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»Der absolute Prinz der Dunkelheit der modernen Mathematik« David Foster Wallace über Kurt Gödel Mit seinem Unvollständigkeitssatz stürzte Kurt Gödel die Mathematik in ihre schwerste Krise: Er entdeckte, dass jedes sinnvolle logische System Sätze enthalten muss, die wahr, aber niemals beweisbar sind. Stephen Budiansky erzählt das Leben des brillanten Denkers – vom Wien der Vorkriegszeit über Gödels Flucht in die USA bis zu seinem neuen Wirkungskreis in Princeton, wo er auf Albert Einstein trifft, mit dem er später eng befreundet war. Reise zu den Grenzen der Vernunft kann sich erstmals auf Gödels vollständigen Nachlass stützen und erkundet so auch die lähmenden Anfälle von Paranoia, die diesen genialen, aber zerquälten Menschen zuletzt das Leben kosten sollten.
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Reise zu den Grenzen der Vernunft
Stephen Budiansky, geboren 1957 in Boston, Massachussetts, ist Autor zahlreicher Bücher, Wissenschaftsjournalist und schreibt regelmäßig u.a. für The New York Times, The Wall Street Journal und The Washington Post. Die Gödel-Biografie Reise zu den Grenzen der Vernunft wurde von der Zeitschrift Kirkus Reviews als Best Science Book of 2021 ausgezeichnet. Stephen Budiansky lebt mit seiner Frau auf einer kleinen Farm in Loudoun County, Virginia.
Mit seinem Unvollständigkeitssatz stürzte Kurt Gödel die Mathematik in ihre schwerste Krise: Er entdeckte, dass jedes sinnvolle logische System Sätze enthalten muss, die wahr, aber niemals beweisbar sind. Stephen Budiansky erzählt das Leben des brillanten Denkers – vom Wien der Vorkriegszeit über Gödels Flucht in die USA bis zu seinem neuen Wirkungskreis in Princeton, wo er auf Albert Einstein traf, mit dem er später eng befreundet war. Reise zu den Grenzen der Vernunft kann sich erstmals auf Gödels vollständigen Nachlass stützen und erkundet so auch die lähmenden Anfälle von Paranoia, die diesen genialen, aber zerquälten Menschen zuletzt das Leben kosten sollten.
Stephen Budiansky
Kurt Gödel und die schwerste Krise der Mathematik
Aus dem Englischen von Hans-Peter Remmler
Ullstein
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Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel Journey to the Edge of Reason bei Norton & Company, New York.ISBN: 978‑3‑8437-2770-9© 2021 by Stephen BudianskyKarten und Stadtpläne von Dave Merrill»Hommage an Gödel« von Hans Magnus Enzensberger, zitiert aus: Gedichte 1950–2020 © Suhrkamp Verlag Berlin 2019© der deutschsprachigen Ausgabe2022 Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinAlle Rechte vorbehaltenTitelfoto: © Arnold Newman / Kontributor / Getty ImagesAutorenfoto: © Martha PolkeyGestaltung: Morian & Bayer-Eynck, CoesfeldE-Book-Konvertierung powered by pepyrus
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Der Autor / Das Buch
Titelseite
Impressum
Prolog
Kapitel 1 Träume von einem Imperium
Kapitel 2 »Alle echten Wiener sind aus Brünn«
Kapitel 3 Wien 1924
Kapitel 4 In der Schwebe
Kapitel 5 Unentscheidbare Wahrheiten
Kapitel 6 Ein Paradies für Wissenschaftler
Kapitel 7 Flucht aus dem Reich
Kapitel 8 Neue Welten
Kapitel 9 Platos Schatten
Kapitel 10 »Wenn die Welt vernünftig eingerichtet ist«
Dank
Anhang
Anmerkungen
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Prolog
Am Institute for Advanced Study, 1956
Ó Arnold Newman/Getty Images
März 1970. Mit flinken Strichen vermerkte der Psychiater auf dem gelben Papier seines Notizblocks ungewöhnliche, aber auch ganz banale Fakten über seinen neuen Patienten. Kein Geringerer als Einstein hatte diesen den »größten Logiker seit Aristoteles« genannt, und selbst in Princeton, einer Kleinstadt mit mehr Nobelpreisträgern als Verkehrsampeln, stach sein einzigartiges Genie hervor. Die Arbeit, die er 40 Jahre zuvor im Alter von 24 Jahren geleistet hatte, brachte ihm weltweiten Ruhm und Anerkennung ein – »die bedeutendste mathematische Erkenntnis des Jahrhunderts«, ein umwerfend brillanter, paradoxer Beweis, demzufolge kein formales mathematisches System jemals jede mathematische Wahrheit innerhalb seiner eigenen Grenzen wird beweisen können.
Nun jedoch quälten ihn die Dämonen Versagensängste und Verfolgungswahn. Der Psychiater notierte:
Kurt Gödel 64. Seit 32 Jahren verheiratet mit Adele, 70. Keine Kinder. Frau war zuvor ein Mal verheiratet.
Dachte, er käme zwecks Beurteilung seiner geistigen Zurechnungsfähigkeit – was ich verneinte – um »ihm zu helfen«, sofern möglich. – Kam auf Drängen von Bruder und Ehefrau.
Glaubt, er hätte die selbst gesteckten Ziele nicht erreicht – wäre folglich ein »Versager« – deshalb würden andere, vor allem am Institut, ihn ebenfalls für einen Versager halten und versuchen, ihn loszuwerden. – Glaubt, man hätte ihn für unzurechnungsfähig erklärt und würde eines Tages erkennen, dass er frei ist, dann würde man ihn fortschaffen, da er zu gefährlich sei.
Angst vor Verarmung, Verlust der Stellung am Institut, weil er im letzten Jahr nichts geleistet hätte – hätte 35 Jahre lang so gut wie nichts geleistet – 4–5 uninteressante Veröffentlichungen. – Nahm sich große Themen vor, sei vielleicht nicht talentiert genug gewesen. – Arbeitet normalerweise allein, in einer Weise & auf Gebieten, die der gegenwärtigen Richtung zuwiderlaufen. – Fühlt sich möglicherweise schuldig, weil er nicht produktiv genug sei und nicht die gleiche Anerkennung erreiche wie in jungen Jahren.1
Für Princeton-Verhältnisse war es ungewöhnlich warm, die Sonne strahlte von einem wolkenlosen Himmel und sorgte für fast sommerliche 22 Grad, als Gödel zu seiner ersten Sitzung bei Dr. Philip Erlich eintraf. Im Büro des Psychiaters jedoch, in einem Backsteingebäude in ruhiger Lage an der Nassau Street – das Haus stammte aus dem 18. Jahrhundert und war sogar noch ein paar Jahre älter als die Amerikanische Revolution –, war es ihm zu kalt, und er behielt lieber seinen Mantel an. Manchmal erschien er auch in einen oder gar zwei Pullover eingepackt, was einen eigenartigen Gegensatz zu den ansonsten sehr förmlichen Gewohnheiten aus der Alten Welt bildete, die er in Sachen Kleidung und äußerer Erscheinung pflegte: sauber geschnittener Anzug, messerscharfe Bügelfalten, das graue Haar akkurat nach hinten gekämmt, mit einer auffälligen dunklen Strähne in der Mitte, die sich den Kräften des Alters beharrlich widersetzte, eine Brille mit großen, runden Gläsern und eine präzise Stimme, deren klarer und durchdringender Klang das Bild eines viel eindrucksvolleren und kräftigeren Mannes heraufbeschwor und so gar nicht zu diesem notorisch untergewichtigen, nur 1,70 Meter großen Menschen passen wollte.2
Er kam zwei Mal pro Woche – weil er, wie er sagte, den Zorn seiner Frau fürchtete, sollte er seine Termine nicht wahrnehmen. Verzweifelt hatte sie seinen Bruder aus Wien herbeigerufen, um mit der Situation klarzukommen, als die Sache Anfang des Jahres immer mehr aus dem Ruder lief. Rudolf war in der ersten Aprilwoche eingetroffen, aber Gödel geriet auch mit ihm sofort in Streit.
Notizen von Dr. Philip Erlich, 1970
KGP, 27/1
Äußerte wirre Ideen. – Der böse Bruder steckt hinter einer Verschwörung, die ihn vernichten soll – angeblich will er ihm die Frau, das Haus und seine Stellung am Institut wegnehmen. – Hat auch das Gefühl, Bruder könne mit der Situation nicht umgehen, weil er wütend wurde, anstatt die Ruhe zu bewahren. Ich nahm den Bruder in Schutz – er wolle nur sein Bestes und hege keinerlei Wunsch, ihm zu schaden, wurde von seiner Frau selbst hinzugezogen. – Ich betonte die Notwendigkeit entschlossenen Handelns & bestand darauf, dass der Patient bei mir in Behandlung bleiben müsse.
Freud und seine Theorien, erwiderte der Patient, waren Manifestationen eben jenes Materialismus, den er selbst in seinen Arbeiten über Logik und Philosophie ganz und gar zurückwies. Der menschliche Verstand ruhte viel weniger auf physischen Fundamenten und viel mehr auf spirituellen Einflüssen, als man im 20. Jahrhundert wahrhaben wollte. Die Denker des Mittelalters lagen mit ihrer Einschätzung ganz richtig, Geisteskrankheiten als »spirituelle Heimsuchung« anzusehen. Am Ende wird die Wahrheit ans Licht kommen – auch wenn die Wissenschaft auf absehbare Zukunft die materialistische Richtung eingeschlagen haben mag.
Einmal erzählte er dem Psychiater, er betrachte seine Sitzungen nicht als Therapie, sondern nur als Gespräche mit einem Freund. Von seinen Freunden war niemand mehr da. Während seiner Zeit in Princeton in den 1940er- und frühen 1950er-Jahren war er eindeutig derjenige, der Einstein am nächsten stand. Einstein sagte, er hätte zu jener Zeit nicht besonders viel geleistet und wäre nur ins Büro gekommen, »um das Privileg zu haben, mit Gödel zu Fuß nach Hause gehen zu dürfen«.3 Die beiden waren ein vertrauter Anblick in Princeton, ein auf geradezu komische Weise und in beinahe jedem persönlichen Wesenszug gegensätzliches Paar, das da jeden Nachmittag über den Rasen des Institutsgeländes schlenderte. Einstein mit seinem berühmten strubbeligen Haarschopf, dem ausgeleierten Pulli und Hosenträgern – »dass Einstein wie ein guter alter Großpapa aussieht, dagegen ist doch nichts einzuwenden«, hatte Gödel seinen Freund einmal gegenüber seiner Mutter in Schutz genommen. Gödel hatte ihr ein Foto geschickt, und sie hatte sich über Einsteins unordentliche und »unästhetische« Erscheinung Gedanken gemacht.4 Daneben der feierliche, ernsthafte, spindeldürre, selbst am heißesten Sommertag picobello gekleidete Gödel im weißen Leinenanzug und mit feschem Fedorahut. Und doch spazierten sie Tag für Tag gemeinsam über den Campus und unterhielten sich auf Deutsch angeregt über Politik, Physik, Philosophie und das Leben im Allgemeinen.
Spaziergang mit Einstein in Princeton
Leonard McCombe LIFE Picture Collection/Getty Images
Doch Einstein war schon seit 15 Jahren tot. Und dann, behauptete der Patient standhaft, hätte ihn sein anderer alter Kollege in Princeton, der geniale und brillante Ökonom Oskar Morgenstern, den er schon aus alten Wiener Tagen gekannt hatte, einfach fallen gelassen, ihn ohne jeden Grund im Stich gelassen. »Ich habe meinen besten Freund verloren«, meinte er kläglich. Und nun ließ ihn auch noch das Institute for Advanced Study im Stich, jenes akademische Elysium, das sich drei Jahrzehnte lang mit väterlicher Beflissenheit um ihn gekümmert hatte. Gewiss würde er demnächst entlassen werden. Oder vielleicht war er bereits gefeuert worden, nur hatte man die Entscheidung im Geheimen getroffen und vor ihm verborgen.
Jedem Versuch des Arztes, vernünftig mit ihm zu reden, begegnete der Patient mit eiserner Logik:
Ist noch immer überzeugt vom Realitätsgehalt seiner Ideen & diese in Zweifel zu ziehen wäre ein Eingeständnis des Wahnsinns, das die Gültigkeit seines Lebenswerks infrage stellen würde. – Ich müsse ihn als objektiv & und zur akkuraten Darstellung fähig akzeptieren & dies führe logisch zur richtigen Schlussfolgerung. Andernfalls müsse er von bösen Geistern getäuscht worden sein.
Der Psychiater wandte ein, der Institutsdirektor hätte ihm doch gewiss nicht eben erst einen Brief geschrieben, in dem er Gödels Status als ordentlicher Professor mit garantierter Pension beim Übergang in den Ruhestand bestätigte – »eine dauerhaft gültige Erklärung der Haltung des Instituts«, wie der Direktor betont hatte –, wenn das Institut die Absicht gehabt hätte, ihn zu entlassen.5
Oder sehen Sie sich Einstein an, drängte er ihn: Genau wie Sie hat er seine größten Leistungen in jungen Jahren vollbracht und ist trotzdem nicht in Depression verfallen.
Oder einmal, in einem aus schierer Verzweiflung geborenen Ratschlag: Versuchen Sie es doch mit einem Glas Sherry vor den Mahlzeiten.
Er versuchte, seinen Patienten herauszufordern. Sie brauchen einen Bösewicht, einen Sündenbock; mal übernehmen die Ärzte diese Rolle, mal Ihr Bruder. Sie leiden unter einem heimlichen Verlangen nach Einkerkerung, aus Schuldgefühlen wegen Ihres vermeintlichen Scheiterns. Sie leiden unter einem extrem überhöhten Ego aufgrund Ihres frühen Triumphs und der Ehrungen, die in jungen Jahren nur so auf Sie eingeprasselt sind.
Der Patient tat all diese Einlassungen als lächerlich ab. Niemals hätte er nach Ruhm gestrebt, sagte er; all das hätte er schon vor Jahren hinter sich gelassen. Sein einziger Antrieb im Leben wäre immer der Wunsch nach finanzieller Absicherung gewesen und das Interesse an der Arbeit als solcher. Nun aber könnte er augenscheinlich überhaupt nichts mehr leisten:
Listete die diversen Ablenkungen auf, die seine philosophische Arbeit am Vorankommen hinderten. Ehe, Buchhaltung, seine körperlichen und geistigen Probleme, die Gesundheit seiner Frau, die Verpflichtungen am Institut, gelegentliche Arbeiten an Problemen purer mathematischer Logik, Hobbys – Vorlesungen in Geschichte usw. In seinem eigenen Fall meint er, so sehr mit allen möglichen Präliminarien beschäftigt zu sein, dass er nie zum eigentlichen Kern der Sache vordringt.
Nicht einmal seine großartigste Errungenschaft, der Unvollständigkeitssatz, vermochte ihm noch Trost zu geben. All seine Beiträge, merkte er niedergeschlagen an, seien negativer Natur – der Beweis, dass etwas nichtmöglich war, und eben nicht, dass etwas möglich war.
Eine Zeit lang schien sich sein Zustand zu verbessern, da blitzte sein früheres, von sanftem Humor geprägtes Wesen auf, er legte wieder an Gewicht zu, nahm sogar seine Arbeit zum Teil wieder auf und erschien zum Erstaunen der Kollegen im Büro. Und nach elf Monaten beendete er seine regelmäßigen Sitzungen bei Dr. Erlich, die zunächst zweimal, dann nur noch einmal wöchentlich stattgefunden hatten.
Im Jahr 1976 jedoch begann alles wieder in die Binsen zu gehen. Er verweigerte eine dringend notwendige Prostataoperation, er aß nicht mehr, fixierte sich immer stärker auf seinen körperlichen Zustand, Paranoia und Selbsthass erfassten ihn erneut. Über seine wenigen verzweifelten Besuche bei Dr. Erlich im Jahr vor seinem Tod schrieb der Psychiater:
Situation verschlechtert sich. – Er gräbt sich immer tiefer ein. – Glaubt, er wäre vor 1 Jahr vom Institut entlassen worden. – Extremer Selbsthass & Angst vor Bestrafung. Auch Selbstquälerei wegen Belanglosigkeiten. – Blafft andere Leute an, seine Fehler gingen sie nichts an & sie würden ihn nur in ein schlechtes Licht rücken. – Sehr schwieriger, eigensinniger Mensch.
Wenige Monate danach, im Januar 1978, war er tot. Zum Zeitpunkt seines Todes wog er keine 30 Kilogramm mehr.
Dr. Erlich interpretierte die Nahrungsverweigerung seines Patienten in dessen letzten Tagen als finales suizidales Handeln eines von unbewältigten Schuldgefühlen gemarterten Menschen. Der behandelnde Arzt im Princeton Hospital sah die Sache jedoch anders: »Eher Apathie und Resignation als aktive, willentliche Selbstmordabsicht.«6
Am Ende blieben ihm nur negative Entscheidungen.
Ein größerer Gegensatz ist kaum denkbar: Hier die selbstquälerische Finsternis der letzten Lebensjahre Kurt Gödels, dort die goldene Sicherheit seiner Jugend in einem Habsburger Kaiserreich, von dem es noch 1906 schien, als würde es in alle Ewigkeit Bestand haben. Aus dem Oberlicht der behaglichen Villa, die sein Vater am Fuß der bewaldeten Hänge unterhalb der mittelalterlichen Burg Spielberg zu Brünn gebaut hatte, konnten er und sein Bruder an klaren Tagen in der Ferne den Rauch der Dampflokomotiven sehen, die auf der Bahnstrecke in Richtung Wien fuhren, das nur etwa 110 Kilometer weiter südlich lag.7
Verwaltungsmäßig zur überwiegend tschechischsprachigen Markgrafschaft Mähren gehörend, war die Stadt Brünn ein ebenso fester Bestandteil des großen österreichischen Staats wie jede andere seiner historischen Bastionen, die über Jahrhunderte unter der Dynastie der Habsburger vereint gewesen waren. Die Bahnlinien, die sich über die gesamte Breite des Kaiserreichs von fast 1600 Kilometern erstreckten, von der Adria im Südwesten bis zur russischen Grenze im Osten, verbanden die großen Zentren Triest, Prag, Budapest, Krakau, Czernowitz, Graz, Lemberg und Hunderte kleinerer Städte und Dörfer dazwischen mit der kaiserlichen Kapitale Wien im Zentrum. Die stählernen Stränge waren lediglich eine weitere und moderne Manifestation des Kaiserreichs als uraltes, stabilisierendes Bollwerk in Mitteleuropa.
Im gesamten Herrschaftsgebiet war jede größere bis mittlere Stadt bestrebt, die Architektur der Hauptstadt zu imitieren. Eine breite Ringstraße; ein Stadttheater oder Opernhaus, erbaut in der gleichen behäbigen und kakofonen architektonischen Stilmixtur aus Neobarock, Neoklassik und Neorenaissance wie die Prototypen an Wiens Ringstraße; Reihen klobig-bourgeoiser Wohnblocks hinter aristokratischen, stuckverzierten Fassaden. Bei Ankunft noch in den kleinsten Provinznestern erwarteten die Österreicher der beruhigend vertraute Anblick und Klang: der gleiche, leicht übergewichtige Bahnhofsvorsteher mittleren Alters, den Wohlstandsbauch in die Friedfertigkeit ausstrahlende dunkelblaue Uniform gezwängt, der jeden Zug mit »einer Art militärischen Segens« willkommen hieß, wie es der österreichische Schriftsteller Joseph Roth beschrieb; die gleiche kleine Glocke, an einem schwarzen Riemen quer über der Brust getragen, ließ von der Adria bis zur russischen Grenze das identische dreifache Klingeln ertönen, das die bevorstehende Abfahrt des Zugs ankündigte. Über jeden im typischen »Kaisergelb« gestrichenen Bahnhof wachte das an der Wand befestigte, allgegenwärtige kaiserliche Siegel, der schwarze Doppeladler. Die Droschkenkutscher warteten in ihrem Fiaker vor der Bahnstation auf zahlende Kundschaft und rissen die gleichen Witze, machten die gleichen Gesten und sprachen ihre Fahrgäste im gleichen, unvermeidlichen österreichischen Tonfall an, der jeden seiner Fahrgäste, gleich welchen Ranges, quasi zwangsläufig um eine Stufe beförderte: aus jedem Kaufmann wurde der Herr Direktor, aus jedem Armeemajor der Herr General, aus jedem Studenten der Herr Doktor.8 Selbst das abgelegenste Kaffeehaus in der Provinz hätte eine Kopie des Wiener Originals sein können, bis hin zu den verrauchten Wänden, den Schachbrettern und Dominosteinen, den Kuchen-Servierwagen und den Bedienungen in ihren blauen Schürzen, den Tabletts mit Kaiserwecken und Mohnstrudel und der fülligen blonden Kassiererin, die stets wachsamen Auges die Geschäfte im Blick behielt.9
Die Bahnlinie nach Brünn; Burg Spielberg, in der Ferne die Kathedrale St. Peter und Paul
akg-images
Ein Jahr, bevor sich Roth 1939 im Pariser Exil zu Tode trank, beschrieb er als eines der zahllosen Opfer dessen, was der Historiker George Berkley »den schlimmsten Fall von verschmähter Liebe zwischen einer Stadt und ihren Bewohnern« genannt hatte – nämlich als die tragische Hingabe der 200 000 Juden Wiens an das Land, das ihnen und ihren zwei Millionen Angehörigen geradezu ein Paradies der Hoffnung beschert hatte, in Schutt und Asche gelegt wurde –, dieses mystische Gefühl des Einsseins, das den zentrifugalen Kräften von Nationalismus und Hass im 19. Jahrhundert widerstanden hatte.10 Rückblickend, nachdem all das verschwunden war, sinniert der Erzähler in Roths letztem Roman Die Kapuzinergruft:
[Viel] später also erst sollte ich einsehen, dass sogar Landschaften, Äcker, Nationen, Rassen, Hütten und Kaffeehäuser verschiedenster Art und verschiedenster Abkunft dem durchaus natürlichen Gesetz eines starken Geistes unterliegen müssen, der imstande ist, das Entlegene nahe zu bringen, das Fremde verwandt werden zu lassen und das scheinbar Auseinanderstrebende zu einigen. Ich spreche vom missverstandenen und missbrauchten Geist der alten Monarchie, der da bewirkte, dass ich in Zlotogrod ebenso zu Hause war wie in Sipolje, wie in Wien.11
Nicht anders war es in Gödels Brünn, von der Ringstraße bis zum Stadttheater, wo wandernde Schauspieltruppen aus Wien die neuesten Stücke zur Aufführung brachten, über das Gymnasium, wo den Hochschülern, die ihr Studium an einer der Universitäten in Wien oder Prag oder Czernowitz fortzusetzen gedachten, der universelle Lehrplan des Kaiserreichs gelehrt wurde, bis hin zum Café Schopp am Freiheitsplatz, wo Gödels Mutter gemütliche Nachmittage mit ihren Freundinnen verbrachte: Die Veränderungen, die all das hinwegfegen würden, waren in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg schlicht undenkbar.
Diese Jahre erscheinen in der Erinnerung Stefan Zweigs als »Goldenes Zeitalter der Sicherheit«. Zweig, ein weiterer Zeitgenosse Gödels und wie Roth österreichischer Jude, schaffte es zwar, Hitler zu entkommen, starb dann aber von eigener Hand mit gebrochenem Herzen im Exil. »Unsere Währung, die österreichische Krone, lief in blanken Goldstücken um und verbürgte damit ihre Unwandelbarkeit«, heißt es in Zweigs Die Welt von Gestern. Eltern legten Ersparnisse für ihre neugeborenen Kinder an, in der Gewissheit, dass das Geld ihre Zukunft sichern würde. Für einen Beamten genügte der Blick auf den Kalender, schon wusste er, wann er befördert würde und wann er in den finanziell abgesicherten Ruhestand würde treten können. »Alles stand in diesem weiten Reiche fest und unverrückbar an seiner Stelle und an der höchsten der greise Kaiser; aber sollte er sterben, so wusste man (oder meinte man), würde ein anderer kommen und nichts sich ändern in der wohlberechneten Ordnung … Alles Radikale, alles Gewaltsame schien bereits unmöglich in einem Zeitalter der Vernunft.«12
Das Stadttheater in Brünn, 1905
Stabilität war die Tugend, die für das Individuum Vorrang vor allem anderen hatte, und die Gesellschaft belohnte das Vertrauen auf diese Tugend – man konnte darauf zählen, dass sie dieses Vertrauen umfassend erwidern würde. »Das Irrationale, Leidenschaftliche, Chaotische musste unter allen Umständen vermieden werden«, schreibt ein Historiker über diese Ära der Gewissheit in Österreich.13
Die »Österreichische Idee«, eine vom österreichischen Schriftsteller und Librettisten Hugo von Hofmannsthal im Jahr 1917 geprägte Formulierung, just als eben diese Idee im Paroxysmus des Großen Krieges unterging, war eine Vorstellung von »der Versöhnung, der Synthese, der Überspannung des Auseinanderklaffens«, davon, die universellen Werte europäischer Zivilisation und Kultur anzunehmen und über die Barrieren von Rasse und Sprache hinweg zu verbreiten. »Österreich ist kein Staat, keine Heimat, keine Nation«, sagt der verrückte Bruder einer der Romanfiguren bei Roth, ein polnischer Graf aus dem zum habsburgischen Österreich gehörenden Kronland Galizien. »Es ist eine Religion.« Es ist mithin, wie er ausführt, kein multinationaler, sondern vielmehr ein supranationaler Staat, eine Übernation: »die einzige Übernation, die in der Welt existiert hat«. (»Privat ist mein armer Bruder komplett verrückt«, spricht der Graf, »was die Politik betrifft, gibt es keinen zweiten, der so gescheit wäre wie er.« – Eine von Roths zahlreichen ironischen Anspielungen auf die schizophrene österreichische Lebenswirklichkeit.)14
Österreich-Ungarn 1906
Dave Merrill
Es war eine Idee, die Österreichs Monarchie zuerst aufgenötigt, letztlich aber von dieser umfassend übernommen wurde. Mit seiner Lage zwischen Ost und West war Wien jahrhundertelang zugleich ein Wegekreuz und – zwangsläufig – ein Schmelztiegel der Kulturen gewesen. Ein Schulmeister aus der Pfalz wähnte sich bei seinem Besuch der Stadt im Jahr 1548 geradezu im Turm zu Babel und meinte, im Kaufmannsviertel nicht weniger als eineinhalb Dutzend Sprachen ausmachen zu können, von Polnisch, Ungarisch, Kroatisch, Tschechisch und Italienisch bis hin zu Türkisch, Griechisch, Hebräisch und Arabisch.15 Friedrich III., der erste Habsburger, der anno 1452 zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches gekrönt wurde, formulierte Österreichs mission civilisatrice in seinem ebenso berühmten wie unbescheidenen Akronym AEIOU, das er auf allem Möglichen anbringen ließ, von Kathedralen bis zum Essgeschirr. Die Abkürzung stand für »Alles Erdreich ist Österreich untertan«. In den nächsten zwei Jahrhunderten kam Österreich dem Ziel dieser vermeintlichen Mission ausgesprochen nahe, zumindest was »alles Erdreich« im christlichen Europa betraf, wo die Habsburger Monarchie in Spanien, den Niederlanden, im größten Teil Italiens und in Teilen von Frankreich herrschte, neben dem Kernland in der Mitte Europas.
Im Zeitalter der Aufklärung gegen Ende des 18. Jahrhunderts hatte Österreich die Herrschaft über Spanien verloren, dafür aber Ungarn und Transsilvanien im Osten dazugewonnen, unter einem Kaiser, an den sich die Österreicher noch 200 Jahre danach als den »guten Habsburger« (oder, deutlich sarkastischer, als »den einzigen Habsburger, der kein Idiot war«) erinnerten. Voller Eifer, während seiner Regentschaft von 1765 bis 1790 die Verwaltung des Staats zu modernisieren, unternahm der reformwillige Joseph II. eine Menge, um die österreichische Idee in die Tat umzusetzen. Er professionalisierte das Rechtssystem, beschnitt die Willkürmacht des örtlichen Adels und etablierte die Gleichheit vor dem Gesetz. Er reformierte und rationalisierte die Grenzen der Verwaltungsbezirke, schaffte die Leibeigenschaft ab und erlaubte den Bauern, die von ihnen bewirtschafteten Erblehen zu kaufen. Er löste Klöster auf und nutzte die Erträge daraus für bessere Zwecke wie den Bau von Schulen. Er gründete in Wien das größte und modernste Hospital der Welt und die erste human konzipierte Anstalt für Geisteskranke in ganz Österreich (die im üblichen Wiener Schmäh alsbald ihren Spitznamen weghatte: Narrenturm). Das Gebäude beherbergt heute eine morbide Sammlung anatomischer Präparate. Und nebenher fand Joseph auch noch Zeit, als Gönner Mozarts in dessen letzten glanzvollen Wiener Jahren zu wirken.16
Joseph II. träumte von einem idealen Beamtenstaat, einer perfekten Verwaltungsordnung, in der eine säkulare Priesterschaft passionierter, loyaler und effizienter Staatsdiener, motiviert ausschließlich durch »eine brennende Begeisterung für das Wohlergehen des Staates«, wie er es sich ausmalte, Vernunft und Ordnung im gesamten Reich verbreiten würde.17 Er erließ Hunderte Dekrete, die alles Mögliche regelten: die Breite von Straßen, die Kanalisation von Dörfern, die Kosten für ein Begräbnis, die Verwaltung von Wäldern, die Inspektion von Brücken und Minen, die Aufsicht über Lebensmittelmärkte, die Errichtung von Bausteinfabriken und Kaffeehäusern, die Pflege und Versorgung von Alten und Bedürftigen, die Lage, Größe und Ausstattung von Schulgebäuden bis hin zur präzisen Platzierung der Tafel in jedem einzelnen Klassenzimmer. Im Jahr 1800 gab es kaum noch einen Beamten ohne Universitätsabschluss, und die zunehmende kulturelle Identifikation des Beamtenapparats mit dem imperialen Zentrum trug entscheidend dazu bei, dass Wien im gesamten Reich das Sagen hatte.18 Niemand anders als Adolf Hitler, der die andauernde Abneigung eines österreichischen Provinzlers gegen die mondäne Metropole hegte, bestätigte selbst nach dem »Anschluss« seiner alten Heimat, wie schwierig es wäre, Wien seine mystische Stellung als alte Habsburger Kapitale streitig zu machen. Noch im April 1942, als ihn, wie man annehmen sollte, eigentlich andere Sorgen hätten umtreiben müssen, schnaubte der Führer, »[es war] eine ungeheure Aufgabe, Wiens Vormachtstellung auf kulturellem Gebiet in den Alpen- und Donaugauen zu brechen«, die er im Zuge des Anschlusses von 1938 dem Deutschen Reich einverleibt hatte.19
Joseph war überzeugt, das dankbare Volk würde ihm die verantwortungsvolle Führung seines ausgedehnten Imperiums vergelten und die jeweilige nationale Loyalität zu Familien, Ständen und Gilden hintanstellen und sie stattdessen ganz vernunftgeleitet dem Vaterland angedeihen lassen, das ihnen Sicherheit und – hier werfen Worte ihren Schatten, die just zu jener Zeit in vielen Tausend Kilometern Entfernung in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung zu Papier gebracht wurden – das Versprechen auf »Glück« bot.20
Um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert war Österreich neben den Vereinigten Staaten von Amerika die einzige Nation, die sich eher als eine Idee definierte denn als ein bestimmter Volksstamm. Auch wenn Deutsch zugleich Amtssprache und lingua franca in der gesamten österreichischen Hälfte der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn war und blieb, sahen sich praktisch alle Österreicher, und ganz gewiss alle Angehörigen der herrschenden Klasse, seit jeher als alles, bloß nicht als Deutsche. Menschen mit Deutsch als Muttersprache stellten innerhalb der Monarchie seit jeher eine Minderheit dar, wenn auch eine bedeutende. Gegen Ende der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts umfasste die Bevölkerung Österreichs von 28,6 Millionen insgesamt 10 Millionen Deutsche, 6,4 Millionen Tschechen und Slowaken, 5 Millionen Polen, 3,5 Millionen Ruthenen (im Grenzgebiet der Ukraine), 1,25 Millionen Slowenen, 780 000 Serben und Kroaten, 770 000 Italiener, 275 000 Rumänen und dazu etwa eine halbe Million Fremde. Ungarns Bevölkerung von 20,9 Millionen umfasste 10 Millionen Ungarn, 2,9 Millionen Rumänen, 2,9 Millionen Serben und Kroaten, 2 Millionen Deutsche, 2 Millionen Slowaken und 470 000 Ruthenen.21
Das Deutsch wiederum, das die Österreicher im ganzen Reich sprachen, hatte schon lange seine ganz eigenen Merkmale ausgeprägt, die es dauerhaft vom Deutsch der Deutschen unterschieden, ebenso wie der festgefügte katholische Glaube die Österreicher vom überwiegend protestantischen Norddeutschland abgrenzte. Die Österreicher haben nicht nur ihren eigenen abwertenden Begriff für den Nachbarn im Norden, den Piefke, ihre Sprache steckt auch sonst voller Wörter, die aus dem vielsprachigen Imperium in die Umgangssprache eingeflossen sind und bei Adepten der reinen Lehre des »Hochdeutschen« einiges Kopfschütteln hervorrufen können: Tollpatsch (vom ungarischen talpus, ein ungehobelter Tölpel), Jause (vom slowenischen južina, eine Zwischenmahlzeit am Nachmittag), Feschak (vom tschechischen fešák, ein hübscher Kerl), sekkant (vom italienischen seccante, nervend) und weiterhin eine ganze Reihe von Begriffen aus der jiddischen Sprache, etwa meschugge (verrückt), Ganif (Dieb) oder Mischpoke (Familie).
Der ganz spezielle Slang der Metropole, die einzigartige Mundart namens Wienerisch, ist für Auswärtige nahezu unverständlich, allerdings flossen viele ihrer Merkmale sogar in das »Schönbrunner Deutsch« ein, das der Kaiser und seine Entourage, die oberen Dienstgrade von Beamtentum und Militär sowie das gehobene Bürgertum zu verwenden pflegten; es war, wie es eine Historikerin ausdrückte, »ein weiches Idiom, das der Sprache des Volkes auf halbem Weg entgegenkam«.22
Nicht nur die Sprache, der Adel, die Armee und das Beamtentum, auch die Küche Österreichs war gewissermaßen eine unverwechselbare Summe ihrer vielfältigen Teile, wobei die deutsche Elite so gut wie nichts ursprünglich Deutsches zu den beliebten Speisen beigetragen hatte, die in Wiens berühmten Kaffeehäusern, Hotels und Restaurants aufgetischt wurden. Den Kaffee hatten die Osmanen beigesteuert, den Apfelstrudel die Ungarn, Mehlspeisen und Marillenknödel die Tschechen. Und selbst das berühmteste aller Wiener Gerichte, das Wiener Schnitzel, war genau genommen bloß ein italienisches cotoletta alla milanese, dem man einen deutschen Namen verpasst hatte.
Wenngleich erst im Jahr 1867 alle Untertanen der Doppelmonarchie – einschließlich der Juden – in den vollen Genuss gleicher politischer Rechte kamen, war der Gedanke des Staats als allumfassender Beschützer seiner zahlreichen zugehörigen Nationalitäten so sehr Bestandteil des österreichischen Selbstverständnisses, dass sogar während der Revolutionen, die Europa im Jahr 1848 durcheinanderwirbelten, Österreichs aufstrebende slawische nationalistische Bewegungen sich, in den Worten des Historikers Pieter M. Judson, als »Hüter der wahren habsburgischen Reichsidee« verstanden. Ihr Bestreben war, das Reich umzugestalten, nicht, es zu stürzen. Just in jenem Revolutionsjahr verfasste ein tschechischer Patriot die berühmteste, wenngleich oft falsch zitierte Zeile über Österreich. František Palackýs Worte werden zumeist auf wenig mehr als ein billiges Bonmot reduziert: »Wenn es das Kaisertum Österreich nicht gegeben hätte, man hätte es erfinden müssen.« Tatsächlich hatte er eine weit profundere und seriösere Feststellung über die einzigartige Rolle des Kaiserreichs als Stabilitätsanker getroffen, sowohl für Europa insgesamt als auch für die Völker seiner Untertanen: »Existierte der österreichische Kaiserstaat nicht schon längst, man müsste im Interesse Europas, im Interesse der Humanität selbst sich beeilen, ihn zu schaffen!«23
Allen Widrigkeiten und Tendenzen des Zeitgeists im 19. Jahrhundert zum Trotz brachte es der österreichische Staat fertig, selbst aus Revolutionären Reaktionäre zu machen.
Die Stabilität Österreichs im 19. Jahrhundert verkörperte niemand so perfekt wie die Person des langlebigen, backenbärtigen und zum Ende seiner Regentschaft auch tief verehrten Kaisers Franz Joseph I., der von 1848 bis 1916 herrschte. Er war in gewisser Weise ein Operettenadliger, süchtig nach Uniformen und Pomp, nach Jagd und Pferden, der in den riesigen, ungemütlichen und geschmacklos, wenngleich filigran mit rot-güldenem Plüsch dekorierten Räumen des alten Hofburgpalasts jeden Morgen um fünf Uhr aufstand und sich auf einen straff vorgegebenen Tagesablauf einrichtete, mit royalen Audienzen, militärischen Inspektionen und staatlichen Zeremonien. Jedes Schulkind im Land hatte den formellen Titel des Herrschers auswendig zu lernen, der geradezu überquoll von Größe, Geschichte und anachronistischer Bedeutungsschwere:
Seine Kaiserliche und Königliche Apostolische Majestät, von Gottes Gnaden Kaiser von Österreich, König von Ungarn und Böhmen, von Dalmatien, Kroatien, Slawonien, Galizien, Lodomerien und Illyrien; König von Jerusalem, etc.; Erzherzog von Österreich; Großherzog von Toskan und Krakau; Herzog von Lothringen, von Salzburg, Steyer, Kärnten, Krain und der Bukowina; Großfürst von Siebenbürgen, Markgraf von Mähren; Herzog von Ober- und Niederschlesien, von Modena, Parma, Piacenza und Guastalla, von Auschwitz und Zator, von Teschen, Friaul, Ragusa und Zara; Gefürsteter Graf von Habsburg und Tirol, von Kyburg, Görz und Gradisca; Fürst von Trient und Brixen; Markgraf von Ober- und Niederlausitz und in Istrien; Graf von Hohenems, Feldkirch, Bregenz, Sonnenberg etc.; Herr von Triest, von Cattaro und auf der Windischen Mark; Großwojwode der Woivodschaft Serbien etc., etc.
Der ganze ebenso erhabene wie verlogene Anspruch wurde öffentlich ausgerufen in der grandiosen Zeremonie, mit der Österreichs Kaiser, obschon lediglich posthum, ein glorreiches Zeugnis ihrer christlichen Demut ablegten. Beim Eintreffen des Leichenzugs an der kleinen Kapuzinerkapelle, in der die kaiserliche Krypta untergebracht ist, am Ende einer winzigen, gewundenen Seitenstraße des riesigen Hofburgpalasts, pflegte der Oberste Kammerdiener an die Tür zu klopfen und zu verkünden: »Ich bin …«, gefolgt von der schier endlosen Litanei des vollen Titels des verblichenen Kaisers. Der Kapuzinermönch im Inneren der Kapelle antwortete darauf: »Ich kenne ihn nicht.« Nachdem dem Kammerdiener erneut auch unter dem bescheidenen »Seine Majestät, der Kaiser und König« der Einlass verwehrt worden war, klopfte der Diener ein drittes Mal und identifizierte den Mann, der da Einlass zu seiner letzten Ruhestätte begehrte, schlicht als »Ein einfacher Sterblicher und ein Sünder«, woraufhin sich die Pforte endlich öffnete.
Auch wenn Franz Joseph viel tat, um aus Österreich einen modernen, blühenden und bestens gebildeten Staat zu machen, tat er dies doch stets zögerlich, widerwillig und immer mit einem Auge auf die Vergangenheit schielend. Franz Grillparzer, ein Wiener Dichter des 19. Jahrhunderts, beschrieb das Schicksal des Hauses Habsburg sehr griffig: »Das ist der Fluch von unserm edeln Haus / Auf halben Wegen und zu halber Tat / Mit halben Mitteln zauderhaft zu streben / Ja oder Nein, hier ist kein Mittelweg.« Der Nachfolger Josephs II., Franz I. von Österreich, der den Thron von 1792 bis 1835 innehatte, war aus Prinzip gegen jeden Wandel, sah in jeder Art von Veränderung des Status quo eine Bedrohung für das Kaiserreich selbst. »Franz I. konnte sein Reich mit einem morschen Haus vergleichen: sollte ein Teil abgebrochen werden, so war nicht abzusehen, wie viel einstürzen würde«, schrieben die Historiker Janik und Toulmin. Lehrer wurden angewiesen, von »neuen Ideen« insgesamt Abstand zu nehmen, »denn ich brauche keine Gelehrten, sondern brave, rechtschaffene Bürger«.24
Franz Joseph wiederum legte bei den großen Themen – Demokratie, Nationalismus und die Macht der katholischen Kirche über weltliche Angelegenheiten – eine Mischung aus Hinhaltetaktik und Zurückrudern an den Tag. Diese Abneigung gegen Reformen machte auch vor seinem Privatleben nicht halt: Zu den modernen Zeiten blieb er auf Abstand, wo immer es ging. Während seiner Herrschaft sorgten in der Hofburg stets Kerosinlampen für die Beleuchtung (der Kaiser meinte, das elektrische Licht reize seine Augen) und riesige Keramiköfen in der Ecke jedes einzelnen Zimmers für die Heizung. Schwiegertochter Stephanie ärgerte sich derart über die primitiven Toiletten des Palasts, dass die Prinzessin letztendlich zwei Badezimmer auf eigene Kosten einbauen ließ. Betragen, Kleidung und Tafelservice hatten den höfischen Gepflogenheiten zu entsprechen, die vom drei Jahrhunderte zuvor festgelegten spanischen Hofzeremoniell diktiert wurden. Es wird erzählt, Franz Joseph wäre noch auf dem Sterbebett entrüstet gewesen ob des Gewands seines eilig herbeigerufenen Leibarztes. »Gehen Sie nach Hause und kleiden Sie sich korrekt«, soll der sterbende Kaiser den Mediziner zurechtgewiesen haben.25
Die von Joseph II. installierte Maschinerie einer rationalen Regierung hatte sich unter seinen Nachfolgern immer weiter ausgedehnt, allerdings ebenso oft als Werkzeug von Repression und Stillstand wie als Mittel der Aufklärung. Von Franz Joseph hieß es, er herrsche mit vier Armeen: einer marschierenden (das Militär), einer knienden (die Kirche), einer sitzenden (die Bürokratie) und einer kriechenden (die Geheimpolizei und Tausende von Spitzeln). Die Bürokratie, die in den 1860er-Jahren noch 100 000 Beamte zählte, war bis 1900 auf 300 000 gewachsen. Bei den Bürgern wurde sie eher gefürchtet als respektiert, konnte sie doch den Untertanen schon durch formelles Festhalten an pedantischen Vorschriften das Leben zur Hölle machen. So wurde aus der einmal als rational gedachten Maschinerie ein irrsinniger, gekünstelter Überbau, der die unvereinbaren Widersprüche des Kaiserreichs unter einen Hut zu bringen suchte.26 1867 stimmte Franz Joseph einer komplexen Kompromisslösung, dem sogenannten Ausgleich, zu, der zum Ziel hatte, das nationalistische Pulverfass gerade so weit zu entschärfen, dass er an der östlichen Hälfte seines Herrschaftsgebiets festhalten konnte. Ungarn bekam sein eigenes Parlament, in dem Franz Joseph als König von Ungarn saß, aber nicht als Kaiser von Österreich. Als Ergebnis gab es nun nicht zwei, sondern drei separate Bürokratien: eine für das Königreich Ungarn, eine für das österreichische Kaiserreich und eine dritte für gemeinsame Angelegenheiten wie Kriege, Außenpolitik und Finanzen. Als sichtbarer Ausdruck von Franz Josephs Doppelrolle wurde »k. und k.« (kaiserlich und königlich) zum allgegenwärtigen Titel staatlicher Institutionen in seiner Ära. Der österreichische Teil des Herrschaftsgebiets hatte gar keinen eigentlichen Namen mehr; die offizielle Bezeichnung lautete lediglich »Die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder«. Inoffiziell nutzten die Beamten selbst einen noch weniger klangvollen Namen, nämlich »Cisleithanien«, in Anspielung auf den Fluss Leitha, einen Grenzfluss zwischen Österreich und Ungarn. In seinem großen Roman Der Mann ohne Eigenschaften aus dem Jahr 1930, der in der Zeit der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn spielt, taufte der österreichische Schriftsteller Robert Musil das ganze Durcheinander »Kakanien«, was sich neben der offensichtlichen Anspielung auf »k. und k.« natürlich auch als »Scheißland« lesen lässt.27
Im Unterschied zum Beamtenapparat wurde die Armee eher respektiert als gefürchtet. Unter Franz Josephs Ägide verlor sie einen Krieg nach dem anderen, was jedes Mal ein kleines Stück des Kaiserreichs kostete. Eine fesche Parade brachte sie dagegen immer zuwege. Stefan Zweig merkte an, die Kapellmeister der Armee wären wohl besser als ihre Generäle; und die farbenprächtigen Uniformen, die Sigmund Freud mit dem Gefieder von Wellensittichen verglich – strahlend grüne und blaue Uniformröcke über schneeweißen Hosen –, gereichten jedem offiziellen Auftritt zur Zierde. Trotz ihrer ungebrochenen Serie von Demütigungen auf dem Schlachtfeld, schreibt der Historiker William M. Johnston, gab es in ganz Europa keine beliebtere Armee als die österreichische.28 Eine der großartigen Szenen in Joseph Roths Meisterwerk Radetzkymarsch porträtiert das Spektakel der alljährlichen Fronleichnamsprozession, das geeignet war, selbst noch so zynische Wiener Skeptiker zumindest einen kurzen Moment lang an den österreichischen Traum glauben zu lassen:
Die blutroten Feze auf den Köpfen der hellblauen Bosniaken brannten in der Sonne wie kleine Freudenfeuerchen, angezündet vom Islam zu Ehren Seiner Apostolischen Majestät. In den schwarzen lackierten Karossen saßen die goldgezierten Ritter des Vlieses und die schwarzen, rotbäckigen Gemeinderäte. Nach ihnen wehten, wie majestätische Stürme, die ihre Leidenschaft in der Nähe des Kaisers zügeln, die Roßhaarbüsche der Leibgarde-Infanterie einher. Schließlich erhob sich, vom schmetternden Generalmarsch vorbereitet, der Kaiser- und Königliche Gesang der irdischen, aber immerhin Apostolischen Armee-Cherubin: »Gott erhalte, Gott beschütze« … Die Rufe der hellen Fanfaren ertönten, Stimmen fröhlicher Mahner: Habt acht, habt acht, der alte Kaiser naht!
Und der Kaiser kam: acht blütenweiße Schimmel zogen seinen Wagen. Und auf den Schimmeln, in goldbestickten schwarzen Röcken und mit weißen Perücken, ritten die Lakaien. Sie sahen aus wie Götter, und sie waren nur Diener von Halbgöttern. Zu beiden Seiten des Wagens standen je zwei berittene Arcierenleibgarden mit silbernen Helmen und je zwei ungarische Leibgarden mit gelb-schwarzen Pantherfellen über der Schulter. Sie erinnerten an die Wächter der Mauern von Jerusalem, der heiligen Stadt, deren König der Kaiser Franz Joseph war. Der Kaiser trug den schneeweißen Rock, den man von allen Bildern der Monarchie kannte … Der Kaiser lächelte nach allen Seiten … Vom Stephansdom dröhnten die Glocken, die Grüße der römischen Kirche, entboten dem römischen Kaiser deutscher Nation. Der alte Kaiser stieg vom Wagen mit jenem elastischen Schritt, den alle Zeitungen rühmten, und ging in die Kirche, wie ein einfacher Mann; zu Fuß ging er in die Kirche, der römische Kaiser deutscher Nation, umdröhnt von den Glocken.
»Kein Leutnant in der Kaiser- und Königlichen Armee«, schloss Roth – und damit meinte Roth eigentlich kein Untertan der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn –, »hätte dieser Zeremonie gleichgültig zusehen können.«29 Diese Völker sahen in Franz Joseph, dessen Proklamationen stets mit den Worten »An Meine Völker« begannen, tatsächlich den persönlichen Garanten ihrer gleichen Rechte in diesem merkwürdigen, vielsprachigen Reich, und damit auch den Garanten des Imperiums selbst. Im nationalen Bewusstsein verkörperte er eine Mischung aus ätherischer Märchenfigur und gemütlichem Opa. Das mahnende politische Schlagwort der Ära Franz Josephs erfasste dies perfekt: »Das kann man dem alten Herrn doch nicht mehr antun.«30
Die industrielle Revolution, die jungen Triebe liberaler Demokratie, das neue Zeitalter der Entdeckungen in Wissenschaft und Medizin und der Aufstieg einer boomenden Mittelschicht, alles Kennzeichen von Europas Zivilgesellschaft im 19. Jahrhundert, hatten einigermaßen lange gebraucht, um in Österreich Fuß zu fassen. Als es dann endlich so weit war, injizierte dies dem Leben ein Gefühl des Überschwangs, wie es nirgendwo sonst auf dem Kontinent zu erleben war. Der Bau der berühmten Wiener Ringstraße, überhaupt erst möglich geworden durch die Rückwärtsgewandtheit der kaiserlichen Metropole, die ein großes, konzentriertes und unerschlossenes Areal in ihrem unmittelbaren Zentrum bewahrt hatte, war sichtbarster Ausdruck der neuen Energie, die das Leben des alten Kaiserreichs wachrüttelte.
Wiens mittelalterliche Stadtmauern und Glacis
Die Ringstraße kurz vor der Fertigstellung, v. l. n. r.: Parlament, Rathaus, Universität (im Hintergrund die Türme der Votivkirche), Burgtheater
ÖNB, 111 801C
Franz Josephs Anordnung, die antiken Schutzmauern und Tore der Stadt zu schleifen, zusammen mit dem abschüssigen, einen halben Kilometer breiten Glacis davor (das dazu da war, den die Hofburg verteidigenden Truppen ein freies Schussfeld zu bieten), verwandelte eine mittelalterliche Bastion in eine schöne, moderne Großstadt mit breiten, von Bäumen gesäumten Boulevards, miteinander verbundenen Parks und monumentalen neuen öffentlichen Gebäuden. Im Bestreben, Wiens unumstrittene Stellung als Kapitale eines großen Imperiums zu betonen, waren diese Neubauten in einem Stil gestaltet worden, den man mit etwas gutem Willen als »historistisch« bezeichnen könnte: ein bisschen antik, ein bisschen modern, ein bisschen Disneyland, und jeder Aspekt beansprucht seinen Platz im Pantheon der Zivilisation: das Parlament ein griechischer Tempel, das Kunstmuseum ein barocker Palast, die Universität ein Hof im Stil der Renaissance, die Votivkirche eine gotische Kathedrale. Ein regelrechtes Potpourri, ganz besonders das neue Opernhaus, das jeden nur denkbaren Stil in einem einzigen Bauwerk zu vereinigen schien. Ein Spottgedicht im Wienerischen Dialekt nahm den Ringstraßenstil und seine beiden berühmten Architekten satirisch auf die Schippe:
Der Sicardsburg und van der Nüll,Haben beide keinen Stüll.Griechisch, gotisch, Renaissance,Das ist ihnen alles aans!
Als Muster einer erfolgreichen Städtebauplanung war und bleibt Wien mit seiner Ringstraße jedoch superb, die optisch beeindruckendste aller Städte der damaligen Zeit, voller Vitalität und Energie, Kultur und Handel, mit hell erleuchteten Kaffeehäusern, eleganten Hotels, den herrschaftlichen Stadtpalais der Ephrussis, Rothschilds, Wittgensteins und anderer bedeutender Familien, deren Vermögen mit Österreichs Vordringen in die Welt von Handel und Industrie immer weiter wuchsen, und all dies eingewoben in den legendären Wiener Charme. Die Kanalisierung der Donau mit dem Ziel, die Überschwemmungen in den Griff zu bekommen, die die Stadt über Jahrhunderte immer wieder heimgesucht hatten, die Fertigstellung von Wasserleitungen, die Wien mit jenem legendär reinen Wasser aus entlegenen Alpenquellen versorgten, und andere eher der Verschönerung des Stadtbilds dienende Verbesserungen des Gemeinwesens trugen ihren Teil zur hohen Lebensqualität und zur Aura eines raschen Fortschritts bei.31
Um das Jahr 1900 wuchs Österreichs Wirtschaft schneller als die britische. Eine wahre Welle des Wohlstands, gründend auf Handel und der Fertigung von Textilien, Stahl, Glas, Maschinen, Musikinstrumenten und anderen Gütern, brachte die Mittelschicht voran.32 Gödels direkte Vorfahren mütter- und väterlicherseits hatten von dieser anschwellenden Flut des Wohlstands und der Sicherheit profitiert. In zwei Generationen hatten sie sich von Lederarbeitern, Webern und Buchbindern zu Geschäftsführern der boomenden Textilfabriken hochgearbeitet, die in Brünn um die Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden.
Österreichs Aufstieg zum Zentrum von Kultur, Geist und Wissenschaft war nicht minder beeindruckend und wurde noch verstärkt durch die Tatsache, dass er sich vor einem bescheidenen Hintergrund vollzog. Germaine de Staël, eine überaus kulturbeflissene Französin, die Österreich im Jahr 1808 besuchte, fand nicht viel in Sachen Wissenschaft und Literatur, was sie nach Hause hätte berichten können: »Österreich ist ein so ruhiges Land, ein Land, in dem die Bequemlichkeiten des Lebens allen Klassen so mühelos gesichert sind, dass man sich nicht viel um geistige Genüsse kümmert.«33
Zum Ende des Jahrhunderts konnte Österreich nicht nur eines der größten und umfassendsten Bildungssysteme in Europa vorweisen, es hatte sich sogar eine weltweit anerkannte Führungsrolle auf den Gebieten der Medizin, Physik, Philosophie und Mathematik erworben. Der aus Deutschland stammende Rudolf Virchow, ein Pionier der Zellbiologie und Pathologie des 19. Jahrhunderts, nannte das Wien jener Epoche das »Mekka der Medizin«. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts steuerten Wiener Ärzte – nicht wenige davon stammten aus Böhmen, Mähren und anderen Gebieten des Kaiserreichs – unablässig Neuentwicklungen und Erfindungen auf medizinischem Gebiet bei. Adolf Lorenz erfand ein nichtinvasives operatives Verfahren zur Korrektur von Klumpfüßen; Ferdinand von Arlt entdeckte die Ursache der Kurzsichtigkeit; Eduard Jäger von Jaxtthal entwickelte die Sehprobentafel zur Standardisierung von Brillenverschreibungen; Vincenz von Kern revolutionierte die Wundbehandlung; Theodor Billroth war ein Pionier der Nutzung von Äther und Chloroform zum Zweck der Anästhesie; der Anatom Carl von Rokitansky, der Zehntausende Autopsien durchführte, legte den Grundstein für die moderne pathologische Diagnose; und Sigmund Freud, der berühmteste von allen und geboren in Freiberg im äußersten Nordosten Mährens, hatte bereits begonnen, seine revolutionären Ideen im Bereich der menschlichen Psyche zu entwickeln. Der Ruf der medizinischen Fakultät der Universität Wien lockte Studenten aus ganz Europa an und verstärkt sogar aus Amerika.34
In den Naturwissenschaften brachte Österreich eine beachtliche Reihe begabter Theoretiker und experimentierfreudiger Praktiker hervor. Nikola Tesla, ein aus Kroatien stammendes Genie der Elektrotechnik, besuchte in Karlovac eines der anspruchsvollen deutschsprachigen Gymnasien, die flächendeckend im gesamten Kaiserreich etabliert worden waren. Carl Menger, Begründer der Grenznutzentheorie, die die Wirtschaftswissenschaft revolutionierte, indem sie zeigte, dass Preise nicht von Material- und Arbeitskosten bestimmt werden, sondern von der Nachfrage nach der jeweils zusätzlichen Produkteinheit, stammte aus dem polnischen Galizien und hatte in Prag, Wien und Krakau studiert. Der in Wien geborene Ludwig Boltzmann, einer der führenden Vertreter der physikalischen Chemie, entwickelte die Theorie der statistischen Mechanik, die das statistische Verhalten von Atomen mit physikalischen Eigenschaften des Stoffs in Beziehung setzt, etwa der Wärmekapazität von Metallen oder dem Druck eines Gases. Und aus Gödels Heimatstadt Brünn stammten der Genetiker und Mönch Gregor Mendel und der Experimentalphysiker Ernst Mach, dessen Name in Anerkennung seiner Erforschung der Überschalldynamik als Einheit der Geschwindigkeit in Relation zur Schallgeschwindigkeit verewigt ist. Diese Forschungen führten Mach auch zur Entwicklung der Hochgeschwindigkeitsfotografie, mit der er außergewöhnliche Aufnahmen von fliegenden Projektilen und den dazugehörigen Schockwellen produzierte.
Auch wenn die Universität Wien oder eine der großen deutschen Universitäten wie Göttingen oder Berlin das ersehnte Ziel für jeden österreichischen Professor waren, mussten die meisten von ihnen erst einmal auf Posten in Österreichs entlegenen Provinzen Dienst tun, mit dem vorteilhaften Effekt, neue wissenschaftliche Fortschritte und Entwicklungen über das gesamte Kaiserreich zu verteilen. Gödels Doktorvater und Mentor Hans Hahn war ein typischer Fall: Seine erste Station als Professor war die Franz-Josephs-Universität in Czernowitz, wo er sechs Jahre lehrte.
Auch Ungarn wurde in diesen Sog des intellektuellen Enthusiasmus und wissenschaftlichen Fortschritts hineingezogen, der die gesamte Monarchie erfasst hatte. Eine außergewöhnliche Gruppierung führender Physiker und Mathematiker des 20. Jahrhunderts war das Produkt eines gleichermaßen außergewöhnlichen Bildungssystems um die Jahrhundertwende – John von Neumann, Edward Teller, Leó Szilárd, Eugene Wigner, Theodore von Kármán, Paul Erdös und George Pólya, um nur einige zu nennen. Alle entstammten der jüdischen Mittelschicht Ungarns, alle sollten später aus Hitlers Europa fliehen, und viele der Genannten sorgten während des Zweiten Weltkriegs durch ihre Mitarbeit am Manhattan Project dafür, dass die Amerikaner und nicht etwa die Deutschen als Erste die Atombombe bauen konnten.
Die Bildungsreformen, die in der Ära aufkommender freiheitlicher Werte in den letzten Dekaden der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn umgesetzt wurden, legten viel mehr Wert auf kreatives Denken und experimentelle Neugier als auf stumpfsinniges Auswendiglernen. Theodore von Kármán, dessen endgültige Auswanderung nach Amerika im Jahr 1934 das Reich des größten Aerodynamikexperten der Epoche beraubte, war ein »von«, weil Franz Joseph seinem Vater für seine Bemühungen um die Modernisierung des Schulsystems in den 1890er-Jahren den Adelstitel verliehen hatte. »Niemals paukten wir Regeln aus dem Buch«, erinnerte sich von Kármán an den von der Aufklärung geprägten und von seinem Vater eingeführten Lernansatz. »Stattdessen versuchten wir, sie selbst zu entwickeln.« Leó Szilárd, der in den 1930ern die nukleare Kettenreaktion entdeckte, erinnerte sich an das Budapest seiner Jugend als eine Gesellschaft, in der wirtschaftliche Sicherheit als selbstverständlich galt, und als Ort, an dem den geistigen Errungenschaften der allergrößte Wert beigemessen wurde.35
Die legendäre Behaglichkeit in Österreichs Gesellschaft, ihre Hingabe ans süße Leben, das Madame de Staël anno 1808 beobachtet hatte, war in der neuen Atmosphäre intellektuellen Aufbruchs keineswegs auf der Strecke geblieben, sondern trug noch zusätzlich zum Charme der Geisteswelt bei, die Wien nun für sich reklamieren konnte. Ein gemächlicher Nachmittag in einem der vielen berühmten Kaffeehäuser mit ihren Marmortischen, schmucken Kronleuchtern, Stapeln von Zeitungen, die die Kundschaft kostenlos durchblättern durfte, während man starken schwarzen Kaffee mit einem ordentlichen Klecks Schlagsahne schlürfte, vom Kellner stets zusammen mit einem Glas Wasser auf einem Silbertablett gereicht; ein Abend Walzer tanzend bei einem der zahllosen Bälle in der ausgedehnten Vorfastenzeit; das Vergnügen der »bezaubernden Belanglosigkeiten« einer Wiener Operette; oder ein Wochenendausflug zu einer der rustikalen Weinstuben, nur eine kurze Straßenbahnfahrt in die Hügel des Umlands entfernt, in dem die stadteigenen Weinberge begannen und die den neuen Wein jedes Jahrgangs, den Heurigen, zu einem eindrucksvollen Panoramablick über die Stadt und das Donautal zu ihren Füßen reichten – all dies zu erleben in einer Stadt, die inzwischen auch wegen ihrer erstklassigen Kunstgalerien, ihrer Kliniken und ihrer wissenschaftlichen Exzellenz weltweites Ansehen genoss: Wiener zu sein hieß geradezu, wie es der Historiker William Johnston ausdrückte, »seine Stadt als eine privilegierte Bühne des Welttheaters anzusehen«.36
Gödel war zwar kein Jude, aber als jemand, der im Textilzentrum Brünn aufgewachsen war und später im großen geistigen Zentrum der Universität Wien studierte, stellte er fest, dass fast all seine Freunde Juden oder jüdischer Abstammung waren. Das war kein Zufall, keine Bevölkerungsgruppe hatte mehr von der wirtschaftlichen Liberalisierung und den neuen Bildungschancen profitiert. Friedrich Redlich, der Arbeitgeber und spätere Geschäftspartner seines Vaters in der Textilfabrik, in der er als Geschäftsführer arbeitete, war Sohn jüdischer Eltern und als Erwachsener zum Protestantismus konvertiert; Gödels beste Schulfreunde am naturwissenschaftlich ausgerichteten Realgymnasium zu Brünn waren allesamt Juden; und in dem brillanten Zirkel mathematisch und philosophisch interessierter Studenten an der Universität, in dem er schon bald verkehrte, waren ebenfalls fast alle jüdischer Herkunft, genau wie die meisten Professoren, die ihn am stärksten beeinflussten.
Wiens jüdischer Bevölkerung war über Jahrhunderte der Zugang zu Universitäten, bestimmten Berufen und Handwerkszünften verwehrt worden, sie wurde auch steuerlich und rechtlich benachteiligt – das alles hatte zur Folge, dass der Anteil der Juden an Wiens Bevölkerung nie über mehr als ein paar Tausend hinauskam. Und diese paar Tausend reagierten auf Franz Josephs Dekret von 1867, das völlige Religionsfreiheit und gleiche Bürgerrechte gewährte, mit einem Ausbruch lange unterdrückter Begeisterung. Der traditionelle jüdische Ehrgeiz in Sachen Bildung machte sich in den Beiträgen zu Medizin, Wissenschaften und Literatur in Österreich nahezu augenblicklich bemerkbar. In den 1890er-Jahren stellten die Juden zwar nur fünf Prozent der Bevölkerung in der Monarchie insgesamt und zehn Prozent der Einwohner Wiens, aber 40 Prozent der Schüler in den streng akademisch ausgerichteten Gymnasien der Stadt, deren Abschluss Voraussetzung für die Aufnahme an einer Universität war. Nahezu 30 Prozent der Studenten an der Universität Wien waren Juden, an der medizinischen Fakultät sogar an die 50 Prozent.37
Die industrielle Revolution, von traditionellen Handwerkern und Kleingewerbetreibenden als Bedrohung ihres Auskommens argwöhnisch beäugt, bot den Juden ebenfalls eine Fülle von Chancen – zumal sie nichts zu verlieren und alles zu gewinnen hatten angesichts der neuen wirtschaftlichen Freiheit, der nun keine Zünfte, Aristokraten oder nationale Grenzen mehr etwas anhaben konnten.38 Die großen jüdischen Bankiersfamilien machten einen Großteil ihrer frühen Vermögen in den Bereichen von Fertigung und internationalem Handel: die Wittgensteins im Stahlgeschäft, die Rothschilds beim Eisenbahnbau, die Ephrussis mit Getreide und Öl. Österreichs Juden waren Pioniere der Textilindustrie mit Zentren in Mähren und Niederösterreich, und sie gründeten Wiens erste Kaufhäuser.
Bei all diesen neuen Unterfangen besaßen Österreichs Juden eine Reihe eindeutiger Vorteile, die ihnen zügig zu Spitzenstellungen verhalfen. Die Alphabetisierungsrate lag selbst in den ärmsten, winzigsten und besonders traditionell orientierten jüdischen Gemeinden weit im Osten des Kaiserreichs bei nahezu 100 Prozent. Jüdische Jungen erlernten von Kindesbeinen an gleich vier oder fünf Sprachen: das Jiddisch, das in der Familie gesprochen wurde; Hebräisch, das sie für das Studium der Tora schon im Alter von drei Jahren zu lernen begannen; dann das Aramäische für den Talmud; die jeweilige örtliche Umgangssprache, also Polnisch, Ungarisch, Tschechisch, Ukrainisch oder Rumänisch; und oftmals kam auch noch Deutsch dazu, die Amtssprache, die für die Verwaltung und an den führenden Schulen unerlässlich war. Das hohe Ansehen des Studiums, das zutiefst mit der jüdischen Tradition verwoben war, übertrug sich ganz automatisch auf die säkulare Welt, und es existierte natürlich auch das brennende Verlangen, das nachzuholen, was ihnen so lange verweigert worden war. Lehrer an den Gymnasien in ganz Österreich und Deutschland bemerkten den Wissensdurst ihrer jüdischen Schüler, ihren Lerneifer und das intensive Engagement der Eltern, die die Fortschritte ihrer Kinder sorgfältig überwachten und ihnen die hohe Bedeutung der Bildung immer wieder einschärften.39
Ähnlich wie in der Industrie waren jüdische Studenten viel eher bereit und willens, kreative Risiken einzugehen und in Wissenschaft und Kunst Experimentierfreude an den Tag zu legen. Auch in dieser Hinsicht hatten sie weniger zu verlieren – an einer Wahrung irgendeines Status quo konnte ihnen schließlich nicht gelegen sein. Freud sprach davon, wie gerade die einstige Marginalisierung zu einer Stärke wurde, wenn es um das Formulieren eigener, bahnbrechender Ideen ging: »Weil ich ein Jude war, fand ich mich frei von vielen Vorurteilen, die andere im Gebrauch ihres Intellekts beschränkten, als Jude war ich dafür vorbereitet, in die Opposition zu gehen und auf das Einvernehmen mit der ›kompakten Majorität‹ zu verzichten.«40
Die Liebe der Juden zum geschriebenen Wort brachte auch Wiens Literatur und Theater in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ganz enorm voran. Karl Kraus, ein katholischer Konvertit, der einer jüdischen Familie aus Böhmen entstammte und dessen beißend satirisches Journal Die Fackel sich einer ebenso großen wie treu ergebenen Gefolgschaft erfreute, bezeichnete sich selbst als Bewohner »des alten Hauses der Sprache«. Mit ihrer Verehrung der deutschen Literatur und Kultur dominierten die Juden den Journalismus und insgesamt die schreibende Zunft Österreichs; über 50 Prozent der Mitglieder des Wiener Journalisten- und Schriftstellervereins um das Jahr 1900 waren jüdischer Abstammung, desgleichen viele, vielleicht sogar die meisten führenden Schriftsteller, Operettenlibrettisten und Bühnenautoren im Wien des Fin de Siècle.41