgeber: Andreas Mergenthaler und Hardy Hellstern,
Übersetzung: Claudia Kern; verantwortlicher Redakteur und Lektorat: Markus Rohde;
Lektorat: Kerstin Feuersänger; Korrektorat: Peter Schild;
Satz: Rowan Rüster/Amigo Grafik; Print-Ausgabe gedruckt vonCPI Moravia Books s.r.o.,CZ-69123 Pohorelice. Printed in the Czech Republic.
Titel der Originalausgabe:
IRON GOLD, a RED RISING novel
Copyright © Pierce Brown 2018. All rights reserved.
Map copyright 2018 by Daniel Phillips
German translation copyright © 2018, by Amigo Grafik GbR.
Print ISBN 978-3-95981-808-7 (November 2018)
E-Book ISBN 978-3-95981-809-4 (November 2018)
Hörbuch erschienen beim Ronin Hörverlag
WWW.CROSS-CULT.DE
Für die Heuler
Dramatis Personae
Der Fall des Merkurs
ERSTER TEIL: Wind
1 Darrow Held der Republik
2 Darrow Vater
3 Darrow Der Traum
4 Lyria Willkommen auf den Welten
5 Lyria Auffanglager 121
6 Ephraim Ewige Stadt
7 Ephraim Der Schlichter
8 Lysander Die Kluft
9 Lysander Die Passagierin
10 Darrow Ewige Freiheit
11 Darrow Diener des Volkes
12 Lyria Schlagsäbel
13 Lyria Zuerst die Schreie
14 Ephraim Jahrestag
15 Lysander Aus der Tiefe
16 Darrow Der Bau
17 Lyria Die Schuld
18 Ephraim Der Fürst der Hände
19 Ephraim Pernod
20 Lysander Drachen
21 Darrow Es wird Gewalt geben
ZWEITER TEIL: Schatten
22 Lysander Io
23 Lyria Fuchsgassi
24 Ephraim Kobachis Techniktempel
25 Lysander Der Herr des Staubs
26 Lysander Der Zorn der Mutter
27 Darrow Deepgrave
28 Darrow Gefangener 1126
29 Lyria Rost und Schatten
30 Darrow Die Nessus
31 Ephraim Drache
32 Lysander Die Zerfleischung
33 Lysander Fremd
34 Darrow Apollonius au Valii-Rath
35 Lyria Eine Träne in der Tür
36 Lysander Dinner mit Drachen
37 Lysander Beute
38 Lysander Gruesli
39 Ephraim Höhle des Löwen
DRITTER TEIL: Staub
40 Lysander Der Platz des Blutes
41 Lysander Herz
42 Ephraim Glückspilz
43 Lyria Freiwild
44 Lyria Löwenwachen
45 Darrow Venus
46 Darrow Der Zorn des Bruders
47 Lysander Zähne und Tränen
48 Lysander Der Junge und der Ritter
49 Lyria Staatsfeindin
50 Lyria Mutter
51 Ephraim Skyhook
52 Darrow Die Armee des Minotaurus
53 Darrow Kriegsgott
54 Darrow Die Rache der Republik
55 Lysander Requiem
56 Lysander Krieg der Drachen
57 Ephraim Einem Fürsten angemessen
58 Ephraim Mischling und Axtgesicht
59 Lyria Vergebung
60 Darrow Asche zu Asche
61 Lysander Der Mondlord
62 Lysander Eiserner Goldener
63 Lysander Lux ex Tenebris
64 Ephraim Heuschreckenkönigin
65 Darrow Die Zerfleischung
Danksagungen
Darrow von Lykos / Der Schnitter – Erzimperator der Republik, Virginias Ehemann
Rhonna – Darrows Nichte
Lyria von Lagalos – eine Gamma-Rote
Dancer, Senator O’Faran – Senator der Republik, ein Lieutenant des Ares
Dano – Ephraims Kollege
Virginia au Augustus / Mustang – Amtierendes Oberhaupt der Republik, Darrows Ehefrau, Mutter von Pax
Pax – Sohn von Darrow und Virginia
Magnus au Grimmus / Der Herr der Asche – Octavias ehemaliger Erzimperator
Atalantia au Grimmus – Tochter des Herrn der Asche
Cassius au Bellona – ehemaliger Ritter der Morgenröte, Lysanders Leibwächter
Lysander au Lune – Enkel des ehemaligen Oberhaupts Octavia, Erbe des Hauses Lune
Sevro au Barca / Der Kobold – Heuler, Victras Ehemann
Victra au Barca – Sevros Frau, geb. Victra au Julii
Electra au Barca – Tochter von Sevro und Victra
Kavax au Telemanus – Patriarch des Hauses Telemanus, Daxos Vater
Niobe au Telemanus – Ehefrau von Kavax
Daxo au Telemanus – Erbe und Sohn von Kavax
Thraxa au Telemanus – Tochter von Kavax und Niobe
Romulus au Raa – Patriarch des Hauses Raa, Herr des Staubs, Oberhaupt der Randzone
Dido au Raa – Ehefrau von Romulus, geb. Dido au Saud
Seraphina au Raa – Tochter von Romulus und Dido
Diomedes au Raa / Der Ritter des Sturms – Sohn von Romulus und Dido
Marius au Raa – Quaestor, Sohn von Romulus und Dido
Apollonius au Valii-Rath / Der Minotaurus – Erbe des Hauses Valii-Rath
Tharsus au Valii-Rath – Bruder von Apollonius
Alexandar au Arcos – ältester Enkel von Lorn, ein Heuler
Vandros – ein Heuler
Clown – ein Heuler
Pebble – eine Heulerin
Holiday ti Nakamura – Legionärin, Schwester von Trigg, eine Graue
Ephraim ti Horn – Freiberufler, ehemaliger Sohn des Ares
Sefi – Königin der Walküren, Schwester von Ragnar, eine Obsidiane
Wulfgar Weißzahn – Erzwächter der Republik, ein Obsidianer
Volga Fjorgan – Kollege von Ephraim, eine Obsidiane
Quicksilver / Regulus ag Sun – reichster Mann der Republik, ein Silberner
Pytha – Pilotin, Begleiterin von Cassius und Lysander, eine Blaue
Cyra si Lamensis – Hackerin, Mitarbeiterin von Ephraim, eine Grüne
Publius cu Caraval – Der Kupfertribun, Anführer des Kupferblocks, ein Kupferner
Mickey – Graveur, ein Violetter
Stumm steht sie auf einer Insel aus Vulkangestein inmitten eines schwarzen Meers und wartet darauf, dass der Himmel herabfällt. Die lange mondlose Nacht liegt klaffend vor ihr. Die einzigen Geräusche ein flatterndes Kriegsbanner, das ihr Geliebter in der Hand hält, und die warmen Wellen, die ihre Stahlstiefel küssen. Ihr Herz ist schwer. Ihr Geist frei. Einzigartige Ritter stehen hinter ihr, überragen sie. Gischt hinterlässt Flocken auf ihren Familienwappen – Smaragdzentauren, kreischende Adler, goldene Sphinxe und der gekrönte Totenkopf des grimmigen Hauses ihres Vaters. Ihre goldenen Augen blicken gen Himmel. Wartend. Das Wasser hebt sich. Senkt sich. Der Herzschlag ihrer Stille.
Tyche, das Juwel des Merkurs, kauert angsterfüllt zwischen den Bergen und der Sonne. Ihre berühmten Türme aus Glas und Kalkstein sind dunkel. Die Brücke der Ahnen ist leer. Hier weinte einst Lorn au Arcos als junger Mann, als er den Planeten des Götterboten zum ersten Mal bei Sonnenuntergang sah. Nun weht Müll im salzigen Sommerwind durch die Straßen der Stadt. Verschwunden sind die Rufe der Fischhändler am Hafen. Verschwunden sind das Getrappel der Fußgänger auf dem Kopfsteinpflaster und das Dröhnen der Flugwagen und das Gelächter der Kinder Niederer Farben, die an brüllend heißen Sommertagen, wenn kein Wind von der trasmianischen See heranweht, von den Brücken ins Wasser springen. Es ist still in der Stadt. Die Reichen haben sich längst in ihre Anwesen im Wüstengebirge oder in Regierungsbunker zurückgezogen, die Soldaten stehen auf den Dächern und beobachten den Himmel, die Armen sind in die Wüste geflohen und drängen sich auf Booten, deren Ziel die Ismerischen Inseln sind.
Doch die Stadt ist nicht leer.
Menschenmengen kauern in den Nahverkehrstunneln unter dem Wasser. Und an einem Hochhausfenster im hässlichen Teil der Stadt, weit weg vom Wasser, dort, wo man arme Arbeiter unterbringt, sitzt ein kleines Mädchen mit orangen Augen und bläst mit ihrem Atem Nebel auf die Scheibe. Funken flackern am Firmament. Blitze zucken und explodieren am Himmel wie die Feuerwerkskörper, die ihr Bruder manchmal im Kiosk kauft. Man hat dem Mädchen erklärt, dass dort oben zwei große Flotten gegeneinander kämpfen. Sie hat noch nie ein Raumschiff gesehen. Ihre Mutter liegt krank im Schlafzimmer, zu schwach für eine Reise. Ihr Vater, der Maschinenteile herstellt, sitzt mit seinen Söhnen an dem kleinen Küchentisch aus Plastik. Er weiß, dass er sie nicht beschützen kann. Die HoloBox taucht sie in ein blasses Licht. Die staatlichen Nachrichtensendungen fordern sie auf, sich in Schutzräume zu begeben. In der Tasche des Mädchens steckt ein zusammengefaltetes Stück Papier, das es in der Gosse gefunden hat. Darauf ist ein gebogenes Schwert zu sehen. Sie kennt es aus dem Holowürfel. Ihre Lehrer an der staatlichen Schule sagen, dass es Chaos auslösen wird. Krieg. Es hat die Welten in Brand gesetzt. Doch nun zeichnet sie die Klinge heimlich in den Nebel, den ihr Atem auf der Scheibe erschaffen hat. Sie fühlt sich mutig.
Dann fallen die Bomben.
Sie stammen von Bombern der Thor-Klasse, die hoch über dem Planeten schweben und von Farmerssöhnen von der Erde und Bergarbeitern vom Mars geflogen werden, die der Zwölften Sonnenscheinstaffel angehören. Man hat die Bomben mit Flüchen und Gebeten und Stammesdrachen und Sensen besprüht. Sie tauchen in die Wolken ein und fallen dem Meer entgegen, so schnell, dass die Geräusche, die sie machen, nicht mithalten können. Ihre Steuerungschips werden von Freien Farben auf Phobos hergestellt. Ihr Stahl wird von Unternehmern im Gürtel abgebaut und geschmolzen. Ihr Ionenantriebssystem ist mit einer geflügelten Ferse gestempelt, dem Logo einer Firma, die Unterhaltungselektronik, Hygieneartikel und Waffen herstellt. Sie gehen tiefer und tiefer, rasen schattenlos über die Wüste, dann das Meer. Sie tragen die Last des neuesten Imperiums unter der Sonne bei sich.
Die erste Bombe zerstört das Gerichtsgebäude auf Tyches Vespasian-Insel. Dann gräbt sie sich hundert Meter tief in die Erde und detoniert an der Wand des Bunkers, der dort vergraben ist. Alle, die sich darin befinden, sterben. Die zweite Bombe landet im Meer, fünfzehn Kilometer von einer Flüchtlingsflotte entfernt. Dort versenkt sie ein Kriegsschiff der Weltengesellschaft, das sich zwischen den hohen Wellen versteckt hat. Die dritte Bombe rast über eine Gebirgskette nördlich von Tyche hinweg, wo sie vom Projektil einer Railgun getroffen wird, die ein Grauer Teenager mit Aknenarben und einem Glücksbringer, den ihm seine Freundin geschenkt hat, abfeuert. Sie kommt vom Kurs ab, knattert durch die Luft und fällt schließlich zu Boden.
Sie explodiert am Stadtrand, weit weg vom Wasser, und verwandelt vier Hochhausblöcke zu Staub.
Stumm liegt er da, eingehüllt in mörderisches Metall im Bauch eines Raumschiffs namens Morgenstern. Die Angst verzehrt ihn wie schon so oft. Die einzigen Geräusche sind das Summen des Luftfiltersystems seines Körperpanzers und die Funksprüche weit entfernter Männer und Frauen. Seine Freunde liegen neben ihm, ebenfalls eingeschlossen in Metall. Wartend. Rote und goldene und graue und obsidianfarbene Augen. Wolfsköpfe auf ihrer Schulterpanzerung. Tätowierungen an Hals und Armen. Freie Imperienbrecher vom Mars, von Luna und von der Erde. Ihnen folgen Schiffe, die Namen wie Seele von Lykos, Hoffnung von Tinos und Ragnars Widerhall tragen. Sie sind weiß lackiert und werden von einer Frau mit pechschwarzer Haut kommandiert. Das Löwenoberhaupt sagte, das Weiß symbolisiere den Frühling. Einen Neuanfang. Doch die Schiffe sind nicht ohne Makel. Rußverschmiert, mit bandagierten Wunden und nicht zueinander passenden Platten. Sie haben die Schwert-Armada gebrochen und den Märtyrer Fabii. Sie haben das Herz des Goldenen Imperiums erobert. Sie haben den Herrn der Asche zurückgeschlagen und halten die Drachen der Randzone im Zaum.
Wie konnten sie da sauber bleiben?
Während er allein in seinem Körperpanzer darauf wartet, aus dem Himmel zu fallen, erinnert er sich an das Mädchen, mit dem alles anfing. Er erinnert sich an ihr rotes Haar, das ihr in die Augen fiel. Daran, wie ihr Mund tanzte, wenn sie lachte. Daran, wie sie atmete, wenn sie auf ihm lag, so warm und zerbrechlich in einer viel zu kalten Welt. Sie ist nun länger tot, als sie je gelebt hat. Ihr Traum hat sich ausgebreitet, aber er fragt sich, ob sie ihn wiedererkennen würde. Und er fragt sich auch, ob er das Echo seines Lebens wiedererkennen würde, wenn er an diesem Tag sterben sollte. Zu was für einem Mann würde sein Sohn in dieser Welt, die er erschaffen hat, heranwachsen? Er denkt an das Gesicht seines Sohnes und daran, wie bald er ein Mann sein wird. Und er denkt an seine Goldene Frau. Wie sie am Landeplatz stand, zu ihm hinaufsah und sich fragte, ob er je nach Hause zurückkehren würde.
Mehr als alles andere will er, dass das aufhört.
Dann übernimmt die Maschine.
Er fühlt, wie an seinem Körper gezogen wird. Das Pochen seines Herzens. Er hört das irre Kichern des Kobolds und das Heulen seiner Freunde. Sie versuchen, ihre Kinder und die, die sie lieben, zu vergessen und tapfer zu sein. Übelkeit steigt aus seinem Magen empor, als er hört, wie sich die Magnetschienen hinter ihm aufladen. Metall erbebt, dann schießen sie ihn auch schon mit sechsfacher Schallgeschwindigkeit durch die Startröhre in das lautlose All.
Männer nennen ihn Vater, Befreier, Kriegsherr, Sklavenkönig, Schnitter. Doch er fühlt sich wie ein kleiner Junge, als er dem vom Krieg zerrütteten Planeten entgegenfällt. Sein Körperpanzer ist rot, seine Armee groß, sein Herz schwer.
Es ist das zehnte Jahr des Kriegs und das dreiunddreißigste seines Lebens.
Der arme, blinde Samson in diesem Land,
Beraubt seiner Stärke, gefesselt mit Stahl,
Mit düsterer Freude erhebt er die Hand,
Und zerschmettert die Sinnbilder seiner Qual,
Bis der Tempel der Freiheit, der uns ist so lieb,
In Schutt und Trümmern am Boden liegt.
HENRY WADSWORTH LONGFELLOW
Ich gehe müde an der Spitze der Armee über Blumen. Blütenblätter bedecken das letzte Stück der gepflasterten Straße, die vor mir liegt. Kinder werfen sie aus dem Fenster, und sie trudeln gemächlich von den Stahltürmen, die den Luna-Boulevard an beiden Seiten säumen, nach unten. Am Himmel nähert sich die Sonne ihrem langsamen, einwöchigen Tod und taucht die wenigen Wolken und die große Menschenmenge in ein blutrotes Licht. Wie Wellen schwappen Menschen gegen Sicherheitsabsperrungen, um unserer Parade näherzukommen. Die Wächter von Hyperion City tragen eine graue Uniform und ein blaugrünes Barett. Sie bewachen den Weg und stoßen feiernde Betrunkene in die Menge zurück. Hinter ihnen streifen Antiterroreinheiten über den Asphalt. Mit einer Brille, die wie Fliegenaugen aussieht, scannen sie Iriden, während ihre Hand auf dem Kolben ihrer Energiewaffe ruht.
Auch meine Blicke streichen über die Menge.
Nach zehn Jahren Krieg glaube ich nicht mehr an friedliche Momente.
Ein Meer aus Farben umgibt die zwölf Kilometer lange Via Triumphia. Sie wurde vor Hunderten Jahren von meinem Volk gebaut, den Roten Sklaven der Goldenen, und auf ihr hielten die Eroberer, die die Erde zähmten und einen Kontinent nach dem anderen einnahmen, ihre Prozessionen ab. Mörder mit einem Rückgrat aus Eisen, Augen aus Gold und einem bedrohlichen Stolz segneten einst diese Steine. Nun, fast tausend Jahre später, beschmutzen wir den heiligen weißen Marmor der Triumphia, indem wir Befreier mit Augen aus Pech und Asche und Rost und Erde ehren.
Früher hätte mich das mit Stolz erfüllt. Jubelnde Menschen, die feierten, dass die Freien Legionen eine weitere Bedrohung unserer noch jungen Republik abgewendet hatten. Doch heute sehe ich die Holos von mir mit einer blutigen Krone auf dem Kopf, höre die Jubelrufe der Vox Populi, sehe, wie sie die Banner mit der auf dem Kopf stehenden Pyramide schwenken, und fühle nichts außer der Last dieses endlosen Kriegs und der Sehnsucht nach der Umarmung meiner Familie. Vor einem Jahr habe ich meine Frau und meinen Sohn zum letzten Mal gesehen. Nach dem langen Rückflug vom Merkur will ich nur noch bei ihnen sein, ins Bett fallen und einen Monat lang traumlos schlafen.
Die letzte Etappe meiner Reise ist angebrochen. Vor mir wird die Triumphia breiter und mündet in die Treppe, die zum Neuen Forum emporführt. Nur noch diesen letzten Gipfel muss ich erklimmen.
Gesichter, trunken vor Freude und neuen kommerziell erhältlichen Schnäpsen, sehen zu mir empor, als ich die Stufen erreiche. Klebrige, mit Süßigkeiten verschmierte Hände winken mir zu. Zungen, gelockert von den gleichen kommerziell erhältlichen Schnäpsen und wilder Freude, schreien, brüllen meinen Namen oder verfluchen ihn. Nicht den Namen, den meine Mutter mir gab, sondern den, den meine Taten mir verliehen haben. Den Namen, den die gefallenen Einzigartig Vernarbten nun als Fluch flüstern.
»Schnitter, Schnitter, Schnitter«, schreien sie, nicht im Chor, aber wie aufgeputscht. Der Lärm erstickt mich, umklammert mich mit einer Hand, die eine Milliarde Finger hat: All die Hoffnungen, all die Träume, all der Schmerz ziehen sich um mich zusammen. Doch so kurz vor dem Ende kann ich noch einen Fuß vor den anderen setzen. Ich steige die Stufen hinauf.
Klonk.
Meine Metallstiefel knirschen auf Stein. Trauer macht sie schwer. Eo, Ragnar, Fitchner und all die anderen, die mit mir gekämpft haben und gefallen sind, während ich irgendwie am Leben geblieben bin.
Ich bin groß und breit. Mit dreiunddreißig Jahren kräftiger als in meiner Jugend. Stärker und brutaler in meinem Körperbau und meinen Bewegungen. Rot geboren, zu Gold geworden. Ich habe behalten, was Mickey der Graveur mir gab. Diese goldenen Augen und Haare fühlen sich mehr wie meine eigenen an als die des Jungen, der in den Minen von Lykos gelebt hat. Der Junge wuchs in der Erde auf, er liebte sie und grub in ihr, doch er hat so viel verloren, dass es sich oft so anfühlt, als sei all das einer anderen Seele passiert.
Klonk. Noch eine Stufe.
Manchmal befürchte ich, dass der Krieg den Jungen in meinem Inneren tötet. Ich sehne mich danach, mich an ihn zu erinnern, an sein reines, wildes Herz. Diesen Stadtmond und diesen Sonnenkrieg vergessen und in den Schoß des Planeten, der mich geboren hat, zurückzukehren, bevor der Junge in mir für immer stirbt. Bevor mein Sohn die Chance verpasst, ihn kennenzulernen. Doch die Welten, so scheint es, haben andere Pläne.
Klonk.
Das Chaos, das ich ausgelöst habe, lastet schwer auf mir: Hungersnöte und Genozid auf dem Mars, Obsidianpiraterie im Gürtel, Terrorismus, Strahlenkrankheit und Seuchen, die sich in den tieferen Bereichen von Luna ausbreiten, und die zweihundert Millionen Leben, die mein Krieg vernichtet hat.
Ich zwinge mich zu einem Lächeln. Heute ist unser vierter Befreiungstag. Nach zweijähriger Belagerung hat sich Merkur den freien Welten, Luna, Erde und Mars angeschlossen. Alle Bars haben geöffnet. Kriegsmüde Bürger ziehen durch die Straßen und suchen nach Gründen, um zu feiern. Feuerwerkskörper knallen und blitzen am Himmel, werden ebenso von den Dächern der Wolkenkratzer und denen der Mietskasernen abgeschossen.
Nach unserem Sieg auf dem von der Sonne aus betrachtet ersten Planeten bleibt dem Herrn der Asche nur noch eine Bastion, der Festungsplanet Venus. Dort wacht seine angeschlagene Flotte über die wertvollen Häfen und die letzten noch verbleibenden Loyalisten. Ich bin nach Hause gekommen, um den Senat davon zu überzeugen, von der durch den Krieg verarmten Republik Schiffe und Männer für einen letzten Feldzug anzufordern. Ein letzter Vorstoß zur Venus, damit dieser verdammte Krieg endlich enden kann. Damit ich das Schwert niederlegen und endgültig zu meiner Familie zurückkehren kann.
Klonk.
Ich halte inne, um einen Blick hinter mich zu werfen. Am Fuße der Treppe steht meine Siebte Legion oder das, was von ihr übrig ist. Achtundzwanzigtausend Männer und Frauen von ehemals fünfzigtausend. Sie haben sich locker um einen vierzehnzackigen Elfenbeinstern versammelt, in dessen Mitte man einen galoppierenden Pegasus sieht. Hochgehalten wird er von der berühmten Thraxa au Telemanus. Der Hammer. Ihr linker Arm ist dem Razor von Atalantia au Grimmus zum Opfer gefallen, doch sie hat ihn durch einen Metallprototyp von Sun Industries ersetzen lassen. Ihr unbezähmbares goldenes Haar flattert hinter ihrem Kopf im Wind. Weiße Federn, die ihr bewundernde Obsidiane geschenkt haben, stecken darin.
Eine kräftige Frau Mitte dreißig mit Oberschenkeln so dick wie ein Wasserfass und einem breiten Gesicht voller Sommersprossen. Sie grinst zwischen den Schultern der Blauen, Roten und Orangen Piloten hindurch. Rote, Graue und Braune Infanteristen lächeln und lachen, während hübsche junge Pinke und Rote sich unter Absperrungen hindurchquetschen, zu ihnen laufen, ihnen Blumenkränze um den Hals legen, Schnapsflaschen in die Hand drücken und Küsse auf den Mund. Sie gehören zur einzig kompletten Legion auf der heutigen Parade. Der Rest ist noch mit Orion und Harnassus auf dem Merkur und kämpft gegen die Legionen, die nach dem Rückzug der Flotte des Herrn der Asche dort gestrandet sind.
Klonk.
»Bedenke, dass du sterblich bist«, sagt Sevro mir gelangweilt und gedehnt ins Ohr, während der weißhaarige Wulfgar und die Republikwächter die Stufen heruntersteigen und uns auf halber Höhe der Forumstreppe treffen. Sevro riecht an meinem Hals und macht ein angewidertes Geräusch. »Beim Jupiter, du stinkst. Hast du zu diesem Anlass extra in Pisse gebadet?«
»Das ist Rasierwasser«, antworte ich. »Mustang hat es mir zur letzten Sonnenwende geschenkt.«
Er schweigt einen Moment lang. »Macht man das aus Pisse?«
Ich werfe ihm einen düsteren Blick zu und kräusele die Nase, als ich seine Fahne rieche. Dann betrachte ich den zerlumpten Wolfsumhang, den er über seinem Gala-Körperpanzer trägt. Er behauptet gern, er habe sich seit dem Institut nicht mehr gewaschen. »Willst du mir ernsthaft was zum Thema Geruch erzählen? Halt einfach die Klappe und benimm dich wie ein Imperator«, sage ich grinsend.
Sevro schnauft und zieht sich auf die Stufe zurück, auf der die legendäre Obsidiane Sefi Volarus steht, wie üblich schweigend. Er gibt sich domestiziert, aber neben dieser riesigen Frau sieht er wie ein streunender Hund aus, den ein Alkoholiker dummerweise seinen Kindern schenkt, damit sie mit ihm spielen können – gewaschen und entlaust, doch mit einem seltsamen Irrsinn im Blick. Zusammengekniffene Lippen und eine Nase so krumm wie die Finger eines alten Messerstechers. Er mustert die Menschenmenge resignierend und widerwillig.
Hinter ihm trabt das Rudel räudiger Heuler heran, das er mit zum Merkur genommen hat. Meine Leibwächter, die nun so betrunken sind wie eine Kurtisane bei einem Lorbeerzeit-Tanz auf Lykos. Die tapfere, stupsnasige Holiday befindet sich unter ihnen und versucht, für Ordnung zu sorgen.
Früher waren es mehr von ihnen. So viel mehr.
Ich lächle Wulfgar an, als er mir auf der Treppe entgegenkommt. Er ist einer der Lieblingssöhne des Aufstands, ein Obsidianer gebaut wie eine Baumwurzel, knorrig und hager, gehüllt in einen blassblauen Körperpanzer. Sein Gesicht ist kantig wie das eines Raubvogels, sein Bart geflochten wie der seines Helden Ragnar.
Wulfgar gehörte zu den Obsidianen, die mit Ragnar an den Mauern von Agea kämpften, und zu den Söhnen des Ares, die mich in Attica vor dem Schakal retteten. Nun lächelt er mich eine Stufe über mir als Erzwächter der Republik an; schmale Lachfalten entstehen in seinen Augenwinkeln.
»Ave Libertas«, sage ich lächelnd.
»Ave Libertas«, wiederholt er.
»Wulfgar. Was für ein Zufall. Du hast den Regen verpasst«, sage ich.
»Du hast aber nicht auf meine Rückkehr gewartet, oder?« Wulfgar schnalzt mit der Zunge. »Meine Kinder werden fragen, wo ich war, als der Regen auf Merkur fiel, und weißt du, wie meine Antwort darauf lauten muss?« Er beugt sich vor und lächelt verschwörerisch. »Dass ich gerade einen Haufen machte und mir den Arsch abwischte, als ich erfuhr, dass Barca den Caloris-Berg eingenommen hat.« Er lacht dröhnend.
»Hättest du mal auf mich gehört und wärst geblieben«, sagt Sevro. »Du wirst das Beste verpassen, hab ich dir gesagt. Du hättest sehen sollen, wie schnell die Aschen abgehauen sind. Die haben eine Pissspur bis zur Venus hinterlassen. Das hätte dir gefallen.« Sevro grinst den Obsidianen an. Er war es, der ihm im Flussschlamm von Agea einen Razor in die Hand drückte. Wulfgar hat jetzt seinen eigenen Razor. Sein Griff wurde aus dem Reißzahn eines Eisdrachen vom Südpol der Erde gemacht.
»Wäre ich nicht zum Senat bestellt worden, hätte meine Klinge an jenem Tag gesungen«, sagt er.
Sevro lächelt höhnisch. »Natürlich. Du bist nach Hause gelaufen wie ein artiger kleiner Hund.«
»Ein Hund? Ich bin ein Diener des Volkes, mein Lieber. So wie wir alle.« Er sieht mich mit einem leicht anklagenden Blick an, und ich erkenne die wahre Bedeutung seiner Worte. Wulfgar ist ein Gläubiger, so wie alle Wächter. Er glaubt nicht an mich, sondern an die Republik, an die Prinzipien, für die sie steht, und an die Befehle, die der Senat erteilt. Zwei Tage bevor der Eiserne Regen auf den Merkur fiel, stimmte der Senat, angeführt von meinem alten Freund Dancer, gegen meinen Vorschlag. Ich sollte die Belagerung fortsetzen. Keine Soldaten und Ressourcen auf einen Angriff verschwenden.
Ich missachtete den Befehl und ließ den Regen fallen.
Nun liegen eine Million meiner Soldaten im Sand des Merkurs begraben, und wir feiern unseren Befreiungstag.
Wäre Wulfgar mit mir auf dem Merkur gewesen, hätte er sich unserem Regen und der Missachtung des Senats nicht angeschlossen. Wahrscheinlich hätte er sogar versucht, mich aufzuhalten. Er ist einer der wenigen, dem das gelingen könnte. Zumindest für eine Weile.
Er gesteht Sefi ein Nicken zu. »Njar ga hae, svester.« Grob übersetzt heißt das auf Nagal: »Meinen Respekt, Schwester.«
»Njar ga hir, bruder«, antwortet sie. Die beiden mögen sich nicht. Sie haben unterschiedliche Prioritäten.
»Eure Waffen.« Wulfgar zeigt auf meinen Razor.
Sefi und ich reichen seinen Wächtern unsere Waffen. Sevro flucht leise, reicht ihnen seine jedoch auch. »Hast du deinen Zahnstocher vergessen?«, fragt Wulfgar mit einem Blick auf Sevros linken Stiefel.
»Hinterhältiger Yeti«, murmelt Sevro und zieht eine gefährlich aussehende, säuglingsgroße Klinge aus dem Stiefel. Der Wächter, der sie annimmt, wirkt verängstigt.
»Möge Odin dir bei den Togen helfen«, sagt Wulfgar zu mir und fordert mich mit einer Geste auf, weiterzugehen. »Du wirst seinen Beistand brauchen.«
Am Ende der Treppe, die zum Neuen Forum hinaufführt, haben sich die 140 Senatoren der Republik aufgestellt. Zehn pro Farbe, alle in weiße Togen gehüllt, die im Wind flattern. Sie blicken auf mich herab wie hochmütige, auf einem Kabel sitzende Tauben. Rote und Goldene, Todfeinde im Senat, rahmen die anderen wie Buchstützen ein. Dancer fehlt. Doch ich habe nur Augen für den einsamen Raubvogel, der in der Mitte der albernen, eitlen, machtgierigen kleinen Tauben steht.
Sie hat ihr goldenes Haar am Hinterkopf zusammengebunden. Ihre Toga ist komplett weiß. Die Bänder, mit denen die anderen ihre Farbe zeigen, fehlen. In der Hand hält sie das Morgenzepter, einen schillernden, einen halben Meter langen Stab, an dessen Spitze sich einst die Pyramide der Weltengesellschaft befand. Man hat sie geschmolzen und als vierzehnzackigen Stern der Republik neu gegossen. Ihr Gesicht ist fein geschnitten und wirkt distanziert. Eine schmale Nase, stechende Augen hinter dicken Wimpern und ein boshaftes Katzenlächeln auf den Lippen. Das Oberhaupt unserer Republik. Hier, am Ende der Treppe, nimmt mir ihr Blick eine Last von den Schultern und erlöst mich von der Angst, sie nie wiederzusehen. Durch Krieg und Raum und diese verdammte Parade bin ich gereist, um sie wiederzufinden, mein Leben, meine Liebe, mein Zuhause.
Ich gehe auf ein Knie und sehe der Mutter meines Kindes in die Augen.
»Hallo, Gattin!«, sage ich lächelnd.
»Hallo, Gatte! Willkommen zu Hause.«
Schloss Silene, traditionell der Landsitz des Oberhaupts auf Luna, liegt fünfhundert Kilometer nördlich von Hyperion am Fuße des Atlas-Gebirges und am Ufer eines kleinen Sees. Die nördliche Hemisphäre des Monds, die aus Bergen und Seen besteht, ist weniger dicht besiedelt als der Gürtel aus Städten, der den Äquator umgibt. Mustang führt ihre Amtsgeschäfte zwar im Palast des Lichts in der Zitadelle, aber Silene ist das eigentliche Zuhause meiner Familie, zumindest bis zu unserer Rückkehr auf den Mars. Das Steinhaus, das den päpstlichen Villen am Comer See auf der Erde nachempfunden ist, liegt am Rand einer felsigen Bucht. Über eine serpentinenartige, in den Felsen geschlagene Treppe kommt man zum See hinunter.
Hier wachsen dünne, flüsternde Koniferen viermal so hoch wie auf der Erde. Fast zweihundert Meter ragen sie wogend rund um den betonierten Landeplatz in die Luft. Dort erwartet uns Cedric cu Platuu, der Verwalter des Hauses Augustus, zusammen mit den Löwenwachen meiner Frau, als unser Shuttle landet. Der kleine Kupferne begrüßt Sevro und mich mit großem Eifer. Er verbeugt sich tief und wedelt mit der Hand. Thraxa läuft ohne ein Wort des Grußes an ihm vorbei, um ihre Mutter zu suchen.
»Erzimperator«, schwärmt er mit vor Freude geröteten, vollen Wangen. Er ist ein kleiner, pummeliger Mann und erinnert ein wenig an eine Pflaume, der man noch im letzten Moment knorrige Arme und Beine hinzugefügt hat. Ein Hauch von einem Schnurrbart, fast so dünn wie das ergrauende Kupferhaar auf seinem Kopf, weht im Wind. »Welche Freude, dich wiederzusehen.«
»Cedric«, sage ich und begrüße den kleinen Mann warmherzig. »Wie ich höre, hattest du gerade Geburtstag.«
»Ja, Herr! Meinen einundsiebzigsten. Ich bin allerdings immer noch der Ansicht, man sollte nach dem sechzigsten mit dem Zählen aufhören.«
»Erstklassige Arbeit«, sagt Sevro. »Du siehst fast schon vorpubertär aus.«
»Danke, Herr!«
Nur wenige kennen die Geheimnisse der Zitadelle so gut wie Cedric; er war eines der Juwelen am Hof des Oberhaupts. Mustang hatte schon während ihrer Zeit mit Octavia viel von ihm gehalten und sah keinen Grund, einen Mann zu entlassen, der so großes Wissen und Pflichtbewusstsein in sich vereinte.
»Wo ist das Begrüßungskomitee?«, fragt Sevro und sieht sich nach seiner Frau Victra um. Mustang und Daxo sind in Hyperion geblieben, um sich mit ihrem aufmüpfigen Senat herumzuschlagen, wollen aber noch vor dem Abendessen hier sein.
»Die Kinder sind erst vor Kurzem von einem dreitägigen Abenteuer zurückgekehrt«, sagt Cedric. »Lady Telemanus hat ihnen das Wrack der USS Davy Crockett im Atlas-Gebirge gezeigt. Merrywaters Schiff! Anscheinend fanden sie es in dem Wrack sehr spannend. Sehr. Spannend. Ja. Sie haben viel gelernt und ihre Entschlusskraft erhöht. Wie du in einem Lehrplan gefordert hast, dominu…« Cedric treten fast die Augen aus dem Kopf, und er korrigiert sich hastig. »Wie du in deinem Lehrplan gefordert hast, Sir.«
»Ist meine Frau schon hier?«, fragt Sevro barsch.
»Noch nicht, Sir. Ihr Diener sagte, sie würde das Abendessen wohl verpassen. Ich glaube, es gab Streiks in ihren Lagerhallen in Endymion und Echo City. Das war in allen HoloNews.«
»Sie war nicht einmal beim Triumph dabei«, murmelt Sevro. »Ich sah fantastisch aus.«
»Sie hat die Blüte deines Lebens verpasst, Sir.«
»Genau. Hörst du, Darrow? Cedric stimmt mir zu.« Er bemerkt jedoch nicht, dass Cedric zurückweicht, um dem Gestank seines Wolfsumhangs zu entgehen.
»Cedric, wo ist mein Sohn?«, frage ich ihn.
Er lächelt. »Ich glaube, das kannst du dir denken, Sir.«
Die Geräusche von aufeinander schlagenden NeoPlast-Schwertern und Stiefelsohlen auf Stein begrüßen Sevro und mich, als wir die Duellgrotte betreten. Ranken kriechen dort über Springbrunnen aus Granit und den feuchten Steinboden. Nadeln rieseln aus den Baumspitzen und bilden wolkenartige Formen auf ihrem Weg nach unten. Und in der Mitte der Grotte, in einem aus Kreide auf den Boden gezeichneten Kreis belauern sich ein Junge und ein Mädchen unter dem wachsamen Blick der Steinfiguren, mit denen die Springbrunnen verziert sind. Sieben weitere Kinder aus ihrem Rudel sehen zusammen mit zwei Goldenen Frauen ebenfalls zu. Sevro zieht mich zur Seite, damit uns niemand bemerkt. Wir setzen uns auf den Rand eines Granitspringbrunnens und sehen zu.
Der Junge in der Mitte des Kreises ist zehn, schlank und stolz. Er lacht wie seine Mutter und brütet wie sein Vater. Seine Haare sind strohfarben, sein Gesicht rund, die Wangen kindlich gerötet. Rosig goldene Augen lodern hinter langen Wimpern. Er ist größer als in meiner Erinnerung, und es erscheint mir unmöglich, dass er aus mir entstanden ist. Dass er eigene Gedanken hat. Dass er liebt, lächelt, stirbt so wie alle anderen.
Konzentriert zieht er die Augenbrauen zusammen. Schweiß läuft ihm über das Gesicht und verfilzt seine Haare, als der Schlag seiner Gegnerin sein Knie streift.
Das Mädchen ist neun und hat das schmale Gesicht eines Jagdhunds. Electra, die älteste von Sevros drei Töchtern, ist größer als mein Sohn und doppelt so schlank. Während Pax eine Lebensfreude ausstrahlt, die Erwachsene zum Lächeln bringt, ist das Mädchen von einer tief sitzenden Verbissenheit erfüllt. Electra hat mattgoldene Augen, die sich hinter schweren Lidern verbergen. Manchmal, wenn sie mich ansieht, urteilt sie mit einer Unnahbarkeit über mich, die mich an ihre Mutter erinnert.
Sevro beugt sich enthusiastisch vor. »Ich wette Ajas Razor gegen Apollonius’ Helm, dass mein kleines Monster deinen Jungen so richtig verkloppt.«
»Ich wette nicht auf unsere Kinder«, flüstere ich empört.
»Ich lege Ajas Institutsring drauf.«
»Hast du keinen Anstand, Sevro? Das sind unsere Kinder!«
»Und Octavias Umhang.«
»Ich will den Falthe-Elfenbeinbaum.«
Sevro keucht. »Ich liebe den Elfenbeinbaum. An was sonst soll ich denn meine Trophäen hängen?«
Ich zucke mit den Schultern. »Kein Elfenbeinbaum, keine Wette.«
»Drecksverdammter Barbar«, sagt er und streckt die Hand aus. »Die Wette gilt.« Sevro hat sich zum Sammler gemausert – er hat einen wahren Trophäenberg von Goldenen Imperatoren, Rittern und Möchtegernkönigen zusammengetragen. Er hängt ihre Ringe und Waffen und Wappen an die Äste des Elfenbeinbaums, den er auf dem irdischen Anwesen von Haus Falthe ausgegraben und nach Luna gebracht hat.
Wir sehen zu, wie Electra ihre Anstrengungen verdoppelt. Pax weicht ihr aus und erlaubt ihr, sich zu übernehmen. Als sie das dann auch tut, sticht er mit seinem Plastikrazor nach ihren Rippen. Er berührt sie leicht. »Punkt!«, schreit mein Sohn.
»Ich zähle, Pax, nicht du«, sagt Niobe au Telemanus. Kavax’ Frau ist gelassen. Ihr unbezähmbares, ergrauendes Haar sieht wie ein Vogelnest aus. Ihre Haut hat die Farbe von Kirschholz. Die Stammestätowierungen ihrer Vorfahren, die aus dem Südpazifik stammten, bedecken ihre Arme. »Drei zu zwei für Pax.«
»Achte auf dein Gleichgewicht und übernimm dich nicht, Electra«, sagt Thraxa. »Du musst einen festen Stand haben, wenn du dich auf instabilem Terrain wie einem Schiffsdeck oder Eis befindest.« Sie sitzt am Rand eines Springbrunnens und hat wie durch ein Wunder bereits eine Flasche Bier aufgetrieben.
Electra zieht wütend die Augenbrauen zusammen und stürzt sich erneut auf Pax. Für Kinder bewegen sie sich schnell, aber da sie die Pubertät noch nicht erreicht haben, fehlt ihnen die Eleganz. Electra setzt zu einer hohen Finte an, dreht ihr Handgelenk im letzten Moment und schlägt Pax von oben brutal auf die Schulter. »Punkt für Electra«, sagt Niobe. Sevro klatscht beinahe vor Begeisterung, beherrscht sich dann aber. Pax versucht einen Gegenangriff, aber Electra ist schon wieder über ihm. Mit drei schnellen Schlägen prellt sie ihm den Razor aus der Hand. Er stürzt, und Electra holt mit ihrem Razor aus, um nach seinem Kopf zu schlagen.
Thraxa gleitet vor und erwischt die Klinge mit ihrer Metallhand mitten im Schlag. »Immer mit der Ruhe, kleine Lady.« Sie schüttet ihr etwas Bier auf den Kopf.
Electra starrt sie von unten düster an.
Sevro kann sich nicht länger beherrschen. »Meine kleine Harpyie!« Er springt auf, und ich folge ihm durch die Grotte. »Papi ist zu Hause!« Ein Lächeln schlitzt Electras mürrisches Gesicht auf, als sie sich zu ihrem Vater umdreht. Sie läuft zu ihm, und er hebt sie hoch. Es sieht aus, als umarme er einen toten Fisch. Einige Kinder weichen zurück, als sie Sevro erkennen. Und als sie mich hinter den Ranken auftauchen sehen, versteifen sie sich und verbeugen sich. Perfekte Manieren. Niemandem, der nach dem Fall des Hauses Lune geboren wurde, ist das Siegel in die Hände implantiert worden.
Die Kinder wachsen nun in neunköpfigen Rudeln auf, die aus den unterschiedlichsten Farben bestehen, in der Hoffnung, dass so die gleichen Bande entstehen, die ich im Institut kennengelernt habe, allerdings ohne das Morden und Hungern. Pax’ bester Freund Baldur, ein ruhiger Obsidianjunge mit Zahnlücken, der schon fast so groß wie Sevro ist, hilft Pax auf. Er versucht, Pax den Staub aus der Kleidung zu klopfen, doch der schiebt ihn zur Seite und richtet den Blick auf uns.
Ich habe erwartet, dass er so schnell wie Electra zu mir laufen wird, doch das tut er nicht. In diesem Moment zuckt ein scharfer Schmerz durch mein Innerstes. Als ich ihn verließ, war er ein Junge voller Lebensfreude und Spontanität. Dieses Zögern und die Kälte, die nun in ihm stecken, stammen aus der Welt der Erwachsenen. Er achtet auf sein Rudel, während er ruhig zu mir geht und sich kein bisschen tiefer verbeugt, als es die Höflichkeitsregeln verlangen. »Hallo, Vater!«
»Mein Junge«, sage ich lächelnd. »Du bist gewachsen wie Unkraut.«
»Das passiert, wenn man älter wird.« Ich höre die Schärfe in seiner Stimme. Ich dachte immer, wenn ich erst einmal ein Mann wäre, würde ich selbstbewusster sein. Doch als ich nun auf diesen Jungen hinabblicke, fühle ich mich so klein. Ich habe meinen Vater wegen einer Ideologie verloren; habe ich Pax zum gleichen Schicksal verdammt?
»Er ist normalerweise nicht so ein Rotzlöffel«, sagt Niobe später, nachdem die Kinder ihre Übungen beendet haben. Pax verlässt die Höhle schnell und missgestimmt, während Baldur versucht, mit ihm Schritt zu halten.
»Betrachte die Angst als Kompliment«, murmelt Thraxa. »Er vermisst nur seinen Vater. Ich habe mich genauso gefühlt, wenn mein alter Herr etwas für Augustus erledigen musste.« Sie zieht einen schmalen Burner aus der Tasche und zündet ihn an einem der kupferfarbenen Kohlebecken, die an den bröckelnden Wänden der Grotte stehen, an. Niobe zieht ihn ihr aus den Fingern und drückt ihn auf dem Metallarm ihrer Tochter aus.
»War Daxo auch so?«, frage ich.
»Daxo?» Niobe lacht. »Daxo war schon bei seiner Geburt so stoisch wie ein Stein.«
»Und er hat schon in der Gebärmutter seine Pläne geschmiedet«, murmelt Thraxa und nippt an ihrem Bier. »Wir haben immer wie Eulen geschrien, wenn wir ihn sahen. Er hat uns immer durch das Fenster beobachtet. Mein großer Bruder wollte nie unsere Spiele spielen, nur seine eigenen.«
»Du warst auch nicht perfekt«, sagt Niobe. »Du hast Kuhfladen gegessen.«
Thraxa zuckt mit den Schultern. »War besser als das, was du gekocht hast.« Sie verlässt rasch die Reichweite ihrer Mutter und zündet einen zweiten Burner an. »Jupiter sei Dank hatten wir Braune.«
Niobe verdreht die Augen und berührt meinen Arm. »Sie ist gemein, aber sie hat recht, Darrow. Pax hat dich nur vermisst. Du hast jetzt genug Zeit, um das wettzumachen.«
Ich lächle sie an, sehe aber, wie Sevro und Electra zum Ufer gehen. »Du weißt, dass du Papis Liebling bist, oder?«, sagt er ihr. Ich unterdrücke meine Eifersucht. Ihm gelingt es stets, sich sofort wieder in seine Familie zu integrieren. Ich wünschte, ich hätte die gleiche Gabe.
Ich suche in dem Garten, der sich an einem der steinernen Vorratshäuser entlangzieht, nach meiner Mutter. Sie hockt mit zwei weiteren Roten Dienerinnen und einem Roten Mann im schwarzen Dreck. Die nackten Füße streckt sie nach hinten aus, während sie Blumenzwiebeln in langen, ordentlichen Reihen pflanzt. Ich halte am Eingang zum Garten inne und betrachte sie, so wie ich das früher in unserem kleinen Haus in Lykos getan habe, wenn ich auf der Treppe hockte und sie sich ihren Nachttee machte. Nach Vaters Tod hatte ich Angst vor ihr. Ihre Worte schmerzten so sehr wie ihre Schläge. Ich dachte damals, ich hätte diese Behandlung verdient. Wie viel einfacher wäre die Liebe zwischen uns gewesen, wenn ich als Kind gewusst hätte, dass ihre Wut und meine Angst auf einen Schmerz zurückzuführen waren, den wir beide nicht verdienten. Meine Liebe zu ihr wallt empor, als ich mich daran erinnere, was sie ertragen hat, und einen kurzen Moment lang flackert die Sehnsucht nach meinem Vater in mir auf. Ich wünsche, er könnte meine freie Mutter sehen.
»Willst du einfach nur zusehen wie ein Faulpelz oder uns beim Pflanzen helfen?«, fragt sie ohne aufzublicken.
»Ich weiß nicht, ob ich ein guter Farmer wäre«, sage ich.
Sie steht mithilfe ihrer Begleiter auf, klopft sich den Staub von der Hose und verstaut sorgfältig ihr Werkzeug, bevor sie mich begrüßt. Sie ist nur achtzehn Jahre älter als ich, aber die Jahre lasten schwer auf ihr. Doch sie ist um Längen kräftiger als damals, als sie unter der Erde lebte. Ihre Gelenke sind durch die jahrelange Arbeit im Bergwerk verschlissen. Doch ihre Wangen sind rosig und voller Leben. Unsere Ärzte konnten die meisten Symptome des Schlaganfalls und der Herzprobleme, unter denen sie so sehr litt, beheben. Ich weiß, dass sie sich schuldig fühlt, weil sie im Luxus leben darf, während mein Vater und so viele andere im Tal auf uns warten. Mit der Arbeit im Garten und rund um das Schloss büßt sie für ihr Überleben.
Meine Mutter umarmt mich fest. »Mein Sohn.« Sie atmet meinen Geruch ein, bevor sie zurücktritt und zu meinem Gesicht emporsieht. »Du hast mich mit dem verdammten Eisernen Regen zu Tode erschreckt. Du hast uns alle zu Tode erschreckt.«
»Tut mir leid. Sie hätten euch nicht sagen sollen, dass ich vermisst wurde.«
Sie nickt und schweigt, und ich erkenne, wie tief ihre Sorge saß. Sie haben sich wohl hier im Wohnzimmer versammelt oder in der Zitadelle und wie alle anderen den HoloNews gelauscht. Der Rote Mann hinkt auf uns zu. Sein kaputtes Bein zieht er hinter sich her.
»Hallo, Dancer!«, sage ich an meiner Mutter vorbei. Mein alter Mentor trägt die Kleidung eines Arbeiters anstatt der Toga eines Senators. Sein Haar ist grau, sein Gesicht väterlich und nach langen harten Jahren voller Falten. Doch in seinen Rebellenaugen funkelt es noch. »Hast du den Senat gegen die Gartenarbeit eingetauscht?«
»Ich bin ein Mann aus dem Volk.« Er zuckt mit den Schultern. »Es tut gut, wieder Dreck unter den Fingernägeln zu haben. Die Gärtner in dem Museum, das der Senat mir gegeben hat, lassen mich nicht einmal Unkraut zupfen. Hallo, Sevro!«
»Politiker«, sagt Sevro, als er sich zu uns gesellt. Er beachtet die Stimmung nicht, sondern tut so, als wolle er meine Mutter hochheben. Doch die sieht ihn so drohend an, dass er sie stattdessen nur sanft umarmt.
»Besser«, sagt sie. »Du hättest mir letztes Mal fast die Hüfte gebrochen.«
»Ach, sei nicht so eine Pixie«, murmelt er.
»Wie bitte?«
Er weicht zurück. »Nichts, Ma’am.«
»Hat sich Leanna gemeldet?«, frage ich.
»Es geht ihnen gut. Ich würde sie gerne bald besuchen. Vielleicht kann Pax den Winter in Icaria verbringen. Für meine alten Knochen wird es hier zu kalt.«
»Er soll auf den Mars?«
»Das ist seine Heimat«, sagt sie scharf. »Soll er vergessen, woher er kommt? In seinem Blut fließt ebenso viel Rot wie Gold, auch wenn ich die Einzige bin, die ihn je daran erinnert.«
Dancer wendet den Blick ab, als wolle er uns etwas Privatsphäre geben.
»Er wird zum Mars fliegen«, sage ich. »Das werden wir alle, sobald es dort sicher ist.«
Wir haben den Mars zwar erobert, aber dort ist es alles andere als harmonisch. Eine Goldene Armee bestehend aus eisenhäutigen Veteranen sucht immer noch den sirenianischen Kontinent heim, so wie den irdischen Südpazifik. Der Herr der Asche wagt es zwar seit Jahren nicht mehr, eine große Flotte in die Umlaufbahn zu bringen, aber Bodenkriege sind deutlich hartnäckiger als ihre astralen Gegenstücke.
»Und wann wird es dort deiner Meinung nach sicher sein?«, fragt meine Mutter.
»Bald.«
Weder Dancer noch meine Mutter beeindruckt diese Antwort. »Und wie lange wirst du hier bleiben?«, fragt sie.
»Mindestens einen Monat. Rhonna und Kieran werden ebenfalls kommen, so wie du wolltest.«
»Wird ja auch mal Zeit. Ich dachte, der Merkur hätte sie gestohlen.«
»Victra und die Mädchen werden auch etwas Zeit hier verbringen. Ich muss allerdings Ende der Woche nach Hyperion.«
»Zum Senat. Weil du mehr Soldaten haben willst.« Ihr Tonfall ist so säuerlich wie ihr Blick.
Ich seufze und sehe Dancer an. »Infizierst du jetzt schon meine Mutter mit deiner politischen Meinung?«
Er lacht. »Deanna kann für sich selber denken.«
»Wenn ihr beide weiter auf mich einredet, werde ich noch taub«, sagt sie.
»Stopf dir was in die Ohren«, erwidert Sevro. »Das mache ich auch immer, wenn sie über Politik labern.«
Dancer schnaubt. »Wenn deine Frau das doch auch tun würde.«
»Pass bloß auf. Sie hat ihre Ohren überall. Vielleicht hört sie gerade zu.«
»Wieso warst du nicht beim Triumph?«, frage ich Dancer.
Er verzieht das Gesicht. »Also wirklich. Wir wissen doch beide, dass ich Pomp nicht ausstehen kann. Vor allem nicht auf diesem verdammten Mond. Ich brauche nur Dreck und Luft und Freunde.« Er wirft einen liebevollen Blick auf die Bäume. Ein Schatten streicht über sein Gesicht, als ihm einfällt, dass er nach Hyperion zurückkehren muss. »Aber ich muss mich wieder auf den Weg in das mechanische Babylon machen. Deanna, danke, dass ich mit dir im Garten arbeiten durfte. Das habe ich gebraucht.«
»Du bleibst nicht zum Abendessen?«, fragt meine Mutter.
»Leider gibt es auch noch andere Gärten, die der Pflege bedürfen. Apropos … Darrow, kann ich dich kurz sprechen?«
Dancer und ich lassen meine Mutter und Sevro zurück, die sich wegen des Geruchs seines Wolfsumhangs streiten, und gehen über einen Pfad, der an Bäumen vorbeiführt, in Richtung See. Eine Patrouillenbarke fährt am gegenüberliegenden Ufer entlang. »Wie geht es dir?«, fragt er mich. »Lass den patriotischen Heldenscheiß weg. Ich weiß, wenn du lügst.«
»Ich bin müde«, gestehe ich. »Man sollte meinen, dass ich auf der einmonatigen Reise Schlaf hätte nachholen können, aber irgendwas war immer.«
»Kannst du schlafen?«, fragt er.
»Manchmal.«
»Glückspilz. Ich pisse ins Bett«, gesteht er. »Ungefähr zweimal im Monat. Ich erinnere mich nicht einmal an die drecksverdammten Träume, aber mein Scheißkörper leider schon.« Er war mitten im Befreiungskampf um den Mars. Der Tunnelkrieg, der dort geführt wurde, war sogar noch schlimmer als der Häuserkampf auf Luna. Sogar die Obsidianen singen keine Lieder über ihre Siege in den Tunneln. Sie nennen ihn den Rattenkrieg. Innerhalb von drei Jahren befreite Dancer persönlich zusammen mit den Söhnen des Ares über hundert Bergwerke. Wenn Fitchner der Vater des Aufstands ist, dann wäre es richtig, Dancer als den Lieblingsonkel zu bezeichnen, obwohl es die Söhne des Ares nicht mehr gibt.
»Du kannst Medikamente nehmen«, sage ich. »Das machen die meisten Veteranen.«
»Psychopharmaka? Ich brauche keine Synthesizer der Gelben. Ich bin ein Roter von Faran. Mein Verstand ist verdammt noch mal wichtiger als ein trockenes Bett.« Da sind wir uns einig. Obwohl er im Senat der Hauptgegner meiner Frau ist und damit auch meiner, liegt er mir immer noch so sehr am Herzen wie meine eigene Familie. Erst als der Mars und seine Monde für befreit erklärt wurden, legte Dancer die Waffen nieder und zog die Toga eines Senators an. Er gründete die Vox Populi, die »Stimme des Volkes«, eine sozialistische Partei der Niederen Farben. Sie soll in der Republik ein Gegengewicht zu dem, wie er glaubt, zu großen Einfluss der Goldenen bilden. Jedes Mal, wenn er eine Rede über Verhältniswahlrecht hält, fühlt sich das an, als würde ein Dorn in meinem Stiefel stecken. Wenn es nach ihm ginge, gäbe es für jeden Goldenen Senator fünfhundert Senatoren aus Niederen Farben. Mathematisch richtig. In der Realität falsch.
»Aber es fühlt sich bestimmt gut an, wieder Gras unter den Stiefelsohlen zu haben anstatt Stein und Metall«, sagt er leise. »Wieder zu Hause zu sein.«
»Das stimmt.« Ich zögere und betrachte das felsige Ufer unter uns. »Wird jedes Mal schwerer. Das Zurückkommen. Man sollte meinen, dass ich mich darauf freue, aber … ich weiß nicht. Ich habe auch Angst davor. Jedes Mal, wenn Pax einen Zentimeter gewachsen ist, kommt mir das wie eine Anklage vor, weil ich nicht dabei sein konnte.« Ungeduldig greife ich einen der losen Fäden auf. »Aber je länger ich hier bleibe, desto mehr Zeit hat der Herr der Asche, um sich auf der Venus zu verbarrikadieren. Und dann zieht sich das alles noch länger hin.«
Als ich den Krieg erwähne, wird sein Gesicht hart. »Und wie … lange wird sich das deiner Meinung nach noch hinziehen?«
»Hängt davon ab, oder?«, sage ich. »Du bist der Einzige, der mich daran hindert, die Männer zu bekommen, die ich brauche, um die Sache zu beenden.«
»Das ist die einzige Antwort, die du kennst, oder? Mehr Männer.« Er seufzt. »Ich bin der Mund der Vox Populi, nicht das Gehirn.«
»Bescheidenheit ist nicht immer eine Tugend, Dancer.«
»Du hast den Senat missachtet«, sagt er ruhig. »Wir haben dir nicht erlaubt, den Eisernen Regen fallen zu lassen. Wir wollten, dass du vorsichtig bist …«
»Ich habe gesiegt, oder?«
»Es geht hier nicht mehr um die Söhne des Ares, auch wenn wir beide das gerne hätten. Virginia und ihre Optimaten hatten nichts dagegen, dass du rücksichtslos über den Senat hinweggegangen bist, aber die Menschen erkennen jetzt erst langsam, wie mächtig ihre Stimme ist.« Er kommt näher. »Trotzdem verehren sie dich.«
»Nicht alle.«
»Also bitte. Es gibt Sekten, die in deinem Namen Gebete sprechen. Wer kann das sonst noch von sich behaupten?«
»Ragnar.« Ich zögere. »Und Lysander au Lune.«
»Silenius’ Blutlinie ist mit Octavia ausgestorben. Es war dumm von dir, den Jungen gehen zu lassen, aber wäre er noch am Leben, wüssten wir davon. Er wurde vom Krieg verschlungen wie die anderen. Da bleibst nur noch du. Die Menschen lieben dich, Darrow. Du darfst diese Liebe nicht missbrauchen. Du gehst immer mit gutem oder schlechtem Beispiel voran. Wenn du dich nicht an das Gesetz hältst, warum sollten es unsere Imperatoren und Gouverneure? Warum überhaupt jemand? Wie sollen wir regieren, wenn du einfach machst, was du willst, als wärst du ein …« Er unterbricht sich im letzten Moment.
»Goldener.«
»Du weißt, was ich meine. Der Senat wurde gewählt. Du nicht.«
»Ich tue das, was nötig ist. Das haben du und ich schon immer. Doch der Rest tut nur, was nötig ist, um wiedergewählt zu werden. Wieso sollte ich auf sie hören?« Ich lächle ihn an. »Willst du eine Entschuldigung? Bekomme ich dann die Männer, die ich brauche?«
»Vielleicht ist es schon zu spät für Entschuldigungen.«
Ich hebe eine Augenbraue. Ich wünschte, die Kälte, die er mir gegenüber demonstriert, wäre mir fremd, aber seit er erfahren hat, wie ich den Frieden mit Romulus erkauft habe, ist unsere Freundschaft brüchig geworden. Ich habe Romulus die Söhne des Ares gegeben. Ich habe Dancers Männer in der Randzone dem Tod ausgeliefert. Die Schuldgefühle, die ich deswegen hatte, definierten unsere Beziehung jahrelang. Ich sehnte mich so sehr nach Dancers Anerkennung. Ich dachte, dass ich, wenn ich den Herrn der Asche vernichtete, die Schrecken, denen ich diese Männer und Frauen ausgesetzt hatte, wiedergutmachen würde. Doch nichts ist wiedergutgemacht worden. Nichts wird je wiedergutgemacht werden. Und es bricht mir das Herz, dass Dancer mich nie wieder so lieben wird, wie ich ihn liebe.
»Bedrohen wir uns jetzt gegenseitig, Dancer? Ich dachte, so was hätten wir nicht nötig. Wir haben das zusammen angefangen.«
»Richtig. Das haben wir. Du bist mir so wichtig, als wärst du mein eigen Fleisch und Blut. So ist es, seit du zu mir kamst, völlig verdreckt warst du und reichtest mir nur bis zur Nase. Doch selbst du musst dich an die Gesetze der Republik halten, die du mit erschaffen hast. Wenn man zulässt, dass Gesetze ignoriert werden, schafft man einen Nährboden für Tyrannen.«
Ich seufze. »Du hast schon wieder Bücher gelesen.«
»Verdammt richtig. Die Goldenen haben unsere Geschichte an sich gerissen, damit sie so tun konnten, als gehöre sie ihnen. Als freier Mann ist es meine Pflicht, sie zu lesen, damit man mich nicht blind an der Nase herumführen kann.«
»Niemand führt dich an der Nase herum.«
Er widerspricht mir mit einem Schnauben. »Als ich Soldat war, sah ich zu, wie deine Frau Mörder und Sklavenhalter begnadigte. Ich ertrug das, weil man mir sagte, das sei nötig, um den Krieg zu gewinnen. Ich sehe nun zu, wie unsere Leute zu zehnt und mehr in einem Zimmer hausen, im Abfall nach Essen suchen und kaum Zugang zu Ärzten und Medikamenten haben, während die Hohen Farben in Türmen leben. Ich ertrage das, weil man mir sagt, das sei nötig, um den Krieg zu gewinnen. Aber ich werde verdammt noch mal nicht zusehen, wie ein neuer Tyrann an die Stelle des letzten tritt, nur weil das nötig ist, um den scheiß Krieg zu gewinnen.«
»Erspar mir die Reden, Mann. Meine Frau ist keine Tyrannin. Es war ihre Idee, die Macht des Oberhaupts im Neuen Pakt zu beschneiden. Und es war ihre Entscheidung, diese Macht dem Senat zu übertragen. Auch dank ihr kann man die Stimme unseres Volkes jetzt hören. Denkst du, das war bequem für sie? Denkst du, dass eine Tyrannin so etwas tun würde?«
Er mustert mich mit hartem Blick. »Ich habe nicht sie gemeint.«
Verstehe.
»Ich weiß noch, als du mir erklärt hast, ich sei ein guter Mensch, der böse Dinge tun müsse«, sage ich. »Bist du zimperlich geworden? Oder hast du so viel Zeit mit Politikern verbracht, dass du vergessen hast, wie der Feind aussieht? Meistens ist er über zwei Meter groß, trägt ein Pyramidenabzeichen und, ach ja, an seinen Händen klebt Rotes Blut.«
»An deinen auch«, sagt er. »Unsere Verluste liegen bei einer Million, richtig? Eine Million als Preis für den Merkur. Du bist vielleicht bereit, das zu ertragen. Doch allen anderen wird die Last zu schwer. Ich weiß, dass es den Obsidianen so geht. Ich weiß, dass es mir so geht.«
»Also stehen wir am Ende einer Sackgasse.«
»So ist es. Du bist mein Freund«, sagt er emotionsgeladen. »Du wirst immer mein Freund sein. Ich werde dir keinen Dolch in den Rücken stoßen. Aber ich werde mich gegen dich stellen. Ich werde das Richtige tun.«
»Ich auch.« Ich strecke die Hand aus. Er ergreift sie und hält einen Moment inne, bevor er weitergeht. Als der Pfad in den Wald abknickt, dreht er sich zu mir um. »Verschweigst du mir etwas, Darrow? Wenn ja, dann sag es mir jetzt. Jetzt, wenn das unter uns Freunden bleibt.«
»Ich habe keine Geheimnisse vor dir«, antworte ich und wünsche mir, das wäre so und dass er mir das glauben würde. Ich wünsche mir, er wäre immer noch der Anführer der Söhne des Ares, damit wir unsere Geheimnisse zusammen ertragen können so wie früher. Doch leider sind nicht alle Gegner Feinde.
Er dreht sich um und hinkt zurück zum Garten, um sich von meiner Mutter zu verabschieden. Sie umarmen sich, dann begibt er sich zum südlichen Landeplatz, wo seine Wächtereskorte bereits auf ihn wartet. Einer reicht ihm eine weiße Wolltoga, und er zieht sie sich über das Hemd, bevor er die Rampe hinaufgeht.
»Was wollte er?«, fragt Sevro.
»Was wollen alle Politiker?«
»Prostituierte.«
»Kontrolle.«
»Weiß er von den Abgesandten?«
»Das kann ich mir nicht vorstellen.«
Sevro sieht zu, wie Dancers Wolltoga sich im Wind aufbauscht, als er ins Shuttle steigt. »In einem Körperpanzer gefiel mir der Bastard besser.«
»Mir auch.«
Daxo und Mustang treffen kurz vor dem Abendessen aus Hyperion zusammen mit meinem Bruder Kieran und meiner Nichte Rhonna ein. Wir essen an einem langen Holztisch, der voll mit Kerzen und marsianischer, mit Curry und Kardamom verfeinerter Hausmannskost ist. Sevro, der von seinen Töchtern umschwärmt wird, schneidet beim Essen für sie Grimassen. Doch als ein Überschallknall den Himmel erschüttert, springt er auf, sieht nach oben, sagt seinen Kindern, sie sollen bleiben, wo sie sind, und läuft ins Haus. Eine halbe Stunde später taucht er Arm in Arm mit seiner Frau wieder auf. Seine Haare sind zerwühlt, an seiner Jacke fehlen zwei Knöpfe, und er presst eine weiße Serviette auf seine blutige, aufgeplatzte Lippe. Meine alte Freundin Victra, die eine makellose grüne Jacke mit hohem Kragen und eingewobenen Edelsteinen trägt, strahlt mich frech über die Terrasse hinweg an. Sie ist im siebten Monat mit ihrer vierten Tochter schwanger. »Wenn das nicht der leibhaftige Schnitter ist. Entschuldige bitte meine Verspätung.«
Mit ihren langen Beinen überwindet sie die Entfernung in nur drei Schritten.
Ich umarme sie zur Begrüßung. Sie kneift mir so fest in den Hintern, dass ich zusammenzucke. Dann küsst sie Mustang auf den Kopf und gleitet auf einen Stuhl am Kopfende des Tisches. »Hallo, Miesepeter!«, sagt sie zu Electra. Sie wirft einen Blick auf Pax und Baldur, die am entgegengesetzten Ende des Tisches sitzen und verschwörerisch die Köpfe zusammenstecken. Sie erröten, als sie ihren Blick bemerken. »Möchte einer von euch gutaussehenden Jungs Tante Victra ein Glas Saft geben? Sie hatte einen ganz furchtbaren Tag.« Sie schubsen sich gegenseitig weg, um als Erster an die Karaffe zu gelangen. Baldur gewinnt und füllt Victras Glas stolz und ernst bis zum Rand. »Die verdammte Mechanikergewerkschaft streikt schon wieder. Ich habe ganze Docks voll mit Fracht, die bewegt werden muss, doch die kleinen Bastarde haben sich von irgendeinem Vox-Populi-Sprachrohr aufwiegeln lassen. Sie haben aus über der Hälfte meiner Lebensmitteltransporter die Netzteile entfernt und versteckt.«
»Was wollen sie?«, fragt Mustang.
»Dass der Mond verhungert? Abgesehen davon, höhere Löhne, bessere Lebensbedingungen … der übliche Blödsinn. Sie sagen, dass sie sich bei ihrem Lohn das Leben auf Luna nicht leisten können. Auf der Erde ist mehr als genug Platz!«
»Diese ungewaschenen Tagelöhner sind wirklich nie zufrieden«, sagt meine Mutter.
»Dein Sarkasmus entgeht mir nicht, Deanna, aber aus Respekt gegenüber unseren kürzlich heimgekehrten Helden werde ich ihn ignorieren. Ende der Woche wird es noch genug zu diskutieren geben. Außerdem bin ich fast schon eine Heilige. Mutter hätte Graue mobilisiert, die ihnen die undankbaren Schädel einschlagen. Jupiter sei Dank verprügeln die Blechbüchsen immer noch jeden Vox, den sie sehen.«
»Sie haben das Recht, Tarifverhandlungen zu führen«, sagt Mustang und wischt Diana, Sevros jüngster Tochter, etwas Hummus aus dem Gesicht. »Das steht so schwarz auf weiß im Neuen Pakt.«
»Natürlich haben sie das. Gewerkschaften sind das Fundament eines fairen Arbeitsverhältnisses«, murmelt Victra. »Nur darin sind Quicksilver und ich uns einig.«
Mustang lächelt. »Schon besser. Du bist ein Vorbild für die ganze Republik.«
»Du hast Dancer knapp verpasst«, sagt Sevro.
»Deshalb riecht es hier noch nach Selbstgerechtigkeit.« Victra will an ihrem Saft nippen und zuckt überrascht zusammen. Baldur steht immer noch neben ihr und lächelt ein wenig zu leidenschaftlich. »Ach, du bist ja noch hier. Hinfort, Kreatur.« Sie küsst ihre Finger, drückt sie auf Baldurs Wange und schiebt ihn fort. Wie auf Wolken geht er zu meinem neidischen Sohn zurück.
Nach dem Essen gehen die Kinder in die Weinberge, um dort zu spielen, und wir ziehen uns in die hintere Grotte zurück. Ich bin von meiner Familie, der biologischen und der erwählten, umgeben. Zum ersten Mal seit über einem Jahr komme ich zur Ruhe. Meine Frau legt mir die Füße auf den Schoß und befiehlt mir, sie zu massieren.
»Ich glaube, dass Pax in dich verliebt ist, Victra«, sagt Mustang lachend, während ihr Daxo ein Glas Wein eingießt. Die Flasche wirkt in seinen Händen winzig. Er ist größer als ich, und es fällt ihm schwer, auf seinem Stuhl zu sitzen. Er tritt mich immer wieder versehentlich unter dem Tisch. Kieran und seine Frau Dio sitzen händchenhaltend auf einer Bank am Feuer. Als ich jünger war, dachte ich oft, dass sie meiner Frau Eo sehr ähnlich sähe. Doch mit der Zeit hat sich der Schatten von Eos Gesicht aufgelöst, und ich sehe nun nur noch die Frau, die mein Bruder ins Zentrum seines Lebens gerückt hat. Sie macht plötzlich einen Satz nach vorn, um der Wolke aus Funken zu entgehen, die aufsteigt, als Niobe noch einen Holzscheit ins Feuer wirft. Thraxa sitzt in einer Ecke und zündet sich einen Burner an.
»Pax hätte sich ein schlechteres Idol als seine Patentante aussuchen können«, sagt Victra und wirft einen Blick auf ihren Mann, der sich mit einem Splitter, den er draußen aus dem Holztisch gezogen hat, in den Zähnen herumstochert. Sie tritt ihn. »Das ist grotesk. Hör auf.«
»Tut mir leid.«
»Aber du hörst nicht auf.«
»Da steckt irgendwo Knorpel, Schatz.« Er tut so, als wolle er den Splitter wegwerfen, macht aber weiter. »Hab ihn«, sagt er düster. Anstatt den Knorpel wegzuwerfen, zerkaut er ihn und schluckt ihn herunter. »Rind.«
»Rind?« Mustang wirft einen Blick zurück zum Tisch. »Wir hatten Hühnchen und Lamm.«
Sevro runzelt die Stirn. »Komisch. Kieran, wann hatten wir das letzte Mal Rind?«
»Beim Heuleressen vor drei Tagen.« Rund um den Tisch werden Nasen gerümpft.
Sevro lacht leise. »Dann war es ja gut abgehangen.«
Daxo schüttelt den Kopf und zeichnet weiter Engel für Diana. Sie sitzt auf seinem Schoß und sieht ihm bewundernd zu. Er stellt sich mit einem Razor nicht blöd an, aber wenn er einen Stift in die Hand nimmt, wird er zum Künstler. Victra wirft Mustang über den Rand ihres Saftglases hinweg einen hilflosen Blick zu. Ihr Mann bringt sie um den Verstand. »Das ist der Beweis, dass Liebe blind ist.«
»Mickey kann das Gesicht ändern, wenn du keine Lust mehr hast, es anzusehen«, sage ich.
»Viel Glück. Dazu müsstest du den dekadenten Wicht von seinem Labor loseisen«, sagt Daxo. Der glatzköpfige Mann betrachtet den grausam mit Stacheldraht umwickelten Dreizack, den Diana seinem gezeichneten Engel hinzugefügt hat. »Ganz zu schweigen von seinen Anhängern. Letzten September ist er mit einer interessanten Menagerie in der Oper aufgetaucht. Als hätte man ein Gemälde von Hieronymus Bosch zum Leben erweckt. Es war sogar eine Schauspielerin dabei. Kannst du dir das vorstellen?« Er sieht Mustang an. »Dein Vater hätte seine eigene Wange zerkaut, wenn er Niedere Farben im Elorianischen Opernhaus gesehen hätte.«
»Da ist er nicht der Einzige«, sagt Victra. »Es gibt zu viele Neureiche heutzutage. Quicksilvers Freunde.« Sie erschaudert.
»Na ja, mit Geld kann man aber keine Kultur kaufen, oder?«, erwidert Daxo.
»So ist es, mein Lieber. So ist es.«
Als der Abend voranschreitet, streckt der langsame Sonnenuntergang seine orangefarbenen Finger durch die Bäume aus. Die Verspannung fließt aus meinen Schultern und ich versinke in meinem Glas, während ich den Unterhaltungen und Scherzen meiner Freunde zuhöre. Kleine blaue Käfer flackern und stechen mit Lanzen aus Licht nach der spätsommerlichen Dämmerung. Die Bäume hinter der Terrasse rauschen, und ich höre die Rufe der Kinder, die irgendwo auf dem Anwesen ihre nächtlichen Spiele spielen. Die gnadenlosen Sandmeere des Merkurs scheinen weit weg zu sein. Der Gestank des Krieges hat sich so tief in mein Bewusstsein zurückgezogen, dass ich mich an ihn nur noch so vage erinnere wie an einen halb vergessenen Traum.
So sollte das Leben sein.
Dieser Friede. Dieses Gelächter.