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In einer vom Krieg geteilten Welt ist es der ultimative Verrat, sich in den Feind zu verlieben. Galena Shantos hat ihre Loyalität gegenüber Eden nie in Frage gestellt. Als Schwester des Myren-Königs dient sie als Heilerin und gehört zu den Besten in der Armee, die gegen die brutale Lomos-Rebellion kämpft. Sie hat nie daran gezweifelt, wie wichtig es ist, die Rebellen aufzuhalten, die die Menschen versklaven wollen. Doch dann sieht sie jenseits der feindlichen Linien einen Krieger - und weiß instinktiv, dass ihre Schicksale miteinander verwoben sind. Der Rebellionskrieger Reese Theron hat nichts mehr zu verlieren. Um sein Familiengeheimnis zu wahren ist er gezwungen, auf der falschen Seite eines Krieges zu kämpfen, den er verabscheut. Reese hat seine Ehre und das Vertrauen seines eigenen Volkes verloren und sich in einen Kampf gestürzt, den er unmöglich überleben kann. Doch als er von einer Frau gerettet wird, deren wunderschöne Augen in ihm mehr zu sehen scheinen als den Verräter, zu dem er geworden ist, hat er vielleicht neuen Grund zum Leben gefunden ... Im zweiten Teil ihres fesselnden Fantasy Romance-Vierteilers entführt uns die Erfolgsautorin Rhenna Morgan ("Haven Brotherhood") erneut in eine faszinierende Welt voller Magie, Leidenschaft und Gefahr.
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Seitenzahl: 489
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Rhenna Morgan
Eden Teil 2: Reese
Aus dem Amerikanischen ins Deutsche übertragen von Sandra Martin
© 2015 by Rhenna Morgan unter dem Titel „Healing Eden (Eden #2)“
© 2023 der deutschsprachigen Ausgabe und Übersetzung by Plaisir d’Amour Verlag, D-64678 Lindenfels
www.plaisirdamour.de
© Covergestaltung: Sabrina Dahlenburg (www.art-for-your-book.de)
ISBN Taschenbuch: 978-3-86495-680-5
ISBN eBook: 978-3-86495-681-2
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literaturagentur Langebuch Gerez Weiß GbR, 20257 Hamburg.
Die Personen und die Handlung des Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.
Glossar
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Autorin
Aron – das wichtigste Nutztier in Eden, welches sowohl als Nahrungsmittel als auch zur Kleidergewinnung dient. Die Haut wird gegerbt, um ein weiches, geschmeidiges Leder zu erhalten, und ist in den kälteren Regionen die wichtigste Quelle für schützende Oberbekleidung. Das Fell des Tieres käme im Reich der Menschen einer Kreuzung zwischen Büffel- und Biberfell gleich, denn es ist dick und wärmend wie das eines Büffels, aber glänzend und weich wie das eines Bibers.
Asshur – eine Region in Eden. Bisweilen scheint hier zwar die Sonne, doch zumeist ist es bedeckter und regnerischer als in anderen Gegenden. Aufgrund des ungastlichen Klimas ist die Bevölkerung in Asshur während der vergangenen Jahrhunderte geschrumpft.
Erweckung – eine Zeremonie, während der ein oder eine Myren zwischen achtzehn und einundzwanzig Jahren ihre Kräfte entfaltet. Der Vater (oder väterliche Vertreter) ist in der Regel der Auslöser für diesen Prozess, während die Mutter (oder der mütterliche Einfluss) als Anker für das erwachte Individuum fungiert.
Baineann – der weibliche Teil einer Vereinigung zweier aneinander gebundenen Individuen.
Briash – das Myren-Äquivalent zu Haferflocken, das eine braune Farbe und ein leicht schokoladiges und zimtiges Aroma aufweist.
Brasia – eine Region in Eden. Das Gebiet ist bergig, wobei in den höheren Lagen starker Schneefall und raue Bedingungen vorherrschen.
Briyo – Schwager.
Cootya – eine Art Café, in dem übliche Myren-Getränke und Snacks verkauft werden. Myren-Obst und -Gemüse stehen am häufigsten auf der Speisekarte, aber es werden auch einige Backwaren serviert. Die meisten Cafés verfügen über einen Außenbereich, in dem sich die Gäste entspannen können, während im Inneren gekocht und serviert wird.
Cush – die Hauptstadtregion von Eden. Dicht besiedelt, mit kunstvoll gestalteten Gebäuden.
Diabhal – Teufel.
Drast – Schutzkleidung, die von Kriegern getragen wird, um die lebenswichtigen Organe im Kampf zu schützen. Die aus feinen Metallfäden gefertigten Oberteile liegen eng am Körper an und sind dazu gedacht, Angriffe mit Feuer und Elektrizität abzuwehren. Die Drasts, die als Alltagskleidung getragen werden, sind ärmellos, während die formelle Version drei Viertel der Arme bedeckt. Ein U-Boot-Ausschnitt sorgt für einen bequemen Sitz und mehr Bewegungsfreiheit im Kampf.
Drishen – eine in Eden heimische Frucht. Sie sieht aus wie eine Traube und schmeckt wie Limonade.
Eden – eine andere, den Menschen unbekannte, Dimension innerhalb der Hülle, die die Erde umgibt.
Ellan – gewählte Beamte, die neben dem Malran oder der Malress das Volk der Myren regieren. Wie bei den meisten Regierungsorganen besteht der Rat aus einer Mischung aus ehrlichen Staatsdienern, die Wohlstand und Wachstum für die Myren anstreben, und korrupten Alten, die auf antiquierten Ideen und Zeremonien beharren.
Evad – das Reich, in dem sich die Menschen aufhalten.
Fireann – der männliche Teil einer Vereinigung zweier aneinander gebundenen Individuen.
Havilah – eine wohlhabende und wenig bevölkerte Region in Eden. Auch hier regnet es, doch zumeist nur am Abend, während tagsüber die Sonne scheint und angenehme Temperaturen vorherrschen.
Histus – das Äquivalent der menschlichen Hölle.
Kilo – ein Fisch, der in vielen Seen in Eden heimisch ist, aber am häufigsten in Brasia vorkommt. Bei den Myren ist er eine beliebte Proteinquelle und wird meist über Apfelholz geräuchert und mit einer Apfel-Zimt-Glasur übergossen serviert.
Larken – ein langflügeliger Vogel, der für sein wohlklingendes Zwitschern bekannt ist. Das Gefieder ist kobaltblau, während die Flügelspitzen lavendelfarben sind.
Lasta – ein beliebtes Frühstücksgebäck der Myren.
Lomos-Rebellion – eine Fraktion der Myren, die seit langem die Versklavung der Menschen anstrebt und versucht, das Dogma des Großen zu stürzen.
Lyrita-Baum – ein exotischer Baum, der nur in der Region Havilah vorkommt. Die Stämme sind dunkelbraun, die Blätter lang und schlank und von salbeigrüner Farbe. Der Lyrita-Baum hat außergewöhnlich große Blüten mit perlmuttweißer bis blassrosa Farbe. Die durchschnittliche Höhe einer ausgewachsenen Lyrita beträgt dreißig bis vierzig Fuß.
Malran – der männliche Anführer des Myren-Volkes, der in der Menschenwelt mit einem König vergleichbar ist. Seit der Entstehung des Volkes der Myren werden die Herrscher von der Familie der Shantos gestellt, wobei der Titel des Malran (oder der Malress) auf den Erstgeborenen (oder die Erstgeborene) fällt.
Malress – die weibliche Anführerin des Myren-Volkes, die in der Menschenwelt mit einer Königin vergleichbar ist.
Myren – eine begabte Rasse, die seit über sechstausend Jahren existiert und in einer anderen Dimension namens Eden lebt. Sie stehen in tiefem Einklang mit der Natur und den Elementen, die sie umgeben. Ihr mächtiger Geist und ihre Verbindung zu den Elementen erlauben es ihnen, im Stillen mit denen zu kommunizieren, mit denen sie verbunden sind. Außerdem können sie fliegen und beherrschen bestimmte Elemente. Die Frauen haben in der Regel eher heilende oder pflegende Gaben, während die Männer zu schützenden und aggressiven Fähigkeiten neigen.
Natxu – eine körperliche Übung, die von allen Myren-Krieger regelmäßig ausgeführt wird. Die Bewegungen und Positionen sind äußerst anstrengend, haben aber auch meditative Qualitäten, was zu körperlicher Höchstleistung führt und die Verbindung zu den Elementen stärkt.
Nirana – das Äquivalent des menschlichen Himmels.
Oanan – Schwiegertochter.
Quaran – das Myren-Äquivalent eines Generals in den Reihen der Krieger.
Runa – Eine Region in Eden, die hauptsächlich für den Ackerbau genutzt wird. Der schwarze Boden ist fruchtbar und funkelt voller Mineralien. Die Gegend wird vom „blauen Kamm“ umsäumt, einer sichelförmigen Gebirgsformation, die vom Fuße der Berge aus blau erscheint.
Shalla – Schwägerin.
Somo – vereidigter Leibwächter des Malran oder der Malress.
Strasse – ein stark berauschendes Myren-Getränk, das aus Beeren hergestellt wird, die nur in Eden vorkommen.
Strategos – Anführer der Myren-Krieger.
Torna – ein lästiges Nagetier. Größer als ein Gürteltier, mit einer ähnlichen Farbe wie Aal-Haut. In der Regel ist es nicht aggressiv, seine Zähne erinnern aber an die eines Hais. Es scheut sich nicht vor einem Kampf.
Unterland – die meisten betrachten die Gegend nicht als eine eigenständige Region, sondern eher als unbewohntes Ödland. Der Mangel an Regen macht Landwirtschaft fast unmöglich.
Ein Blitz zischte an Reese vorbei. Er erleuchtete den mit Rauchschwaden durchzogenen Nachthimmel und hinterließ einen beißenden Gestank.
Strahlen aus Feuer und blau-weißer Elektrizität flackerten so hell, dass er sich kaum konzentrieren konnte. Aus diesem Schlamassel würde er sich nicht mehr befreien können. Weder aus dieser Schlacht noch aus diesem Leben würde er mit auch nur einem Fünkchen Ehre scheiden.
Er schoss durch die Luft und wich einem weiteren Blitz aus. Im nächsten Moment tauchte ein Elitekämpfer vor ihm auf und zielte mit seinem blutigen Dolch auf Reeses Unterleib.
Reese vollführte eine Rolle und schwang sich über seinen Angreifer hinweg, um ihn von hinten in den Schwitzkasten zu nehmen. Dann maskierte er sie beide, damit sie für die übrigen Männer unsichtbar waren. Beim Großen, er hätte an der Seite dieses Kriegers kämpfen sollen, nicht gegen ihn.
Der Mann schlug um sich und versuchte vergeblich, sich zu befreien. Sekunden später sackte er in Reeses Armen bewusstlos zusammen.
Reese landete mit ihm am Rande der Schlacht hinter der Baumgrenze, um außer Sichtweite der Rebellen zu bleiben. Die Erweckung des Mannes konnte unmöglich mehr als zwanzig Jahre zurückliegen. Wahrscheinlich hatte er sich erst vor Kurzem den Wendelring und die Manschetten eines Elitekämpfers verdient. Reese konnte den gleichmäßigen Puls des Mannes unter seinen Fingerspitzen spüren. Zumindest den Tod dieses unschuldigen Soldaten würde er nicht auf dem Gewissen haben.
Eine sieben Meter hohe Flammenwand schoss über den Kriegern in die Luft und ließ den Boden unter ihnen erzittern. Dann verblasste die helle Fackel und weitere Rebellen stürmten auf das offene Feld.
Einige Schritte entfernt vernahm Reese plötzlich ein Rascheln. Anschließend war es wieder still.
Reese wich tiefer in den Wald zurück und verstärkte die Maskierung, die ihn unsichtbar machte. Wer auch immer in der Nähe war, gehörte nicht zu den Rebellen, denn diese kämpften gegen die Krieger des Malrans. Reese sammelte seine Gedanken und suchte den seelenlosen schwarzen Strang ab, der ihn mit Maxis Steysis verband.
Reese hatte der Verbindung mit dem Anführer der Rebellen nur widerwillig zugestimmt, doch nun war er immerhin in der Lage, seine Energie aufzuspüren und seinen Standort zu bestimmen. Er stellte fest, dass Maxis sich über sechzehn Kilometer östlich vom Schlachtfeld befand.
Reese erhob sich und schwebte über den Waldboden, wobei knorrige und blattlose Äste seine Wangen und Schultern streiften. Bis auf das Aufleuchten der grellen Blitze am Nachthimmel war es stockdunkel.
Da. Keine zwei Meter hinter der Baumgrenze kniete eine Gestalt und beobachtete die Schlacht. Reese driftete noch näher. Der süßlich feuchte Duft von Erde und verrottendem Laub überlagerte den metallischen Geruch der elektrisch geladenen Blitze. Knurrende und schreiende Laute der Krieger hallten durch die Luft, viel zu oft von dem dumpfen Schlag eines am Boden aufprallenden toten Mannes unterbrochen.
Als erneut ein Blitz den Nachthimmel erhellte, erhaschte Reese einen Blick auf langes, kastanienbraunes Haar. Eine Frau. Sie war über den Körper eines gefallenen Kameraden gebeugt und wiegte seinen Kopf in ihrem Schoß. Er schwebte noch etwas dichter heran, um sie besser sehen zu können und hätte vor Schreck beinahe die Maskierung fallen gelassen. Sein Herz hämmerte wild in seiner Brust und alles um ihn herum trat in den Hintergrund. Galena Shantos, die Schwester des Malran. Sie war die letzte Person, von der er wollte, dass sie von seiner Schande erfuhr.
Zum letzten Mal hatte er sie vor siebzig Jahren aus der Nähe gesehen. Ihre eleganten Züge waren noch genauso umwerfend wie damals während seiner Ausbildung zum Krieger des Malrans. Heute strahlte sie zudem ein Selbstbewusstsein aus, das sich in der Art und Weise niederschlug, wie sie ihren Kameraden beschützte und die Schlacht im Auge behielt. In ihren blaugrünen Iriden lag ein wissender Ausdruck, der von jahrelanger Erfahrung zeugte.
Und er hatte sich auf die Seite der Männer gestellt, die gerade gegen ihren Bruder kämpften.
Als eine weitere Explosion durch die Luft hallte, zuckte Galena zusammen und drückte den leblosen Körper fester an sich. Sobald die Lichtblitze erstarben, lockerte sie ihren Griff wieder.
Der Tote war ebenfalls eine Frau. Ihr langes blondes Haar hob sich deutlich von Galenas schwarzer Tunika und Leggings ab, während ihre leblosen Augen starr gen Himmel gerichtet waren.
Nein. Das war nicht möglich. Reese schwebte noch näher heran und seine Schläfen begannen zu pochen. Erneut zischten Blitze durch die Nachtluft und sein Magen verkrampfte sich.
Phybe.
Sie war noch am Leben gewesen, als er sie in der Zeolith-Mine zurückgelassen hatte, in der Maxis die Verbindung zu ihr nicht hatte aufspüren können. Reese landete zu Galenas Rechten auf dem dichten Blätterteppich des Waldbodens und ließ seine Maske fallen. „Wäre sie in ihrem Versteck geblieben, wäre sie jetzt noch am Leben.“
Galena zuckte zusammen und griff nach etwas, das sie unter einem ihrer Beine verborgen hielt. „Wer bist du?“
Phybes aschfahles Gesicht verschmiert, ihr blaues Kleid zerrissen und ihre Satinpantoffeln befleckt. Irgendwie hatte Maxis sie ausfindig gemacht und zu Ende gebracht, was Reese trotz seiner Anweisungen nicht ausgeführt hatte. „Jetzt bin ich genauso tot wie sie.“
Weitere Blitze durchzuckten die rauchgeschwängerte Nacht, als die Krieger des Malran die Rebellen unerbittlich angriffen. Von Letzteren waren mittlerweile weniger als zwanzig am Leben, während die Hälfte von ihnen nach Norden floh.
„Eine ehrlose Sache ist es nicht wert, dass man für sie kämpft, nicht wahr?“, fragte er.
Galena richtete den Oberkörper auf und straffte die Schultern. „Ich würde von einem Mann, der auf Maxis‘ Seite kämpft, keine Ehre erwarten.“
„Da hast du recht. Meine Ehre habe ich in dem Moment aufgegeben, als ich zugestimmt habe, ihn bei seinem intriganten Vorhaben zu unterstützen.“ Er ging neben ihr in die Hocke.
Galena verkrampfte sich und festigte den Griff um den Gegenstand unter ihrem Bein.
Reese streichelte Phybes kalte und leblose Stirn. Möge deine Reise zügig verlaufen und dein Geist Frieden bei dem Großen finden. Dasselbe myrenische Gebet hatte er auch gesprochen, als seine Mutter ihren letzten Atemzug getan hatte.
Er trat einen Schritt zurück. Vielleicht war es an der Zeit, seinen eigenen Frieden zu finden. Zu seinen eigenen Bedingungen. „Du bist Galena Shantos“, stellte er fest. Sie nickte und umklammerte den Dolch fester. „Du erinnerst dich nicht an mich, nicht wahr?“
Sie schüttelte den Kopf. Er konnte sehen, wie sie kurz zusammenzuckte, als sie sich von Phybes lebloser Gestalt löste und ihr Gewicht auf die Fußballen verlagerte, um notfalls die Flucht zu ergreifen.
„Mein Name ist Reese Theron.“
Sie erstarrte und hob ihre Klinge, in der sich die Blitze der Schlacht widerspiegelten. Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß, doch sie schien ihn nicht wiederzuerkennen.
Wenn er vor all den Jahren mutiger gewesen wäre, hätte er vielleicht eine Chance bei ihr gehabt. Oder er hätte seinen Eid gebrochen und Maxis selbst getötet, als er die Gelegenheit dazu gehabt hatte. Er versuchte, die Erinnerungen zu verdrängen. Er hatte den falschen Weg eingeschlagen, und nun würde er dafür bezahlen müssen. „Ruf deine Wachen. Sorge dafür, dass sie wissen, dass du in Gefahr bist.“
Schüsse durchdrangen die Nacht, und der markerschütternder Schrei einer Frau hallte über das Schlachtfeld.
Galena zuckte zusammen und stand auf. Dann hielt sie einen Moment inne und blickte zwischen der Schlacht und Phybes leblosem Körper hin und her.
Das war seine Chance. Entweder er würde sich als tapferer Soldat verabschieden oder durch Maxis‘ Hände sterben. „Ich werde mich an dein schönes Gesicht erinnern. Geh mit dem Großen, Galena.“
Mit diesen Worten schoss er in die Luft und bildete eine gewaltige spannungsgeladene Kugel, aus deren Mitte Funken sprühten. Er zog die Hand zurück und gab vor, Galena angreifen zu wollen, indem er die Waffe auf sie richtete. Der Große würde es sicher verstehen.
Ein Elitekrieger flog auf ihn zu und holte zum Gegenangriff aus.
Reese wappnete sich für den Aufprall.
Plötzlich nahm er unter sich einen Schopf kastanienbrauner Haare wahr. Galena schwang sich ebenfalls in die Luft und positionierte sich genau zwischen dem Elitekrieger und Reese.
Er ließ die Energie in seiner Handfläche verpuffen. Nicht sie. Nicht Galena.
Ein Blitz schoss aus der Handfläche des Elitesoldaten, fegte an Galenas Wange vorbei und durchbohrte Reeses Schulter. Er zuckte und krampfte und die Wucht der Energie hielt ihn in der Luft. Seine Lunge verweigerte ihm den Dienst und er sah blauschwarze Punkte vor seinen Augen tanzen.
Erneut hallte der Schrei einer Frau durch die Luft, als eine Bö um ihn herum peitschte. Dann sackte er zu Boden und die Dunkelheit umhüllte ihn.
***
Galena drehte sich in der Luft und flog auf Reese zu. Sie nahm ihn nur verschwommen wahr, denn der Wind trieb ihr Tränen in die Augen.
Seine Arme und Beine hingen schlaff herab, als er auf den Boden zuraste.
Sie würde ihn nie erreichen können, bevor er auf der Erde aufprallte. Selbst wenn er den Sturz überlebte, hatte Jagger ihn mit dem Schuss töten wollen und sein Herz höchstens um wenige Zentimeter verfehlt.
Reese schlug hart auf dem zertrampelten Gras des Felds auf.
Sie landete nur Sekunden nach ihm, und ihr stieg sofort der metallische Geruch von Blut, Schmutz und Schweiß in die Nase. Überall um sie herum lagen Männer auf dem Boden, deren Gliedmaßen zum Teil seltsam verrenkt waren.
Weniger als drei Meter entfernt rang einer der Krieger ihres Bruders nach Atem. Er war bewusstlos und Blut rann an seiner Schläfe hinunter. Zweifellos war er ein loyaler Soldat, der das Königreich gegen die grausame Rebellion verteidigt hatte.
Dennoch brannte sie darauf, Reese mit ihren heilenden Händen zu berühren, denn sie musste den Schlag seines Herzens spüren. Sie fiel neben ihm auf die Knie und rollte ihn mit einer Kraft, die sie selbst überraschte, auf den Rücken.
Sie ertastete seinen Puls, der schwach und unregelmäßig schlug.
Hinter ihr ertönte ein dumpfer Schlag und jemand rief ihren Namen. Sie erkannte die Stimme wieder, doch sie ignorierte sie. Stattdessen entledigte sie sich ihrer sterblichen Gestalt und drang mit ihrem Geist in Reeses Körper ein, um ihn zu untersuchen. Die klaffende Wunde befand sich viel zu dicht neben seinem Herzen und war mindestens zwei Faustbreit. Der elektrische Schlag hatte die Muskeln und Sehnen verkohlt, sodass das Fleisch abgestorben war. Sie durfte ihn nicht verlieren. Verräter hin oder her, sie musste ihrem Instinkt folgen. Tief im Inneren wusste sie, dass dieser Moment auf die eine oder andere Weise den Rest ihres Lebens prägen würde.
Neben ihr ertönten frustrierte, knurrende Schreie und jemand ging um sie und den Verletzten herum. Während sie ihn weiter heilte, nahm sie die Bewegungen und Laute vage wahr, wobei sie geistig losgelöst noch immer mit ihren physischen Sinnen verbunden war.
Fünf Zentimeter. Das hatte ihr Eingreifen bewirkt. Wäre sie nicht in die Flugbahn von Jaggers Blitz geflogen, hätte er Reeses Herz durchbohrt, das nach dem spannungsgeladenen Schlag immer noch zitterte.
Sie ließ sie ihren Geist ausströmen, um mit schnellen und gezielten Berührungen die Wunde zu kauterisieren und die lebensbedrohlichen Schnitte zu flicken.
Plötzlich erschienen in der Nähe des Herzens feine, dichte Nebelschwaden.
Das Bild vor ihrem geistigen Auge verschwamm, als die seltsame Substanz sich überall festsetzte. Sie schimmerte und funkelte und wirkte wie eine Mischung aus Morgentau und mitternächtlichem Dunst. Seit siebzig Jahren heilte sie Krieger, doch so etwas hatte sie noch nie gesehen.
„Verdammt, Lena, wir brauchen dich.“ Die mahnenden Worte drangen ihr in die Ohren, als jemand eine Hand auf ihre Schulter legte.
Galena zog ihren Geist aus Reeses Körper und wirbelte blitzartig herum. Mit erhobenen Händen ging sie in die Hocke und nahm eine defensivere Haltung ein, während sie alles nur verschwommen wahrnahm.
Dann schärfte sich ihre Sicht und sie sah Ramsay vor sich. Das Weiß um seine grauen Iriden glühte förmlich. Nur mit Mühe schien er die Beherrschung nicht zu verlieren, während er sie finster anstarrte. „Was zum Histus ist los mit dir?“
Ihre Knie hätten fast nachgegeben. Vielleicht hatte sie sich bei der Heilung zu sehr verausgabt. „Er ist verwundet.“
„Er ist ein Verräter. Er hat sowohl mich als auch Eryx hintergangen.“ Er starrte sie an und drehte sich mit einer ausladenden Handbewegung um. „Und was ist mit den Männern?“
Überall um sich herum sah sie blutüberströmte, erschöpfte Krieger. Die meisten von ihnen standen noch und schwankten über das Schlachtfeld, um nach überlebenden Rebellen zu suchen. Sechs von ihnen lagen vor Maxis‘ Anwesen, während Eryx und Ludan sich um sie kümmerten.
Sie lief hochrot an und ihr Magen krampfte sich zusammen. Mit logischen Argumenten konnte sie ihr Verhalten nicht rechtfertigen. Sie hatte rein aus Instinkt und aus einem Gefühl heraus gehandelt, doch dabei hatte sie das Leben einiger loyaler Männer aufs Spiel gesetzt.
Dennoch würde sie nichts daran ändern. Gar nichts. Die Erkenntnis verblüffte sie selbst und sie hatte keine Ahnung, wie sie damit umgehen sollte.
„Kümmere dich um die Männer, die deiner Gabe würdig sind. Nicht um jemanden, der …“
„Das reicht.“ Sie richtete sich auf und begegnete dem finsteren Blick ihres Bruders. Vor Erschöpfung zitterte sie am ganzen Körper. „Heute Abend habe ich eine unschuldige Frau sterben sehen und sie in meinen Armen gehalten, während sie schrie.“
„Vertrau mir“, erwiderte Ramsay und warf einen Blick auf den bewusstlosen Mann hinter ihr. „Er ist nicht unschuldig.“
Sie liebte ihre Brüder und hatte ihnen immer vertraut. Jahrelang war sie ihnen mit unerschütterlicher Loyalität gefolgt und hatte getan, was sie von ihr verlangt hatten.
Bis zu diesem Augenblick.
Mit zitternden Beinen trat sie einen Schritt auf Ramsay zu und stemmte die Fäuste in die Hüfte. „Unschuldig oder nicht, ich habe das Gute in ihm gesehen. Ich wurde Zeuge, wie er ein Gebet über Phybes Leiche sprach, und spürte seine Trauer. Heilen ist meine Gabe, und wenn ich sie nutze, dann lasse ich mich von dem Großen leiten. Nicht von einem Mann, der sich von der Hitze des Gefechts mitreißen ließ. Leben ist Leben, ganz gleich, wessen Herz es nährt.“
Ramsay verzog den Mund. „Selbst das von Maxis Steysis?“
Seit nunmehr fast sechshundert Jahren bekriegten ihre Familien sich, nachdem ihr Großvater Maxis‘ Großmutter schwanger am Altar hatte stehen lassen, um eine Bürgerliche zu heiraten.
„Jeder hat einen Funken Güte in sich“, sagte Galena. Nun, vielleicht nicht Maxis. Aber sie würde nicht zulassen, dass Ramsay ihr Urteilsvermögen infrage stellte. Es gab einen Grund, warum sie sich zu Reese hingezogen fühlte. Sie würde lediglich ein wenig Zeit brauchen, ihn herauszufinden. „Wenn du nur einen Moment darüber nachdenken würdest, dann wüsstest du, dass es klug wäre, ihm das Leben zu retten. Immerhin hat er für Maxis gekämpft, und weiß sicher einige Dinge, die du von niemand anderem erfahren könntest.“
Reeses Brustkorb hob und senkte sich langsam und gleichmäßig. Sie öffnete ihre Sinne und registrierte den schwachen, aber stetigen Rhythmus seines Herzschlags. Mehr als alles andere sehnte sie sich danach, sich neben ihn zu knien und ihre Arbeit zu beenden. Sie wollte mit den Fingern durch sein ungebändigtes Haar streichen und sie vielleicht mit seinen verschränken, während sie darauf wartete, dass er aufwachte.
Beim Großen, was war nur los mit ihr? Woher kam plötzlich dieser Drang, ihn beschützen zu wollen?
Eryx‘ bester Freund und Somo, Ludan, rief vom anderen Ende des Schlachtfelds: „Ramsay.“
Galena kannte diesen Tonfall, denn sie hatte ihn schon nach unzähligen Schlachten gehört. Ein weiterer Krieger benötigte ihre Hilfe. Sie warf noch einen letzten Blick auf Reese und machte sich auf den Weg zu Ludan. „Ich kümmere mich darum.“
Nach drei Schritten hielt sie inne und drehte sich noch einmal zu Ramsay um. „Dir bedeutet er vielleicht nichts und wahrscheinlich verabscheust du ihn sogar. Aber wage es nicht, meine Gabe zu missachten, indem du ihm wehtust.“
Siebzig Jahre. Siebzig verdammte Jahre war es her, seit Maxis derart ratlos gewesen war.
Die Sonne strahlte heller als sonst und durchbrach die Wolken in Asshur. Der schwache Wind in seinem Rücken war ungewohnt warm, als hätte sich die Natur gegen ihn verschworen, um ihn aus seiner Trance zu rütteln.
Doch er war nicht daran interessiert, sich zu bewegen und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Er hatte keine Ahnung, was er als Nächstes tun sollte und war sich nicht einmal sicher, ob er sich die Mühe machen sollte, überhaupt darüber nachzudenken.
Mehr als drei Viertel seiner Männer waren tot. In dem Tal aus rotem Lehm, das sich unter ihm erstreckte, stolperte der verbliebene Rest seiner Armee unbeholfen auf dem Übungsfeld umher.
Das alles konnte nicht wahr sein. Hätte er nicht mit eigenen Augen den verbrannten Boden des Schlachtfelds und die unmöglich verdrehten Körper der gefallenen Männer nahe seines Hauses gesehen, hätte er es nicht geglaubt. Als er sein Anwesen am vergangenen Abend mit Serena verlassen hatte, waren die Krieger des Malrans seinen Soldaten zahlenmäßig weit unterlegen gewesen. Sie hätten keinesfalls überleben dürfen. Aber Eryx und seine Männer hatten nicht nur überlebt, sondern obendrein die Malress und Maxis‘ bisher bestausgebildete Sklavin gerettet.
Und das alles hatte er seinem verräterischen Strategos zu verdanken.
Sein Auge zuckte und der Schmerz in seinem Kiefer verstärkte sich. Er hatte Reese Theron vertraut, wie er seit dem Tod seiner Großmutter niemandem mehr vertraut hatte. Dieser verdammte verräterische, kurzsichtige Mistkerl. Wenn Reese Phybe wie befohlen getötet hätte, hätte Eryx niemals Maxis‘ Festung ausfindig machen oder Lexi retten können.
Seine Krieger ließen ihre Waffen fallen und gingen aufeinander los wie ein paar aufgebrachte hormongeladene Zicken. Sie waren nicht im Geringsten organisiert, was nicht verwunderlich war, nachdem Reese sie nur kurze Zeit angeführt hatte. Dennoch sollte man meinen, dass sie nicht nur durch Muskelkraft, sondern zumindest mit einem Funken Verstand glänzen würden.
Maxis versuchte, Reese mit seinem Geist zu erreichen. Doch wie bei jedem anderen Mal heute Morgen konnte er keine Verbindung zu ihm aufbauen. Reese war entweder tot oder von Zeolith umgeben.
Hinter ihm ertönte Serenas sinnliche Stimme: „Wenn ich mir den Ausdruck auf deinem Gesicht so ansehe, hättest du heute Morgen in meinem Bett bleiben sollen.“
Maxis zuckte zusammen. Eigentlich hätte er es besser wissen müssen und nicht derart unaufmerksam sein. Selbst wenn seine Krieger ganz in der Nähe waren, konnte er es sich nicht leisten, seinen Gedanken nachzuhängen, denn Eryx würde sicher auf Rache sinnen. Die Tatsache, dass es einer Frau gelungen war, ihn aus seinen Tagträumen zu schrecken, bewies nur, wie abgelenkt er war.
Aus dem Augenwinkel nahm er einen gelben Rock wahr. Zweifellos gehörte er zu einem der eleganten Kleider, die Serena so gern trug. Es war ihm schleierhaft, warum der Malran die Beziehung zu ihr vor Jahren abgebrochen hatte, denn mit ihren strahlenden blauen Augen und den langen blonden Haaren war sie der Inbegriff einer Malress. Glücklicherweise war sie von demselben Rachedurst getrieben wie Maxis.
„Willst du deiner Geliebten denn gar keinen guten Morgen wünschen?“ Von hinten packte sie seine Hüfte und liebkoste seinen Nacken, wobei sie ihre geschmeidigen Brüste an seinen Rücken schmiegte. Die Berührung brachte ihn endgültig auf die Palme.
„Das reicht jetzt.“ Er stieß sie von sich und trat wieder an den Felsvorsprung, um das Übungsgelände zu überblicken. Er hatte so schon genug um die Ohren und keine Lust, sich auch noch mit Serenas Launenhaftigkeit herumzuschlagen.
Serena stellte sich neben ihn und warf einen finsteren Blick auf die Männer. „Wenn ich für diesen Schlamassel verantwortlich wäre, wäre ich auch gereizt.“
Er wirbelte so schnell herum, dass sie nach Luft schnappte und einen Schritt zurückwich. Doch bevor sie sich ihm vollends entziehen konnte, packte er ihr Haar und zog sie dicht an sich. „Hüte. Deine. Zunge.“
Sie erstarrte, aber in ihren Augen flackerte ein herausforderndes Funkeln auf. Mit ihrer stattlichen Körpergröße, die die seine nur um vier oder fünf Zentimeter unterbot, bewegte sie sich mit königlicher Anmut und verhöhnte ihn damit genauso sehr wie mit ihrem Zitronen- und Honigduft.
„Verdammt noch mal.“ Er stieß sie von sich und stellte sich erneut an den Felsvorsprung, um seine Männer zu beobachten.
„Du könntest darüber reden“, sagte sie mit überheblichem Tonfall, in dem auch eine Prise Wagemut mitschwang.
„Worüber denn? Darüber, dass ich einen Teil meiner Männer verloren habe, oder darüber, dass Reese entweder gefangen genommen wurde oder tot ist?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Beide sind ersetzbar.“
Was die Krieger anging, hatte sie recht, obwohl es eine Weile dauern würde. Aber Reese? Eigentlich hatte er seinen Strategos töten wollen. Er hatte sehen wollen, wie Reese die Augen vor Schmerzen aufriss, während Maxis durch die Verbindung sein Gehirn zermarterte, so wie er auch Phybe ins Jenseits befördert hatte. Warum also wühlte ihn der Gedanke, dass er bereits das Zeitliche gesegnet hatte, derart auf?
„Wir werden auf jeden Fall weitere Männer rekrutieren müssen, um deine Pläne zu verfolgen, aber wir wären gut beraten, wenn wir andere finden würden, die die Laufarbeit übernehmen“, bemerkte Serena.
Maxis wandte sich ihr zu. „Wir?“
Das Luder zog gebieterisch eine Augenbraue in die Höhe. „Du hast mich in dieses Desaster hineingezogen, also finde dich damit ab.“ Mit düsterem Blick betrachtete sie die Männer unter sich und verzog die blassrosa Lippen zu einem teuflischen Grinsen. „Allem Anschein nach kannst du ein wenig Hilfe gebrauchen.“
Endlich. Ein Moment der Klarheit. Wut packte ihn, die er für sich nutzen konnte, und stürmte auf sie zu. „Damit das klar ist, Serena.“
Sie wich einen Schritt zurück. Ausnahmsweise ein kluger Schachzug ihrerseits.
Er folgte ihr. „Du bist nichts weiter als ein Fick. Zwar ein hübscher und vorteilhafter, aber dennoch nur ein Fick. Sämtliche Vorhaben, die die Rebellion betreffen, werden von mir geleitet, und nicht von einer görenhaften Salonlöwin, die für jeden die Beine breit macht.“
Sie zuckte kaum merklich zusammen, doch sie überspielte ihre Reaktion mit der Grazie einer langjährigen Königin und machte eine ausladende Handbewegung in Richtung des Übungsplatzes. „Wie du meinst. Herr über dein kostbares Königreich. Dem Großen sei Dank, dass mein Name nicht damit in Verbindung steht.“ Sie schoss in den Himmel und flog davon, ohne zurückzublicken.
„Und ich dachte, du seist ein kluger Mann.“
Maxis drehte sich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Sie klang dunkel wie ein rauer Bariton mit einer nasalen Note. Irgendwie war sie vertraut und doch fremd.
Er ließ den Blick über den Lehmboden schweifen, der bis auf vereinzelte dürre Sträucher unbewachsen war. Es war weit und breit niemand zu sehen. Auch als er seine Sinne ausschweifen ließ, konnte er nichts Ungewöhnliches wahrnehmen.
„Nur ein Idiot würde ein so scharfes und zugleich vorteilhaftes Weibsstück gehen lassen, um einem Verräter nachzutrauern.“ Die Stimme hallte um Maxis herum wie ein Echo aus einer Höhle.
Maxis stemmte die Beine in den Boden und verlagerte das Gewicht nach vorn, um sich gegen einen möglichen Angreifer zu verteidigen.
„Ich bin die geringste deiner Sorgen.“ Mit jedem Wort wurde die Stimme klarer.
Maxis wirbelte erneut herum.
Vor ihm stand ein hochgewachsener, schlanker Mann mit dunklen Haaren, der in ein seltsames Outfit gekleidet war, das Maxis weder bei den Myren noch in der menschlichen Dimension je gesehen hatte. Seine schwarze Tunika, die ihm bis auf die Schienbeine reichte, glänzte wie Seide und bildete ein H über seiner Brust. Dem Mann hätte ein wenig Sonne gutgetan. Seine blasse Haut hob sich deutlich von seinem schwarzen, glatten Haar ab, das am Haaransatz spitz zulief und ihm bis auf die Schultern fiel.
In der Ferne ertönten die Schreie der Männer, die unter ihnen trainierten. Keiner von ihnen schien den Besucher zu bemerken.
„Ich vertraue niemandem“, erwiderte Maxis. „Am allerwenigsten einem Fremden.“
Ein tiefes, unheimliches Lachen hallte durch die Luft, obwohl sich die Lippen des Mannes kaum bewegten. „Ich bin für dich kein Fremder, Maxis. Ganz im Gegenteil.“
Er hob eine Hand und wandte Maxis die Handfläche zu, während er ihn mit einem durchdringenden Blick betrachtete.
Die Landschaft verdunkelte sich und Szenen aus Maxis‘ Leben erschienen vor ihm. Der Tod seiner Großmutter, Evanora. Seine Mutter, die ihn mit neun Jahren verlassen hatte, weil sie ein halb menschliches Kind unter dem Herzen getragen hatte. Die menschlichen Raufbolde, die ihn verprügelt hatten, bevor er seine myrenischen Gaben entwickelt hatte. Der subtile Widerstand seiner Klinge, als er sie in die Brust seines Vaters gerammt hatte. Jeder bedeutende Moment in seinem Leben spielte sich in Windeseile vor ihm ab, während eine Stimme jede einzelne Erinnerung untermalte.
Im nächsten Moment waren die Bilder verschwunden und die trostlose Landschaft war wieder zu sehen. „Wer bist du?“, wollte Maxis wissen.
Das Lächeln des Fremden wurde breiter. „Dein Spiritu.“
„Verarsch mich nicht. Ich habe gefragt, wer du bist, nicht, was du bist.“
„Immer auf Zack.“ Der Mann nahm eine etwas lässigere Haltung ein. „Das habe ich stets an dir geschätzt. Natürlich nur, wenn du nicht gerade deinen wertlosen Strategos beweinst.“
„Dein Name!“
Der Fremde verschränkte die Arme vor der Brust und wartete einen Moment. „Der Name, der mir von meinem Volk gegeben wurde, ist für deinen sterblichen Verstand viel zu komplex, aber du kannst mich Falon nennen.“
„Und dein Volk?“
„Ich dachte, meine Rasse interessiert dich nicht.“ Maxis umfasst den Griff seines Dolchs.
Falon grinste. „Du kannst mich nicht umbringen, denn Spiritu sind gegen den sterblichen Tod gefeit. Nur der Große vermag es, uns ein Ende zu bereiten.“ Er ließ seine Arme wieder seitlich hängen und ging auf Maxis zu. In der Luft lag eine Spannung, die hörbar knisterte. „Ich hingegen kann deinen Tod problemlos herbeiführen.“
Er baute sich vor Maxis auf und hob die Hand, wobei er Finger und Daumen abspreizte und sie krümmte, als würde er einen unsichtbaren Gegenstand ergreifen.
Plötzlich spürte Maxis einen Druck um die Kehle, der seine Atemwege blockierte und seine Luftröhre zerquetschte. Dabei schaffte er es nicht, irgendeine seiner elementaren Gaben einzusetzen und war weder in der Lage, die Erde anzurufen, noch das Feuer heraufzubeschwören. Sein Herz pochte wild in seiner Brust, als ihm langsam schwarz vor Augen wurde.
„Ich bin die Stimme in deinem Geist, Maxis. Dein ganzes Leben lang habe ich dich angeleitet und dich aufgerichtet, wenn du es am meisten gebraucht hast.“
Die Erinnerung an seinen Vater, der auf seinem riesigen Bett verblutet war, nur Sekunden, nachdem Maxis das Messer tief in seiner Brust vergraben hatte, flammte vor seinem geistigen Auge auf.
„Vor allem damals“, flüsterte Falon in Maxis‘ Gedanken. „Ich war es, der dich zu diesem Moment geführt und auch danach an jeden entscheidenden Punkt in deinem Leben gebracht hat.“ So schnell wie sich der Druck um Maxis‘ Kehle aufgebaut hatte, so schnell war er auch wieder verschwunden. Die kühle Luft Asshurs durchflutete seine Lunge und er taumelte einen Schritt zurück, um sich mit den Händen auf den Knien abzustützen.
Die Lehmkiesel unter Falons Stiefeln gaben ein knirschendes Geräusch von sich, als er langsam um Maxis herumschlenderte. „Mein Volk leitet die Myren und Menschen gleichermaßen. Wir sind die Leidenschaft und Inspiration, die ihre Seelen nähren. Ich gehöre dem dunklen Teil an, der sich auf die berauschenden Begierden konzentriert.“
Maxis wurde schwindelig und seine Knie zitterten. Er durfte sich seine Angst nicht anmerken lassen. Jeder hatte eine Schwäche, auch dieser Mann. Er musste sie nur finden.
„Dann hast du also plötzlich beschlossen, einen Hausbesuch zu machen?“, fragte Maxis und starrte Falon an. „Denk nicht, dass ich darauf hereinfalle. Selbst wenn ich deinen Behauptungen Glauben schenken würde, ist es verdächtig, dass du auf einmal von deinem üblichen Verhalten abweichst.“
„Dein weinerliches Herz hat mich dazu getrieben.“ Falon hielt inne, verschränkte die Hände lässig hinter dem Rücken, wandte sich um und entfernte sich einige Schritte, um seinen Blick über die karge Landschaft schweifen zu lassen. „Du kannst es leugnen, so viel du willst, aber dein toter Strategos hat dich völlig aus dem Konzept gebracht. Und das kann ich nicht einfach so hinnehmen. Wir haben viel zu lange und zu hart an deiner Zukunft gearbeitet, als dass du jetzt weich werden könntest.“
Seine Zukunft. Er wollte sich an der Blutlinie der Shantos für das Unrecht rächen, das seiner Familie angetan worden war, und den Thron für sich beanspruchen. Der Fremde hatte recht. Maxis musste sich konzentrieren und seine Pläne …
„Was hast du gerade gesagt?“ Maxis schritt auf den Spiritu zu, packte ihn an der Schulter und drehte ihn herum.
Ein hinterhältiges Grinsen breitete sich auf Falons Gesicht aus. „Ich sagte, toter Strategos. Was so viel bedeutet wie nicht mehr unter den Lebenden.“
„Und das weißt du mit Sicherheit?“
„Ich weiß, dass er nicht mehr in der Dimension weilt, auf die mein Volk Einfluss nehmen kann, also ja. Er ist tot.“
Maxis geriet ins Schwanken und sein Magen krampfte sich zusammen. „Vielleicht befindet er sich in einer Zeolith-Zelle.“
Falons Stimme triefte vor Abscheu. „Beim Großen, was macht das für einen Unterschied? Sieh dich nur an. Du musst dich konzentrieren, deine Pläne überarbeiten und dann von Neuem zum Angriff blasen. Indem ich persönlich hier erschienen bin, habe ich meinen Lichtbrüdern bereits eine günstige Gelegenheit geboten. Wir dürfen den Wesen des Lichts und dem Malran keine weiteren Vorteile verschaffen.“
Diese Information würde er sich merken und sie unter die Lupe nehmen müssen. Später.
Reese war tot.
Falon packte Maxis mit einem unnachgiebigen Griff an der Schulter und brüllte so laut, dass seine Stimme von den Felsen abprallte. „Hör mich an.“
Maxis feuerte einen spannungsgeladenen Blitz auf Falon ab.
Er glitt durch Falons Brust hindurch, der daraufhin ein wahnsinniges Lachen ausstieß.
Maxis taumelte zurück.
Die Krieger übten unbeirrt weiter und schienen trotz Falons Gelächter, das durch die Schlucht hallte, nichts zu bemerkten.
„Du willst ein Imperium, Maxis? Dann schaffe dir eines.“ In einer dramatischen Geste breitete der Spiritu die Arme aus. „Fang mit der Familie an.“
Familie. Der Begriff erschütterte Maxis bis ins Mark. Sein Vater hatte seiner Mutter nie angeboten, sich mit ihr zu vereinigen. Deshalb war sie ihm viel zu leicht entwischt. Allerdings hatte er sich nicht die Mühe gemacht, nach ihr zu suchen. Er hatte den Rest seines Lebens allein verbracht, und am Ende war ihm nichts weiter als eine zerschmetterte Rebellion geblieben. Im Gegensatz dazu war Evanora klug gewesen und hatte sich mit einer loyalen Familie und Freunden umgeben. Und war sie es nicht gewesen, die Maxis in seinen Vorhaben bestärkt hatte?
Falon hatte nicht ganz unrecht.
Vom Übungsplatz drangen Rufe und grunzende Laute.
„Was ist mit diesen Männern?“ Falon trat näher, wobei er sich nach wie vor in Maxis‘ Sichtfeld aufhielt. „Reese war nie deine beste Wahl als Strategos gewesen. Du warst ihm gegenüber schon immer voreingenommen. Wärst du aufmerksamer gewesen, wäre dir jemand aufgefallen, der viel besser zu dir passt.“
Die Männer hatten ihren eigenen Rhythmus gefunden und sich in Zweiergruppen aufgeteilt. Plötzlich ertönte auf dem hinteren Teil des Felds ein Schrei. Einer der Soldaten brach zusammen. Eine karmesinrote Linie breitete sich über seinen Hals aus, während er mit seelenlosen Augen gen Himmel starrte.
Sein Trainingspartner hielt einen Dolch mit einem dunkelgrauen Griff und einer blutverschmierten Klinge in der Hand.
Maxis schwang sich von seinem Platz auf dem Felsvorsprung herunter und flog quer über das Tal, um einzugreifen, bevor der Mann noch weitere seiner Kameraden angreifen konnte. Er schlug ihm den Dolch aus der Hand. „Wir brauchen mehr Kämpfer, nicht weniger.“
Der Krieger starrte Maxis mit seinen seltsamen grünen Augen an, wobei er nicht einmal blinzelte. Schweiß bedeckte seine nackte Brust und sein kurzes schwarzes Haar war durchnässt und zerzaust. „Aber wenn sie zu schwach sind, dann sind sie der Ausbildung nicht würdig.“
Der Logik des Mannes war nichts entgegenzuhalten. „Wie heißt du?“, fragte Maxis.
Um sie herum herrschte Stille. Außer dem Schlurfen einiger Füße und dem Rauschen des Windes war nichts zu hören.
„Uther Rontal.“
Die Männer blickten zwischen Uther und Maxis hin und her und hatten das Gewicht auf ihre Fußballen verlagert, um falls nötig die Flucht zu ergreifen.
Sie fürchteten sie beide. Und mit der Angst kam die Möglichkeit, sie zu kontrollieren. Wie hatte er einen solchen Mann in seiner Truppe übersehen können?
Falons Stimme ertönte in Maxis‘ Kopf. „Wie ich schon sagte, eine viel bessere Wahl.“
Reese erwachte zu dem stetigen Grollen gedämpfter Männerstimmen. Jeder Muskeln in seinem Körper tat weh und seine Lider waren so schwer wie der Rest von ihm. Er spürte die Kälte der harten, rauen Oberfläche, auf der er lag. Stein vielleicht. Als er versuchte, sich zu bewegen, durchzuckte ein stechender Schmerz seine Wirbelsäule. Beim Großen, was zum Teufel hatte er getrieben? Das Letzte, woran er sich erinnerte …
Der Blitz des Kriegers, der an Galenas Wange vorbeigeschossen war und ihn in die Schulter getroffen hatte. Eigentlich müsste er tot sein.
Kühle, feuchte Luft umwehte seinen Oberkörper. Sie war von dem Geruch von Schimmel und Erde durchzogen, doch da war noch etwas anderes, was er nicht genau zuordnen konnte. Reese atmete tief durch und ignorierte die stechenden Schmerzen in seinen Rippen. Kräuter. Er hatte keine Ahnung, um welche Pflanzen es sich handelte, doch sie verströmten einen frischen Duft, der hier fehl am Platz schien. Und Blumen. Er roch eindeutig auch Blumen.
Wie aus dem Nichts baute sich um die Wunde ein Druck auf, der sich in Sekundenschnelle erwärmte, bis er glühend heiß war. Ein Schrei entrang sich seiner Kehle, die jedoch wie zugeschnürt war. Er musste sich bewegen und wollte nur noch um sich schlagen, um sich dagegen zu wehren. Doch er war nicht imstande, sich zu bewegen, denn er war wie gelähmt.
Im nächsten Moment verflog der Schmerz und die Hitze verebbte.
Er bekam eine Gänsehaut und zitterte am ganzen Körper, denn er fror bis auf die Knochen. Etwas streifte sein Bewusstsein.
Seine Erinnerungen. Jemand versuchte gerade, in seinen Geist einzudringen und sie zu lesen. Eine Invasion. Er zwang sich, die Augen zu öffnen, versuchte, sich aufzusetzen und erstarrte. Seine Stimme wurde brüchig. „Galena.“
Das Licht der Fackeln hinter ihr reflektierte auf ihrem kastanienbraunen Haar. Sie verzog die Lippen zu einem geübten Lächeln. „Ich weiß, das war schmerzhaft, aber bald wird es dir besser gehen.“
Sie hatte ihn geheilt. Das war das Brennen gewesen, das er unter seiner Haut gespürt hatte. Doch da war auch ein Ausdruck von Schuld in ihren Augen. Hatte sie sich Zugang zu seinen Erinnerungen verschafft, bevor er sie ausgeschlossen hatte?
„Das reicht jetzt.“
Reese zuckte zusammen, als er die Stimme hörte, denn er kannte diesen wütenden Tonfall nur allzu gut. Er wagte es nicht, aufzusehen. Er traute sich selbst nicht über den Weg.
„Bringt ihn nach oben in die Zelle.“ Sein ehemaliger Strategos Ramsay Shantos, der Reese ausgebildet und ihm dann die Aufnahme in die Bruderschaft der Krieger verweigert hatte, tauchte in seinem Blickfeld auf und zog Galena beiseite.
Zwei Wachen eilten herbei und hoben Reese an den Armen und Oberschenkeln hoch. Sie zerrten ihn in Richtung einer Zelle, wobei jeder Ruck und jeder Stoß seinen zerschundenen Körper erneut aufschreien ließ.
Ein eiskalter Schauer durchströmte ihn und sein Magen verkrampfte sich. Zeolith. Der Kristall zermalmte seine Kräfte so gnadenlos wie ein Stiefelabsatz einen Käfer.
Auch die Wachen stöhnten unter der Wucht auf. Die Scheiden ihrer Dolche prallten gegen ihre Gürtel, als sie ihn in eine Ecke schleuderten.
Er fiel auf eine dünn gepolsterte Pritsche und klapperte so laut mit den Zähnen wie die Zellentür, die die Wachen hinter sich zuschlugen.
Beim Großen, ihm tat alles weh. Am ganzen Körper. Er setzte sich auf und hielt den Atem an, bis der Schmerz sich gelegt hatte.
Auf dem verwitterten Holztisch neben ihm brannte eine Kerze. In Eden nutzte man Elektrizität nicht auf die gleiche Weise wie in der menschlichen Dimension, und kein Gefängniswärter, der noch bei Verstand war, würde es riskieren, den Raum durch ein Oberlicht zu beleuchten. Die Gefahr war einfach zu groß, dass ein Gefangener durch die Öffnung auf die Energie von Eden zurückgreifen konnte, um damit das Zeolith zu umgehen und seine Kräfte zu nähren.
Auf der anderen Seite der Tür brüllte Ramsay etwas und machte gerade jemanden zur Schnecke.
Reese kämpfte sich auf die Beine, drückte die Knie durch und verlangsamte seinen Atem. Er kannte Ramsay wie kaum ein anderer. Es würde höchstens noch dreißig Sekunden dauern, bis sein einstiger Freund durch die Zellentür stürmte und den Mann attackierte, auf den er wirklich wütend war.
Reese.
Er straffte die Schultern und atmete durch den Schmerz hindurch. Verdammt, er würde Ramsay mit Stolz gegenübertreten. Sein Drast war verschwunden und sein Oberkörper war unbedeckt, was aufgrund seiner Wunde nicht verwunderlich war. Doch er hatte immerhin noch seine Hose und seine Stiefel.
Jemand schob den Riegel zurück und riss die Tür auf.
Ramsay stürmte hinein und schloss die Tür mit einem lauten Knall hinter sich. Er hatte die Zähne so fest zusammengebissen, dass Reese schon glaubte, sein Kiefer könnte brechen. Dem Großen sei Dank, das Zeolith würde auch Ramsays Kräfte unbrauchbar machen und immerhin für eine faire Ausgangssituation zwischen den beiden Männern sorgen.
Reese warf einen Blick auf die Tür. „Wo ist Galena?“
„Das geht dich nichts an“, entgegnete Ramsay und klang dabei so hart und kalt wie der Kerker, in dem sie sich befanden.
Von wegen. Aus irgendwelchen Gründen hatte sie ihn gerettet. „Wurde sie verletzt?“
Ramsay verschränkte die Arme vor der Brust und legte den Kopf schief. „Warum interessiert es dich, wie es ihr geht? Du hast versucht, sie zu töten.“
Siebzig Jahre später und Ramsays Blick brachte ihn immer noch aus der Fassung.
„Ein Krieger, der etwas zu verbergen hat, hat keinen Platz in der Bruderschaft. Dieser Kandidat ist des Dienstes unwürdig.“
Die Worte waren Reese noch lebhaft in Erinnerung und rissen alte Wunden wieder auf. „Warum hast du zugelassen, dass sie mich heilt?“
Ramsay ließ die Arme hängen und trat mit geblähten Nasenflügeln einen Schritt auf ihn zu. „Weil du über Informationen verfügst, die ich haben will.“
Das Blut rauschte ihm in den Ohren und seine Knie drohten nachzugeben. Natürlich, deshalb hatte Galena ihn gerettet. Sie hatte an ihr Volk und ihre Brüder gedacht. Sie hatte ihn wegen seines Wissens gerettet, nicht aus Barmherzigkeit oder Güte.
Die Tür wurde mit Wucht aufgestoßen und prallte gegen die Steinwand. „Ramsay, gib ihm Zeit, um zu heilen.“
„Nicht jetzt, Galena“, erwiderte Ramsay, der weiterhin Reese anstarrte.
Sie schwankte und ihr Gesicht war blass. Was immer sie getan hatte, um ihn zu heilen, ihre empathische Gabe hatte ihren Tribut gefordert.
Ramsay ging auf Reese zu. „Du bist mittlerweile gesund genug, um mir die nötigen Informationen zu geben. Ich wette, ich kann einen Weg finden, um sie aus dir herauszuquetschen.“
„Ramsay.“ Galena stürmte nach vorn und geriet ins Stolpern.
Reese wich seitlich aus. Obwohl seine Beine nachgaben, fing er sie auf und dämpfte ihren Sturz ab, wobei er mit seiner gesunden Schulter auf den Steinboden prallte.
Galena drehte sich in seinen Armen um und inspizierte sofort seine Verletzungen. Sie hatte die Augen weit aufgerissen und den Mund leicht geöffnet. „Reese.“
Scheiß auf den Schmerz. Es war die Qualen wert, sie so nah bei sich zu haben. Ihre Lippen schwebten dicht an seinem Mund und er konnte ihren Atem an seinem Gesicht spüren. Ihr geschmeidiger Busen war an seine Brust gedrückt, während er sich von ihrem blumigen Duft umhüllen und an einen anderen Ort entführen ließ.
Ramsay hob sie hoch und riss sie aus Reeses Armen.
„Es geht mir gut“, protestierte Galena und versuchte, sich Ramsays Griff zu entziehen. „Lass mich runter.“
„Es geht dir nicht gut.“ Ramsay verlagerte ihr Gewicht in seinen Armen. „Du siehst furchtbar aus.“
Reese stieß sich auf wackeligen Beinen vom Boden ab und schnaufte dabei vor Anstrengung.
„Ich brauche nur etwas Ruhe.“ Sie wehrte sich noch immer. „Jetzt lass mich runter.“
„Nein.“ Ramsay wirbelte herum und ging auf die geöffnete Tür zu, vor der seine Wachen warteten. An der Schwelle hielt er inne und drehte sich noch einmal zu Reese um. „Sie hat dir den Arsch gerettet. Und zwar gleich zweimal. Wenn dir wirklich so viel an ihr liegt, dann solltest du dich für ihre Bemühungen bedanken, indem du Antworten für mich hast, wenn ich zurückkomme.“
Mit diesen Worten schlug er die Tür hinter sich zu, dann hörte Reese nur noch seine schnell verklingenden Schritte.
Er ließ sich zurück auf die Pritsche fallen, deren Holzbeine unter seinem Gewicht ein knirschendes Geräusch von sich gaben. Was zum Histus war nur mit ihm los? Er war ein Kriegsgefangener. Wahrscheinlich würde er in vierundzwanzig Stunden hängen, aber er konnte nur daran denken, wie gut Galena sich neben ihm anfühlte. Es war einfach zum Verrücktwerden.
Er ballte die Faust um die grobe braune Decke auf der Pritsche. Galena hätte ihre Energie nicht verschwenden sollen, um ihn zu heilen. Das Zeolith negierte seine Gaben, aber es schützte ihn auch vor Maxis. Sobald er nicht mehr von dem Kristall umgeben sein würde, würde Maxis ihn über seine Verbindung zu ihm finden und sein Gehirn genauso zermartern wie Phybes.
Er lachte und ließ seinen Hinterkopf gegen die Wand fallen. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Ramsay und Eryx würden ihn wegen Verrats am Galgen baumeln lassen, ob er ihnen nun die gewünschten Informationen lieferte oder nicht. Selbst wenn sie im Austausch für sein Wissen Gnade walten ließen, würde er den Rest seines Lebens eingekerkert in Zeolith verbringen müssen, und das war weitaus schlimmer als der Tod.
Zwei Todesurteile oder ein Leben im Gefängnis. Er stieß ein Schnauben aus und ließ den Kopf hängen. Ganz gleich, wie die Sache ausgehen würde, er war auf jeden Fall am Arsch.
***
Galena setzte sich ruckartig im Bett auf und keuchte. Ihre Halsschlagader pochte heftig und ihre Brüste schmerzten. Kühle Luft umhüllte ihre schweißnasse Haut, als sie blinzelte und versuchte, sich zu orientieren. Smaragdgrüne Vorhänge umrahmten ein geöffnetes Fenster, durch das sie den dunklen Himmel sehen konnte. Eines ihrer Lieblingsgemälde hing an der gegenüberliegenden Wand. Ihr Zimmer im Schloss.
Jetzt erinnerte sie sich. Ramsay hatte ihr nicht erlaubt, nach Hause zu gehen.
Er hatte darauf bestanden, dass sie im Schloss übernachtete, statt sich in ihre Hütte zurückzuziehen.
Sie zupfte an der feuchten Seide, die ihren Bauch bedeckte und atmete tief durch, bevor sie den Kopf zurück in die Kissen fallen ließ. Die sinnlichen Bilder ihres Traums spielten sich noch einmal vor ihrem geistigen Auge ab. Sie und Reese, die einander leidenschaftlich küssten, während ihre schweißnassen Körper ineinander verschlungen waren. Sie presste die Schenkel zusammen und stöhnte auf, als ihr Unterleib sich bei der Erinnerung zusammenzog.
In ihrem Traum hatte er sie verschlungen und sie auf eine Weise berührt, wie kein Mann es je zuvor im wirklichen Leben getan hatte. Kühn. Wollüstig.
Ein Verräter.
Sie schlug die Decke beiseite und stand auf. Sie musste sich für rein gar nichts schämen. Was machte es schon, wenn sie ihren Begierden das Gesicht von Reese gab? Es bedeutete nicht, dass sie sich nach ihm sehnte, sondern nur, dass sie selbst begehrt werden wollte. Sie hatte keine Lust, in einer Beziehung zu enden, nur um jemandem zu einem politischen Vorteil zu gereichen oder die geistlose Hausfrau zu spielen. Sie wollte mehr.
Sie strich sich die Haare aus dem Nacken, stapfte zum Fenster und stützte sich mit den Ellbogen auf dem Steinsims ab. Hätte sie sich auf ihre Manieren besonnen und sich aus Reeses Kopf herausgehalten, dann hätte sie ihrer Fantasie gar nicht so viel Stoff bieten können.
Sie lief hochrot an und ein erstickter Laut entrang sich ihrer Kehle. Eigentlich hatte sie nur herausfinden wollen, ob er irgendwelche bösen Absichten hegte und ihr bedrohlich werden könnte.
Aber sie hatte eine Überraschung erlebt. Sie hatte ihr Bild vor sich gesehen. Unter all seinen letzten Erinnerungen war es vorherrschend gewesen.
Sah er sie wirklich auf diese Weise? So sexy? Und sinnlich?
Eine Brise liebkoste ihren Hals und umwehte ihre feuchten Haarsträhnen. Es dämmerte bereits, doch ihre Umgebung trat in den Hintergrund. Wie würde es sich anfühlen, wenn Reese ihren Nacken berührte? Wenn er seine Hände in ihrem Haar vergrub? Und sie seinen Atem an ihrem Hals spürte?
Sie stieß sich vom Fenster ab und ging zum Kleiderschrank. Es tat ihr nicht gut, sich derartigen Gedanken hinzugeben. Außerdem war es nicht realistisch. Der Morgen brach allmählich herein, was bedeutete, dass sie zwölf, dreizehn Stunden geschlafen hatte. Genügend Zeit, um sich zu erholen. Beim Großen, sie brauchte die Energie.
Mit mentaler Kraft entzündete sie die Kerzen in ihrem Zimmer. Kräftige Farben und weiche Stoffe füllten ihren Kleiderschrank. Darunter befanden sich einige elegante Kleider, doch ihre Garderobe bestand hauptsächlich aus Tuniken und bequemen Leggings. Andere Frauen hielten sich an die althergebrachte Etikette und bevorzugten förmliche Kleidung, aber für eine Heilerin waren derartige Roben nur hinderlich.
Sie entschied sich für ein smaragdgrünes Ensemble und bürstete rasch ihr Haar. Was zum Histus war nur in Ramsay gefahren? Von allen Mitgliedern ihrer Familie war Ramsay das fröhlichste. Immer der Playboy, der die Frauen nur mit einem Augenzwinkern und einem Lächeln ihrer Höschen entledigen konnte. Selbst während einer Schlacht hatte er hin und wieder einen Scherz auf den Lippen. Warum war er also wütend?
Natürlich hatte Reese auf der Seite der Rebellen gekämpft. Und er hatte offensichtlich etwas zu verbergen. Dennoch schien das Ausmaß seiner Wut übertrieben. Irgendetwas stimmte da nicht.
Sie warf die Haarbürste auf die Marmorplatte der Kommode. Das klappernde Geräusch übertönte ihr frustriertes Schnaufen. War sie kurzsichtig gewesen, als sie sich auf die Seite des Feindes gestellt hatte? Ramsay und Eryx waren ihre einzigen lebenden Verwandten. Wie konnte sie sie verraten, indem sie auch nur an jemanden dachte, der der Rebellion diente? Geschweige denn, über ihn zu fantasieren.
Sie schob den Gedanken beiseite und griff nach ihrer Zahnbürste. Statt in ihrem Zimmer herumzusitzen und Trübsal zu blasen, sollte sie nach Brenna sehen. Es war mutig von Eryx gewesen, die tapfere Menschenfrau zu heilen, die Lexi während der Schlacht das Leben gerettet hatte. Niemand konnte ahnen, welche Auswirkungen der Eingriff auf einen Sterblichen haben würde, außerdem versetze er Eryx in eine heikle Lage. Malran hin oder her, er hatte gegen die myrenischen Gesetze verstoßen, die jegliche Einmischung in das menschliche Schicksal untersagten. Dafür könnte er mit dem Tod bestraft werden.
Ein paar Wachen nickten ihr auf dem Weg zur Küche zu, aber die meisten von ihnen blickten stur geradeaus.
So viele Krieger. Maxis hatte es einmal geschafft, zu ihrer Familie vorzudringen, doch ein zweites Mal würde er keinen Erfolg haben. Eryx ging eindeutig kein Risiko ein. Sie könnte wetten, dass er auch in ihrer Hütte Wachen abgestellt hatte.
Der Duft von frisch gebackenem Brot und etwas Süßem stieg ihr in die Nase, noch bevor sie die Küche betrat. Als sie um die Ecke bog, begrüßte sie sofort ein Schwall Wärme, der aus den Holzöfen strömte.
„Warum um alles in der Welt bist du schon wach?“
Galena stieß einen Schrei aus und wirbelte herum. „Orla.“ Sie rieb sich mit der Hand über ihre Brust und starrte die grauhaarige Frau an. „Zur Hölle, du hast mich zu Tode erschreckt.“
Orla streckte eine Hand in Galenas Richtung aus und schnippte mit den Fingern.
Ein Stromstoß schoss durch den Raum und traf Galena in den Hintern. Sie zuckte mit der Hüfte, doch eher aus Reflex als vor Schmerz.
„Hüte deine Zunge, Galena. Aus dem Mund deiner Brüder bin ich den menschlichen Slang ja gewohnt, aber einer jungen Dame steht er nicht so gut zu Gesicht.“ Orla schloss die Tür zur Vorratskammer mit der Hüfte und huschte mit einer Kiste frischer Hefe zur Kücheninsel, wobei ihr langes Haar offen über ihre Schultern wallte. Für die frühmorgendliche Uhrzeit grinste sie viel zu strahlend.
Galena rieb sich die Stelle, die Orla mit ihrem Blitz getroffen hatte. „Lexi verbesserst du auch nicht, und sie flucht mehr als die meisten Männer.“
„Natürlich verbessere ich sie nicht. Zum einen ist sie die Malress. Und zum anderen muss sie mit den Kerlen so sprechen, wenn sie will, dass sie ihr zuhören.“ Sie trat um die Kücheninsel herum und tätschelte Galena die Wange. „In deinem Fall wirken solche Ausdrücke jedoch, als würde man ein schönes Kunstwerk mit Graffiti beschmieren.“
Galena stieß einen Seufzer aus und lehnte sich gegen die Arbeitsplatte, während Orla in einem der Schränke nach einer Schüssel kramte.
So viel zum Thema Hunger. Sie wäre besser beraten, wenn sie Rosen von ihren Dornen befreien oder das Unkraut in ihrem Garten jäten würde. Warum alle ein klassisches Kunstwerk in ihr sahen, würde sie nie verstehen. „Graffiti hat auch seine Reize.“
Orla drehte sich um, legte den Kopf schief und blickte sie fragend an. „Stimmt etwas nicht?“ Sie stellte die Schale beiseite und schenkte Galena ihre volle Aufmerksamkeit. „Du siehst aus, als wärst du nicht ganz … auf der Höhe.“
Nun, das war nicht überraschend. Wenn ihr Äußeres ihr Innerstes widerspiegelte, sah sie wahrscheinlich aus, als hätte sie eine fünftägige Sauftour hinter sich.
Galena zögerte und rieb die Hände aneinander. Orla hatte ein warmes Herz und eine fröhliche Persönlichkeit, aber sie hielt verbissen an alten Gepflogenheiten fest. „Bis dein Bruder eine Gefährtin gefunden hat, musst du die Rolle deiner Mutter übernehmen“, hatte sie gesagt. „Die königliche Familie ist ein Vorbild für alle. Vor allem du musst der nächsten Generation von Frauen als gutes Beispiel vorangehen.“
Sie versuchte, ein Schnauben zu unterdrücken, und klang dabei, als würde sie niesen. Nein. Mit Orla konnte sie nicht gerade ein offenherziges Gespräch von Frau zu Frau führen. Sie stieß sich von der Kücheninsel ab und umarmte Orla herzlich. „Es ist alles in Ordnung. Wahrscheinlich ist es einfach noch ein bisschen zu früh für mich. Sobald die Sonne aufgeht, bin ich wieder auf der Höhe.“
„Nimm dir etwas zu essen, wenn du schon mal hier bist. Auf dem Herd stehen frisches Brot und Briash. Lexi hat mich wieder einmal angefleht, Lastas zu machen, aber die werde ich erst in ein paar Stunden zubereiten.“ Sie ließ ihren Blick durch die Küche schweifen und klopfte dann die Taschen ihrer Schürze ab. „Galena, könntest du mir meine Haarspange holen? Ich glaube, ich habe sie in der Nähe des Hintereingangs liegen lassen, als ich heute Morgen reinkam.“
Galena nickte und schnappte sich auf dem Weg nach draußen das Endstück eines Brotlaibs.
Genau wie Orla gesagt hatte, fand Galena die Spange auf dem Beistelltisch neben den Kleiderhaken am Hintereingang. Sie griff sie sich, wandte sich der Küche zu und hielt kurz inne.
Der Eingang zum Kerker lag direkt vor ihr, fest verschlossen und unbewacht. Es war nicht verwunderlich, dass Eryx keine Wachen abgestellt hatte. Er machte sich zwar Sorgen darüber, dass jemand eindringen könnte, aber einen möglichen Ausbruch befürchtete er nicht. Es war noch nie nötig gewesen, die Zellen abzusichern.
Sie war versucht, nach Reese zu sehen. Weit und breit war niemand in der Nähe, daher könnte auch niemand bezeugen, dass sie in den Kerkern war. Und falls er gar nicht dort wäre, würde es auch keinen Unterschied machen.
Nein. Reese ging sie nichts an. Falls Ramsay oder Eryx ihre Hilfe bräuchten, würden sie sich bei ihr melden.
Sie machte sich auf den Weg in die Küche. „Ich habe sie. Sie war genau da, wo du gesagt hast.“ Klang ihre Stimme ein wenig zu schrill und zu fröhlich? Sie legte die Spange beiseite und nahm sich noch eine Scheibe Brot. „Gib mir Bescheid, wenn die Lastas fertig sind. Ich werde Brenna einen Besuch abstatten.“
Orla blickte kaum von ihrem Teig auf. „Natürlich, Liebes. Lass mich wissen, falls ich irgendwie helfen kann.“
Galena ging in Richtung des Gästeflügels, in dem sich Brenna aufhielt. Sie wäre wirklich besser beraten, wenn sie nach dem Mädchen statt nach Reese sehen würde. Immerhin hatte sie alles Nötige getan, um ihn am Leben zu erhalten, damit er ihnen Informationen liefern konnte. Doch nun ging sie die Sache nichts mehr an.
An der untersten Treppenstufe hielt sie inne. Was wäre, wenn Ramsay von Reese nichts erfahren hatte? Ramsay war furchtbar wütend gewesen, als er gegangen war. Sie lief zurück in Richtung des Kerkers, wobei sie der Küche auf leisen Sohlen auswich. Vor dem Hintereingang des Hauses waren zwei Wachen postiert, die ihr jedoch den Rücken zugewandt hatten.
Sie achtete darauf, beim Entriegeln des Kellereingangs leise zu sein und öffnete die Tür.
Eine Brise feuchter Luft strich ihr das Haar aus dem Nacken. Der Geruch von Petroleum und Pech stieg ihr in dem von Fackeln beleuchteten Gang in die Nase.
Hier unten waren keine Wachen zu sehen. Eine lange Reihe von Zellen erstreckte sich vor ihr, deren Türen alle geschlossen waren. Neben der Tür zu Reeses Verlies brannte eine schwelende Fackel.