Reiner Wein - Martin Walker - E-Book + Hörbuch

Reiner Wein E-Book

Martin Walker

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Beschreibung

Der 6. Band von Martin Walkers erfolgreicher Krimireihe – auf Deutsch über 1 Mio. verkaufte Exemplare. Bruno, ›Chef de police‹, muss eine Serie von Raubüberfällen aufklären. Deren Spuren führen zurück in den Sommer 1944, als die Résistance einen Geldtransport überfiel und mit der Beute das Weite suchte.

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Seitenzahl: 465

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Martin Walker

Reiner Wein

Der sechste Fall für Bruno,Chef de police

Roman

Aus dem Englischen vonMichael Windgassen

Titel der 2013 bei

Quercus, London, erschienenen Originalausgabe:

›The Resistance Man‹

Copyright © 2013 by Walker & Watson, Ltd.

Die deutsche Erstausgabe erschien

2014 im Diogenes Verlag

Umschlagfoto von Philip Lee Harvey

Copyright © Philip Lee Harvey/Cultura/Stock Photos

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2015

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24318 5 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60420 7

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] In Erinnerung anChristopher Hitchens und Peter Scott,zwei Kommilitonen aus demBalliol College in Oxford, mit denen ichüber vierzig Jahre befreundet war.

[7] Prolog

Es war kurz nach Tagesanbruch gegen Ende des Frühjahrs, das voller Versprechen auf den kommenden Sommer war. Das frische grüne Laub leuchtete hell, und schon dampfte der Tau unter den ersten Sonnenstrahlen. Aus dem Wald ringsum erklang Vogelgesang. Benoît Courrèges, Chef de police der französischen Kleinstadt Saint-Denis und von allen kurz Bruno genannt, konnte die Grasmücken, Wiedehopfe, Heidelerchen und Spechte an ihren Stimmen unterscheiden. Er wusste auch, dass sie nur einen kleinen Teil der Vogelwelt im lieblichen Tal der Vézère ausmachten, in dem auch er heimisch geworden war.

Bruno trug seinen alten Trainingsanzug aus der Armeezeit. Er war gerade von seinem morgendlichen Lauf durch den Wald zurückgekehrt und wurde von den Gänsen Napoléon und Joséphine begrüßt, den Monarchen des Hühnergeheges. Neugierig auf den zitternden Welpen, den Bruno auf dem Arm hielt, schaukelten sie ihm würdevoll entgegen. Ihnen folgte mit ruckendem Kopf Blanco, der Hahn, benannt nach einem französischen Rugbyhelden. Ihm tippelten die Hennen hinterher, darunter auch zwei Fasane, die Bruno seiner kleinen Schar hinzugesellt hatte, weil er die kleineren Eier besonders gern mochte und seinen Spaß daran hatte, dass sie von den Hennen immer gut versteckt wurden.

[8] Einen Basset zum Jagdhund zu erziehen verlangte Geduld und Ausdauer, doch glaubte Bruno fest daran, dass Balzac der intelligenteste Hund war, den er jemals kennengelernt hatte. Balzac war bereits stubenrein und schaffte es inzwischen auch schon, von einer verlockenden neuen Fährte abzulassen, wenn er von seinem Herrchen gerufen wurde. Nun musste er lernen, die auf dem Hof herumlaufenden Hühner als Familienmitglieder zu respektieren und vor Fremden zu schützen. Allerdings stoben die Hühner kreischend auseinander, wenn er auf sie zusprang und mit ihnen spielen wollte. Also hielt Bruno ihn mit der einen Hand zurück, streichelte ihn mit der anderen und redete beruhigend auf ihn ein, als die beiden Gänse näher kamen, um zu sehen, welches neue Wesen Bruno da mitbrachte.

Bruno hatte Balzac bereits mit dem tiefen, sinnlichen Duft von Trüffeln vertraut gemacht und ihm im Wald die Eichen gezeigt, wo man sie finden konnte. Der Welpe begleitete ihn jeden Morgen und jeden Abend auf seinem Kontrollgang am Hühnergehege entlang und auch frühmorgens, wenn er durch den Wald joggte. Jetzt war es an der Zeit, dass Balzac auch lernte, seinem Herrchen auf den eigenen Beinen zu folgen, wenn Bruno die Pferde ausritt. Vermutlich würde der Welpe das um Brunos Brust geschnallte Feldstecheretui, in dem er bislang an solchen Ausflügen teilgenommen hatte, vermissen, aber er wurde allmählich zu groß dafür.

Napoléon und Joséphine, die mit Balzacs Vorgänger Gigi aufgewachsen waren, kamen näher. Blanco schlug mit den Flügeln und krähte sein allmorgendliches Kikeriki, als wollte er sich gegenüber den größeren Gänsen behaupten und [9] klarstellen, wer hier das Sagen hatte. Daran gewöhnt, im Stall neben Brunos Pferd Hector zu schlafen, ließ sich der kleine Hund von den großen Tieren nicht im Mindesten einschüchtern. Mit zur Seite geneigtem Kopf blickte er zu ihnen auf und begrüßte sie freundlich kläffend. Die Gänse segelten an Bruno und Balzac vorüber. Blanco aber blieb zurück. Er reckte den Hals und plusterte sich auf, was Balzac offenbar angemessen beeindruckte.

Bruno betrachtete sein Federvieh und streichelte den kleinen Hund. Ein Leben ohne Tiere, ohne Vogelgesang oder seinen Garten konnte er sich nicht vorstellen. Er genoss es, frisch von den eigenen Bäumen gepflückte Äpfel zu essen, Tomaten, noch warm von der Sonne, und Salate, die noch wenige Augenblicke vor der Zubereitung mit Öl und Essig in der Erde gesteckt hatten. Häufig fragte er sich, ob er dieses Idyll nah an der Natur im Wechsel der Jahreszeiten wohl irgendwann mit einer Frau und Kindern würde teilen können.

Er wandte sich seinem Haus zu, das er unter Mithilfe seiner Freunde und Nachbarn eigenhändig von Grund auf restauriert hatte. Auch der Schaden durch den Brand, den eine Straftäterin aus Rache gelegt hatte, war nun wieder behoben. Das Geld von der Versicherung und etwas Erspartes hatte Bruno in den Ausbau des Daches investiert, um zwei weitere Schlafzimmer einrichten zu können. Diesen schon lange gehegten Plan in die Tat umzusetzen war ihm wie eine Wette auf seine Zukunft vorgekommen, dass der zusätzliche Raum in absehbarer Zeit von einer Familie bewohnt werden könnte.

Auf dem Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer lag der [10] Kostenvoranschlag für die Installation von Solarpaneelen auf dem Dach sowie eine Kalkulation der Steuervergünstigungen und den von der Bank versprochenen Konditionen für ein Darlehen. Nach seinen Berechnungen würde sich die Investition erst in zehn Jahren amortisiert haben, doch Bruno tat es nicht zuletzt auch aus Rücksicht auf die Umwelt. Er betrachtete das honiggelbe Gemäuer und die für das Périgord charakteristischen roten Dachziegel und fragte sich nun, wie sich die Paneele wohl in das Gesamtbild fügen würden.

Plötzlich vibrierte sein Handy in der Tasche und lenkte ihn von seinen Gedanken ab. Als er es hervorholte, riss sich Balzac von ihm los und schlich auf die scharrenden Hühner zu. Bruno versuchte, ihn zurückzuhalten, verfehlte ihn aber und ließ das Handy fallen. Von dem Welpen aufgeschreckt, flatterten die Hühner laut kreischend davon und suchten Schutz in ihrem Stall.

»Tut mir leid, Pater«, sagte Bruno, als er das Handy vom Boden aufgehoben und im Display gelesen hatte, dass Pater Sentout, der Priester von Saint-Denis, am Apparat war. Er schnappte sich Balzac mit der freien Hand und steuerte auf das Haus zu.

»Entschuldigen Sie, dass ich so früh störe, Bruno, aber wir haben einen Todesfall. Der alte Murcoing ist gestorben. Ich bin in seiner Wohnung und warte auf seine Tochter, und da ist etwas, das Sie sehen sollten.«

»Ich springe nur schnell unter die Dusche und bin gleich bei Ihnen«, erwiderte Bruno. »Wie haben Sie von seinem Tod erfahren?«

»Ich war gestern Abend bei ihm, da lag er schon in den [11] letzten Zügen. Also habe ich die Nacht an seinem Sterbebett verbracht. Er verschied, als es gerade zu dämmern anfing.«

Bruno bedankte sich bei Pater Sentout, füllte Balzacs Wasserschale und Fressnapf und ging unter die Dusche. Wie viele Städte, fragte er sich, hatten wohl das Glück, einen Priester zu haben, der seine seelsorgerischen Pflichten so ernst nahm, dass er die ganze Nacht hindurch bei einem sterbenden Mann wachte? Murcoing hatte zu der Gruppe von vier oder fünf alten Käuzen gehört, die sich regelmäßig in dem billigeren der beiden Stadtcafés trafen, wo sie auf dem Fernsehbildschirm die Pferderennen verfolgten, über Pari Mutuel ihre Wetten abgaben und sich bei einem petit blanc

[12] 1

Der letzte Blick des Sterbenden schien auf ein Stück Leinwand oder Pergament gerichtet gewesen zu sein, um das sich nun die tote Hand krallte. Bruno hielt es zunächst für ein kleines Gemälde, stellte dann aber bei näherem Hinsehen fest, dass es sich um eine wunderschöne Banknote handelte, die fast doppelt so groß war wie die eher schlichten Euroscheine in seiner Brieftasche.

Sie zeigte in fein aufeinander abgestimmten Pastelltönen Gott Merkur mit geflügeltem Helm vor einer Kulisse aus Segel- und Dampfschiffen; Merkur gegenüber, auf der linken Seite, stand Vulcanus mit entblößter Brust und einem Schmiedehammer in der Hand vor seinem Amboss; den linken Hintergrund bildete eine moderne Fabrikanlage mit rauchenden Schornsteinen. Auf der Steppdecke, in die der Tote bis hinauf zu seinem stoppeligen Kinn eingepackt war, lag eine weitere Banknote, ebenfalls im Wert von 1000 Franc. Bruno hatte solche Scheine noch nie gesehen. Er nahm den einen von der Decke und staunte über das feste Material, das sich weniger wie Papier anfühlte als wie ein Stück Stoff. Auf der Rückseite waren vor einem kranzförmig angeordneten Arrangement aus Früchten, Blumen und Getreidegarben sowie einem stolzen Hahn in der rechten unteren Ecke zwei Medaillons zu sehen; darauf abgebildet waren, [13] einander zugewandt, ein griechischer Gott und eine Göttin im Profil. Dazwischen hatten längst verstorbene Beamte ihre Unterschriften gesetzt, und darüber stand das Datum: Dezember 1940.

Bruno runzelte die Stirn. Das Jahr 1940 war für alle Franzosen ein einschneidendes Datum. Es markierte die dritte deutsche Invasion innerhalb von siebzig Jahren und die zweite Niederlage Frankreichs. Und zum ersten Mal war Paris den Deutschen in die Hände gefallen. 1870 hatte die Hauptstadt einer mehrere Monate währenden Belagerung standgehalten, bevor französische Truppen mit der Duldung des siegreichen deutschen Kaisers die Stadt stürmten, um die Revolutionäre der Pariser Kommune vernichtend zu schlagen. Nach der Invasion von 1914 waren die Deutschen aufgehalten und letztlich wieder zurückgedrängt worden. Aber 1940 hatte Frankreich kapitulieren und einem demütigenden Waffenstillstand zustimmen müssen. Deutsche Soldaten waren durch den Triumphbogen und über die Champs-Élysées marschiert. Die Hauptstadt blieb über vier Jahre von ihnen besetzt, und während die Deutschen von Paris aus den Norden und die gesamte Atlantikküste kontrollierten, behielt Frankreich unter Marschall Pétains Vichy-Regime nur einen kläglichen Rest an Souveränität über die Südhälfte des Landes.

Es war also eine Vichy-Banknote, die Bruno nun in der Hand hielt, und er fragte sich, wie lange nach Kriegsende sie wohl noch als Währung gegolten hatte.

In einem schwarzen Holzkästchen, das aufgeklappt neben dem Toten auf der Decke lag, befanden sich weitere Scheine unterschiedlichen Werts. Dazwischen steckten einige [14] alte Fotos. Das oberste zeigte eine Gruppe junger Männer, manche davon fast noch Kinder, die mit Flinten, Pistolen und Maschinengewehren bewaffnet waren. Sie hockten auf den Trittbrettern oder lehnten am Kotflügel eines schwarzen Citroën traction-avant, eines der schönsten Fahrzeuge, die jemals in Frankreich gebaut worden waren. Auf der Kühlerhaube war die Trikolore ausgebreitet.

Bruno nahm das Foto zur Hand, drehte es um und las den handgeschriebenen Vermerk: Groupe Valmy, le 3 juillet 1944. Fast alle Männer waren wie Landarbeiter gekleidet; einige trugen bérets, und zwei hatten alte Stahlhelme aus dem Ersten Weltkrieg auf dem Kopf. Ein älterer Mann posierte in einer Offiziersuniform mit Lederriemen quer über der Brust und Munitionstaschen am Gürtel. In jeder Hand hielt er eine Granate in die Höhe. Alle Männer hatten Armbinden, auf denen die Buchstaben FFI zu erkennen waren. Sie standen, wie Bruno wusste, für Forces françaises de l’intérieur, wie de Gaulle die vereinten militärischen Résistance-Gruppierungen genannt hatte. Auf dem nächsten Foto waren dasselbe Auto und ein alter Lastwagen zu sehen, die neben einem Eisenbahnzug standen. Vor den geöffneten Schiebetüren eines Güterwaggons hatten Männer eine Menschenkette gebildet und schafften Säcke aus dem Zug in den Lastwagen. Auf der Rückseite des Fotos stand Neuvic, 26 juillet 1944.

»Ich habe nie sehen dürfen, was in dem Kästchen ist«, sagte eine etwa sechzigjährige Frau. Pater Sentout hatte sie Bruno bei der Begrüßung als Joséphine und »eine der drei Töchter des Verstorbenen« vorgestellt. Sie betrachtete die Fotos, machte aber keine Anstalten, sie oder die Geldscheine [15] zu berühren. Ihre Hände, abgearbeitet und knotig, blieben ineinander verkrampft auf ihrem Schoß liegen. Der Priester packte sein Brevier sowie die Utensilien zusammen, mit denen er die Sterbesakramente erteilt hatte. Auf der Stirn des toten Mannes glänzte das mit Öl aufgetragene Zeichen des Kreuzes. Auch auf den Augenlidern waren zwei Flecke zu erkennen.

»Sechsundachtzig«, sagte Pater Sentout. »Ein gutes Alter. Er hatte ein langes Leben und hat Frankreich gedient. Ihr Vater ist jetzt bei unserem Vater im Himmel.« Er legte Joséphine eine Hand auf den Arm, die sie aber sofort abschüttelte.

»Als ich jung war, hätten wir das Geld gut gebrauchen können«, sagte sie und starrte trockenen Auges auf die Banknoten. »Schwere Zeiten damals.«

»Wegen dieser Scheine habe ich Sie angerufen, Bruno«, erklärte der Priester. »Ich weiß nicht, wie es rechtlich darum steht. Sie sind ja längst nicht mehr gültig.«

»Sie gehören zum Nachlass, also seinen Erben«, sagte Bruno. »Und diese Fotos sprechen dafür, dass uns eine feierliche Beisetzung bevorsteht.« Er wandte sich an Joséphine. »Wissen Sie, ob er als Widerstandskämpfer ausgezeichnet worden ist, mit einem Orden oder so?«

Sie deutete mit dem Kopf auf ein flaches, verglastes Kästchen, das unter dem Kruzifix an der Wand hing. Bruno musste sich über das Bett beugen, um es von nahem betrachten zu können. Obwohl die Vorhänge des Zimmers zur Seite gezogen waren und draußen die Sonne schien, fiel nur wenig Licht durch das Fenster, weil keine zwei Meter dahinter das Nachbarhaus angrenzte. Die Deckenlampe mit ihrem [16] ärmlichen Schirm aus Pergamentpapier half auch nicht viel, dennoch war in dem Rahmen die kleine Messingmedaille mit dem Lothringer Kreuz an einem schwarzroten Band deutlich zu erkennen. Darunter, ebenfalls in dem Kästchen, entdeckte Bruno eine verblichene FFI-Armbinde und ein Foto des jungen Murcoing, der diese Binde trug und ein Gewehr in der Hand hielt.

»Ich müsste noch einen Blick in die offizielle Liste werfen, aber es scheint, dass dem Verstorbenen ein Résistance-Begräbnis mit Ehrenwache und einer Trikolore auf dem Sarg zusteht«, erklärte Bruno. »Wenn Sie damit einverstanden sind, werde ich das Nötige veranlassen. Der Staat kommt für sämtliche Kosten auf. Sie müssen nur entscheiden, ob Ihr Vater auf dem großen Résistance-Friedhof von Chasseneuil oder hier in Saint-Denis beigesetzt werden soll.«

»Ich frage mich, ob er genug Geld für eine Einäscherung hinterlassen hat«, entgegnete sie und schaute sich in dem kleinen Schlafzimmer mit seiner verblassten Blümchentapete und dem schlichten, etwas windschiefen Kleiderschrank um. »Papa stand auf der Warteliste für einen Platz im Seniorenheim, und die Mairiehat ihn nur vorübergehend hier wohnen lassen.«

Das Appartement, in dem der Alte seine letzten Tage verbracht hatte, lag im Parterre eines schmalen, dreigeschossigen Hauses an einer der engen Gassen in der Stadtmitte. Bruno erinnerte sich daran, dass das Gebäude vom Bürgermeisteramt aufgekauft und in mehrere Sozialwohnungen unterteilt worden war. In den beiden Obergeschossen lebten insgesamt vier Familien, und sobald der alte Mann beigesetzt wäre, würde man seine Wohnung neu vergeben. [17] Anwärter gab es jede Menge, denn die Rezession hatte nicht zuletzt auch Saint-Denis hart getroffen.

»Paul müsste jeden Moment kommen«, sagte Joséphine und schaute auf ihre Uhr. »Sein Enkel, der Sohn meiner Schwester. Ich habe ihn angerufen, gleich nachdem Pater Sentout mich unterrichtet hat. Paul war der Einzige, für den mein Vater etwas übrig hatte, vielleicht weil er der einzige Mann in der Familie ist.« Sie warf einen unverhohlen mürrischen Blick auf den Toten. »Seine drei Töchter haben ihm nicht gereicht.«

»Ich hätte gern Ihre Telefonnummer, damit ich Ihnen wegen der Beisetzung Bescheid geben kann«, sagte Bruno und nahm sein Notizbuch zur Hand. »Wissen Sie, wo er seine Dokumente aufbewahrt hat und ob es ein Testament gibt?«

Sie zuckte mit den Achseln und nannte ihre Telefonnummer. »Viel zu erben gibt es ohnehin nicht.« Wieder schaute sie auf die Uhr. »Ich muss jetzt gehen. Was noch an verderblichen Nahrungsmitteln hier ist, nehme ich mit.«

Durch die offene Tür hörte man sie im Kühlschrank und auf der Anrichte hantieren, und kurz darauf sahen der Pater und Bruno sie am Schlafzimmerfenster vorbei durch die enge Gasse neben der Garage davonstapfen.

»Von Trauer ist bei ihr nicht viel zu spüren«, sinnierte Bruno, während er sein Handy aus der Tasche zog, um das medizinische Zentrum anzurufen. Bevor Murcoing vom Bestatter abgeholt werden konnte, musste ein Arzt den Totenschein ausstellen.

»Außer Paul hat ihn von der Familie kaum jemand besucht«, sagte Pater Sentout. »Alle drei Töchter leben in Bergerac. Von Joséphine weiß ich, dass sie als Nachtschwester [18] arbeitet. Da hat man ja ohnehin schon genug mit Alten und Kranken zu tun.«

»Wie krank war er denn? Im Café hat er sich schon eine Weile nicht blicken lassen.«

»Er wusste, wie es um ihn stand und dass er nicht mehr lange zu leben hatte, aber das schien ihm nicht viel auszumachen«, antwortete der Priester. »Er wollte partout nicht ins Krankenhaus, obwohl er zuletzt offenbar eine Lungenentzündung hatte. Bei uns hieß es früher, sie sei die Freundin der Greise, weil man daran angeblich friedlich stirbt.«

»Ich habe ihn öfter aus der Kirche kommen sehen. Hat er regelmäßig an den Gottesdiensten teilgenommen?«

»Früher ja, seiner Frau zuliebe. Aber nach ihrem Tod kam er nur noch zum Hochamt. Ich vermute, vor allem der Gesellschaft wegen und weil er es nicht weit bis zur Kirche hatte.«

»Hat er jemals dieses Geld erwähnt?«, fragte Bruno und zeigte auf das offene Kästchen auf dem Bett und den Schein in der Hand des Toten.

Pater Sentout ließ sich mit der Antwort Zeit und setzte eine Miene auf, die Bruno auf den Gedanken brachte, dass er womöglich an das Beichtgeheimnis gerührt hatte.

»Nicht direkt, aber er hat sich gern über Bonzen und Geldsäcke – das sind seine Worte – echauffiert und immer wieder behauptet, er sei über den Tisch gezogen worden. Ob er seine Töchter damit meinte, weil er sich vielleicht von ihnen um seinen Hof betrogen sah, weiß ich nicht. Vielleicht ging es auch um etwas anderes.«

»Gibt es etwas, das Sie mir nicht sagen dürfen?«

Pater Sentout zog die Schultern hoch. »Nichts, was mit dem Geld zu tun hätte. Ich glaube, es stammt aus dem [19] Zugüberfall bei Neuvic. Davon haben Sie doch gehört, oder? Vom großen Eisenbahnraub der Résistance?«

Bruno schüttelte den Kopf und erinnerte den Priester daran, dass er erst seit etwas über zehn Jahren im Périgord lebte. Er hatte zwar von diesem Ereignis gehört, kannte aber keine Einzelheiten. Mittlerweile, so erklärte der Priester, sei es in diesem Zusammenhang tatsächlich schwer, zwischen Legende und Wahrheit zu unterscheiden. Eine riesige Geldmenge, angeblich Hunderte von Millionen Franc, sei aus einem Zug geraubt worden, mit dem die Reserven der Banque de France zur deutschen Garnison in Bordeaux hatten transportiert werden sollen. Große Beträge seien trotz offizieller Nachforschungen spurlos verschwunden, und es werde allgemein behauptet, mehrere Anführer der Résistance hätten sich nach dem Krieg prächtige Häuser zugelegt, lukrative Unternehmen gegründet und mit Hilfe dieses Geldes in der Politik Karriere gemacht.

»Wenn das Murcoings Anteil war, hat er nicht viel bekommen«, meinte der Priester und nickte in Richtung der Banknoten auf dem Bett. Nach dem Krieg war das Geld mehrmals abgewertet worden, bis de Gaulle 1960 eine Währungsreform durchgesetzt hatte; der nouveau franc wurde eingeführt, der hundertmal höher bewertet war als der alte. »Dieser Tausend-Franc-Schein da wäre heute weniger als einen Euro wert, wenn überhaupt.«

Bruno beugte sich über den Toten und zog ihm den Schein aus den kalten Fingern. Als er ihn zu den anderen Scheinen und Fotos in das Kästchen zurücklegte, waren Schritte im Flur zu hören. Fabiola kam herbeigeeilt. Die Ärztin trug einen weißen, frisch gestärkten Kittel und hatte die dunklen [20] Haare hochgesteckt. Sie roch nach einer Mischung von Parfüm und Desinfektionsmitteln, und dieser eigentümliche Duft verbreitete sich sofort in der abgestandenen Luft des Zimmers. Sie gab Bruno einen Kuss auf beide Wangen, schüttelte dem Pater die Hand und holte ein Stethoskop aus ihrem Arztkoffer.

»Er hat offenbar seine Medizin nicht eingenommen. Manchmal frage ich mich, warum wir uns mit solchen Patienten überhaupt diese Mühe machen«, sagte sie, nachdem sie den Bestand an Medikamenten aufgenommen hatte, die auf dem Nachttischchen lagen. »Er ist tot, und mir fällt nichts Verdächtiges auf. Ich werde den Totenschein an der Rezeption der Klinik für Sie hinterlegen, Bruno. Von mir aus kann der Bestatter kommen.«

In der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Wenn Sie jetzt verhindert sind – ich hätte um fünf frei und könnte für Sie zum Flughafen fahren.«

»Ich glaube, ich schaff’s. Aber wenn es ein Problem gibt, rufe ich Sie an«, erwiderte er. Pamela, die Engländerin, mit der Bruno seit dem vergangenen Herbst enger liiert war, würde kurz vor sechs auf dem Flughafen von Bergerac eintreffen, und er hatte ihr versprochen, sie abzuholen. Pamela vermietete auf ihrem Anwesen bei Saint-Denis gûtes an Touristen und schätzte sich glücklich, in Fabiola nicht nur einen Dauergast für eine der Ferienwohnungen, sondern auch eine gute Freundin gefunden zu haben.

Kaum waren Fabiola und der Priester fort, hängte Bruno sich ans Telefon. Zuerst rief er das für Kriegsveteranen zuständige Büro im Verteidigungsministerium an, um sich bestätigen zu lassen, dass Murcoing eine feierliche Beisetzung [21] als Widerstandskämpfer verdient hatte. Dann ließ er den Leichenwagen kommen. Als Nächstes meldete er sich bei Florence, der Naturkundelehrerin am städtischen collège, die seit neuestem den Kirchenchor leitete. Er bat sie, den Chor zu Murcoings Begräbnis den Chant des Partisans singen zu lassen, die Hymne der Résistance. Gleich darauf rief er im Centre Jean Moulin an, dem Résistance-Museum und Archiv in Bordeaux, und bat um eine Zusammenfassung von Murcoings Kriegsakte. Mit seinem letzten Anruf wollte er dem Büro der Sozialversicherung den Tod des Alten anzeigen, damit es die Rentenzahlung an ihn einstellte, und während er darauf wartete, dass man ihn an eine zuständige Stelle weiterleitete, schaute er sich in der Wohnung weiter um.

Im Wohnzimmer stand auf einer Kommode ein alter Fernseher. In der obersten Schublade fand Bruno einen großen Briefumschlag mit der Aufschrift »Banque« und andere Kuverts, in denen sich Strom- und Wasserrechnungen und eine Kopie des Kaufvertrags von Murcoings Gehöft in den Hügeln über Limeuil befanden. Es war vor drei Jahren, als die Preise bereits abstürzten, für 85.000Euro verkauft worden. Der Name des Käufers klang holländisch; der Notar, der den Vertrag aufgesetzt hatte, stammte aus der Umgebung. Bruno erinnerte sich an das heruntergekommene Wohnhaus, dessen Dach einzustürzen drohte, und an die alte Tabakscheune, die als Ziegenstall gedient hatte. Der Hof war zu klein für einen wirtschaftlich sinnvollen Betrieb, das Land ringsum jedoch durchaus fruchtbar. Murcoings Sparbuch wies ein Guthaben von 6000Euro aus, die als Spareinlage von der Steuer befreit waren. Auf seinem Girokonto befanden sich etwas über 800Euro. Er hatte eine Pension von [22] 400Euro monatlich erhalten. Nach einem Telefon- oder Adressbuch suchte Bruno vergeblich. An der Wand hing eine verstaubte Flinte, und in einer Ecke stand eine Angel, die der Alte offenbar fleißig benutzt hatte. Neben der Tür hing der Hausschlüssel an einem Haken. Allein mit dem Toten, bis der Leichenwagen kommen würde, dachte Bruno bedauernd, wie wenig sich für Murcoing ein Leben voll schwerer Arbeit und patriotischer Pflichterfüllung ausgezahlt hatte.

Er füllte eine Quittung für die Flinte und das Kästchen samt Inhalt aus und legte sie auf die Kommode, wobei ihm neben dem Fernseher eine Brieftasche auffiel. Darin steckten ein Personalausweis und die carte vitale, mit der medizinische Leistungen in Anspruch genommen werden konnten. Kreditkarten oder Bargeld fehlten. Wahrscheinlich hatte sich Joséphine bereits bedient. Stattdessen fand Bruno drei kleine Fotos: das Porträt eines hübschen jungen Mannes und zwei weitere Bilder, auf denen derselbe junge Mann einen Arm um die Schulter des alten Murcoing gelegt hatte. Es handelte sich offenbar um Fotos von einem Familientreffen. Das musste Paul sein, der Enkel, der laut Joséphine jeden Moment eintreffen würde. Bruno hinterließ ihm eine Nachricht auf dem Küchentisch, mit der Bitte, sich mit ihm wegen der Vorbereitungen zur Beisetzung in Verbindung zu setzen, und dem Hinweis, er habe die Flinte und das Kästchen mit den Banknoten mitgenommen und werde sie in der Mairie für ihn aufbewahren. Dazu legte er seine Visitenkarte mit seiner Handynummer.

Als der Leichenwagen vorfuhr, klingelte sein Handy, und eine temperamentvolle Stimme meldete sich: »Ich habe da [23] was für Sie.« Die Sekretärin des Bürgermeisters klang selbst dann kokett, wenn sie nur bonjour sagte. »Die Putzfrau eines Ausländers, der an der Straße nach Rouffignac ein Haus besitzt, hat angerufen. Sie glaubt, dass eingebrochen worden ist.«

[24] 2

Seufzend machte sich Bruno auf den Weg. Es war in diesem Monat bereits der dritte Einbruch in eines der entlegenen Ferienhäuser, die Ausländern gehörten und nur im Sommer bewohnt waren. In den ersten beiden Fällen hatte es eine holländische und eine englische Familie getroffen, die zu Anfang der Osterferien angereist waren und zu ihrem Schreck hatten feststellen müssen, dass ihre Häuser offenbar von Profis geplündert worden waren. Die Einbrecher hatten alle wertvolleren Einrichtungsgegenstände mitgehen lassen: Teppiche, Gemälde, Silberbesteck und antikes Mobiliar. Fernsehgeräte und Stereoanlagen hingegen, sonst die erste Wahl gewöhnlicher Diebe, waren nicht angerührt worden. Folglich hatten weder Fingerabdrücke noch andere übliche Einbruchsspuren sichergestellt werden können. Auf den ersten Blick war von einem Einbruch überhaupt nichts zu sehen gewesen. Beide Häuser hatten zwar eine Alarmsicherung, doch die war nur per Telefon mit einem zentralen Wach- und Schließdienst verbunden, weil die Häuser so abgelegen waren, dass ein akustisches Warnsignal nichts genützt hätte. Die Telefonleitungen aber waren gekappt worden.

Als Bruno den Tatort erreichte, hatten Gendarmen das Haus bereits flüchtig durchsucht. Sie zuckten nur mit den [25] Achseln und überließen es ihm, einen Bericht für die Versicherung aufzusetzen. Obwohl er sich an ihrer Gleichgültigkeit ein wenig störte, hatte Bruno durchaus Verständnis für sie. Einbrüche dieser Art konnten fast nie aufgeklärt werden, weshalb die Gendarmerie es vorzog abzuwarten, bis das Diebesgut zufällig bei einem der hiesigen Hehler wieder auftauchte, dem man dann ein mildes Urteil zusicherte, wenn er gegen die Einbrecher aussagte. So bestand immerhin die Chance, auf einen Schlag Dutzende, vielleicht sogar Hunderte von Einbrüchen aufzuklären und in den jährlichen Berichten eine Erfolgsstatistik vorzulegen, die Paris erfreute und womöglich mit Bonuszahlungen und Beförderungen belohnen würde. Diese Vorgehensweise bedeutete jedoch auch, dass die Geschädigten für gewöhnlich nur einen Bruchteil der gestohlenen Ware zurückbekamen. Bruno hatte deshalb den Versicherungsmaklern vor Ort vorgeschlagen, darauf hinzuwirken, dass ihre Kunden Fotos von den wertvolleren Einrichtungsgegenständen machten. Damit wäre es leichter, sie wieder aufzuspüren. Aber sein Vorschlag war bisher nur selten beherzigt worden.

Bruno kannte das Haus, eine gentilhommière – so der von Immobilienmaklern verwendete Name für einen Landsitz, der kleiner war als ein Herrenhaus, aber größer als ein gewöhnliches Gehöft. Die gentilhommière stammte aus dem 18.Jahrhundert und hatte ein prunkvolles Portal mit einem von Säulen gestützten Portikus, links und rechts davon Verandatüren und im Stockwerk darüber fünf Mansardenfenster. Vor der Fassade reihten sich steinerne Blumenurnen, die aber zu dieser Jahreszeit noch unbegrünt waren. Den Dachsims schmückten Ananasfrüchte aus Stein – wie bei [26] allen Häusern, die Carlos, einer der besten hiesigen Architekten, gebaut hatte. Das Haus war makellos instand gesetzt, das Dach mit alten Ziegeln neu gedeckt und der nachträglich aufgetragene Putz von den Wänden abgeschlagen worden, um die honigfarbenen Mauersteine darunter wieder zur Geltung zu bringen. Die Zufahrt war von Obstbäumen gesäumt, der Gemüsegarten von einer Hecke aus Rosensträuchern umgeben. Hinter dem Haus, so erinnerte sich Bruno, gab es einen Swimmingpool und eine weitläufige, mit Feldsteinen belegte Terrasse, die einen grandiosen Ausblick auf die Felsriffe über dem Tal der Vézère bot.

Bruno war zweimal zu einer Gartenparty und einmal zu einem dîner eingeladen gewesen. Er hatte Jack Crimson, den britischen Eigentümer, auf dem Tennisplatz kennengelernt, wo der Staatssekretär im Ruhestand manchmal gemächliche gemischte Doppel spielte. Crimson nahm auch an den wichtigsten Turnieren teil, stiftete Geschenke als Preise für die Sieger und widmete der Kindermannschaft jedes Jahr großzügige Spenden. Der Engländer war ein freundlicher Mann, immer gut gekleidet und mit dichten grauen Haaren, ein bisschen untersetzt, aber der Figur nach jemand, der in jungen Jahren viel Sport getrieben hatte. Er sprach ein passables Französisch, servierte exzellente Weine und gab beschwingte Partys, auf denen Bruno unter anderem einen sehr kräftigen englischen Drink namens Pimm’s schätzen gelernt hatte. Jedes Jahr kam er im Sommer in einem stattlichen alten Jaguar vorgefahren. Wegen der vielen seltenen Bücher, kostbaren Gemälde und Antiquitäten, die sich in seinem Haus befanden, hatte Bruno Crimson nahegelegt, bei seiner Versicherung Fotos von allen Wertgegenständen zu hinterlegen.

[27] »Ça va, Bruno? Ich habe Ihren Wagen kommen hören«, sagte Gaëlle, als sie ihn vor der Haustür begrüßte. »Die Diebe sind durch die Hintertür rein und haben alle guten Möbel, Teppiche und Gemälde weggeschafft. Die Bücher haben sie stehengelassen, dafür aber die Telefonleitung durchgeschnitten. Die Mairie habe ich bereits per Handy verständigt.«

»Waren die Fensterläden geschlossen, als Sie kamen?«, fragte Bruno.

Gaëlle, eine einfache, tüchtige Witwe Mitte fünfzig, nickte. »Ich habe sie selbst geöffnet, um die Zimmer zu lüften. Das mache ich immer. Monsieur Crimson will es so.«

Sie führte ihn um das Haus herum zu einer der Verandatüren, deren Schlagläden aufgebrochen waren. Eine der kleinen Glasscheiben war – recht professionell – eingedrückt worden: Die Einbrecher hatten sie mit Leim bestrichen und eine zusammengefaltete Zeitung darauf geklebt, um Lärm und umherfliegende Splitter zu vermeiden. Dieselbe Technik war auch bei den vorausgegangenen Einbrüchen angewandt worden. Im Haus ließ sich an den helleren Stellen an den Wänden sofort erkennen, wo vorher Gemälde gehangen hatten.

»Das hier ist das Esszimmer«, sagte Gaëlle. »Wie Sie sehen, sind fast alle Möbel weg. Und auch die Bilder. Da waren ein paar sehr schöne, sehr alte mit Früchten darauf und Fasanen und altmodischen Schalen mit Gemüse. In den Zimmern oben waren die Diebe offenbar nicht, denn da scheint nichts zu fehlen.«

»Ich hoffe, Sie haben davon keinen Gebrauch gemacht«, sagte Bruno und zeigte auf den Staubwedel, den sie in der Hand hielt. »Die Einbrecher könnten Fingerabdrücke hinterlassen haben.«

[28] »Ich weiß. Das sieht man ja in Fernsehkrimis. Ich habe nur gern etwas in der Hand.«

»Haben Sie Monsieur Crimson schon verständigt?«

»Ich habe ihn gleich nach meinem Anruf in der Mairie in England zu erreichen versucht, aber da war nur ein Anrufbeantworter mit einer Ansage auf Englisch. Ich habe draufgesprochen. Er wird sich bestimmt melden, wenn er es hört.«

Bruno notierte sich Crimsons Telefonnummer und erfuhr von Gaëlle, dass sie zweimal in der Woche zum Putzen kam, das letzte Mal vor vier Tagen. Mit seinem Notizbuch in der Hand ging er von Zimmer zu Zimmer, und Gaëlle musste ihm sagen, was alles verschwunden war. Der Schreibtisch und die Aktenschränke in dem Raum, den Crimson als Arbeitszimmer nutzte, schienen unberührt zu sein, doch fehlte laut Gaëlle ein alter Teppich. Die Tür zum Keller war aufgebrochen worden. Auf dem Boden lagen das Schließband und das Vorhängeschloss.

»Die Treppe führt in den Weinkeller«, erklärte sie und drückte den Lichtschalter mit dem Stiel ihres Staubwedels. Bruno registrierte anerkennend, dass der Kellerboden mit Kies belegt und viel Sorgfalt bei der Beschriftung der Flaschenregale aufgewendet worden war. Es erleichterte seine Arbeit, denn er stellte sofort fest, was die Einbrecher gestohlen hatten: edle Pomerols und Sauternes sowie einen Kasten 2005er Grand Millésime Château de Tiregand, den wertvollsten aller Pécharmant-Weine.

»Die kennen sich aus«, sagte Bruno und notierte im Stillen, dass es sich nicht um gewöhnliche Diebe handeln konnte. Den roten Cru Bourgeois, weißen Burgunder und sogar Champagner hatten sie liegenlassen.

[29] Er wollte schon wieder nach oben gehen, als ihm eine kleine Tür neben der Treppe auffiel. Sie war unverschlossen und führte in ein weiteres dunkles Kellergewölbe, in dem es nach Heizöl roch. Durch eine Öffnung am Rand der Decke sickerte Tageslicht herein.

»Hier stand früher der Öltank«, erklärte Gaëlle. »Seit ein paar Jahren wird das Haus zentral mit Gas beheizt.«

Zurück im Parterre, führte sie den Chef de police auf die Terrasse und zeigte auf zwei Metallklappen im Boden, die ein schweres Vorhängeschloss sicherte. Durch diesen Schacht sei das Heizöl eingefüllt worden, sagte sie und machte ihn dann auf Reifenspuren im Rasen aufmerksam.

»Ich vermute, sie sind mit ihrem Lieferwagen rückwärts bis vor die Terrasse gefahren, um ihn auf kürzestem Weg beladen zu können. Vorgestern Nacht hat es geregnet, darum glaube ich, dass sie gestern eingebrochen sind, vielleicht irgendwann am Vormittag.«

»Sie sollten für die Polizei arbeiten, Gaëlle«, sagte Bruno anerkennend. »Diese Fernsehkrimis scheinen jedenfalls sehr lehrreich zu sein.« Bruno folgte mit den Augen der Telefonleitung bis zu der Stelle, an der sie gekappt worden war. Über sein Handy rief er bei France Télécom an und fragte, ob festgestellt werden könne, seit wann der Anschluss gestört sei. Der zuständige Mitarbeiter antwortete: seit zwei Tagen, kurz vor dreizehn Uhr. Wenn jetzt jemand im Haus sei, würde er einen Techniker vorbeischicken.

»Eine Schande ist das«, klagte Gaëlle. »So ein netter Mann, immer höflich und großzügig. Und wie schön er seinen Besitz in Schuss hält! Man sollte meinen, so was kann nur eine Frau.« Ihre Miene verriet, dass sie für ihren Arbeitgeber ein [30] Faible hatte. »Aber seine Frau ist vor zwei Jahren gestorben, kurz nachdem sie dieses Anwesen gekauft haben. Im Schlafzimmer hängt ein Porträt von ihr. Das haben die Einbrecher zum Glück nicht mitgehen lassen.«

Bruno nickte und schwieg. Die Täter hatten offenbar gewusst, dass das Haus zurzeit unbewohnt und sehr kostbar ausgestattet war. Ihr Transporter musste groß genug gewesen sein, um den Esstisch samt den Stühlen, die Kisten voller Wein, die Gemälde und die alte Uhr wegzuschaffen, die laut Gaëlle auf dem Kaminsims im Wohnzimmer gestanden hatte. Die Diebe waren also bestens informiert gewesen, was Gaëlle selbst verdächtig machte. Dass sie etwas mit dem Einbruch zu tun hatte, war zwar sehr unwahrscheinlich, doch kam Bruno nicht umhin, ihr Alibi zu überprüfen.

»Wo haben Sie vorgestern zu Mittag gegessen, Gaëlle?«, fragte er so beiläufig wie möglich. Gaëlle musterte ihn mit festem Blick und antwortete: »Bei meiner Cousine Roberte, der, die in der Mairie arbeitet. Ich musste ihr helfen, einen Kuchen für den Kindergeburtstag zu backen. – Keine Sorge, ich weiß, dass Sie mich fragen müssen.«

Bruno versuchte, Crimson in England zu erreichen, doch wie bereits bei Gaëlle meldete sich nur der Anrufbeantworter, worauf Bruno nur kurz und bündig seinen Namen, Büro- und Handynummer nannte und versprach, ein neues Schloss an dem aufgebrochenen Schlagladen anzubringen und das Haus abzusichern. Als Gaëlle auf ihrem Fahrrad davonfuhr, überlegte Bruno, ob er noch einen Schritt weiter gehen sollte, was er in Erinnerung an das fürstliche Essen, das er an Crimsons Tisch genossen hatte, auch tat, indem er Isabelles Nummer im Pariser Innenministerium anwählte. Erneut [31] meldete sich nur ein Anrufbeantworter. Er nannte Crimsons Namen und seine Telefonnummer in London und bat Isabelle, ihre Kontaktleute bei Scotland Yard zu informieren und dazu anzuhalten, Crimson ausfindig zu machen.

Bruno fragte sich, wie die Einbrecher wohl ihr Diebesgut zu Geld zu machen gedachten. Möbel, Teppiche und Gemälde ließen sich natürlich auf den brocantes verkaufen, jenen Antiquitäten- und Trödelmärkten, die in fast allen Städten Frankreichs während der Sommersaison reihum aufschlugen. Es gab Tausende davon. Bezahlt wurde immer in bar, und die Händler waren nirgends registriert. Falls Crimsons gestohlene Sachen dort verhökert werden würden, gäbe es kaum Hoffnung darauf, sie wiederzubeschaffen. Dass Fotos von ihnen vorlagen, änderte daran wenig. Nur die Weine würden vielleicht auftauchen, es sei denn, die Diebe waren Feinschmecker und selbst daran interessiert.

Das brachte Bruno auf eine Idee. Zurück in Saint-Denis, bog er nach einem kurzen Blick auf die Uhr in die Einfahrt zum collègeab und parkte vor dem schlichten, aus öffentlichen Mitteln gebauten Appartementkomplex daneben, in dem die Lehrer fast umsonst wohnen konnten – ein großzügiges Arrangement, mit dem der Staat versuchte, qualifizierte Lehrer für eine Anstellung auf dem Land zu gewinnen. Für Florence, eine studierte Naturwissenschaftlerin und geschiedene Mutter von zwei Kleinkindern, war es ein Segen gewesen, dass man ihr eine Lehrerstelle samt Wohnung angeboten hatte.

Darüber durfte sich auch Saint-Denis glücklich schätzen. Florence leitete nicht nur den Kirchenchor, sie hatte auch die Verwaltung der Sportmannschaften der Schule [32] übernommen und kümmerte sich um die Vorbereitung der Wettkämpfe. In ihren neuen Rollen war sie regelrecht aufgeblüht und hatte kaum mehr Ähnlichkeit mit der niedergeschlagenen jungen Frau, die einst nach Saint-Denis gezogen war. Inzwischen strotzte sie vor Selbstbewusstsein, hatte einen großen Freundeskreis, war unter ihren Kollegen hoch angesehen und durfte sich zugutehalten, aus dem Naturkundeunterricht das Lieblingsfach der Schüler gemacht zu haben. Eine ihrer ersten Anschaffungen war ein neuer Computer gewesen. Dann hatte sie den Recycling-Hof der Stadt überreden können, ihr alle weggeworfenen Laptops und PCS zu überlassen, damit der Computerclub der Schule sie zu reparieren versuchte. Die Tageszeitung Sud Ouest hatte eine Erfolgsstory daraus gemacht und gemeldet, dass alle Schulcomputer in das Netz des SETI-Instituts eingebunden waren und nun dabei halfen, die aus dem All empfangenen Signale etwaiger außerirdischer Existenzen zu verarbeiten.

Florence gab ihren Kindern gerade zu essen, als Bruno bei ihr anklingelte. Sie winkten mit den Löffeln und riefen fröhlich »Bonjour, Bruno!«.

»Haben Sie schon gegessen?«, fragte Florence. »Es gibt eine Fischpastete nach dem Rezept von Pamela, und es ist genug davon da.«

Bruno gab den Kindern einen Kuss und nahm das Angebot gern an.

»Ich weiß, dass Sie das hier besonders mögen«, sagte Florence und gab auf Brunos Stück eine Extraportion überbackenen Käse. »Neben Pizza ist diese Pastete inzwischen das Lieblingsgericht meiner Kinder.« Aus einem Fünf-Liter-Tetrapak, der im Kühlschrank stand, schenkte sie zwei Gläser [33] Bergerac Sec ein und reichte Bruno eines davon. »Sie liefern mir einen Vorwand, schon mittags ein Glas Wein zu trinken. Was führt Sie eigentlich zu mir?«

»Ihr Computerclub«, antwortete er. »Es hat wieder einen Einbruch gegeben, bei dem unter anderem sehr viel guter Wein gestohlen wurde. Es könnte immerhin doch sein, dass die Diebe ihn über priceminister.com oder ein anderes solches Portal loszuschlagen versuchen. Wäre es Ihren Schülern vielleicht möglich, ein Programm zu schreiben, das Internetangebote nach diesen Weinen automatisch absucht?« Er gab ihr eine Kopie des Blattes, auf dem er die fehlenden Weine aus Crimsons Keller aufgelistet hatte.

Florence nahm einen Schluck aus ihrem Glas und überflog die Liste. »Durchaus. Hier steht ja alles, worauf es ankommt: Weingut, Jahrgang und in manchen Fällen sogar der Lieferant. Der Geschädigte scheint sehr gut Buch zu führen.«

»Er ist Engländer, ein Staatsbeamter außer Dienst. Ja, er hat ein Inventar seiner Weine angelegt, einschließlich der Preise, die er dafür bezahlt hat. Die gestohlenen Flaschen haben einen Gesamtwert von über zehntausend Euro. Ich könnte Ihrem Club auch Fotos von den gestohlenen Möbeln, Teppichen und Gemälden zur Verfügung stellen.«

Ihre Augen weiteten sich. »Das trifft sich gut. Endlich mal ein pädagogisch sinnvolles Projekt.«

»Ich bin sicher, er würde sich auch erkenntlich zeigen. Eine Belohnung wäre ein schöner Anreiz für Ihre Schüler.«

»Nach Dieben zu fahnden, ist Anreiz genug. Und Sie sollten einmal sehen, wie begeistert sie hacken.«

Bruno hörte auf zu kauen. »Sie bringen ihnen bei zu hacken? Ist das eine gute Idee?«

[34] »Sie würden es ohnehin versuchen. So sind Kinder nun einmal. Ich unterrichte sie lediglich in Fragen der Computersicherheit, darin, wie man Firewalls installiert und Malware ausfindig macht. Natürlich lasse ich nicht zu, dass sie krumme Sachen machen, aber sie haben es schon geschafft, die Firewalls mehrerer Zeitungsverlage zu knacken. Als Nächstes wollen sie eine eigene iPad-Version zusammenbasteln; sie suchen im Netz bereits nach technischen Tipps. Ihr Englischlehrer meint, dass sie in seinem Fach Riesenfortschritte gemacht haben, und jetzt will uns Pamela helfen, eine Partnerschaft mit einer Schule in Schottland einzurichten. Es besteht bereits eine Skype-Verbindung mit deren Computerclub.«

Bruno dachte an seine Schulzeit und daran, dass nun eine vollkommen andere Generation heranwuchs und in absehbarer Zeit in Saint-Denis das Sagen haben würde, dieser ländlichen Kommune, in der die Bauern immer noch ihr Wasser aus uralten Quellen schöpften und im Winter über dem Viehstall schliefen, um es warm zu haben.

»Wie steht es zwischen Ihnen und Pamela?« Florence räumte die Teller der Kinder weg und servierte ihnen ein Dessert aus Apfelkompott und Joghurt. »Der Tod ihrer Mutter hat ihr sehr zugesetzt, wie mir scheint.«

»Sie kommt heute Abend zurück, hat aber vorher noch einen Termin bei ihrem Anwalt – es geht um das Testament ihrer Mutter und um Erbschaftssteuern«, erwiderte er, ohne auf ihre Frage einzugehen. »Ihre Finanzen gehen mich zwar nichts an, aber es scheint, dass sie alles daransetzt, um in Saint-Denis bleiben zu können.«

Bruno wusste selbst nicht, wie es zwischen ihm und [35] Pamela stand, mit der er seit ein paar Monaten eine mehr oder weniger leidenschaftliche Affäre hatte. Es war ein Verhältnis, das vor allem von ihr bestimmt wurde. Sie lud ihn manchmal ein, bei ihr zu übernachten, ließ es aber nicht zu, dass er irgendetwas als selbstverständlich erachtete. Pamela legte Wert auf ihre Unabhängigkeit, konnte aber gleichzeitig sehr herzlich und großzügig sein, was ihn für sie einnahm. Und sie überraschte ihn immer wieder mit ausgefallenen Ideen. Sie war so ganz anders als die anderen Frauen aus Saint-Denis. Kein Wunder, dass sie ausgerechnet mit Fabiola, der Ärztin, und mit Florence Freundschaft geschlossen hatte, zwei Frauen, die ebenso stark und unabhängig waren wie sie.

Bruno verabschiedete sich von Florence und den Kindern mit einem Kuss auf die Wange, und als er ging, lag ihm immer noch der angenehme Geschmack von Florence’ Espresso auf der Zunge, den sie ihm nach dem Mittagessen gekocht hatte. Er stieg gerade in seinen Transporter, als sein Handy die ersten Takte der Marseillaise erklingen ließ. Das Display zeigte eine ihm wohlbekannte Pariser Nummer.

»Danke für deine Nachricht«, sagte Isabelle. »Eine heikle Sache, dieser Einbruch bei euch. Dein Crimson ist alles andere als das, was man sich unter einem durchschnittlichen britischen Pensionär vorstellt. In seiner letzten Funktion hat er den Sicherheitsausschuss der Regierung geleitet. Das heißt, er war so etwas wie der oberste Geheimdienstler.«

»Aber doch nicht etwa ein Admiral M wie in den James-Bond-Filmen, oder?«, fragte Bruno und grinste ungläubig, als er sich den alten Tennispartner und Weinkenner in dieser bizarren Rolle vorstellte.

[36] »Doch, genau das. Außerdem ist er ein alter Freund oder zumindest ein langjähriger Kollege des Brigadiers. Der hat mich deshalb beauftragt, nach Saint-Denis zu fahren, damit ich die Ermittlungen leite. Vielleicht steckt hinter dem Einbruch mehr, als es den Anschein hat.«

[37] 3

An der Art, wie er die Brille absetzte und sich den Nasen rücken massierte, erkannte Bruno, dass sein Bürgermeister alles andere als glücklich war. Seine Frau musste sich im Krankenhaus Tests unterziehen, die Schlimmes befürchten ließen. Das Projekt der neu zu verlegenden Abwasserkanäle hinkte dem Zeitplan hinterher, und die Finanzkrise hatte zur Folge, dass Paris die Fördermittel kürzte. Und nun auch noch diese Einbruchserie in seiner Kommune! Dass sich eines der Opfer als prominenter Engländer mit direktem Draht nach Paris herausstellte, war schlimm genug, schlimmer war aber noch, dass weder der Bürgermeister noch Bruno geahnt hatten, dass ein pensionierter Meisterspion seit Jahren unter ihnen lebte.

Einbrüche fielen eigentlich in den Zuständigkeitsbereich der Gendarmerie, aber so einfach wollte Bruno sich nicht herausreden. Dies war seine Stadt, und deshalb hatte er Verantwortung zu übernehmen. Außerdem wusste er, wie leicht sich der Bürgermeister von seiner Lokalgeschichte ablenken ließ.

Auf dem Regal hinter dem uralten Schreibtisch lag ein dicker Ordner voller handgeschriebener Seiten, der ambitionierte Versuch des Bürgermeisters, eine umfassende Geschichte von Saint-Denis nachzuzeichnen, bei den [38] Neandertalern angefangen über die Eisen- und Bronzezeit, den Zustrom der Kelten und die Ankunft der Römer, über all die nachfolgenden Jahrhunderte bis zur Gegenwart. Bruno hörte ihn manchmal in fast lyrischen Worten von den Merowingerkönigen erzählen oder von der alten Grafschaft Toulouse, dem Hundertjährigen Krieg gegen England und der Häresie der Katharer. Ein ganzes Jahr lang hatte der Bürgermeister nur ein einziges Thema gehabt, nämlich den Eroberungszug der Araber, die, aus Spanien kommend, von Karl Martell im Jahr 732 bei Tours aufgehalten und zurückgeschlagen worden waren. Der Bürgermeister freute sich darüber, dass seine drei großen französischen Helden zufällig alle denselben Vornamen trugen: Karl Martell, König Karl VII., der 1453 die Engländer vertrieb, und natürlich Charles (Karl) de Gaulle.

Mit bedeutsamer Geste legte Bruno eine der Banknoten auf den Schreibtisch des Bürgermeisters, strich sie glatt und sagte: »Der alte Loïc Murcoing ist heute früh gestorben. Diesen Schein habe ich in einem Kästchen gefunden, das neben ihm auf dem Bett lag. Pater Sentout meint, dass er womöglich zur Beute aus dem Eisenbahnüberfall bei Neuvic gehört.«

»Im Ernst?« Der Bürgermeister setzte seine Brille wieder auf und musterte den Schein. »26.Juli 1944. Genau an dem Tag gelang den Amerikanern der Durchbruch in der Normandie.« Er wurde still und starrte versonnen vor sich hin.

»Von dem Überfall weiß ich nur vom Hörensagen. Es heißt, es wurde eine Menge Geld geraubt.«

»Geld? Über zwei Milliarden Franc. Genauer: [39] zweitausenddreihundert Millionen, wenn ich mich recht erinnere. Das wären heute umgerechnet über dreihundert Millionen Euro. Stellen Sie sich vor, eingefädelt wurde der Anschlag von zwei Präfekten aus unserer Gegend. Der eine war ein résistant, der andere ein collaborateur, obwohl dieses Wort in seinem Fall vielleicht nicht ganz zutrifft.«

»Ich verstehe nicht ganz.« Bruno schwirrte noch der Kopf bei der Vorstellung von 300Millionen Euro in bar. Er fragte sich, wie viel diese Unmenge an Scheinen gewogen haben mochte und wie man sie wohl aus dem Zug geschafft hatte.

»Ja, der Erfolg dieses Überfalls ist unseren Präfekten zugutezuhalten«, sagte der Bürgermeister. Es gab damals einen Vichy-Präfekten namens Callard und danach einen gewissen Maxim Roue, der Callard als Gaullist nach der Befreiung ablöste. Die beiden hatten einander gekannt und diskret Kontakt gehalten. Die Alliierten waren in der Normandie gelandet, und die russische Armee marschierte durch Polen auf Deutschland zu. Callard war sich im Klaren darüber, dass die Vichy-Regierung bald würde abdanken müssen. Mit Blick auf seine eigene Zukunft klärte er seinen Nachfolger heimlich darüber auf, dass die Reserven der Banque de France mit der Eisenbahn von Périgueux, wo sie zur Sicherheit zwischengelagert waren, nach Bordeaux transportiert und der deutschen Kriegsmarine übergeben werden sollten. Es gab Spekulationen, wonach die Deutschen planten, das Geld in U-Booten außer Landes zu bringen, um damit ein neues Reich in Argentinien finanzieren zu können. Die Résistance lancierte jedenfalls einen Überfall auf den Zug und erbeutete das Geld. Ein Mann, der sich selbst [40] Lieutenant Krikri nannte, händigte den Wachsoldaten des Zuges sogar eine Quittung über den vollen Betrag aus, zuzüglich 1500 Franc für den Materialwert der Geldsäcke, die alle mit Blei plombiert waren und das Siegel der Banque de France trugen. Insgesamt wog die Beute sechs Tonnen.

Der Bürgermeister berichtete, dass sich nach dem Krieg mehrere Untersuchungsausschüsse mit diesem Coup befasst hatten und zu dem Ergebnis gekommen waren, dass das Geld für Sold und Verpflegung der Widerstandskämpfer ausgegeben worden sei. Noch nachdem die Deutschen aus Paris vertrieben worden und ihre Verbände auf dem Rückzug waren, hielten sie einige Garnisonen, unter anderem in La Rochelle. Die Alliierten hatten keine freien Truppen, um gegen sie zu kämpfen. Auf diese Ziele legte es darum die Résistance an, die ihre Truppen nun in reguläre Einheiten der französischen Armee umwandelte. Und natürlich mussten die Kämpfer bezahlt und ihre Familien versorgt werden. So lautete jedenfalls die offizielle Erklärung.

»Und die inoffizielle?«, fragte Bruno.

»Nichts als Gerüchte. Manche der hiesigen Résistance-Obersten schwelgten angeblich im Luxus. Einer davon war Malraux, aber er stand de Gaulle so nah, dass keine Vorwürfe laut wurden. Ein anderer namens Urbanovich wurde plötzlich so reich, dass er sich ein großes Haus in Paris zulegte und ein weiteres in Cannes; außerdem leistete er sich eine der teuersten Kunstgalerien in ganz Europa. Nicht schlecht für einen Kommunisten, der wahrscheinlich ein sowjetischer Spion gewesen war. Aber Beweise gegen diese Männer gab es nicht.«

[41] »Dreihundert Millionen in heutiger Währung – da muss doch eine Menge Bargeld übriggeblieben sein.«

»In der Tat, und deshalb halten sich die Gerüchte auch so hartnäckig. Bedenken Sie, dass unsere Parteien bis Mitte der Fünfzigerjahre keinerlei finanzielle Unterstützung bekamen. Gleichwohl brauchten sie natürlich Büroräume, Personal, Druckereien und eigene Zeitungsverlage. Das galt vor allem für die neuen Parteien wie die Gaullisten. Ich glaube, dass es bei fast allen politischen Skandalen im Grunde um Geld geht. Oder um Sex.«

»Was ist da der Unterschied?«, fragte Bruno grinsend.

»Nicht so zynisch, junger Mann. Überlassen Sie solche Pikanterien lieber uns Älteren.« Auch der Bürgermeister lächelte, etwas gelöster jetzt. »Wenn Sie an diesen Dingen interessiert sind, mache ich Sie mit einer Historikerin bekannt, die an der Sorbonne Geschichte lehrt und draußen am Stadtrand von Les Eyzies wohnt. Jacqueline Morgan. Ihr Vater war nach dem Krieg amerikanischer Diplomat in Paris und heiratete eine Frau aus dem Périgord. Ich bin Jacqueline in der Bibliothèque Nationale über den Weg gelaufen, als ich selbst dort wegen meiner Arbeit recherchiert habe. Sie hat aus britischen und amerikanischen Archiven eine Menge Material über die Résistance und deren Rolle in der Nachkriegspolitik zusammengetragen. Zurzeit arbeitet sie an einem Buch, das, wie ich glaube, viel Staub aufwirbeln wird.«

»Klingt wirklich interessant.« Bruno nahm sich vor, dieser Jacqueline Morgan einen Besuch abzustatten. »Murcoing hatte über fünftausend alte Franc in seinem Kästchen. Nicht gerade viel, wenn man bedenkt, wie groß die Beute war.«

[42] »Jedem Teilnehmer am Überfall wurden zehntausend Franc versprochen, doch ein romantischer junger Lieutenant namens Gandoin meinte, dass für seine Männer der Groupe Valmy Pflichterfüllung Belohnung genug sei. Seine Männer würden kein Geld annehmen. Trotzdem verschwand noch in der Nacht des Anschlags mindestens einer der Geldsäcke.«

»Was ist aus diesem Gandoin geworden?«

»Keine Ahnung. Ich hätte Murcoing fragen sollen, aber dafür ist es jetzt zu spät. Ich weiß auch, dass mein Vater sich häufiger über den tapferen und selbstlosen Lieutenant ausgelassen hat. Viele junge Helden starben in jenem Winter, als sie mit der französischen Armee nach Norden zogen, um das Elsass zu befreien und dann in Deutschland einzumarschieren.« Der Bürgermeister schaute auf und bemühte sich um einen forscheren Tonfall. »Ich schätze, die Geldscheine gehen an Murcoings Erben.«

»Ja, ich habe eine Quittung ausgestellt.« Bruno beugte sich über den Schreibtisch und nahm dem Bürgermeister den Schein aus der Hand.

»Einen davon würde ich gern rahmen lassen und im Flur der Mairie aufhängen, mit einem dieser Hinweistäfelchen aus Messing daneben.«

»Fragen Sie Murcoings Tochter Joséphine. Vielleicht verkauft sie Ihnen einen. Mir scheint, sie würde für zwanzig Euro vieles tun. Sie hätten sehen sollen, wie sie strahlte, als ich sagte, dass wohl der Staat für das Begräbnis aufkommt. Ich habe ihre Telefonnummer.«

Der Bürgermeister griff zum Hörer.

[43] Bruno fuhr nicht auf direktem Weg nach Les Eyzies, sondern wählte die landschaftlich schönere Strecke durch das enge Flusstal und den zu beiden Seiten hoch aufragenden Kalkfelsen. Es war außerdem eine Strecke, mit der er besonders viele Erinnerungen verband. In dem Hügel zu seiner Linken lag die Grotte du Sorcier, eine Höhle mit einer der ganz wenigen prähistorischen Ritzzeichnungen eines menschlichen Antlitzes. Dort hatte er Isabelle zum ersten Mal geküsst. Weiter oben im Tal befand sich die archäologische Ausgrabungsstätte, wo die sterblichen Überreste eines jungen Mannes mit einer Swatch-Armbanduhr am Handgelenk gefunden worden waren – gleich neben einem dreißigtausend Jahre alten Grab.

Er gelangte auf die enge Hauptstraße von Les Eyzies zwischen den Felsen auf der einen und dem Fluss auf der anderen Seite. Im Geiste zog er den Hut vor dem riesigen Standbild eines Cro-Magnon-Mannes, der auf die Stadt herabblickte, bog dann ab auf die kurvenreiche Straße, die zur Höhle von Lascaux führte, und folgte ab Tursac der Wegbeschreibung des Bürgermeisters bis zum Häuschen von Jacqueline Morgan. Ein weißes BMW-Cabrio mit Pariser Kennzeichen und heruntergeklapptem Verdeck parkte neben einem gepflegten Gemüsegarten, und auf dem Weg zur Haustür registrierte Bruno anerkennend die reiche Auswahl an Cherrytomaten, Auberginen, Zucchini, Bohnen und einigen Maispflanzen.

Jacqueline Morgan nahm zur Begrüßung nur kurz ihre Zigarette aus dem Mund. Sie trug Jeans, ein Sweatshirt mit der Aufschrift Columbia und Holzclogs. Der Wust ihrer lockigen stahlgrauen Haare war mit einem Band [44] zusammengefasst. Wie sie so vor ihm im Türrahmen stand, kam sie Bruno irgendwie bekannt vor; gut möglich, dass er sie schon einmal auf dem Markt oder im Postamt gesehen hatte. An allen Wänden des Korridors hinter ihr standen Regale voller Bücher. Bruno erklärte, dass der Bürgermeister ihm empfohlen hatte, mit ihr Kontakt aufzunehmen, um ein bisschen mehr über den Zugüberfall bei Neuvic zu erfahren, und zeigte ihr Murcoings Banknote.

Sie machte große Augen. »Einen solchen Schein habe ich noch nie zu Gesicht bekommen«, sagte sie. »Aber bitte kommen Sie doch herein. Der Bürgermeister hat mir viel von Ihnen erzählt.«

Zur Linken sah er ein kleines Wohnzimmer mit bequemen alten Sitzmöbeln und Bücherregalen ringsum. Doch Jacqueline Morgan führte ihn in einen anderen Raum nach rechts, der ebenfalls voller Bücher war. In der Mitte stand ein großer runder Tisch, auf dem neben einem Karteikasten ein Laptop lag, außerdem mehrere Bücher, deren aufgeschlagene Seiten von Kugelschreibern, einer Pfeffermühle und einem hübschen silbernen Teelöffel beschwert wurden. Aus der Küche strömte der unverkennbare Duft eines mit Rosmarin und Knoblauch gewürzten und langsam vor sich hin garenden Lammbratens.

»Bevor gegessen wird, mache ich hier natürlich klar Schiff«, sagte sie. Um für Bruno eine Sitzgelegenheit zu schaffen, räumte sie von einem Stuhl einen Stapel Bücher, zuoberst ein Buch von Guy Penaud mit dem Titel Histoire de la Résistance en Périgord. »Ich war gerade mit Fußnoten beschäftigt. Damit hält sich ja die Wissenschaft besonders gern auf. Wie hätten Sie Ihren Kaffee gern? Ich wollte mir eben einen machen.«

[45] »Schwarz mit einem Löffel Zucker, bitte. Arbeiten Sie an einem neuen Buch?«

»Ja, über französisch-amerikanische Beziehungen während des Kalten Krieges. Ein ergiebiges Feld. Ich habe schon mehrere Artikel darüber verfasst, unter anderem zur nuklearen Zusammenarbeit und der amerikanischen Haltung gegenüber Frankreich während des Indochina- und des Algerienkriegs. Jetzt versuche ich, alles zusammenzufügen.«

»Der Bürgermeister glaubt, dass es viel Staub aufwirbeln könnte. Sie scheinen eine Menge neues Material gefunden zu haben«, sagte Bruno.

»Wir werden sehen.« Sie ging nach nebenan in die Küche. Bruno hörte Geschirr klappern und das Surren einer elektrischen Kaffeemühle. Sie steckte den Kopf durch die Tür und sprach weiter. »Er ist ein guter Mann, Ihr Bürgermeister. Um seine Frau tut es mir sehr leid. Heute Abend, wenn er vom Krankenhaus zurückkehrt, wird er bei mir essen. So ganz auf sich gestellt, würde er sich sonst wohl nur von Sandwiches ernähren. Männer wie er sind ja so hilflos.«

»Hoffen wir, dass sie bald wieder zu Hause ist.«

»Dazu wird es wahrscheinlich nicht kommen«, war aus der Küche zu hören. »Sie hat Lymphdrüsenkrebs im Endstadium.«

Bruno war entsetzt. Der Bürgermeister hatte ihm gegenüber kein Wort darüber verloren.

»Wussten Sie das etwa nicht?«, fragte Jacqueline und steckte wieder den Kopf durch die Tür. »Herrje, hätte ich doch den Mund gehalten. Es tut mir wirklich leid, ich dachte, seine Freunde wüssten Bescheid.«

Manche vielleicht, dachte Bruno. Er hatte geglaubt, dem [46] Bürgermeister nahezustehen, was aber wohl doch nicht der Fall war. Und in der Mairie, dessen war er sich sicher, wusste ebenfalls niemand, wie es um Bürgermeister Gérard Mangins Frau stand. Offenbar war das Verhältnis des Bürgermeisters zu Jacqueline enger, als Bruno angenommen hatte.

»Vergessen wir es, in Ordnung?« Sie kam ins Zimmer. »Sagen Sie bitte nicht, dass Sie es von mir wissen. Kommen wir auf den Zugüberfall zurück…«

Sie verschwand wieder in der Küche und hantierte mit einem metallenen Tablett. Bruno war wie vom Donner gerührt, obwohl er die Frau des Bürgermeisters kaum kannte. Cécile hatte sich nur selten in der Mairie blicken lassen. Selbst den Wahlkampfveranstaltungen ihres Mannes war sie ferngeblieben und schien sich mit der traditionellen Rolle als Ehefrau zufriedenzugeben, die Haus und Garten pflegte und höflich grüßte, wenn sie auf dem Markt einkaufte. Sie war meist zu Hause geblieben, wenn der Bürgermeister nach Paris reiste; nur ein Mal hatte sie ihren Mann begleitet – zu seiner feierlichen Aufnahme in den Senat.

Jacqueline kam mit dem Tablett zurück und knüpfte wie selbstverständlich an das vorangegangene Gespräch an. »Ich beschäftige mich unter anderem mit der Finanzierung der Résistance, und in diesem Zusammenhang hat mich natürlich der Zugüberfall interessiert.«

Er schaffte auf dem Tisch Platz für das Tablett, auf dem zierliche Porzellantassen, Unterteller und eine cafetière standen. »Ist das hier Ihr Manuskript?«, fragte er und zeigte auf einen Stapel bedruckten Papiers, zwischen dem Notizzettel in verschiedenen Farben klebten.

»Nein, das ist noch im Computer und sicherheitshalber [47] mehrfach als Kopie in Clouds abgelegt für den Fall, dass meine Festplatte den Geist aufgibt. Das ist mir schon einmal passiert, und es war die Hölle. Nein, das sind die Memoiren meines Vaters, abgetippt nach seinen handschriftlichen Aufzeichnungen.«

»Er war Diplomat, nicht wahr?«

»Ja, nach dem Krieg leitete er die amerikanische Botschaft in Paris. Dann hat er mitgeholfen, den Marshallplan zum Wiederaufbau der europäischen Wirtschaften umzusetzen. Damals habe ich zum ersten Mal von dem Zugüberfall gehört. Er sprach in dem Zusammenhang von Schmiergeld.«

»Der Bürgermeister schätzt, dass nach heutiger Währung über dreihundert Millionen Euro verschwunden sind«, sagte Bruno.