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Katajun Amirpur

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Beschreibung

Es gibt ihn doch, den modernen Islam, der für die Gleichberechtigung der Geschlechter, Demokratie, Freiheit, religiöse Toleranz und die Menschenrechte eintritt und sich dabei auf den Koran beruft! Katajun Amirpur eindrucksvoll, dass der Islam heute vielfältiger und moderner ist, als es bärtige Islamisten und westliche Islamkritiker wahrhaben wollen.

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Katajun Amirpur

Reformislam

Der Kampf für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

C.H.Beck

 

 

Zum Buch

Es gibt ihn doch, den modernen Islam, der für die Gleichberechtigung der Geschlechter, Demokratie, Freiheit, religiöse Toleranz und die Menschenrechte eintritt und sich dabei auf den Koran beruft! Katajun Amirpur schildert die Geschichte des Reformislams und macht mit seinen einflussreichsten Vordenkern bekannt, für die die Zukunft des Islams schon begonnen hat. Ihr engagiertes Buch zeigt eindrucksvoll, dass der Islam heute vielfältiger und moderner ist, als es bärtige Islamisten und westliche Islamkritiker wahrhaben wollen.

Dem Islam wird oft nachgesagt, er habe den Anschluss an Moderne und Aufklärung verpasst – ein Irrtum, wie Katajun Amirpur in ihrem eindrucksvollen Buch zeigt. Sie stellt die einflussreichsten Erneuerer des Islams vor, die sich für Demokratie und Menschenrechte einsetzen und dabei immer mehr Anhänger in Orient und Okzident finden. Sie wollen die Deutungshoheit über den Islam nicht den Fundamentalisten überlassen und setzen dem Dschihad gegen die Ungläubigen ihren eigenen Dschihad für mehr Freiheit und die Gleichberechtigung der Geschlechter entgegen. Zur Sprache kommen unter anderem der ägyptische Korangelehrte Abu Zaid, der durch die Zwangsscheidung von seiner Frau bekannt wurde, und die amerikanische Frauenrechtlerin Amina Wadud, die mit der Leitung eines Freitagsgebets – als erste Frau überhaupt – weltweit Aufsehen erregte. Ihre auf dem Koran gründenden Überlegungen zu einer gerechten politischen Teilhabe aller Menschen können, so zeigt das Buch, auch für Nicht-Muslime höchst anregend sein.

„Das Standardwerk für den modernen muslimischen Umgang mit dem Koran.“ Angelika Neuwirth, Die Zeit

Über die Autorin

Katajun Amirpur, geb. 1971, ist Professorin für Iranistik an der Universität zu Köln und schreibt regelmäßig für große Zeitungen und Zeitschriften.

 

 

 

 

Im Gedenken anNasr Hamid Abu Zaid

Inhalt

Vorwort

1    Auf dem Weg in die Moderne

Die Tradition des Reformislams

Säkularismus und Islamismus

2    Islamische Reformer heute

Post-Islamismus

Islamischer Feminismus

Männer für Frauen

Islam in und für Europa

Kritik als Selbstkritik

3    Nasr Hamid Abu Zaid: Wer ist hier der Ketzer?

Ein geborener Sieger

Afrika, Amerika, Asien

Scheidung von der Heimat

Gottes Wort

Spricht Gott Arabisch?

Das Verhängnis Politik

Das Private ist politisch, ist Wissenschaft

4    Fazlur Rahman: Vom Koran zum Leben und wieder zum Koran

Ein traditioneller Gelehrter

Der Niedergang der muslimischen Gesellschaften

Die Diktattheorie

Der Koran als ethischer Leitfaden

Die Leute des Buches

Rezeption und Kritik

5    Amina Wadud: Mitten im Gender Dschihad

Muslimin aus Überzeugung

Warum Islam?

Weiblich, muslimisch, schwarz

Gender im Koran

Was sagt uns der Koran heute?

Perspektiven des islamischen Feminismus

6    Asma Barlas: Als wären nur Männer objektiv

Eine eurozentrische Sicht des Islams

Die patriarchalische Deutung des Korans

Islamischer Feminismus?

Als Muslimin in den USA

Befreiungstheologie

Plädoyer für ein anderes Gottesbild

Wird sich die beste Deutung durchsetzen?

7    Abdolkarim Soroush: Mehr als Ideologie und Staat

Ein Revolutionär im Namen des Islams

Vom Hofideologen zum Dissidenten

Die Wandelbarkeit der religiösen Erkenntnis

Eine religiös-demokratische Regierung

Wider die Ideologisierung der Religion

Wessen Koran?

8    Mohammad Mojtahed Shabestari: Der Prophet liest die Welt

Die Tradition und der Bruch mit ihr

Als Geistlicher in Hamburg

Wahrheit und Methode in Iran

Die Rezeption protestantischer Theologie

Politische Bewegungen im religiösen Gewand

Eine prophetische Lesart der Welt

Der Koran als Erzählung

Die Zukunft des Islams

Die Tradition des Islams

Dank

Literatur

Personenregister

Vorwort

Meine Mutter hörte gern auf den Namen «Umm Nasr» – Mutter des Nasr. Ich selbst habe sie so gerufen. Später fragte ich mich, weshalb man eine Frau nach ihrem ältesten Sohn nennt, ich fragte nach dem Bild der Frau, das in dieser Anrede zum Ausdruck kommt. Meine Mutter hat mich gelehrt, daß das traditionelle Frauenbild und die strikte Polarität von Mann und Frau zu überwinden sind. Meine Lektüre des Korans ist von solchen Erfahrungen beeinflußt worden. Die Verse im Koran, die von den Exegeten zuungunsten der Frauen gedeutet worden waren, habe ich instinktiv anders gelesen. (Abu Zaid 1999, 78)

In diesem kurzen Absatz brachte der ägyptische Literaturwissenschaftler Nasr Hamid Abu Zaid (1943–2009) das vielleicht Wichtigste zum Thema Reformislam zum Ausdruck: dass man den Koran auch anders lesen kann, wenn man dies nur möchte; dass es die Sichtweise des Exegeten ist, die das Ergebnis vorherbestimmt. Der Koran ist also interpretierbar.

Die hier vorgestellten Ansätze der Interpretation haben eines gemein, was sie von anderen zeitgenössischen Herangehensweisen innerhalb des Reformislams unterscheidet: Im Zentrum steht der Koran selbst. Dieser ist als der Referenztext der islamischen Kultur das Einzige, worüber sich alle Muslime einig sind, was man beispielsweise über die Hadithe nicht sagen kann. Deswegen sind die hier vorgestellten Denker der Auffassung, dass jede Reform vom Koran ausgehen muss. Ohne eine koranische Legitimation hat sie keine Aussicht auf Erfolg. Das bedeutet allerdings nicht, dass eine neue Lesart des Korans oder eine brillante neue Idee bezüglich seines Wesens eine Reform hervorbringen kann. Dazu braucht es mehr als das.

Dass sie den Koran ins Zentrum ihres Ansatzes stellen, war ein Kriterium für die Auswahl der Denker und Denkerinnen, die in diesem Buch vorgestellt werden. Das zweite war die Originalität ihres Denkens und die Wirkung, die sie auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlichem Rahmen entfalten, wie zu sehen sein wird. Und noch etwas haben die hier vorgestellten Denker und Denkerinnen gemeinsam: Ihr Leben und ihre Erfahrungen stehen in einem engen Zusammenhang mit der Weise, wie sie den Koran sehen. So ist es das Ziel dieses Buches, nicht nur Ideen zu präsentieren, sondern auch die Menschen, die sie formulieren.

Auf viele spannende Denker musste aus Platzgründen verzichtet werden. Das betrifft Asghar Ali Engineer und Riffat Hassan, aber ebenso Muhammad Iqbal, Sayyid Ahmad Khan, Chandra Muzaffar, Abdulaziz Sachedina, Abdelmadjid Charfi, Mohamed Talbi, Nurcholish Madjid, Ali Bulaç. Sie sollen an dieser Stelle wenigstens durch eine namentliche Erwähnung gewürdigt werden. Viele weitere werden im ersten Kapitel kurz, andere etwas ausführlicher behandelt, um die unterschiedlichen Ansätze insgesamt deutlich zu machen und das Spektrum des hier vorgestellten Reformislams zu erweitern.

Ein Wort zur Begrifflichkeit: Wie die Bezeichnungen «liberaler Islam», «progressiver Islam» oder «islamische Aufklärer» sind auch die Begriffe «muslimische Reformdenker» oder «Reformislam» umstritten. Auf einer Fachkonferenz, die 2005 in Berlin stattfand, äußerten viele der Anwesenden ihr Unbehagen bezüglich der Bezeichnungen. Ebrahim Moosa schlug als Alternative «critical traditionalism» vor, Abu Zaid plädierte für «muslim reform discourses» und ‛Abdullahi An-Na‛im wiederum verteidigte den Terminus «progressive thinking», wählte für sein Buch aber den Titel Toward an Islamic Reformation. Als Progressive Muslims bzw. Progressive Muslim Union bezeichnet sich eine Gruppe islamischer Intellektueller, die sich nach 9/11 zusammengefunden hat, um den fundamentalistischen Tendenzen in ihrer Glaubensgemeinschaft entgegenzuwirken. In der Schweiz hat sich das Forum für einen fortschrittlichen Islam gegründet. In Deutschland gibt es seit 2010 den Liberal-Islamischen Bund.

Es gäbe viel über den Sinn und Unsinn dieser Bezeichnungen zu sagen, über die Ab- und Ausgrenzung, die sie mit sich bringen, über die Herkunft aus anderen Kontexten, anderen Milieus und über die Probleme, die Begriffe wie «Fortschritt» und «Reform» mit sich bringen. Da «Reform» meist im Sinne von «Verbesserung» verstanden wird, lehnen viele Muslime den Begriff «Reformislam» grundsätzlich ab. Der Islam sei vollkommen, eine Verbesserung nicht notwendig. Vertreter islamischer Verbände sehen in dem Begriff und der Idee des «Reformislam» sogar den Versuch nicht-muslimischer Einmischung in innerislamische Angelegenheiten. In einer Stellungnahme des Zentralrats der Muslime in Deutschland heißt es: «Dem Islam droht die Gefahr, auf Grund des politischen und staatlichen Drucks gespalten zu werden in zwei ‹Konfessionen›: den Islam und den Reformislam.» (Zentralrat 2003)

Für eine längere Diskussion über Begrifflichkeiten ist hier nicht der Ort – zumal es weniger um Bezeichnungen gehen sollte als um Inhalte und vor allem um das allen Progressiven, Aufklärern, Reformern, kritischen Traditionalisten gemeinsame Bedürfnis, sich unleugbar vorhandenen Problemen zu stellen. Die Wahabiten hätten nicht nur die Gräber der Prophetenfamilie in Saudi-Arabien mit ihren Bulldozern überrollt, sondern ebenso das islamische Denken, schreibt Omid Safi zu Recht in der Einleitung zu einem Buch, das führende Denker der Progressive Muslims herausgegeben haben. Einige vorherrschende muslimische Positionen zu Toleranz, Recht, Gleichberechtigung und Meinungsfreiheit sind – das kann nicht übersehen werden – mit den Prinzipien des freiheitlichen demokratischen Rechtsstaates nicht vereinbar. Und darum geht es: Die hier versammelten Autoren wollen sich – wie viele weitere in der islamischen Welt und anderswo – diesem Problem stellen. Inzwischen haben sich die Bezeichnungen «Reformdenker» und «Reformislam» eingebürgert, in unseren Schulen und im Internet sind die Begriffe eingeführt. Deshalb werden die Termini auch in diesem Buch benutzt.

Neuen Ansätzen in der muslimischen Theologie wird zuweilen der Vorwurf gemacht, hier werde nach eigenen Wünschen ein neuer Islam zusammengebastelt, der weichgespült sei, angepasst an die Forderungen einer nicht-muslimischen Mehrheitsgesellschaft oder einer verwestlichten Minderheit. Aber erstens sind Demokratie und Menschenrechte und ihre Vereinbarkeit mit dem Koran nicht nur das Bedürfnis einer kleinen Minderheit, sondern das Streben der Mehrheit der Muslime. Davon bin ich überzeugt. Und zweitens erfolgt das Neulesen des Islams in guter Absicht, und die gute Absicht, die niya, zählt im Islam. Religionen werden schließlich gar nicht so sehr durch das bestimmt, was die Texte den Menschen vorgeben, sondern eher durch das, was die Menschen aus ihnen machen. Ob die im Folgenden vorgeschlagene Lesart des Korans die richtige ist, kann ohnehin niemand sagen. Wa allahu a‛lam. Gott ist Wissender.

Mit dieser Formel schließen klassische Korankommentare, die einen besonderen Aufbau haben: In der Mitte der Seite stehen die Koranverse. Rings um sie herum sind die Auslegung bzw. der Kommentar zu ihnen geschrieben. In weiteren Kreisen erscheinen andere Kommentare. Als hashiye bezeichnet man im Persischen diese Struktur, die den Jahresringen von Bäumen ähnelt. Manchmal waren es Dutzende Kommentatoren, deren Ansicht für wert befunden wurde, wiedergegeben zu werden; die Auslegungen unterscheiden sich oft stark voneinander, widersprechen sich gar, aber sie beziehen sich alle auf dieselben Verse. Am Ende, oft unten in einer Ecke, steht der Satz Wa allahu a‛lam, mit dem gemeint ist: Letztlich weiß es doch nur Gott. Wer wollte dem widersprechen?

1   Auf dem Weg in die Moderne

Die Tradition des Reformislams

Schon im 19. Jahrhundert plädierten Jamal ad-Din al-Afghani (1838/39–1897), Muhammad ‛Abduh (1849–1905) und Rashid Rida (1865–1935), die heute als die Gründungsväter des islamischen Reformismus gelten, für eine innere Reform des Islams. Ausschlaggebend für ihr Bestreben war, dass man sich dem Westen unterlegen fühlte. Für alle drei hatte die Rückständigkeit der islamischen Welt ihre Ursache ausschließlich in einem statischen, unflexiblen Islamverständnis und der blinden Nachahmung der Vorväter. Deshalb forderten sie eine moderne, den veränderten Umständen angepasste Interpretation des Korans bzw. des islamischen Rechts. Dieser Ansatz hat im Wesentlichen heute noch Bestand, und das Gleiche gilt für die grundsätzliche Frage, die mit seiner Hilfe beantwortet werden soll: Wie kann der Muslim gleichzeitig modern und authentisch sein?

Seit dieser Zeit entwickelte der Reformislam die unterschiedlichsten Spielarten. So ging der islamische Modernismus ebenso aus ihm hervor wie der Islamismus, das heißt der islamische Fundamentalismus, führten die Überlegungen ‛Abduhs, Afghanis und Ridas zu einem islamischen Gesellschaftsentwurf doch auch zur Ideologie des Islamismus als einer geschlossenen Weltanschauung. Immerhin vertraten sie die Ansicht, dass der «reine» und «unverfälschte» Islam alle Antworten auf die Fragen der Moderne bereithalte. Die Versöhnung von Islam und Moderne sollte deshalb mit einer Rückbesinnung auf den Koran und die Prophetentradition sowie mit der inneren Erneuerung der Gläubigen einhergehen. Hier konnten Fundamentalisten wie Modernisten anknüpfen – wenn sie auch unterschiedliche Schlussfolgerungen zogen. Vor allem Muhammad ‛Abduh gilt als der geistige Vater beider Formen islamischen Neudenkens.

Muhammad ‛Abduh wuchs in einer unterägyptischen Bauernfamilie auf und studierte an der Universität al-Azhar in Kairo. 1871 lernte er Jamal ad-Din al-Afghani kennen. Der Iraner Jamal ad-Din nannte sich Afghani, um zu verhindern, dass seine Reformideen von vornherein als schiitisch gebrandmarkt und abgelehnt wurden. Seine Ausbildung erhielt Afghani zuerst in Teheran, anschließend in den Zentren der schiitischen Lehre im Irak. Nach verschiedenen Zwischenstationen verschlug es ihn 1870 nach Istanbul. Dort fand er schnell Anschluss an reformorientierte Kreise. 1871 ging er nach Kairo. Als er die Gelegenheit bekam, beim osmanischen Vizekönig Tawfiq Pascha vorzusprechen, schlug Afghani diesem vor, das Volk an der Regierung zu beteiligen. Ägypten solle eigene staatliche Institutionen aufbauen, um sich der britischen Verwaltung zu entledigen. Eine Verfassung sollte der Willkür der Regierenden Grenzen setzen. 1879 wurde Afghani wegen dieser Ideen des Landes verwiesen, er ging nach Indien und von dort aus 1882 nach Europa.

Zwar gilt Afghani als einer der maßgeblichen Erneuerer des Islams, doch hat er sich vor allem auf dem praktischen Feld der islamischen Agitation hervorgetan und kaum Werke verfasst. Zu Lebzeiten wurde er von der Orthodoxie angefeindet, weil er sich um die Wiederbelebung der rationalistischen Strömung im Islam bemühte. Nach seinem Tod wurde er zum Helden des islamischen Modernismus, des Panislamismus und des antikolonialen Widerstands stilisiert. Zwei zentrale Themen durchziehen Afghanis Denken: die islamische Einheit und die Forderung nach einem reformierten und modernisierten Islam, der sich westliche Technologie und Wissenschaft zu eigen macht und sich mit ihrer Hilfe der politischen und wirtschaftlichen Abhängigkeit vom Westen erwehrt.

Afghanis Ideen wurden von seinem berühmtesten Schüler Muhammad ‛Abduh weiterentwickelt. Dieser leitete zusammen mit Rashid Rida das Zeitalter nationalistischer und religiöser Reform in Ägypten ein. ‛Abduh übernahm von Afghani die Ansicht, dass sich Muslime vom wahren Islam der Vorväter entfernt hätten und dass dies der Grund für ihre Rückständigkeit im Verhältnis zum Westen sei. Außerdem wurde ‛Abduh von seinem Lehrer an die europäische Literatur, Philosophie und Theologie herangeführt und erkannte, angeregt durch Afghani, den technischen und wissenschaftlichen Fortschritt des Westens an. Die westliche Lebensweise lehnte er jedoch für die islamische Welt ab. Höhere Bildung und richtig gelebte Religiosität sollten Ägypten in die Moderne führen.

1876 schloss ‛Abduh sein Studium ab und wurde 1878 Professor für Geschichte an der Kairiner Hochschule Dar al-‛Ulum, «Haus der Wissenschaften». Als Gastkommentator schrieb er für die Zeitung al-ahram und rief zu Bildungsreformen auf. Wegen seiner Kritik an den Briten musste er 1879 das Land verlassen, durfte aber ein Jahr später zurückkehren. Er wurde Herausgeber einer Regierungszeitung, die sich unter seiner Führung zum Sprachrohr reformistischer Ideen entwickelte. Sie forderte die Befreiung der Muslime von europäischer Hegemonie und die Erneuerung des Islams aus eigener Kraft.

Nachdem er 1882 beim ‛Urabi-Aufstand gegen die Regierung und für die Oppositionellen Partei ergriffen hatte, musste er Ägypten erneut verlassen. In Paris traf ‛Abduh auf seinen alten Lehrer al-Afghani. Gemeinsam gaben sie die reformistische Zeitschrift al-urwa al-wuthqa (Das stärkste Band) heraus. Darin propagierten Afghani und ‛Abduh ihren Reformislam, der den Idschtihad, ein Mittel zur Rechtsfortbildung, nutzte, um neue Antworten auf aktuelle Fragen zu geben. Angesichts der Gefahr, mit der die islamische Welt durch den europäischen Kolonialismus konfrontiert sei, müssten sich die Muslime vereinen. Stark für den Kampf würden sie durch die Praktizierung eines richtig verstandenen Islams. Auch hier geht es also nur um ein Thema: zur wahren Religion zu finden und durch sie gestärkt den Kolonialmächten Widerstand zu leisten.

Nach Aufenthalten in Tunis und Beirut kehrte ‛Abduh 1889 wieder nach Kairo zurück und fand dort eine Anstellung als Richter. 1899 wurde er zum Großmufti von Ägypten ernannt. Dieses Amt übte er bis zu seinem Tod aus. ‛Abduh erstellte Rechtsgutachten, die einen praktischen Bezug zum Leben der Muslime im modernen Ägypten hatten. Er widmete sich beispielsweise der Frage, ob ein Muslim Fleisch essen dürfe, das aus dem nicht-muslimischen Ausland importiert wird. In seiner Funktion als Großmufti verfasste er jedoch auch eine Reihe von theologischen Schriften und begann die Arbeit an einem umfassenden Korankommentar. Als dieser in der Zeitschrift al-manar (Der Leuchtturm) veröffentlicht wurde, löste er zwar einen Sturm der Entrüstung aus, machte ‛Abduhs Ideen jedoch weithin bekannt. Muhammad ‛Abduh starb am 11. Juli 1905 in Ägypten.

Beide Denker, ‛Abduh und Afghani, waren Verfechter einer rationalen Deutung des Islams. Deshalb wollte ‛Abduh die islamische Ausbildung reformieren; er forderte die stärkere Einbeziehung moderner Wissenschaften. Grundlegend für seine Islaminterpretation war die Überzeugung, dass der Islam allen Anforderungen der Moderne gewachsen ist, weil er in erster Linie eine rationale Religion ist. Richtig gedeutet sei der Islam nicht nur vereinbar mit Vernunft und Fortschritt, sondern schreibe sie sogar vor. Die allgemeine Schwäche der Muslime seiner Zeit führte ‛Abduh auf zwei Probleme zurück: zum einen die Unkenntnis über die eigene Religion beziehungsweise einen falsch verstandenen Glauben und zum anderen den Despotismus der muslimischen Herrscher. Diese zentralen Probleme können, so ‛Abduh, nur durch eine Rückbesinnung auf die wahre Religion gelöst werden: vor allem durch eine Verbesserung des Bildungssystems und die Neuinterpretation der religiösen Texte. ‛Abduh lehnte es ab, die Interpretationen und den Konsens früherer Generationen von Rechtsgelehrten als einzig wahre Interpretation von Glaubensfragen zu akzeptieren, und war gegen die blinde Nachahmung früherer Generationen (taqlid).

In seinem wichtigsten Werk Traktat über das Einheitsbekenntnis (risalat at-tauhid) beschäftigte sich ‛Abduh mit den Dogmen des Glaubens. Den Islam beschreibt er in diesem enthusiastischen Programm als einen weltaktiven, universellen Vernunftglauben. Weil er, so ‛Abduh, eine rationale Religion ist, kann der Gläubige auch in der modernen Welt ein frommer Muslim bleiben. Das islamische Recht wird dazu im Lichte der aktuellen Probleme unter Anwendung des Idschtihads neu interpretiert. Basis seiner Neuinterpretation ist die Unterscheidung zwischen den veränderlichen und den konstanten Teilen der Religion, zwischen den sozialen Lehren und den grundlegenden Doktrinen. Unveränderlich sind die Dogmen des Islams: der Glaube an Gott, die Offenbarung, den Propheten Muhammad, moralische Verantwortung und Vernunft. Im Gegensatz dazu ist das islamische Recht wandelbar; es ist nicht mehr als die Anwendung von Prinzipien, die im Koran enthalten sind. Diese Prinzipien werden immer nur auf bestimmte, sich ständig verändernde Verhältnisse angewendet. Ändern sich die Umstände, so wandeln sich auch die Gesetze. Dies ist der grundlegende, bis heute bestehende Ansatz des Reformislams. Allerdings besteht Uneinigkeit darüber, was genau als konstant anzusehen ist und was nicht. Deshalb wurde dieser Ansatz vielfach als unzureichend verworfen oder modifiziert.

Säkularismus und Islamismus

Die bekanntesten Schüler ‛Abduhs, Rashid Rida und ‛Ali ‛Abd ar-Raziq (1888–1966), entwickelten seine Ideen ganz unterschiedlich weiter: In seinem Buch Der Islam und die Grundlagen der Herrschaft (al-islam wa usul al-hukm) schreibt ‛Abd ar-Raziq 1925, dass es keinesfalls notwendig ist, sich um eine Wiederherstellung des 1924 von der neu gegründeten Türkischen Republik abgeschafften Kalifats zu bemühen – dies sollte durch einen Kongress, der 1925 in Kairo tagte, geschehen. Nach ‛Abd ar-Raziq zeigt die Geschichte vielmehr, dass das Kalifat nicht nur entbehrlich, sondern sogar schädlich ist. Skandalös an diesem Buch war für seine Zeitgenossen allerdings weniger die Ablehnung des Kalifats als vielmehr der Versuch, anhand der Biographie des Propheten nachzuweisen, dass im Islam von Anfang an politische Herrschaft und religiöse Botschaft getrennt waren. Der Prophet hat nach ‛Abd ar-Raziq keine Herrschaft (hukm), sondern nur eine prophetische Sendung (risala) ausgeübt. Zudem hat sich seine Verkündigung ausschließlich mit der Sphäre des Himmlischen beschäftigt.

Dieser Gedanke ‛Abd al-Raziqs wurde von Rashid Rida, dem anderen bedeutenden Schüler ‛Abduhs, verworfen: Rashid Rida, der aus einer frommen Dorffamilie in der damaligen osmanischen Provinz Beirut stammte, erhielt bereits in seiner Schulzeit eine moderne Bildung und kam durch Gespräche mit christlichen Intellektuellen und Missionaren in Beirut mit westlichem Gedankengut in Kontakt. Er lernte zudem die von al-Afghani und ‛Abduh herausgegebene Zeitschrift al-urwa al-wuthqa kennen, die ihn stark beeinflusste. 1897 wanderte Rida nach Ägypten aus und schloss sich Muhammad ‛Abduh als Schüler an.

Von 1898 bis zu seinem Tod gab Rida die Zeitschrift al-manar heraus, die als Sprachrohr der Reformbewegung diente und großen Einfluss ausübte. Sie analysierte die Situation der muslimischen Welt und die Frage, warum der Westen dem Orient militärisch und wissenschaftlich überlegen war. Ab 1900 veröffentlichte Rida darin den modernistischen Korankommentar Muhammad ‛Abduhs, der auf seinen Aufzeichnungen der Vorlesung ‛Abduhs an der Azhar-Universität beruhte. Nach dessen Tod führte Rida den Korankommentar selbständig weiter.

Nach der Entmachtung des osmanischen Kalifen legte Rida in einer Schrift dar, dass der ideale Kalif aller Muslime der führende mudschtahid, das heißt der zum Idschtihad befähigte Rechtsgelehrte, sei. Das ist insofern interessant, als dieser Gedanke große Ähnlichkeit mit dem schiitischen Konzept der velayat-e faqih (Herrschaft des obersten Rechtsgelehrten) aufweist, das in den 1970er Jahren von Ayatollah Ruhollah Khomeini (1902–1989), dem Staatsgründer der Islamischen Republik Iran, entwickelt und später zur Grundlage des iranischen Systems wurde. Außerdem erklärte Rida, dass die Nichtanwendung der Scharia zur Folge haben könnte, dass der Herrscher für ungläubig erklärt wird. Das war ein neuer Gedanke, der von anderen Islamisten aufgegriffen werden sollte.

Durch die Auseinandersetzung mit Säkularisten wie ‛Ali ‛Abd ar-Raziq zog sich Rida auf konservativere Positionen zurück. Damit beeinflusste er maßgeblich den ägyptischen Grundschullehrer Hasan al-Banna (1906–1946), den Gründer der Muslimbruderschaft. Im Gegensatz zu seiner früheren Einschätzung hielt Rida nun die Wahabiten für die wahren Verfechter eines reinen Islams.

Ridas Ideen gewannen an Zustimmung, nachdem die konkurrierenden Bewegungen des Panislamismus, des Panarabismus und des arabischen beziehungsweise islamischen Sozialismus gescheitert waren. Denn nach dem Sechs-Tage-Krieg geriet der arabische Nationalismus mehr und mehr in eine Krise und musste dem Islamismus weichen. Die nationalistischen Panarabisten kamen durch Nassers Niederlage in Erklärungsnot. Das verschaffte den Islamisten Aufwind. Während die PLO in die Defensive geriet, wurden die Muslimbrüder immer populärer, was letzten Endes zur Gründung der Hamas führte. Dasselbe Schicksal widerfuhr nach dem Sechs-Tage-Krieg auch dem Arabischen Sozialismus, einer Variante des sogenannten Dritten Weges zwischen Kommunismus (Sozialismus) und Kapitalismus. Nach der Niederlage von 1967 verlor der Arabische Sozialismus aus demselben Grund an Boden wie der Panarabismus: Er hatte als Ideologie versagt, weil er eine Niederlage der arabischen Militärs im Sechs-Tage-Krieg nicht hatte verhindern können.

Islamische Fundamentalisten fassten den Grund dafür in einem Satz zusammen: Sie, «die Juden», hätten sich auf die Religion besonnen und gewonnen; man selbst hätte sich von der Religion entfernt – und verloren. Folglich müsste man sich auch auf die Religion rückbesinnen, um zu alter Größe zurückzufinden. Die weitere Entwicklung dieses Phänomens, des Islamismus, ist in besonderer Weise mit der Muslimbruderschaft verknüpft, die 1928 von Hasan al-Banna gegründet wurde. Als Reaktion auf den westlichen Kolonialismus und die westliche Vorherrschaft setzte al-Banna auf religiöse Erneuerung sowie auf soziale Reformen, mit denen er zu den Normen des frühen Islams zurückkehren wollte. Al-Banna beschreibt im Detail, was zu tun sei, um die Gesellschaft zu verändern:

Dies sind die wichtigsten Ziele der auf den wahren Geist des Islams gegründeten Reform: Erstens: Auf dem Gebiet von Politik, Justiz und Verwaltung:

1)  Beendigung des Parteienwesens und Orientierung der politischen Kräfte der Nation in einer Richtung als einer einzigen Front.

2)  Reform des Rechts in dem Sinn, dass es mit der islamischen Gesetzgebung in allen ihren Ableitungen in Einklang steht. […]

Zweitens: Auf dem Gebiet des Sozialen und der Bildung:

1)  Gewöhnung des Volkes an die Respektierung der öffentlichen Sitten; Aufstellung diesbezüglicher Instruktionen unter dem Schutz des Gesetzes und Verschärfung der Strafen für moralische Vergehen.

2)  Die Frage der Frau muss in einer Weise gelöst werden, die ihre Förderung und ihren Schutz gleichermaßen gemäß den Lehren des Islam gewährleistet. […]

3)  Unterbindung der öffentlichen und heimlichen Prostitution; Ansehen jeder Art von Unzucht (zina) als ein Verbrechen, dessen Täter die Strafe der Auspeitschung erhält.

4)  Unterbindung aller Arten von Glücksspiel […].

5)  Bekämpfung des Alkohols und aller Rauschmittel, deren Verbot die Nation von den verderblichen Folgen erlöst.

6)  Erziehung der Frauen in den Regeln weiblichen Anstandes, um das flirt- und gefallsüchtige Verhalten zu unterbinden. (Meier 1994, 180–181)

Viele der Ideen al-Bannas wurden später von Sayyid Qutb (1906–1966) zu einer Art islamischer Befreiungstheologie verdichtet. Qutb kam 1906 in einer bürgerlichen Familie zur Welt. Er besuchte eine staatliche Schule und lernte bereits mit zehn Jahren den Koran auswendig, weil er, wie er in seinen Kindheitserinnerungen schreibt, als Schüler der staatlichen Grundschule die Überlegenheit seiner modernen Ausbildungsstätte gegenüber der traditionellen Koranschule beweisen wollte.

Qutb hat seine Kindheit in einem autobiographischen Roman beschrieben. Kindheit auf dem Lande heißt er in deutscher Übersetzung. Gerade weil er von einer normalen Jugend erzählt, ist der Roman interessant. Qutb war kein armer, gebeutelter Underdog; nicht aus Rache für die eigene gesellschaftliche Benachteiligung wurde er zum Radikalen. Hin und wieder klingen in dieser Autobiographie die Themen an, für die er später den politischen Kampf aufnahm: Ausbeutung der Bauern, Willkür der Soldaten. Die Geschichte der Jugend dieses Islamisten informiert nicht nur höchst aufschlussreich über einen Denker, der das Weltgeschehen bis heute bestimmt, sondern ist auch wegen ihrer literarischen Qualität eine angenehme Lektüre.

Qutb besuchte die Hochschule Dar al-‛Ulum in Kairo, die als moderne Alternative zur Azhar-Universität gegründet worden war. In den sechzehn Jahren nach seinem Abschluss arbeitete er für das Bildungsministerium. Er entwickelte zahlreiche Reformvorschläge zur Verbesserung des Erziehungswesens, die jedoch ignoriert wurden. Außerdem schrieb er für verschiedene Zeitungen, machte sich einen Namen als Literat und Literaturkritiker und brachte es als Schriftsteller zu einigem Renommee.

1948 wurde Qutb im Auftrag des Bildungsministeriums in die Vereinigten Staaten geschickt, wo er das Bildungssystem studieren sollte. Seine Vorgesetzten spekulierten darauf, dass er als begeisterter Anhänger des American Way of Life zurückkehren würde, was sich allerdings nicht erfüllte. Vielmehr erlebte er einen Kulturschock oder zumindest eine demütigende Enttäuschung angesichts der amerikanischen Moderne. So leitete sein Aufenthalt in den USA einen radikalen Sinneswandel ein. Nach seiner Rückkehr Anfang der 1950er Jahre empfand Qutb nur noch Abscheu gegenüber dem Westen. Die sexuelle Promiskuität, der Rassismus, die Rassentrennung, die auch ihn als Ägypter traf, und der Materialismus radikalisierten ihn. Er trat den Muslimbrüdern bei und stieg schnell zu ihrem wichtigsten Ideologen auf.

Nachdem sich infolge von Meinungsverschiedenheiten sowie des Attentats auf Nasser die Beziehung zum ägyptischen Regime massiv verschlechtert hatte, wurde Sayyid Qutb 1954 verhaftet und zu fünfundzwanzig Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Die Jahre im Gefängnis waren seine produktivste Zeit. Hier verfasste er seinen umfassenden Koran-Kommentar Im Schatten des Korans (fi zilal al-qur’an). Vor allem aber schrieb er Wegmarken (ma‛alim fi t-tariq), den wohl einflussreichsten Text des radikalen Islamismus, der wegen seiner nachhaltigen Wirkung oft als Mao-Bibel der islamischen Revolution bezeichnet wird. Erste Entwürfe von Wegmarken wurden 1962 einem größeren Kreis bekannt, 1964 wurde das Buch veröffentlicht, kurz danach von der Zensur verboten, wieder zugelassen und nach der fünften Auflage erneut verboten.

Qutb wurde 1964 nach der Intervention des irakischen Präsidenten aus der Haft entlassen, während dieser auf Staatsbesuch in Ägypten weilte. Als das Regime Nassers beschloss, einige unliebsame Kritiker zu liquidieren, wurde auch Qutb zum Tode verurteilt und am 29. August 1966 hingerichtet.

Der Islam war für Qutb eine Ideologie, eine Lebensanschauung, die auch in der Gegenwart ihre Gültigkeit bewahrt hat, denn der Islam ist nicht nur Glaubenslehre, sondern ein vollständiges System zur Lebensgestaltung. Er passt sich den jeweiligen Umständen und den Erfordernissen der Gesellschaft an. Durch die Ideologisierung wird die Religion für Qutb zu einer motivierenden Kraft. Der Islam wird hier als ein System verstanden, das durchaus in der Lage ist, mit den beiden anderen Systemen, die die Welt beherrschen, dem Kapitalismus und dem Kommunismus, zu konkurrieren.

Der Islam musste auftreten, um ein gesellschaftliches, wirtschaftliches und politisches System zu errichten […]. Der Islam ist eine Bewegung des aktiven Aufbruchs zur Befreiung des Menschen auf der Erde durch Mittel, die für jeden Aspekt der menschlichen Realität passend sind und je nach der Phase, in der sich die Bewegung befindet, neu gestaltet werden. (Meier 1994, 201–202)

Der Islam wurde damit zu einer Ideologie des dritten Weges. Er war für Qutb die universale Befreiungsdeklaration des Menschen, der niemandem zum Gehorsam verpflichtet ist außer Gott. Qutb formulierte eine radikalisierte islamistische Ideologie, die sich gegen die tyrannischen Regime richtet, die eine Ordnung geschaffen haben, die der Zeit der jahiliya entspricht. Darunter versteht der Koran die Zeit der Unwissenheit oder des Heidentums vor dem Sieg des Islams, als die Araber noch ihre Stammesgottheiten verehrten.

Diese heidnische Gesellschaft wollte Qutb durch eine ersetzen, die das islamische Recht anwendet. Eine Gesellschaft ist für ihn nicht islamisch, nur weil die in ihr lebenden Menschen fromm sind. Die spirituelle Frömmigkeit reicht als Kriterium für die wahrhaft islamische Gesellschaft nicht aus. Demnach sind alle Gesellschaften seiner Zeit, eingeschlossen seine eigene und die anderen, die sich als islamisch bezeichnen, ketzerisch. Das Gesetz Gottes ist nicht nur in den Moscheen gültig, sondern ebenso in Staat und Gesellschaft. Es gilt nicht erst im Jenseits, sondern hier und heute, so die Kernaussage Qutbs. Durchgesetzt werden sollte dieses neue Programm von einer revolutionären Elite.

Der Islam kennt nur zwei Arten von Gesellschaft: Die islamische Gesellschaft und die heidnische Gesellschaft.

Die islamische Gesellschaft ist diejenige Gesellschaft, in welcher der Islam in allen seinen Dimensionen praktiziert wird: in Glaubenslehre, Kultus, Scharia, politischem System, Moral und ethischem Verhalten. Die heidnische Gesellschaft ist die Gesellschaft, in welcher der Islam nicht praktiziert wird, welche weder durch seine Glaubenslehre und begrifflichen Grundlagen, seine Werte und Kriterien, seine politische Ordnung und seine Gesetze, noch seine moralischen und ethischen Maßstäbe regiert wird.

Die islamische Gesellschaft ist nicht diejenige, die Menschen umfasst, die sich selbst Muslime nennen, ohne aber dass die Scharia das Gesetz dieser Gesellschaft ist – mögen sie auch beten, fasten und zum Hause Gottes pilgern. Ferner ist die islamische Gesellschaft nicht diejenige, welche für sich selbst einen Islam aus sich selbst heraus kreiert – anstelle dessen, was Gott bestimmt hat, und was sein Prophet detailliert bestimmt hat. Dies nennen sie zum Beispiel «den fortschrittlichen Islam». (Meier 1994, 203)

Breiten Raum nimmt in Wegmarken die Kritik an Demokratie, Liberalismus und Kapitalismus ein. Ein Beweis für die Ungerechtigkeit der Demokratie ist für Qutb die Tatsache, dass der Siegeszug des Liberalismus und Kapitalismus in der westlichen Welt zu gesellschaftlicher Ungerechtigkeit geführt hat. Dagegen ist für ihn nur die Herrschaft des göttlichen Rechts in der Lage, Gerechtigkeit herzustellen. Zentral in seinem Denken ist also die Gottesherrschaft, die mit der Geltung der Scharia gleichzusetzen ist.

Qutbs Idee vom Islam als Ideologie wurde von dem Iraner ‛Ali Shari‛ati (1933–1977) aufgenommen. Seine revolutionären Ideen beeinflussten eine ganze Generation von Studenten und wurden deshalb maßgeblich für die Revolution von 1978/79. Shari‛ati gilt als der Ideologe der Revolution, der mit seinen Aussagen über das revolutionäre Potential von Religion weit mehr junge Menschen erreichte als der eigentliche Revolutionsführer Ayatollah Ruhollah Khomeini (1902–1989). Auch bei diesem spürt man allerdings Qutbs Einfluss: Ihm dürften Qutbs Wegmarken ebenfalls bekannt gewesen sein. In Khomeinis Hauptwerk Der islamische Staat (al-hukuma al-islamiya), das auf einer 1970 gehaltenen Vorlesung beruht, finden sich seine Grundgedanken über die Weisungen des Islams, zum islamischen Staat, zur Notwendigkeit, einen solchen Staat zu schaffen, seiner Führung, Zielsetzung und Aufgabenstellung. In weiten Teilen lesen sich seine Ausführungen allerdings wie eine anti-imperialistische Kampfschrift. Die einzig wahre iranische Identität ist für Khomeini die islamische, deshalb könne nur die Rückbesinnung auf den Islam das Land vor dem Untergang retten. Für die Probleme Irans macht Khomeini den Westen, die Juden und beider Handlanger, den Schah, verantwortlich: Er kaufe Flugzeuge, während das Volk hungere, und er lasse die Juden ins Land, die den Islam zerstören und die Weltherrschaft erlangen wollten.

Über Seiten hinweg attackiert Khomeini zudem die Geistlichen, die sich von der Politik fernhalten. In seinen Augen vertreten sie einen falschen Islam, der wahre Islam dagegen sei politisch. Die Achtung, die den Geistlichen entgegengebracht wird, haben diese nicht verdient, denn sie lehnen sich nicht gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit auf, wie es ihnen eigentlich geboten ist. Die meisten Gelehrten haben eine kolonialistische Haltung angenommen und glauben, so Khomeini, inzwischen selbst, was die Ausbeuter, Unterdrücker und Kolonialisten ihnen weismachen wollen: dass man Islam und Politik trennen soll.