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Pierce Brown, der mit Red Rising: Tag der Entscheidung auf Platz eins der Bestsellerlisten landete, kehrt mit dieser aufregenden Fortsetzung von Asche zu Asche in das Red Rising-Universum zurück. Zehn Jahre lang war Darrow das Gesicht der Revolution gegen die farbenbasierte Weltengesellschaft. Nun ist er von der Republik, die er selbst gegründet hat, zum Gesetzlosen erklärt worden und führt auf eigene Faust Krieg auf dem Merkur, um Eos Traum doch noch zu verwirklichen. Doch ist er, der überall Tod und Verwüstung hinterlässt, wirklich noch der Held, der einst die Ketten sprengte? Oder wird sich eine neue Legende erheben und seinen Platz einnehmen? Wegen des Umfangs wird das neue Red-Rising-Abenteuer in zwei Bänden veröffentlicht. Teil zwei erscheint im Juni 2020.
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Seitenzahl: 704
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PIERCE BROWN
DAS DUNKLE ZEITALTER
TEIL EINS
ROMAN
Aus dem Amerikanischenvon Claudia Kern
Die deutsche Ausgabe von RED RISING: DAS DUNKLE ZEITALTER – TEIL EINS
wird herausgegeben von Cross Cult, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg.
Herausgeber: Andreas Mergenthaler; Übersetzung: Claudia Kern; verantwortlicher Redakteur
und Lektorat: Markus Rohde; Lektorat: Kerstin Feuersänger; Korrektorat: Peter Schild;
Satz: Rowan Rüster; Print-Ausgabe gedruckt von CPI Moravia Books s.r.o.,
CZ-69123 Pohořelice. Printed in the EU.
Titel der Originalausgabe:
DARK AGE, a RED RISING novel
Copyright © Pierce Brown 2019. All rights reserved.
Map copyright 2019 by Joel Daniel Phillips
Buch-Design Originalausgabe: Caroline Cunningham
German translation copyright © 2020 Cross Cult.
Print ISBN 978-3-96658-035-9 (April 2020)
E-Book ISBN 978-3-96658-036-6 (April 2020)
Hörbuch erschienen beim Ronin Hörverlag
RED RISING: DAS DUNKLE ZEITALTER – TEIL ZWEI erscheint im Juni 2020
WWW.CROSS-CULT.DE
Für Lily
Dramatis Personae
Das Oberhaupt
Prolog
Darrow
TEIL I Gräuel
1 Darrow
2 Lysander
3 Darrow
4 Lysander
5 Darrow
6 Lysander
7 Darrow
8 Lysander
9 Darrow
10 Lysander
11 Darrow
12 Lysander
13 Darrow
14 Lysander
15 Darrow
16 Lysander
17 Darrow
TEIL II Handwerk
18 Virginia
19 Virginia
20 Virginia
21 Ephraim
22 Ephraim
23 Ephraim
24 Ephraim
25 Virginia
26 Virginia
27 Virginia
28 Ephraim
29 Virginia
30 Virginia
31 Virginia
32 Darrow
33 Darrow
34 Lysander
35 Darrow
36 Lyria
37 Ephraim
38 Lysander
39 LYSANDER
40 Ephraim
41 Ephraim
Darrow von Lykos / Der Schnitter – ehemaliger Erzimperator der Sonnenrepublik, Virginias Ehemann, ein Roter
Virginia au Augustus / Mustang – herrschendes Oberhaupt der Sonnenrepublik, Darrows Ehefrau, Primus von Haus Augustus, Schwester des Mars-Schakals, eine Goldene
Pax – Sohn von Darrow und Virginia, ein Goldener
Kieran von Lykos – Darrows Bruder, Heuler, ein Roter
Rhonna – Darrows Nichte, Kierans Tochter, Lanzenreiter, Welpe Zwei, eine Rote
Deanna – Darrows Mutter, eine Rote
Sevro au Barca / Der Kobold – Imperator der Republik, Victras Ehemann, Heuler, ein Goldener
Victra au Barca – Sevros Ehefrau, geborene Victra au Julii, eine Goldene
Electra au Barca – Tochter von Sevro und Victra, eine Goldene
Dancer / Senator O’Faran – Senator, ehemaliger Leutnant der Söhne des Ares, Deannas Ehemann, Tribun des Roten Blocks, ein Roter
Kavax au Telemanus – Primus von Haus Telemanus, Klient von Haus Augustus, ein Goldener
Niobe au Telemanus – Kavax’ Frau, Klientin von Haus Augustus, eine Goldene
Daxo au Telemanus – Erbe von Haus Telemanus, Sohn von Kavax und Niobe, Senator, Tribun des Goldenen Blocks, ein Goldener
Thraxa au Telemanus – Prätor der Freien Legionen, Tochter von Kavax und Niobe, Heuler, eine Goldene
Alexandar au Arcos – ältester Enkel von Lorn au Arcos, Erbe von Haus Arcos, verbündet mit Haus Augustus, Lanzenreiter, Welpe Eins, ein Goldener
Cadus Harnassus – Imperator der Republik, Vizekommandant der Freien Legionen, ein Oranger
Orion xe Aquarii – Navarch der Republik, Imperator der Weißen Flotte, eine Blaue
Colloway xe Char – Pilot mit den meisten Abschüssen in der ganzen Republik-Flotte, Heuler, ein Blauer
Glirastes der Meistermacher – Architekt und Erfinder, ein Oranger
Holiday ti Nakamura – Dux von Virginias Löwenwache, Triggs Schwester, Klientin von Haus Augustus, Zenturio der Pegasus-Legion, eine Graue
Quicksilver / Regulius ag Sun – reichster Mann der Republik, Chef von Sun Industries, ein Silberner
Publius cu Caraval – Tribun des Kupferblocks, Senator, ein Kupferner
Theodora – Anführerin der Splitteragenten, Klientin von Haus Augustus, eine Pinke
Zan – nach Darrows Amtsenthebung Erzimperatorin der Republik, Kommandantin der Verteidigungsflotte von Luna, eine Blaue
Clown – Heuler, Klient von Haus Barca, ein Goldener
Pebble – Heulerin, Klientin von Haus Barca, eine Goldene
Min-Min – Heulerin, Scharfschützin und Waffenexpertin, Klientin von Haus Barca, eine Rote
Screwface – Heuler, Klient von Haus Augustus, ein Goldener
Marbles – Heuler, Hacker, ein Grüner
Tongueless – war Gefangener in Deepgrave, ein Obsidianer
Felix au Daan – Darrows Leibwächter, Klient von Haus Augustus, ein Goldener
Atalantia au Grimmus – Diktatorin der Weltengesellschaft, Tochter von Magnus au Grimmus, dem Herrn der Asche, Ajas und Moiras Schwester, ehemalige Klientin von Haus Lune, eine Goldene
Lysander au Lune – Enkel des ehemaligen Oberhaupts Octavia, Erbe von Haus Lune, ehemaliger Patron von Haus Grimmus, ein Goldener
Atlas au Raa / Der Ritter der Furcht – Bruder von Romulus au Raa, Legat der Null-Legion (»die Gorgonen«), ehemaliges Mündel von Haus Lune, Klient von Haus Grimmus, ein Goldener
Ajax / Der Ritter des Sturms – Sohn von Aja au Grimmus und Atlas au Raa, Erbe von Haus Grimmus, Legat der Eisenleoparden, ein Goldener
Kalindora au San / Die Ritterin der Liebe – olympische Ritterin, Alexandar au Arcos’ Tante, Klientin von Haus Grimmus, eine Goldene
Julia au Bellona – Cassius’ entfremdete Mutter und Darrows Feindin, Primus der Überreste von Haus Bellona, eine Goldene
Scorpio au Votum – Primus von Haus Votum (den Metallschürfmagnaten und Erbauern des Merkur), ein Goldener
Cicero au Votum – Erbe von Haus Votum, Scorpios Sohn, Legat der Skorpionlegion, ein Goldener
Asmodeus au Carthii – Primus von Haus Carthii (den Schiffsbauern der Venus), ein Goldener
Rhone ti Flavinius – lunesischer Subprätor, ehemaliger stellvertretender Kommandant der XIII Dragoner-Prätorianerwache unter Aja, ein Grauer
Seneca au Cern – Dux von Ajax, Zenturio der Eisenleoparden, ein Goldener
Magnus au Grimmus / Der Herr der Asche – Octavia au Lunes ehemaliger Erzimperator, der Verbrenner von Rhea, ein Goldener, der von den Heulern und Apollonius au Valii-Rath getötet wurde
Octavia au Lune – ehemaliges Oberhaupt der Weltengesellschaft, Lysanders Großmutter, eine Goldene, wurde von Darrow getötet
Aja au Grimmus – Tochter von Magnus au Grimmus, des Herrn der Asche, eine Goldene, wurde von Sevro getötet
Moira au Grimmus – Tochter von Magnus au Grimmus, des Herrn der Asche, wurde von Ragnar getötet
Dido au Raa – Co-Konsul des Randzonenreichs, Ehefrau von Romulus au Raa, dem ehemaligen Oberhaupt des Randzonenreichs, geborene Dido au Saud, eine Goldene
Diomedes au Raa / Der Ritter des Sturms – Sohn von Romulus und Dido, Taxiarchos der Blitzphalanx, ein Goldener
Seraphina au Raa – Tochter von Romulus und Dido, Lochagos der Elften Staubläufer, eine Goldene
Helios au Lux – zusammen mit Dido Co-Konsul des Randzonenreichs
Romulus au Raa / Der Herr des Staubs – ehemaliger Primus von Haus Raa, ehemaliges Oberhaupt des Randzonenreichs, ein Goldener, starb durch rituellen Selbstmord
Sefi die Stille – Königin der Obsidianen, Anführerin der Walküren, Ragnar Volarus’ Schwester, eine Obsidiane
Valdir der Ungeschorene – Kriegsherr und Sefis königlicher Geliebter, ein Obsidianer
Ozgard – Schamane der Feuerknochen, ein Obsidianer
Freihild – Geistkriegerin der Skuggi, eine Obsidiane
Gudkind – Geistkrieger der Skuggi, ein Obsidianer
Xenophon – Sefis Berater, ein Weißer Logos
Ragnar Volarus – ehemaliger Anführer der Obsidianen, Heuler, ein Obsidianer, wurde von Aja getötet
Ephraim ti Horn – Freiberufler, ehemaliges Mitglied der Söhne des Ares, Trigg ti Nakamuras Ehemann, ein Grauer
Volga Fjorgan – Freiberuflerin, Ephraims Kollegin, eine Obsidiane
Apollonius au Valii-Rath / Der Minotaurus – Erbe von Haus Valii-Rath, wortreich, ein Goldener
Der Fürst der Hände – Syndikatsagent, Meisterdieb, ein Pinker
Lyria von Lagalos – Gamma vom Mars, Klientin von Haus Telemanus, eine Rote
Liam – Lyrias Neffe, Klient von Haus Telemanus, ein Roter
Harmony – Anführerin der Roten Hand, ehemals Leutnant bei den Söhnen des Ares, eine Rote
Pytha – Pilotin, Begleiterin von Cassius und Lysander, eine Blaue
Die Erscheinung – Freiberufler, ein Brauner
Fitchner au Barca / Ares – ehemaliger Anführer der Söhne des Ares, ein Goldener, wurde von Cassius au Bellona getötet
»Bürger der Sonnenrepublik, hier spricht Ihr Oberhaupt.«
Ich starre halb blind auf das Exekutionskommando der Kameras mit ihren Fliegenaugen. Auf dem riesigen Monitor hinter meiner Bühne schweben Kampfstationen und Kriegsschiffe über der Atmosphäre von Luna.
Acht Milliarden Augen beobachten mich.
»Am Abend des letzten Freitags, am dritten Tag des Mensis Martius, erhielt ich einen Bericht über eine groß angelegte militärische Operation der Weltengesellschaft, die sich anscheinend im Orbit des Merkur abspielt. Dies ist die größte Ansammlung von Kriegsmaterial und Truppen, die wir seit der Schlacht um den Mars vor fünf langen Jahren gesehen haben.
Wir sind für diese Krise verantwortlich. Die falschen Versprechungen, die uns über einen gegnerischen Generalbevollmächtigten gemacht wurden, haben uns eingelullt und unsere Entschlossenheit geschwächt. Sie haben uns dazu gebracht, an das Gute in unserem Feind zu glauben, und daran, dass es möglich wäre, mit Tyrannen Frieden zu schließen.
Diese Lüge, so verführerisch sie auch war, hat sich nun als ein tückischer politischer Schachzug erwiesen, der von der gerade ernannten Diktatorin der restlichen Weltengesellschaft – Atalantia au Grimmus, Tochter des Herrn der Asche – erdacht, umgesetzt und ausgeführt wurde. Wir ließen uns in ihren Bann ziehen und glaubten, man könne Kompromisse mit den Befürwortern der Tyrannei eingehen. Wir wandten uns von unserem größten General ab, dem Schwert, das die Ketten der Knechtschaft durchschlagen hat, und verlangten von ihm, einen Frieden zu akzeptieren, den er als Lüge durchschaute.
Als er das nicht tat, schrien wir: Verräter! Tyrann! Kriegstreiber! Aus Angst vor ihm zogen wir die Heimatschutztruppen aus der Weißen Flotte über dem Merkur ab. Wir nahmen Admiral Aquarii die Hälfte ihrer Kampfkraft und ließen sie geschwächt und angreifbar zurück. Nun treiben die Trümmer ihrer Flotte, der Flotte, die unser aller Heimat befreit hat, im All. Zweihundert Ihrer Kriegsschiffe sind zerstört worden. Tausende Ihrer Matrosen sind gefallen. Millionen Ihrer Brüder und Schwestern sind auf einer feindseligen Welt gestrandet. Trillionen Ihres Wohlstands sind vernichtet worden. Nicht wegen überlegener gegnerischer Waffen, sondern wegen der Zankerei in Ihrem Senat.
In den letzten Monaten wurde in den Sälen des Neuen Forums, auf den Straßen Hyperions und von den Nachrichtensendern unserer Republik oft gefordert, dass wir uns von diesen Söhnen und Töchtern der Freiheit, diesen Freien Legionen abwenden sollten. Ich habe selbst gehört, wie man sie öffentlich und ohne Scheu als »die Verlorenen Legionen« bezeichnete. Sie haben sie abgeschrieben und das trotz des Muts, den sie aufgebracht haben, trotz der Ausdauer, die sie bewiesen haben, trotz der Schrecken, die sie für Sie erlitten haben. Abgeschrieben, weil wir befürchten, dass eine Invasion unserer Heimatwelten drohen könnte, wenn wir uns von unseren Schiffen trennen. Weil wir befürchten, noch einmal das Eisen der Weltengesellschaft an unseren Himmeln zu sehen. Weil wir befürchten, wir könnten den Komfort und die Freiheit verlieren, die uns die Männer und Frauen der Freien Legionen mit ihrem Blut erkauft haben …
Ich werde Ihnen sagen, was ich befürchte. Ich befürchte, dass unsere Träume mit der Zeit verwässert worden sind! Ich befürchte, dass wir so bequem geworden sind, dass wir Freiheit für selbstverständlich halten!« Ich beuge mich vor. »Ich befürchte, dass unsere schwächelnde Entschlossenheit, das Gezänk und die Verleumdungen, in denen wir uns auf solch dekadente Weise suhlen, uns des einheitlichen Willens berauben werden, der diese Welt nach vorn gebracht und verbessert hat, der es uns zum ersten Mal seit einem Jahrtausend erlaubt hat, eine Bastion der Freiheit und Gerechtigkeit zu errichten.
Ich befürchte, dass diese Uneinigkeit uns in diese schreckliche Epoche zurückziehen wird, aus der wir entkommen sind, und dass dieses neue dunkle Zeitalter dank der Tücke, die wir in unserem Feind hervorgebracht haben, grausamer, böser und langwieriger als das letzte sein wird.
Ich rufe Sie, die Bürger dieser Republik, zur Einigkeit auf. Flehen Sie Ihre Senatoren an, sich der Furcht zu verweigern. Nicht in Eigennutz zu erstarren. Nicht zitternd der Urangst vor einer Invasion nachzugeben. Sorgen Sie dafür, dass Ihre Senatoren sich nicht Ihren Reichtum aneignen und sich nicht hinter Ihren Kriegsschiffen verstecken, sondern die Racheengel in ihrem Geist hervorbringen und die Macht der Republik nutzen, um die Maschinen der Tyrannei und der Unterdrückung aus dem Himmel des Merkur zu schleudern und unsere Freien Legionen zu retten.«
In diesem Moment steigen Geschosse, die mit Tarnpolymer von Sun Industries ummantelt sind, dreihundertvierundachtzigtausend Kilometer von meinem Herzen entfernt, vom eigensinnigen Kontinent Südpazifika auf und rasen mit einer Geschwindigkeit von dreihundertzwanzigtausend Stundenkilometern durch die Leere auf den Merkur zu. An Bord haben sie nicht den Tod, sondern Ausrüstung, Strahlenmedikamente, Kriegsmaschinen und, sollte mein Gatte noch am Leben sein, eine hoffnungsvolle Botschaft.
Wir haben euch nicht vergessen. Ich werde dich holen.
Halte bis dahin durch, mein Geliebter. Halte durch.
Ein Friedhof aus Republik-Kriegsschiffen treibt im Schatten des Merkur.
Von der siegreichen Weißen Flotte, die Luna, Erde und Mars befreit hat, sind nur verbogene Splitter und geschwärzte Höhlen geblieben. Die gebrochenen Schiffe, die von der mächtigen Asche-Armada zerschlagen wurden, drehen sich im Orbit eines Planeten, den sie nur Monate zuvor befreit haben. Die marsianischen Matrosen und Legionäre, die Eos Traum treu geblieben waren, drängen sich dort nicht mehr. Die kalten Hallen sind schutzlos dem Vakuum ausgeliefert und werden nur noch von den Toten bewohnt.
Der Herr der Asche verhöhnt uns ein letztes Mal, und seine Erbin feiert ihr Debüt.
Während ich den alten Kriegsherrn in seinem Bett auf der Venus zusammen mit Apollonius und Sevro verbrannte, trat seine Tochter Atalantia aus den Schatten und übernahm sein Amt als Diktator. Heimlich zog sie einen Großteil ihrer Armada von der Venus ab und benutzte die sensorstörende Strahlung der Sonne, um die Weiße Flotte in der Umlaufbahn des Merkur zu überfallen.
Orion, meine Flottenkommandantin und die beste Schiffsstrategin der Republik, ahnte nichts. Es war ein Massaker, und als ich drei Wochen später eintraf, konnte ich es nicht mehr verhindern. Die verzweifelten Notrufe meiner Freunde quälten mich, als ich die Leere durchquerte, mich immer weiter von meiner Frau und meinem Sohn entfernte und mich dem Chaos näherte.
Die Weiße Flotte gibt es zwar nicht mehr, aber die Freien Legionen, die sie zum Merkur gebracht hat, leben noch. Bald werde ich mich ihnen auf der Planetenoberfläche anschließen, aber zuerst muss ich etwas erledigen.
Das wäre einfacher mit Sevro. Alles Gewalttätige ist einfacher mit ihm.
Mein Atem rasselt in einem vakuumsicheren Anzug, als ich den Friedhof durchquere. Meine Magnetstiefel landen lautlos auf dem gebrochenen Rückgrat eines Republik-Schlachtkreuzers, und ich werfe durch einen langen Riss im Rumpf einen Blick ins Schiff, um nachzusehen, wie mein Lanzenreiter vorankommt. Die Rumpfwunde ist dreißig Decks tief. Treibgut schwebt in der Dunkelheit – Metallstücke, Matratzen, Kaffeetassen, gefrorene Tropfen Maschinenöl und einige Körperteile. Keine Spur von Alexandar.
Die steife Leiche eines Matrosen, der einen Mechaniker-Overall trägt, treibt mit den Füßen voran nach oben. Die Hitze eines Partikelstrahls hat seine Beine zu einem krummen Stumpf verschmelzen lassen. Sein Mund verharrt in einem stummen Schrei, als wolle der Matrose fragen: »Wo warst du, als der Feind kam? Wo war der Schnitter, dem zu folgen ich geschworen hatte?«
Er wurde von seinen Feinden, seinen Verbündeten, von sich selbst verraten.
Während der Republikssenat sich vormachte, man könne Frieden mit faschistischen Kriegsherren schließen, tat ich so, als würde der Tod des Herrn der Asche den Krieg in unserem Zeitalter beenden. Ich tat so, als sei dies der Schlüssel zu einer Zukunft, in der ich den Schlagsäbel niederlegen und zu meinem Kind und meiner Frau zurückkehren könnte, um ihnen ein Vater und ein Ehemann zu sein. Meine Verzweiflung brachte mich dazu, an diese Lüge zu glauben. Die Naivität der Senatoren brachte sie dazu, an Atalantias zu glauben. Aber jetzt erkenne ich die Wahrheit.
Krieg ist unser Zeitalter. Sevro glaubte, er könnte ihm entkommen. Ich glaubte, ich könnte ihn beenden. Aber unsere Feinde sind wie die Hydra. Wenn man einen Kopf abschlägt, wachsen zwei nach. Sie werden keinen Frieden schließen. Sie werden sich nicht ergeben. Wir müssen ihnen das Herz herausschneiden und ihren Kampfeswillen zu feinem Staub zermahlen.
Erst dann wird Frieden herrschen.
Lichter flackern in dem Abgrund unter meinen Füßen. Einige Minuten später schwebt ein Goldener, der einen Raumanzug trägt, zu mir herauf und stellt sich neben mich auf den Rumpf. Aus Angst vor feindlichen Sensoren drückt er sein Helmvisier gegen meines und benutzt es als Schallträger.
»Der Reaktor ist bereit für die Nekromantik.«
»Gut gemacht, Alexandar.«
Er nickt stoisch.
Der junge Soldat ist nicht mehr der unreife, unsichere Jugendliche, der vor vier Jahren als Lanzenreiter in meinen Dienst getreten ist. Nach dem Krieg schrumpfen die meisten Menschen. Manche, weil ihnen Fleisch herausgerissen wurde. Manche, weil sie Freunde verloren haben. Manche, weil sie ihre Eigenständigkeit verloren haben. Doch die meisten schrumpfen aus Scham, weil sie herausgefunden haben, wie machtlos sie sind. Weil sie mit Schrecken konfrontiert wurden, die ihre Träume von einem ruhmreichen Schicksal zerfallen ließen. Nur einige wenige Verfluchte genießen den düsteren Nervenkitzel, mit dem sie erkennen, dass sie zum Töten bestimmt sind.
Alexandar ist zum Töten bestimmt. Er hat sich als würdiger Erbe seines Großvaters Lorn au Arcos erwiesen. Und ich frage mich langsam, ob er meine Last erben wird. Er allein war der Damm, der auf dem Turm des Herrn der Asche die Flut zurückwarf, als Thraxa, Sevro und ich in die Knie gegangen waren. Das weckte den Hunger in ihm. Nun will er sich unbedingt an Atalantia für die Ermordung unserer Flotte rächen.
Ich vermisse solch klare Ziele.
Was hatte Lorn noch gesagt? »Die Wut der Alten ist kälter, denn sie allein entscheiden, wie die Jungen verbraucht werden.«
Wie viele muss ich noch verbrauchen? Was ist Alexandars Leben wert? Was ist meins wert? Ich sehe nach rechts, als könne ich dort die Antwort finden. Hinter dem Rumpf des dahintreibenden Schlachtkreuzers pulsiert der östliche Rand des Merkur wie eine geschmolzene Sense.
Der Planet ist kaum größer als Luna, doch aus dieser Nähe betrachtet wirkt er riesig. Der Schatten eines Minensuchers der Weltengesellschaft gleitet über sein Antlitz. Er spürt die atomaren Minen auf, die Orion im Orbit hinterlassen hat, um nach Atalantias Überfall unserer verzweifelten Armee bei ihrem Rückzug Deckung zu verschaffen. Nur wenige Minen sind noch übrig. Sobald sie weg sind, werden nur noch die troposphärischen Schilde, die den begehrten Helios-Kontinent bedecken, den Zorn der Asche-Armada bremsen. Die schwarzen Schiffe streifen hinter dem Friedhof umher, wo die Bodengeschütze der Republik sie nicht erreichen können. Sie warten darauf, dass ein Eiserner Regen meine gestrandete Armee trifft.
Wenn die Schilde fallen, dann fällt auch der Planet.
Zehn Millionen meiner Brüder und Schwestern stehen dann vor der Vernichtung.
Deshalb ist Atalantia hier. Sie will die Weiße Flotte auslöschen. Sie will die Freien Legionen auslöschen. Sie will sich den Merkur mit seinen Metallen und Fabriken sichern, damit die Kriegsmaschinerie der Goldenen auf der Venus antreiben und einen einzigen, unaufhaltsamen Speerstoß ins Herz der Republik vorbereiten.
Ein winziger Laser flackert über den Rumpf zwischen Alexandars Füßen. Ich drücke meinen Helm gegen den seinen. »Sie setzen sich in Bewegung«, sage ich. Sein Blick wird hart. »Wir müssen gehen.«
Wir stoßen uns gleichzeitig vom Rumpf ab und schweben wieder durch den Friedhof. Wir durchqueren ein Meer aus Leichen und zertrümmerten Ripwings und landen zwei Kilometer von dem Schlachtkreuzer entfernt auf dem zerfetzten Rumpf eines toten Fackelschiffs. Wir hüpfen über dessen Oberfläche, bis wir einen dunklen Hangarschacht erreichen. Im Inneren wartet bereits ein schwarzes Shuttle auf uns – die Nekromant, ein Prototyp und das private Tiefraum-Shuttle des Herrn der Asche. Ich habe es aus seiner Festung gestohlen und bin damit von der Venus zum Merkur geflogen. Heute wird es sich seinen Namen verdienen.
»Ameisenbär an Dunkler Tango, empfangen Sie mich?« Die kalte intelligente Stimme des Ritters der Furcht hallt aus den Lautsprechern im Bereitschaftsraum der Nekromant. Die Stimme passt zu ihrem Besitzer. Atlas au Raa, Atalantias effektivster Frontkommandant, ist das genaue Gegenteil seines ehrenvollen Bruders Romulus. Atlas hat sich mit den Guerillakämpfern seiner Null-Legion auf der Oberfläche festgesetzt und sorgt für Chaos hinter unseren Linien. Wegen ihm habe ich auch noch nicht zu meiner Armee vorstoßen können. Sie weiß nicht einmal, dass ich hier bin. Aber der Feind ebenfalls nicht.
Als ich vor drei Wochen am Merkur eintraf, hatte die Asche-Armada den Planeten bereits abgeriegelt. Zum Glück ist die Tarnvorrichtung der Nekromant die höchstentwickelte der ganzen Weltengesellschaftsarmada, und so konnten wir uns beim Anflug im Trümmerfeld verbergen.
In unserem Versteck auf dem Friedhof kann ich mit der Entschlüsselungssoftware der Nekromant die Korrespondenz des Ritters der Furcht belauschen. Wenn er von seinen Gräueltaten, Pfählungen und Verstümmelungen berichtet, klingt er so abgeklärt wie ein Arzt, der einem Patienten Medikamente verabreicht. Heute spricht er jedoch über etwas anderes.
»Dunkler Tango hört, sprechen Sie, Ameisenbär.« Die dünne Stimme eines Kupfernen antwortet an Atalantias Stelle. Irgendein boshafter Black-Ops-Leiter auf der Annihilo.
»Sklave Zwei ist verpackt und kann verschickt werden«, sagt Atlas lang gezogen. »Blutmedusa bereit. Die Tanzfläche sieht ziemlich voll aus, bestätigen Sie Landung der Eskorte und Überwachung durch Aufsichtsperson.«
»Landung bestätigt. Eskorte: Liebe, Tod und Sturm zwanzig vor Ankunft. Handschlag in vierzig Minuten. Aufsichtsperson bereit. Erbitte Handschlagsbestätigung der Eskorte. Versand erfolgt auf Ihren Befehl.«
»Verstanden. Werde Handschlag bestätigen. Ameisenbär Ende.«
Das Gespräch endet mit einem Klicken.
Sklave Zwei, so nennen sie meine Freundin. Seit Sevro und ich Orions Schiff bei unserer Flucht von Luna gekapert haben, ist die Blaue meine Vertraute, meine treue Verbündete, meine Wunderwaffe gegen die unglaublich fortschrittlichen Flotten-Prätoren der Goldenen. Nun ist sie deren Gefangene.
Sklave Zwei. Diese Arschlöcher.
Orion wurde vor unserer Ankunft vom Ritter der Furcht aus ihrer Basis in Tyche, der Hauptstadt des Merkur, entführt. Ihre Leibgarde wurde abgeschlachtet. Ihre Finger legte man auf ihr Bett, um die Freien Legionen zu verhöhnen.
Der Ritter der Furcht konnte sie zwar nicht in den Orbit bringen, war den Kundschaftern, mit denen meine Kommandanten die Verfolgung aufnahmen, jedoch immer einen Schritt voraus. Ich hörte die Berichte des Bastards, in denen er erzählte, wie er einige von ihnen bei lebendigem Leib häutete und Orion in seinen verborgenen Berglagern folterte. Heute versucht er, sie in den Orbit zu verschiffen, damit Atalantias mysteriöse Psychotechniker sich ihrer bemächtigen können. Sie werden eine neurale Extrahierung vornehmen – eine Wissenschaft, die nur meine Frau so gut wie Atalantia beherrscht. Orion hat sich der Folter zwar widersetzt, aber wenn Atalantia sich durch die Schichten ihres Bewusstseins gräbt, wird sie sehen, wie die Republik ihre planetare Verteidigung strukturiert hat.
Das darf ich nicht zulassen.
»Faschistische Arschlöcher«, murmelt meine Nichte Rhonna und streckt ihre synaptischen Handschuhe in Alexandars Richtung aus.
»Die dummen Roten Bauern haben Orion aufgegeben, nicht die Goldenen«, sagt Alexandar, während er mit seinem Razor einen Kriegsfalken in die kurzen Haare von Thraxa au Telemanus’ riesigem Kopf schneidet. Ich habe den gleichen. Thraxa betrachtet ihn bewundernd in der Spiegelung ihres mit Kerben versehenen Kriegshammers, den sie Kleines Mädchen nennt.
»Der ganze Planet ist ein Arschloch«, erwidert Rhonna. »Vielleicht solltest du dort eine Villa kaufen, Prinzessin.«
Er wirft ihr einen Kussmund zu.
»Atalantia hat wenigstens Stil«, sagt Colloway lang gezogen. Der beste Kampfpilot der Republik verschwendet seine Energie nicht. Er liegt auf einer Kiste voller Impulsrüstungen und raucht einen Burner. Seine schlanken Gliedmaßen hat er ausgestreckt, seine blassblauen Augen betrachten verträumt den sich kräuselnden Rauch. »Erinnert ihr euch noch an Dreadhammer und Lightbane? Jupiter, da hatte der Herr der Asche die Nase vorn. Wenn er das eine Nase nannte. Wahrscheinlich eher Luftverschlinger oder Einatmer von Lebensgas …«
Thraxas Kleines Mädchen knallt auf den Boden und hinterlässt zwei tiefe Dellen.
Alle halten den Mund.
Meine beste Killerin ist scharf auf einen Kampf. Sie hat sich das Gesicht orange angemalt. Ihr oberschenkeldicker Hals ist gestreckt wie der eines Sonnenbluthengstes vor dem Startschuss im Hippodrom. Während ich meine Neigung zur Gewalt wegen eines typisch Roten Schuldgefühls bedauere, suhlt sich diese Goldene vom alten Schlag in dieser Raserei. Thraxa liebt nicht den Ruhm wie einst Cassius, sie sehnt sich nicht nach einem ehrenhaften Kampf wie Alexandar oder nach einer befreienden Rache wie Sevro. Sie genießt die primitive Essenz einer Schlacht. Thraxa blüht nach dreißig Tagen an der Front auf, wenn sie mit Sattelwunden übersät und schweißbedeckt ist und Menschen jagt, die noch nie zuvor Beute gewesen sind.
»Ich bringe gerne Leute um, die ich nicht mag«, sagte sie einmal, als Pax sie fragte, weshalb sie mir folgt. »Und dein Daddy zieht sie an wie Fliegen.«
Ich betrachte die mageren Überreste meiner Truppe. Abgesehen von Colloway tragen alle den Kriegsfalken, der durch Sevro berühmt geworden ist. Alexandar, Colloway und Thraxa sind bereit. Rhonna und Tongueless auch? Der alte Obsidiane sitzt im Schneidersitz auf dem Boden.
Vom Gefängniswärter zum Gefangenen zum unerwarteten Helfer – Tongueless hat auf der Insel des Herrn der Asche bewiesen, dass man auf ihn zählen kann. Er ist ein wahrer Republikpatriot, aber ich befürchte, dass er auf das, was uns bevorsteht, nicht vorbereitet ist. Ich befürchte, dass wir alle das nicht sind. Ohne Sefis Gefährten Valdir und seine Obsidianen, ohne Sevro, Victra, Pebble, Clown und Holiday fühlt sich die Truppe kleiner an, als sie sollte. Mir fehlen meine besten Waffen und Freunde.
»Der Feind hat sich in Bewegung gesetzt«, sage ich. »Der Ritter der Furcht wird innerhalb der nächsten Stunde versuchen, Orion an die Annihilo auszuliefern. Wenn wir sie retten können, werden wir das tun. Wenn nicht, eliminieren wir sie. Sie dürfen dieses Wissen nicht bekommen.« Ich sehe jedem in die Augen, um ihre Bereitschaft dazu ablesen zu können. »Ihr kennt den Plan. Ihr alle dürft töten. Vergesst nicht, weshalb wir hier sind. Unsere Mission ist nicht die eigene Rettung, sondern der Schutz der Republik und das um jeden Preis.«
Sie nicken, aber ich frage mich, ob sie begreifen, dass ich von ihnen erwarte, alles diesem Ziel unterzuordnen. Einige werden sich von ihrem Gewissen dazu hinreißen lassen, sich anderen, höheren Zielen zu verschreiben.
Ich brauche einen Kern, auf den ich zählen kann.
»Unsere Informationen lassen darauf schließen, dass wir mindestens drei Olympischen Rittern und Gorgonen-Agenten begegnen werden.« Die Gorgonen stellen die Black-Ops-Legion des Ritters der Furcht dar. Sie setzt sich aus Beschämten Goldenen aus den Instituten sowie Grauen und Obsidianen zusammen, die aufgrund ihrer antisozialen Tendenzen der Moral der regulären Legionen schaden könnten. »Niemand wird sich ohne mich einem Olympischen stellen.«
»Wird Furcht selbst dort sein?«, fragt Thraxa.
»Er heißt Atlas«, erwidere ich. »Das wäre möglich, aber ich bezweifle, dass Atalantia vor ihrem Regen auf ihren besten Soldaten auf dem Planeten verzichten wird. Aber sie schickt Ajax.«
Alexandar und Thraxa spannen sich an.
»Hat Screwface das bestätigt?«, fragt Rhonna.
»Screwface schweigt immer noch«, sage ich. Sie senkt den Blick, weil sie befürchtet, dass er tot ist. Das ist wahrscheinlich, da unser einziger Maulwurf an Bord der Annihilo uns nicht vor Atalantias Überfall gewarnt hat. »Noch Fragen?« Keine. Eine angenehme Abwechslung. »Gut. Auf eure Posten. Holen wir unser Mädchen zurück.«
Rhonna hebt ihren Vakuumsack auf, klatscht Char und Tongueless mit der Faust ab und rutscht die Leiter zum Starshell-Hangar hinunter. Kurz empfinde ich Schuldgefühle. Ich habe meinem Bruder gesagt, dass ich ihre Sicherheit gewährleisten würde. Wenn wir nicht so unterbesetzt wären, könnte ich so tun, als würde sie auf der Nekromant gebraucht. Aber für Orion muss ich selbst meine Nichte riskieren, vor allem, weil ihre Funktion heute wichtiger als meine eigene sein könnte.
Ich halte Alexandar am Arm fest, als die anderen den Raum verlassen, und zeige auf Thraxas Farbstempel. Ich bitte ihn, mir die Ehre zu erweisen. »Ich weiß, dass du Kalindora nahe gestanden hast«, sage ich, als er das Gerät hochhebt. Er nickt, als ich die Ritterin der Liebe erwähne, die jüngere Schwester seiner Mutter.
Er scrollt sich durch die Optionen des Farbstempels. »Sie hat jeden Sommer bei uns in Elysium verbracht und Großvater immer angefleht, mit ihr zu trainieren. Aber sie war die beste Freundin von Atalantia und Anastasia. Er wollte Octavia nicht noch eine Waffe in die Hand geben.« Alexandar sieht auf. »Als er das Haus nach Europa brachte, entschied sie sich gegen die Familie und für ihr Oberhaupt. Sie ist nicht von meinem Blut.« Er richtet die Farbpistole auf mein Gesicht. »Was soll es denn sein? Koboldschwarz, Walkürenblau, Minotauruslila, Juliitürkis …«
»Blutrot.«
Wieder in der Startröhre.
Warten auf das Töten.
Ich hasse diesen Teil.
Ein aktiver Verstand bekommt stets Nahrung. Wenn meiner ruht, frisst er sich selbst auf.
Wie oft bin ich schon hier gewesen? Eingeschlossen in diese Gebärmutter aus Metall, nicht um geboren zu werden, sondern um die Lebenden zu fressen? Die Enge erfüllt mich mit Angst. Nicht vor dem, was vor mir liegt – auf dieses Spiel kann man sich nicht vorbereiten –, sondern davor, dass dies bis in die Ewigkeit mein Sarg sein wird.
Dazu verflucht, ein Leben lang zu töten. Werde ich immer so sein?
Sehne ich mich nach diesem Leben? Mich vor dem Sonnenaufgang zu erheben? Über die Schwanz- und Furzwitze von Killern zu lächeln, die jedes Mal jünger sind, während ich älter werde? In den Ruinen von Städten unter Panzern zu schlafen, umgeben von Leichen?
Ich glaube nicht mehr an das Tal. Ich bin ein wandelnder Toter.
Wehe denen, die in meinen Schatten geraten.
Ich vermisse die Hoffnung auf Leben. Den Geruch des Regens. Das Flüstern der Wellen am Strand. Den Lärm eines vollen Hauses. Dieses Leben habe ich gemietet, aber es hat mir nie gehört.
Meine Frau und mein Sohn sind real. Keine Geister in meinem Kopf. Sie sind da draußen und atmen in diesem Moment. Wo bist du, Pax? Ist es dort, wo du entlanggehst, hell? Hast du Angst? Hat deine Mutter dich gefunden? Dein Onkel? Fragst du dich, ob dein Vater zurückkehren wird? Hasst du ihn, weil er dich verlassen hat? Wirst du das jemals verstehen?
Ich habe Teile von ihm und seiner Mutter gestohlen und als Geiseln genommen, als ich versprach, eines Tages zurückzukommen. Ich weiß, dass das gelogen war. Der Merkur wird mein Ende sein.
Ich taste nach seinem Schlüssel und denke nicht daran, dass ich ihn vor drei Wochen zu meinem Gepäck gelegt habe. Meine Gedanken wandern zu seiner Mutter. Im Gegensatz zu Sevro hat Virginia mich nicht der Verletzung der elterlichen Aufsichtspflicht bezichtigt. Sie weiß, welch gegensätzliche Kräfte mein Herz zerreißen. Wie kann ich Pax ein Vater sein, wenn ich die Millionen Menschen im Stich lasse, die mir nach Luna gefolgt sind? Die Verantwortung für viele überwiegt die Verantwortung für einen, selbst wenn dabei etwas in mir zerbricht. Ich fühle mich allein, weil ich weiß, dass Sevro dieses Opfer nicht bringen würde. Bin nur ich davon überzeugt oder habe ich den Verstand verloren?
Meine Frau und ich haben während meiner Reise von der Venus zum Merkur miteinander korrespondiert, bevor ich den Funkverkehr nahe dem Planeten einstellen musste. Alles andere wäre zu gefährlich gewesen. Ich rufe die letzten Worte ihrer letzten Nachricht auf. Ihre Stimme hallt durch meinen Helm. »Vertraue darauf, dass deine Frau unseren Sohn finden wird. Vertraue darauf, dass dein Oberhaupt dir die Armada bringen wird. Vertraue so weit auf mich, dass du überleben kannst.«
Ich vertraue meiner Frau. Meinem Oberhaupt vertraue ich nicht.
Sie wird Pax zusammen mit Victra und Sevro finden. Aber keine Flotte wird meine gestrandete Armee retten. Die meisten haben vergessen, dass die Schlagsäbel meines Volks nicht dazu gedacht waren, Grubenottern zu töten. Sie waren dazu gedacht, festsitzenden Bergleuten die Gliedmaßen abzuschlagen. Mein alter Mentor Dancer hat das nicht vergessen. Er leitet mittlerweile als Senator die Vox-Populi-Bewegung, und er wird uns amputieren, um die Republik zu retten.
Atalantia rechnet damit. Wenn sie die Freien Legionen hier bricht, wenn sie ihre Kriegsmaschinerie mit den Ressourcen des Merkur antreibt, wer wird sich ihr im All noch widersetzen können? Und wer soll sich Atlas und den Kommandanten der Aschelegionen am Boden stellen, wenn sie sich meiner Mutter, meinem Bruder, meiner Schwester, meinem Sohn, meiner Frau, meinen Freunden, meiner Heimat zuwenden?
Ich werde den Merkur nicht überleben. Das weiß ich. Die Freien Legionen werden den Merkur nicht überleben. Aber wir können dafür sorgen, dass Atalantia einen hohen Preis für unseren Tod zahlen muss, einen so hohen, dass er dem Goldenen Militär das Rückgrat bricht und unseren Familien, unserer Republik und unserem zerbrechlichen Traum eine Chance gibt.
Ich verstaue das Gesicht meiner Frau so wie den Schlüssel, den mein Sohn mir für sein Gravbike gab, als ich zum Merkur aufbrach. Dann starre ich das rote Licht an, bis der Funk des Feindes knackt.
»Ameisenbär an Dunkler Tango. Handschlag mit Eskorte bestätigt. Starten in drei, zwei …«
Die Raserei auf dem Planeten beginnt mit einem Funken. Eine einsame Korvette steigt aus einem im Wüstengebirge verborgenen Hangar auf. Eine Eskorte, die aus sechs Gorgonen-Ripwings besteht, folgt ihr im Tiefflug über die Wüste. Ihr Ziel ist das Sycoraxmeer außerhalb der Reichweite der Bodenschilde. Aus dem Orbit über dem Planeten stürzen fünf Schlachtkreuzer, die von Atalantias Annihilo angeführt werden, der westlichen Hemisphäre entgegen.
Über dem Meer tauchen als Reaktion Kondensstreifen der Freien Legionen auf. Atalantias Schlachtkreuzer-Kampftruppe bombardiert einen schmalen Streifen des Planeten, der nicht von Schilden geschützt wird. Bodenkanonen antworten ihnen, und die Republikgeschwader nähern sich der flüchtenden Korvette. Ripwings der Weltengesellschaft stürzen sich aus der Annihilo. Über der westlichen Hemisphäre wird gleich eine verdammt große Party steigen.
Wir werden daran nicht teilnehmen. Und die Olympischen Ritter auch nicht.
Während die Schlacht im Hintergrund tobt, konzentriere ich mich auf Colloway, der die Ladon-Einöde untersucht. »Da ist ein Geist in Ost-Ladon. Muss unser Vogel sein. Eine Korvette der Hermes-Klasse.«
»Warte, bis sie ins Trümmerfeld gelangt.« Wie erwartet zeigt die Korvette kein Interesse an dem Getümmel in der westlichen Hemisphäre. Sie durchdringt die Atmosphäre über der östlichen Hemisphäre und eilt auf den Trümmergürtel zu. »Char, hau rein.«
»Die Ionen machen Bumm.«
Tausend Tonnen erstklassiger Triebwerke und Waffen erwachen in der Höhle des toten Zerstörers zum Leben. Trägheitsdämpfer ächzen, als die Nekromant aus ihrem Versteck schießt.
»Kinn an die Brust«, rufe ich meinen Heulern ins Gedächtnis, als Colloway sich durch den Friedhof schlängelt und sich unserem Ziel nähert. »Ich bin die Speerspitze. Passt euch an meine Geschwindigkeit an. Tötet alle Gegner. Geschwindigkeit ist alles, was wir haben. Wenn wir stehen bleiben, werden wir sterben.« Unser Schiff erbebt, als es mit Trümmern kollidiert. Ich sehe, dass der Funkkanal zwischen Alex und Rhonna aktiv ist. Ich klicke mich dazu.
»Hoffentlich ist dieses Mal ein Wolfsumhang drin«, sagt Alexandar.
»Pah, für uns Welpen doch nicht«, erwidert Rhonna. »Pass auf dich auf, Prinzessin.«
»Du auch, Rostnase.«
Ich klicke mich heraus.
»Ziel in Sicht«, sagt Colloway lang gezogen. »Kneift den Arsch zusammen, es geht los.« Das Schiff dröhnt, als seine Kanonen abgefeuert werden. Man hat uns entdeckt. Das Rennen durch das Trümmerfeld, an dessen Ziellinie die Armada wartet, ist gestartet. Wie drehen uns wie ein Kreisel. Geschosse prallen von uns ab, als die Blutmedusa das Feuer erwidert. Die Sekunden ziehen sich. Jede stellt meine Geduld auf die Probe. Drei Wochen lang habe ich gewartet. Drei Wochen Dunkelheit. Drei Wochen Folter. Drei Wochen bis zu diesem Angriff.
Eine magnetische Ladung baut sich hinter mir auf.
Die Lichter springen auf Grün.
Gelb.
Rot.
Die Schwerkraft begrüßt mich.
Ich rase aus der Startröhre.
Geschwindigkeit und Sonnenlicht und kreisendes Metall. Unsere Beute jagt durch die Trümmer eines Fackelschiffs, während es und die Nekromant sich gegenseitig beschießen. Colloway hängt an ihr wie ein böser Schatten.
Die Signaturen der Heuler gehen in den Trümmern unter. Ich übernehme die Seitenschubdüsen meines Anzugs und richte mich auf die Korvette aus. Ich verlasse mich darauf, dass mein Team mir folgt. Noch fünfhundert Meter. Trümmer rasen an mir vorbei. Tropfen aus gefrorenem Blut und Wasser aus Schiffstanks verschwimmen vor meinen Augen. Die Herzschlagkontrollgeräte meiner Heuler klingen wie Presslufthämmer, als sie versuchen, mich nicht zu verlieren.
»Passt euch an mich an«, sage ich. »Passt euch an.«
Die Medusa versucht so verzweifelt, der Nekromant zu entkommen, dass sie beinahe mit dem Triebwerksblock eines Zerstörers zusammenprallt. Der Pilot schlägt auf die rechten Schubdüsen und biegt scharf nach rechts ab. Er ist verdammt gut. Doch die Menschen im Schiff werden gegen die Wände geworfen, wenn sie nicht angeschnallt sind.
Ich wittere eine Chance.
»Brich durch«, sagte ich, während ich meine Gravstiefel aktiviere und nach vorn springe. Der Rumpf der Medusa wird größer. Ich ziele auf seine Mitte und führe Colloway zum Durchbruchspunkt.
Systematische Wut baut sich in mir auf, während ich mich auf den Kontakt vorbereite.
Atalantia hat geglaubt, dass sie mir meinen Imperator stehlen könnte.
Dass ihr Ritter der Furcht meine Freundin als Spielzeug behalten und foltern könnte.
Dass ich nach Luna fliehen und meine Leute im Stich lassen würde.
Dass sie mir den Sohn stehlen könnte, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen.
Aber hier bin ich, du perverse Schlampe. Hier bin ich, verdammt noch mal.
Da hast du deine scheiß Konsequenzen.
»Fünf Sekunden bis Durchbruch.«
Der Rumpf der Korvette reißt auf, als Colloways Schuss wie durch ein Wunder die richtige Stelle trifft. Sein Projektil versprüht ein molekulares Kollisionsnetz.
Zwei Sekunden.
Eine.
Durchbruch.
Ich stoße in das geschmolzene Loch vor. Das schwarze molekulare Kollisionsnetz dehnt sich aus wie sich rasch vermehrender Schimmel.
Ich krache in das Netz. Meine Zähne beißen sich durch den Mundschutz. Meine Organe schmerzen. Das Netz hat die Kollision abgefangen, wird aber rasch zum Problem, so wie Alexandar befürchtet hatte. Es versiegelt das Leck, und ich hänge kopfüber darin. Ich kann den Auflösungswirkstoff, der sich am Oberschenkel meiner Impulsrüstung befindet, nicht erreichen.
Als sich das Netz weiter ausbreitet, sehe ich nur noch Schwärze. Maskierte Feinde, die zerrissene Wüstentarnkleidung tragen, kriechen hindurch. Eben noch wurden die Gorgonen durch das Leck ins All gerissen. Nun hängen sie fest wie ich. Ich kann den Razor an meinem Handgelenk nicht erreichen. Weniger als einen halben Meter entfernt richtet ein sonnenverbrannter Obsidianer mit silbrigen Wüstenaugen eine Pistole auf meinen Kopf. Ich stoße den Lauf zur Seite und bohre meine durch das Netz verlangsamte linke Hand in seinen Bauch, bis das Fleisch nachgibt. Er schreit, als ich unter seine Rippen greife und seine Leber zerquetsche.
»Meldung«, belle ich.
»Heuler Drei«, sagt Thraxa. »Feindkontakt, versprühe Gegenwirkstoff.«
»Welpe Zwei. Landung«, sagt Rhonna. »Warte auf Befehl zum Bohren.«
»Welpe Eins? Tongueless?« Ich höre nur Rauschen.
Das Kollisionsnetz blubbert. Thraxa hat den Gegenwirkstoff versprüht. Das Netz löst sich auf und wird zu einer schwarzen Suppe, die zischend auf das Deck tropft. Dampfschwaden steigen auf. Meine nun befreite Rüstung kracht auf den Boden, meine Hand steckt immer noch in dem schreienden Sklavenritter. Ich ziehe den Razor und vergrabe ihn in seinem Gesicht.
Während er zuckt, sehe ich, wie andere im Dampf auftauchen. Sechs Feinde, die auf mich zulaufen. Das Aufstehen fällt mir schwer. Dann werden aus den sechs Umrissen nacheinander zwölf. Eine schlanke Gestalt gleitet hindurch wie ein Lykos-Tänzer.
»Welpe Eins zur Stelle.«
Alexandar, der gerade sechs der besten Leute des Ritters der Furcht gespalten hat, geht vor mir auf ein Knie. Er wischt das Blut von seiner Familienklinge ab und hilft mir hoch.
Das Loch, das Colloway in das Schiff geschossen hat, zieht sich über drei Decks. Funken knistern in zerstörten Instrumenten. Die molekulare Panzerung des Rumpfs rasselt, als sie das Leck hinter uns verschließt und uns im Inneren einsperrt.
Tongueless meldet sich mit einem Klicken über Funk und taucht zwei Decks unter uns auf. Er fliegt zu uns herauf und setzt das Ripwinggeschütz zusammen, das er und Rhonna aus dem Friedhof geborgen haben. Dann hakt er die mannsgroße Waffe in das selbst gebastelte Exoskelett ein, das seine Rüstung umgibt. Thraxa quetscht sich durch eine aufgeplatzte Wand. Ihr Fuchs-Kriegshelm ist verbeult. Ein scharfes Stück Metall steckt in ihrem Unterleib und tritt am Rücken aus. Sie biegt die Spitzen des Metallsplitters nach unten und wendet sich dem Lärm der Feinde zu, der von den unteren Decks und aus dem Hauptgang zu uns dringt.
Ich werfe eine Granate auf die unteren Decks. Weißes Licht blitzt auf, und Donner hallt durch das Schiff. Ich werfe einen Blick in den Hauptgang.
Maskierte Soldaten, die Kampfausrüstung tragen, bewegen sich wie ein geduckter Organismus durch den Gang. Ich ziehe den Kopf zurück, als Kugeln sich in die Wand bohren und sie schmelzen lassen.
»Tongueless, zeig ihnen mal was.«
Tongueless richtet das Ripwinggeschütz mit dem hydraulischen Arm aus, während Thraxa ihn von hinten stützt. Das Geschütz ist für Schiffe gedacht. Nicht für Menschen. Kreischend stößt es Energieringe in den Gang und wirft den Obsidianen gegen Thraxa. Die Bildfrequenz der Welt gerät ins Stottern. Hinter Tongueless zieht Thraxa ihren Kriegshammer aus dem magnetischen Holster. Alexandar grüßt mich mit seiner Klinge und wendet sich dem Hauptgang zu.
Ein kaleidoskopisches Massaker spielt sich vor uns ab.
»Welpe Zwei, fang an zu bohren«, sage ich zu Rhonna.
»Verstanden.«
»Wenden«, befehle ich. Alle außer Tongueless drehen ihre Stiefel in Richtung Decke. »Hundert Meter bis zum Paket. Vorwärts.«
Wir stürzen uns in das Nachspiel von Tongueless’ Mahlstrom. Alles steht auf dem Kopf. Hitze lässt die Luft wabern. Körperteile liegen dampfend am Boden. Halb geschmolzene Türen hängen schräg in den Angeln. Der Hauptgang verläuft entlang des Schiffsrückgrats. Er führt auf direktem Weg zu den Gefängniszellen. Doch das bedeutet, dass man uns schon in wenigen Sekunden in die Zange nehmen wird. Wir müssen uns rasch durchkämpfen, sonst wird alles von Rhonna abhängen.
Etwas Verschwommenes taucht am Ende des Gangs auf. Drohnen rasen kreischend auf uns zu und spucken Munition aus. Drei von uns eröffnen das Feuer mit unseren Impulsfäusten. Überall klirren Granatsplitter. Dann mischen sich die Gorgonen in das Spiel ein.
Dutzende der Elite-Guerillas schießen um Ecken, aber wir schwingen uns kopfüber von der Decke wie Abrissbirnen, die aus Energie, Razorn und Hämmern bestehen.
Ich schieße einem Gorgonen mitten in die Brust und töte auch noch den gepanzerten Mann hinter ihm. Der dritte krümmt sich auf unmöglich erscheinende Weise und gibt rasch hintereinander drei Schüsse auf meinen Kopf ab. Aber ich bin schon an ihm vorbei und schieße mit meiner Faust auf einen Obsidianen.
Eine Zielsuchgranate heftet sich an meinen rechten Oberschenkel. Ich trenne sie mit meinem Razor ab, und Alexandar tritt dagegen. Sie explodiert zehn Meter vor uns und schleudert uns zurück.
»Vorwärts.«
Mit sechzehn war ich ein Killer. Mit zwanzig ein Kriegsherr. Aber mein jüngeres Ich war nicht so. Es war noch sanft und nicht an den Krieg gewöhnt. Wenn es ein Höllentaucher war, dann bin ich ein Greifbohrer.
Ich schlitze mich durch die abgehärteten Veteranen der Null-Legion, als bestünden sie aus Teig. Aber sie strömen immer noch aus allen Gängen. Meine Existenz beschränkt sich auf Rauch und Feuer. Meine Rüstung klirrt. Interne Warnungen heulen auf. Ich schalte meine Impulsschilde ein und aus, lasse sie abkühlen, damit ich nicht gekocht werde. Die Gorgonen lassen sich nicht so leicht umbringen, und es sind zu viele.
Wir sitzen fest. Umzingelt an drei Seiten, und wir kommen nicht vorwärts. Tongueless räumt mit einem Schuss den Gang hinter uns auf. Etwas trifft ihn von rechts. Ein qualmendes Loch taucht in seiner Rüstung auf. Er stolpert, als ich auf seinen Angreifer schieße und ihn mit meinem Schild schütze, damit er sich erholen kann.
»Rotieren.«
Alexandar übernimmt nahtlos die Führung und schießt in den Gang. Thraxa tritt an seine Stelle. Tongueless erholt sich und übernimmt ihre Position. Alexandar flackert durch den Gang wie eine von einem Geist besessene Flamme. Er beherrscht das Spiel mit der Schwerkraft besser als jeder andere, abgesehen von Sevro, und sein zuckender Razor bringt Leid und Tod. Er versucht, das Sperrfeuer, das uns aufhält, zu überwinden.
»Rumpfpenetrierung«, meldet Rhonna. »Breche durch.«
Die Gorgonenschützen führen ein perfektes flaxianisches Manöver durch, um Alexandar seiner Rüstung zu berauben. Drei nageln ihn mit elektrischen Geschossen fest, bevor er sie erreichen kann, worauf sein Impulsschild in sich zusammenfällt. Zwei schießen Massekugeln ab, die ihn betäuben. Er steht taumelnd wie ein Betrunkener da. Ihr Zenturio versetzt ihm den Todesstoß. Seine Mündung blitzt auf. Drei rüstungsbrechende Bohrprojektile rasen kreischend auf Alexandars Kopf zu.
Thraxa springt vor, und die Projektile zischen, als sie von ihrem intakten Impulsschild abprallen. Eines dringt durch und reißt ein Loch in ihre linke Schulter, das sie zur Seite wirbeln lässt.
»Rotieren!«
Ich nehme ihren Platz ein und rase mit meinen Gravstiefeln in diese verdammten Schützen hinein, um sie alle umzubringen. Als ihre Körper von meiner Rüstung tropfen und meine Freunde hinter mir den Kampf aufnehmen, werfe ich einen Blick in den rauchverhangenen Gang und sehe ein rotes Herz, das in der Dunkelheit brennt. Ein weißer Schädel gesellt sich zu ihm.
Zwei Silhouetten stehen noch zwischen uns und den Zellen. Die Razor der Olympischen Ritter glänzen wie Zähne. Das Herz- und das Schädelemblem, das die Ritter kennzeichnet, leuchten auf ihren Brustplatten. Die Ritterin der Liebe und der Ritter des Todes.
Wo ist der Ritter des Sturms?
Wo ist Ajas einziger Sohn?
Ich bete zu einem stummen Gott, dass er nicht bei Orion ist.
Ich sehe nach links: Gorgonen. Nach rechts: Gorgonen. Dann hinter mich, wo ich ein dreihundertfünfzig Pfund schweres Raubtier sehe, das im Gang lauert. Sein grau-schwarzer Kriegshelm ist geschlossen und bereit zum Kampf.
Ajax.
»Welpe Zwei, wir haben die Olympischen. Du bist sicher«, belle ich. Und dann: »Zu mir!«
Wir wenden uns von Ajax ab und stürzen uns auf Liebe und Tod. Beide Seiten benutzen Gravstiefel und können die Schwerkraft umkehren. Metall klirrt, als wir aufeinanderprallen. Tod und ich krachen gegen die Wand, die Decke, den Boden und zermalmen Gorgonen, die noch ihre Wüstenkleidung tragen. Wir schießen gleichzeitig mit unseren Impulsfäusten und schmelzen beide. Der Schwung wirft uns gegen die Ritterin der Liebe und Alexandar, deren Klingenduell weitaus graziöser verläuft als unseres. Alexandar schwingt Liebe zu Thraxa herum, die gerade einen gewaltigen Hammerschlag ausführt. Dann wirft sich Tod seitlich auf Thraxa, um seine Mitstreiterin zu schützen.
Hinter ihnen schießt Tongueless mit seinem Geschütz auf Ajax. Ich habe noch nie jemanden so schnell angreifen sehen wie Ajas Jungen. Wie ein Querschläger prallt er von der Decke ab und rutscht hinter Tongueless funkensprühend und flach auf dem Rücken liegend über den Boden. Da der Rückstoß des Geschützes den Lauf nach oben drückt, kann Tongueless es nur langsam nach unten richten.
Damit hat Ajax gerechnet.
Er schlittert an Tongueless vorbei. Sein Handgelenk zuckt. Er rutscht nicht weiter, sondern nimmt die Wurzelschneiderhaltung des Wegs der Weide ein. Eine der letzten und schwierigsten Haltungen, die seine Mutter ihm beigebracht haben dürfte, bevor meine Freunde und ich sie töteten.
Tongueless fällt in vier Teile gespalten zu Boden und ist tot, bevor er aufschlägt.
»Thraxa! Warte auf mich!«, brülle ich, als sie Ajax angreift. Sie ist schnell, wahnsinnig stark und stahlhart. Aber Ajax entstand aus der unheiligen genetischen Verbindung zweier Raubtierblutlinien: Raa und Grimmus. Er ist ihr in jeder kriegerischen Hinsicht überlegen, abgesehen von der Erfahrung, und die bekommt er zunehmend.
Er schwimmt an ihrem Hammer vorbei und landet zwei Schläge auf ihrer Rüstung. Schockiert über seine Schnelligkeit taumelt sie zurück. Ich eile ihr zu Hilfe, aber Alexandar hängt zwischen Tod und Liebe fest. Sie stehen mir im Weg. Ajax hat Thraxa bereits zu Boden geworfen. Er schlägt ihren Hammer zur Seite.
Ich werde Blutrot.
Die Razorschläge lassen meinen Arm zittern, als ich dem Ritter des Todes meine ungeteilte Aufmerksamkeit schenke. Es ist bemerkenswert, dass er sieben Sekunden durchhält. Die Eröffnung ist schwach und nicht sonderlich elegant. Er versucht, den hart von oben geführten Schlag abzuwehren, anstatt ihn zu absorbieren. Er vergisst die Krümmung. Meine Klinge dreht sich nicht, und mit meinem ganzen Körpergewicht ramme ich ihm die eigene Klinge in die Rüstung. Bevor er sie herausziehen kann, fahre ich herum und schlage Tod den Kopf ab.
Ich drehe mich rasch. Als ich Ajax das letzte Mal sah, war er fünfzehn Meter hinter mir. Er köpft mich beinahe, als er über mir vorbeifliegt. Ich wehre seine Klinge in der letzten Millisekunde ab, aber wenn seine Mutter diesen Schlagabtausch beobachtet hätte, wären ihre Augen feucht geworden.
Ein sehr guter Killer kann drei Manöver miteinander verbinden – eine Kombination aus sorgfältig vorbereiteten Angriffen, die zusammen eine Sekunde dauern. Jeder hat eine eigene Handschrift. Cassius, der zu den fünfzig besten Kämpfern im Kern gehörte, konnte fünf miteinander kombinieren. Ich sah Lorn einmal acht kombinieren. Ajax kombiniert acht. Das soll nicht heißen, dass er so gut wie Lorn ist, aber er ist genauso schnell, und wenn man gegen ihn kämpft, fühlt man sich, als würde man in eiskaltes Wasser geworfen.
Es ist ein Schock.
Zu diesem Zeitpunkt sehe ich die Manöver kaum noch. Sogar die Augen der Goldenen können einer so schnellen Klinge nicht folgen. Als er mit einem Salto am Boden landet, um mir den Weg zu den Zellen zu versperren, blute ich aus drei kleinen Wunden. Aber er auch. Er wirbelt seine Klinge wie einen Gehstock herum, und die Ritterin der Liebe nutzt die Gelegenheit, um sich neben ihn zu stellen. Gemeinsam nehmen sie die Kampfhaltung der Hydra an. Alexandar hinkt an meine Seite. Thraxa stöhnt und stolpert zu uns nach vorn.
Die beiden Gruppen stehen in dem schmalen Gang und starren sich an. Alle bluten. Komm schon, Rhonna. Ich will diesen Preis noch nicht zahlen.
»Ich hatte gehofft, dass es so kommen würde«, sagt Ajax in seinem Helm. Seine Stimme ist fast so tief wie die seines Großvaters. »Zuerst du. Dann arbeite ich mich durch die Nahrungskette nach unten durch. Deine Frau. Deinen Schatten. Deine Bellona.«
Am liebsten würde ich Atalantia die rechte und linke Hand abschlagen, indem ich ihre beiden besten Ritter töte. Am liebsten würde ich Ajax ein Ende bereiten, bevor er zu etwas wird, das ich nicht mehr im Griff habe. Doch wenn ich hier sterbe, wird der Krieg weitergehen.
Ich kontaktiere Rhonna. »Welpe Zwei, Status?«, frage ich, ohne den Blick von Ajax zu nehmen.
»Paket ist verpackt. Geschenk verstaut. Bringe jetzt die Kordel an. Char, wann immer du möchtest.«
»Ich komme ungebremst rein. Hier wird es ein bisschen heiß. Zwei Zerstörer und vier Fackeln sind auf dem Weg.«
»Abstoß in drei, zwei, eins.«
Ich wende mich von Ajax ab und umarme Alexandar und Thraxa. Ich hatte gehofft, dass meine Anwesenheit die Olympischen Ritter anlocken würde. Jeder von ihnen will derjenige sein, der mich erledigt. Ich dachte, ich könnte mich trotzdem behaupten, aber bei den Rittern, die der Kern heutzutage hat, sollte man sich immer rückversichern.
Während ich sie abgelenkt habe, ist Rhonna mit ihrer Starshell hinter dem Zellenblock gelandet, hat sich durch den Rumpf geschweißt und Orion hinter dem Rücken der Ritter befreit.
Duuuuuuuuuuum.
Das Heck des Schiffs löst sich hinter Ajax und der Ritterin der Liebe auf, als Rhonnas Bombe explodiert. Ein Maul ins All entsteht, und der Druck im Schiff reißt sie ins Vakuum. Wir taumeln mit ihnen durch das Trümmerfeld. Alles dreht sich, und wir können nichts tun, außer uns aneinander festzuhalten. Ich sehe die näherkommenden feindlichen Schiffe in kurzen Momentaufnahmen. Ripwings gleiten durch die Dunkelheit, und die Nekromant rast auf uns zu. Als ich schon glaube, dass sie uns treffen wird, stellt sie sich auf einmal auf die Spitze, wendet und saugt uns in ihr Hangar am Heck. Die Türen schließen sich sofort, und wir werden wie Murmeln herumgeworfen. Rhonnas Roboterfahrer haftet magnetisch am Boden. Seine Arme hat er um eine Tasche geschlungen, als sei sie ein Säugling.
Ich greife nach einer Leitersprosse und schwinge mich zu einem Bullauge herum. Im gleichen Moment aktivieren sich die Reaktoren, die Alexandar und ich umgerüstet haben. Ein Dutzend zerstörter Schiffe leuchten plötzlich auf. Ihr Rumpf fällt in sich zusammen, und dann lässt überschüssige Energie die Reaktoren gleißend hell erstrahlen.
Die beiden heranrasenden Zerstörer und die Fackelschiffe wabern, als die Energiewellen sich im Friedhof ausbreiten. Die Leichen meiner Raumschiffe werden von starken Krämpfen geschüttelt. Ich heule zusammen mit Alexandar und Thraxa auf, als die leeren Hüllen auseinandergerissen werden und unseren Rückzug decken. Hundert Meter lange Splitter bohren sich in die feindlichen Schiffe, die Atalantia zum Friedhof geschickt hat.
Ihre Flotte sieht von der anderen Seite des Friedhofs zu, wie ihre kilometerlangen Zerstörer brennen, während wir in Richtung Merkur rasen. Colloway funkt alle Republikschiffe an und sagt ihnen, dass der Schnitter auf dem Weg ist. Wir brauchen Sperrfeuer.
Schweißbedeckt springe ich zu Boden. Alexandar hilft Rhonna beim Verlassen ihres Roboters. Thraxa verzieht das Gesicht, als sie die Vakuumtasche aus der Umarmung des Roboters befreit. Wir legen sie vorsichtig auf den Boden. Ich schließe die Augen, bevor ich die Versiegelung öffne. Tongueless ist dafür gestorben. Ich kannte ihn zwar nicht so gut, wie er es verdient hätte, aber er hat heute mehr Menschen gerettet, als er je ahnen wird.
Ich öffne den Reißverschluss der Tasche.
Darin liegt eine verkümmerte Frau, die Gefangenenkleidung trägt. Ihr Kopf steckt in einem Sauerstoffsack. Ich entferne ihn. Ihre Haut ist aschfahl. Ihr Gesicht ist zur Hälfte verschwunden. Es sieht aus, als hätte es jemand gegessen. Aber ihre Augen sind noch so blau wie in meiner Erinnerung. Sie füllen sich mit Tränen, als Orion die Hand ausstreckt und mein Gesicht mit den Stümpfen ihrer Finger berührt. Durch aufgesprungene Lippen zischt sie: »Heil Schnitter.«
Das letzte Zeitalter ist aus Eisen,Nichts Gutes darin, den Weg nicht zu weisen.Als sie sich öffneten, der bösen Zeiten Venen,Entwichen Gräuel, nicht Wahrheit, wie wir ersehnten,Die Ehrlichen senkten ihr Haupt in Scham,
Sodass Verrat, Neid, Stolz und Gier übernahm.
OVID, METAMORPHOSEN, I.129-34
Ich stehe zwischen den Blinden. Trübe Augen in lichtverbrannten Gesichtern starren die Sonne an, die Steinobelisken, die kärglichen Proteinwürfel in Händen, die voller Blasen sind, starren ihren Anführer an, der sie an diesen verfluchten Ort gebracht hat, und sehen doch nur Dunkelheit. Ihre Netzhäute sind von der Artillerie unserer Feinde verbrannt worden.
Sie strecken die Hände aus und berühren meinen roten Umhang, als könne er sie heilen. Sie sind Rote, Graue, Braune, Kupferne und die wenigen Obsidianen, die dem Befehl ihrer Königin, zur Erde zurückzukehren, nicht gefolgt sind. Die Legionäre haben den Angriff auf West-Ladon, den der Ritter der Furcht befohlen hatte, überlebt, doch nun sind aus ihnen 2301 Verwundete geworden, die wir ernähren, medizinisch versorgen und beschützen müssen. Warum sollte Atlas au Raa sie umbringen, wenn Verstümmeln uns größere Probleme bereitet? Meine Leute betrachten die lebenden Verluste voller Entsetzen. Andere wenden den Kopf ab, als befürchteten sie, mit ihrem Blick das Schicksal herauszufordern.
Er schwärzt die Pigmente unserer Seele Tropfen um Tropfen.
Ich hocke mich vor einen Grauen mit zwei kauterisierten Beinstümpfen. »Sie sehen aus, als seien Sie zwischen einen Telemanus und eine Flasche Whisky geraten, Legionär.«
»Leider, Sir. Ich würde weiterkämpfen, wenn wir die Ausrüstung hätten.«
Wenn er ein Goldener oder Obsidianer wäre, würde er am Ende des Monats wieder an der Front stehen, aber wir können unsere schwindenden Prothesen nicht an die reguläre Infanterie ausgeben. Das wäre eine schlechte Investition. Ich dachte früher, die größte Sünde des Kriegs sei die Gewalt. Das stimmt nicht. Er zwingt gute Menschen, praktisch zu denken, das ist seine größte Sünde.
»Ich sehe sie immer noch, Sir. Wie einen Geisterschweif.« Der Graue reibt sich die Augen, als er sich an die Brandfackel des Ritters der Furcht erinnert. »Taghell. Ich kann nicht schlafen.«
»Geht mir auch so. Aber wenn Sie das nächste Mal die Augen öffnen, werden Sie den Mars sehen. Sie kommen aus Hippolyte, richtig?«
»Die Jadestadt ist meine Heimat, Sir.«
»Dann werden wir dort bald zusammen Austern essen und Zigarren rauchen. Das verspreche ich Ihnen.« Ich klopfe ihm auf die Schulter, murmele etwas Belangloses und gehe weiter. Ich bleibe vor einem alten Roten stehen, der sich trotz der Hitze eine dünne Decke um die Schultern gelegt hat. Ein schmaler, grauer Haarkranz umgibt seinen ansonsten kahlen Kopf. Gekonnt dreht er sich einen Burner. Seine Augen zucken von einer Seite zur anderen, als er mich bemerkt. Er holt tief Luft. »Sind Sie das?« Er streckt die Hand aus. Ich ergreife sie. Sein Burner zittert, als er nervös wird. Ich lege meine Hand auf seine und fordere eine Frau mit einer Geste auf, mir ihr Ringfeuerzeug zuzuwerfen. Rauch steigt aus dem Ende des Burners auf, als ich dem alten Roten Feuer gebe und das Feuerzeug zurückwerfe.
»Sie hatten wohl einen ziemlich harten Tag«, sage ich.
Er zieht lange an seinem Burner. Seine Hand beruhigt sich. »Bin ’n Roter, Sir. War fast mein ganzes Leben lang blind. Ich komm schon klar. Kümmern Sie sich lieber drum, dass andre was zu fressen krieg’n. Ich sterbe nich’.«
Sein Akzent …
»Aus welcher Mine stammen Sie, Legionär?«
Er grinst. »Werden Sie jetz’ nich’ glauben, aber aus Ihrer.«
»Lykos?« Ich mustere sein Gesicht. Die Krähenfüße, die seine Augen umgeben, sind voller Blutfliegenstiche. »Wie heißen Sie?«
»Erkennen Sie mich nich’, Sir?« Er zieht wieder an seinem Burner, der aufglüht und rasch heiß wird. Er hält ihn so in der Hand wie an dem Tag, an dem Eo starb, zwischen dem Ringfinger und dem kleinen. Ich spüre das Wehen des Tiefminenwinds. Rieche den Rost und das Abwasser. Höre das Echo von Eos Lachen. Es ist viel Zeit vergangen.
»Dago«, flüstere ich. »Dago von Gamma.« Ist das wirklich der Höllentaucher, den ich als Kind verehrte und hasste? Der Mann, der mich lehrte, was eine Niederlage bedeutet? Der zweiunddreißig Lorbeeren gewann? Jetzt ist er hier auf dem Merkur und gehört zu meiner Armee. Fünfzehn Jahre sind vergangen, aber er sieht aus, als seien es vierzig. Sein Alter lässt auch mich die Jahre spüren.
»Höchstscheißpersönlich, Sir.« Seine Wunde lässt ihn zittern, aber er bringt trotzdem ein hartes Lächeln hervor. Er hat nur noch wenige Zähne.
»Was zum … Wie lange bist du schon …«
»Seit dem Mars, Sir. Fünf Jahre.«
»Und du bist nicht zu mir gekommen?«
»Man hängt sich nich’ an ’nen Höllentaucher, der ein Auge auf den Lorbeer geworfen hat.« Er lacht und hustet. »Aber den haben Sie jetzt, Sir. Verdammt noch mal, den haben Sie.«
»Sir.« Felix, ein makelloser Goldener, der zu meiner Leibwache gehört, taucht hinter mir auf. Er stammt aus einem unbedeutenden Haus, das sich Haus Augustus angeschlossen hatte, und ist ebenso mürrisch und zynisch. Er hat die Vierzig überschritten und hält nichts von den Niederen Farben. Aber er steht loyal zu meiner Frau, und er ist ein Marsianer. Heutzutage gibt es niemand Vertrauenswürdigeren. Zwei Dutzend weitere Goldene Leibwächter ragen so sauber und stark wie Götter aus dem Meer der Blinden heraus. Der Zenit und der Abgrund der Menschheit. Ich fühle mich schuldig, weil ich mich vom Zenit beschützen lasse und nicht von meinem eigenen Volk. Wieder dieses praktische Denken. »Ihr Shuttle ist abflugbereit. Ihr … Mitreisender wird ungeduldig.«
Ich will bleiben und Dago tausend Fragen stellen, aber das geht nicht. Ich habe kaum Zeit, um meine Leute überhaupt zu besuchen. Wenn ich früher zu den Verwundeten ging, war Sevro schon dort und spielte schlecht mit ihnen Karachi. Er fehlt überall, nicht nur auf dem Schlachtfeld. So viele Lücken, die ich ausfüllen muss.
»Schnitter …« Dago winkt mich heran. Ich hocke mich wieder hin. Er öffnet seine Oberschenkeltasche. Darin stecken zwei Dosen. In einer befindet sich marsianische Erde. Die andere ist leer und für seine Asche gedacht. Die meisten marsianischen Soldaten fürchten sich davor, auf einer fremden Welt zu sterben. Wie viele Leichen habe ich schon nach Bombardierungen gesehen, die zusammengeschrumpft waren, aber sich trotzdem an ihre Heimaterde klammerten? Wie viele Aschedosen habe ich schon zum Mars geschickt, damit sie dort im Meer verteilt werden können? Dago bietet mir seine Heimaterde an. Sie riecht sogar wie der Mars, ein wenig nach Eisen.
»Das kann ich nicht annehmen«, sage ich.
»Wo is’ denn Ihre Dose, hm?«
»Noch auf Luna. Der Ausflug kam etwas unerwartet.«
Er nimmt eine Handvoll Erde aus der Dose und reicht sie mir. »Die ist aus Lykos.« Er hustet Blut in seine Decke. »Die gehört Ihnen so sehr wie mir. Bringen Sie mir die zurück, dann trinken un’ essen wir was zusammen, ja?« Er greift nach meiner Hand und streckt sie, damit er mir die Hälfte seines Staubs geben kann. »Der Mars ist mit dir bis zum Tal.« Andere hören seine Worte und fangen an, sich mit der Faust oberhalb des Herzens auf die Brust zu schlagen, als wollten sie das Klagelied des Vergehens anstimmen, jedoch umgekehrt. Ihre Schläge werden nicht langsamer wie ein sterbendes Herz, sondern schneller, als würde das Herz pochen. Ich will etwas zu Dago sagen, aber da zündet er sich schon den nächsten Burner an und bläst mir den Rauch ins Gesicht wie früher.
»Keine Zeit für Worte, Sir. Sie müssen Leute umbringen.«
Ich balle die Faust um den Dreck. »Bis zum Tal.«
Ich verstaue die Lykoserde sicher in einem Beutel, dann verlasse ich die Wüste. Ich sehne mich nach einem Kampf.
Mein Shuttle fliegt in nördlicher Richtung über die Kalkwüste. Dahinter wabert Heliopolis an dem verzerrten Horizont. Der Zugang zu zwei miteinander verschmelzenden Gebirgen wird von einem gewaltigen, einen Kilometer hohen und fünfzehn Kilometer langen Schildwall versperrt. Haus Votum hat diesen Wall errichtet, um Heliopolis vor Sandstürmen zu schützen. Im Frühjahr bilden sich hoch im Norden über dem Sycoraxmeer Wirbelstürme, die die Ladon-Einöde bis hinunter nach Heliopolis verwüsten. Funken glitzern an der Krone des Walls, auf der Mechaniker die Geschütze zerstörter Schiffe festschweißen.