Reise zum Mittelpunkt der Ferne - Werner Hasselbacher - E-Book

Reise zum Mittelpunkt der Ferne E-Book

Werner Hasselbacher

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Beschreibung

"Er hatte beschlossen, Pilot zu werden und benötigte für die Ausbildung fünftausend Dollar. Bei seinem ersten Flug wären wir seine Gäste ..." Ob Werner Hasselbacher vom Traum eines kenianischen Hotelangestellten erzählt, von zwei Busfahrten durch das Hochland Sri Lankas, von einem Brief aus Kuba und von einer Weinprobe im Burgenland, oder ob er den Leser in einen von Nairobi nach Mombasa fahrenden Nachtzug versetzt: stets verbindet er das Erzählte mit einer Reise.

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Werner Hasselbacher, geb. 1948, arbeitete neun Jahre als Tierpfleger im Frankfurter Zoo, dem er zeitlebens verbunden blieb. Abitur auf dem Zweiten Bildungsweg. Danach an der Goethe-Universität Frankfurt tätig. Er reiste viel, engagiert sich für den Naturschutz und seine große Leidenschaft ist der Fußball.

Für Cornelia

Inhalt

Brief aus Kuba

Die Serpentinen hinter Nuwara Eliya I

Die Serpentinen hinter Nuwara Eliya II

Der Pilot

Reise zum Mittelpunkt der Ferne

Wildpferde am Elefantenkopf

Begegnung mit einem gelben Hund

Ein letzter Schluck

Schwerer Wein

Traumtor

Das Haus der Sonne

Oder warum die Sonne noch immer scheint

Auf dem Freiheitsgipfel

Der Berg des Kaisers

Momentaufnahmen

Zwölf Reiseschnappschüsse

Brief aus Kuba

„Die Briefe kamen gestern in einem Umschlag mit der Post. Es sei sein Wunsch gewesen, schreibt sie. Gelesen habe ich sie noch nicht. Der aus Kuba ist auch dabei.“

„Bleib sitzen, ich hole ihn. Welcher ist es?“

„Der in dem blauen Kuvert.“

Santa Lucia, 13. März 1994

„Ist er das?“

„Ja, das ist er. Sei so gut und lies in mir vor; ich sehe in letzter Zeit schlecht.“

„Der Brief hat gar keine Anrede.“

„Ach, das war seine Art, Tagebuch zu führen. Dein Vater war schon immer etwas eigenartig gewesen. Das mochte ich gerade an ihm. Nach jeder Reise kam ein solcher Brief von ihm zu Hause bei uns an. Diesen werde ich wohl nie vergessen, obwohl ich mich an seinen Inhalt nicht mehr genau erinnere.“

Kuba ist groß wie die Herzen seiner Bewohner. Die Insel mißt von Ost nach West 1.250 Kilometer. Fidel Castro grüßt uns von Plakaten am Straßenrand. Das Bildnis des „maximo lider“ verbleicht in der Sonne, die uns bräunt. Für harte Dollars ist Che Guevara auf Briefmarken und T-Shirts zu haben. Keinen Cent wert sind die drei Pesos, die als Münze oder Schein sein Abbild tragen. Seit dem Rückzug des russischen Bären bekommt das Land die Krallen des amerikanischen Adlers schmerzhaft zu spüren. Die Wirtschaft liegt in den letzten Zügen. Traktoren ziehen Omnibusse, auf Lastwagen stehen die Menschen wie Borsten auf einer Bürste, Pferdekraft ersetzt das fehlende Benzin. Aber noch immer gibt es Lachen im Überfluß, wölbt sich auf den Rücken der Rinder ein Buckel, tragen die Pferde den Vaquero im Sattel, auf dem kein Platz ist für die Zeit.

„Ich wußte gar nicht, daß er eine poetische Ader hatte.“

„O doch, die hatte er. Von den Vaqueros waren wir besonders beeindruckt. In unserer alten Wohnung hing eine Photographie von zwei Kubanern, die auf ihren Pferden mitten auf einer schnurgeraden Landstraße reiten. Ich sehe das Bild noch deutlich vor mir. Sie kehren dem Betrachter den Rücken zu und streben zu jenem Punkt, wo die Straße mit dem Horizont verschmilzt. Links und rechts des Straßenrandes reihen sich Telegraphenmasten, und zu beiden Seiten dehnt sich flaches Weideland aus. Hier und da sind höckerige Zebus, Pferde und auch ein paar Schafe und Ziegen zu sehen. Nirgendwo ein Auto. Die Straße, das Land, der weite, graublaue Himmel: alles scheint nur für die zwei Reiter da zu sein. Sie hatten ihre Pferde neben uns angehalten, und einer der beiden, der größere, fragte uns, ob wir ein Stück auf seinem Pferd, einem Schimmel, reiten wollten. Es war ein stattlicher Mann, so um die Vierzig, mit langen dunkelblonden Haaren und einem üppig sprießenden Bart. Wenn er keinen schwarzen, breitkrempigen Filzhut getragen hätte, hätte man ihn in seinem rot- und blaukarierten Flanellhemd auch für einen kanadischen Holzfäller und nicht für einen kubanischen Cowboy halten können. Er reichte uns die Zügel, so als würde er uns schon viele Jahre kennen. Er verlangte nichts. Seine Hände waren schlank und kräftig, ein wenig schmutzig von der Arbeit, aber doch sehr schön, und sie hielten die Zügel, die aus Hanf waren. Komisch, daß man sich nach so vielen Jahren an solche Einzelheiten erinnert. Es waren wirklich nur einfache Hanfstricke. Wir lehnten sein Angebot höflich ab. Er lächelte freundlich, bot uns noch einmal sein Pferd an, und ritt, als wir auch diesmal ablehnten, weiter. Sein Partner folgte ihm; er trug einen Strohhut, und sein Gesicht war fast so braun wie die Farbe seines Pferdes. Nach etwa dreißig Metern drehten sie sich im Sattel um und winkten uns zum Abschied zu. Dann machten wir das Photo. Für uns war es immer ein Sinnbild der Freiheit. Ähnlich empfanden alle, die uns besuchten und sich das Photo ansahen, so lange, bis wir ihnen sagten, daß wir es in Kuba aufgenommen hatten. Danach wandten sie sich wortlos ab, weil Freiheit und Sozialismus sich in ihren Augen offenbar nicht vertrugen. Vielleicht hatten sie recht und das Photo, das wir so sehr mochten, war nichts als eine liebenswerte Illusion. Ich weiß gar nicht, wo das Bild hingekommen ist. Na, ist ja auch egal, lies weiter.“

Das Zuckerrohr wird zum Teil wieder von Hand geerntet. Der aus ihm gewonnene Zucker, braun oder weiß, an dem sich ungebeten die Fliegen laben, süßt unseren Kaffee. Käse essen wir, gemäß der Landessitte, mit Guavenmarmelade.

Einige Hotelgäste leiden Not am reichhaltigen Büfett, besonders entbehren sie einer dritten Hand, und so sind sie genötigt, in der einen Hand die Tasse mit der überschwappenden Suppe, in der anderen den Teller mit einer Portion von allem und jedem und im Mund ein Brötchen zu ihrem Tisch zu befördern. Das Tragen von heller Kleidung ist im Speisesaal nicht zu empfehlen, denn der Kontakt mit streunenden Speisen ist kaum zu vermeiden; vielleicht entschuldigt das die vielen freien Oberkörper.

Gegen die Stechmücken gibt es kein wirksames Mittel, aber das Zirpen der Grillen bekämpft das Hotel mit dem Lärm der Diskothek erfolgreich bis vier Uhr früh, um mit ihm ab neun Uhr gegen den Gesang der Vögel anzutreten.

„Der Krach war manchmal wirklich unerträglich. Du mußt wissen, die Diskothek war gleich nebenan. Einmal dröhnte nachts die Musik so laut, daß unser Bett vibrierte und an schlafen nicht zu denken war. Tina Turner war damals auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, und fast jedes zweite Lied war von ihr. Wir hatten sie immer gerne gehört, aber danach konnte ich sie für eine Weile nicht mehr ertragen. Erst wenn es hell wurde und die Leute lärmend die Diskothek verlassen hatten, wurde es etwas ruhiger.“

Die weiten Entfernungen sind am leichtesten auf dem Luftweg zu überwinden, doch weil wir den kleinen knatternden Eisenvögeln nicht trauen, haben wir uns für Bus und Mietwagen als Transportmittel entschieden. Auf einem zweitägigen Ausflug nach Santiago de Cuba lernen wir die Vorzüge einer Gruppenreise kennen. Wir besichtigen ein Automuseum, in dem die gleichen Oldtimer zu sehen sind wie allerorts auf den Straßen. Man führt uns zu einer Rumfabrik, die geschlossen hat, weil ihre Fließbänder nicht laufen, zeigt uns die einheimische Fauna in einem Dinosaurierpark und die Vergangenheit auf einem Friedhof. Die längste Zeit jedoch widmen wir uns der größten Sehenswürdigkeit: dem Mittagessen.

„Das muß ich dir erklären. Am Tag unserer Abreise aus Santiago de Cuba war noch ein Mittagessen eingeplant, in einem kleinen Restaurant, das in einem herrlichen alten Villenviertel lag. Wir trafen etwas zu früh dort ein, und der Inhaber bat uns um ein wenig Geduld, weil das Essen noch nicht fertig war. Etwas Besseres konnte uns gar nicht passieren. Während die anderen aus unserer Reisegruppe an den Tischen im Innenhof Platz nahmen und vor ihren Getränken die Zeit totschlugen, erkundeten wir die Umgebung. So waren wir wahrscheinlich die einzigen, die das Stammhaus der Familie Bacardi sahen, eine prächtige Villa aus dem 19. Jahrhundert. Nachdem die Bacardis nach der Revolution das Land verlassen hatten, hatte man die Villa zu einem Museum umfunktioniert. Schulkinder in adretten Uniformen gingen darin ein und aus, und einige turnten im angrenzenden Park auf einem ausgedienten sowjetischen Düsenjäger herum. Daran mußte ich später daheim immer denken, wenn im Fernsehen die Werbung für Bacardi Rum lief.

Aber was ich eigentlich sagen wollte: Als wir nach einer knappen Stunde von unserem kleinen Ausflug zurückkehrten, saßen die anderen noch immer vor ihren Getränken. Mit dem Essen dauerte es noch eine Weile. Schließlich führte man uns in ein Zimmer, das wie ein Wohnzimmer aussah; es war wohl auch eins, eingerichtet mit Kommode, Bücherschrank, Plüschsofa und Sesseln, an den Wänden Familienphotos und Lithographien. Der schwere, lange Eßtisch war gedeckt mit Silberbesteck und Porzellangeschirr aus längst vergangenen Zeiten. Zum Nachtisch gab es hausgemachtes Eis, zwei Bällchen für jeden, wahlweise Vanille, Schokolade oder Erdbeere. Der Inhaber, der viel Aufhebens davon machte, servierte es uns persönlich. Wir aßen das Eis langsam, mit Bedacht, so als ob Speiseeis etwas ganz Besonderes für uns wäre.

Schon am Tag zuvor hatten wir jede Gelegenheit genutzt, um uns selbständig zu machen. Nach unserer Ankunft im Hotel widerstanden wir der Versuchung, uns wie andere gleich an den Swimmingpool zu legen. Statt dessen nutzten wir den freien Nachmittag und machten auf eigene Faust einen Stadtbummel. Unterwegs schlossen sich uns zwei junge, aufdringliche Burschen an, die uns Zigarren verkaufen wollten, echte Cohibas, ausgesprochen preiswert, wie sie uns versicherten, an denen jedoch einzig die Banderolen echt zu sein schienen. Die beiden wichen uns nicht von der Seite. Aber schließlich wurden wir sie doch los, einfach weil wir sie nicht beachteten. Was wir bei unserem Bummel durch die Stadt zu sehen bekamen, war allein schon die Reise wert. Auf dem Rückweg nahm uns ein alter Mann ein Stück in seiner Pferdekutsche mit. Er war beinahe beleidigt, daß wir für die Fahrt bezahlen wollten. Er nahm lediglich eine Zigarette von uns an, wofür er sich mit zwei von seinen bei uns revanchierte.

Am Abend besuchten wir dann noch eine Tropicana Show. Wir waren froh über diese Gelegenheit, da unsere Zeit für einen Besuch von Havanna nicht mehr reichte, wo wir uns die Show sicher im weltberühmten Tropicana im Original angeschaut hätten. Trotzdem war ich von der Revue begeistert. Die bildschönen Tänzerinnen, die schrillen Farben der Kostüme, dazu die Musik, Mambo, Rumba ... glaub mir, es war einfach großartig. Außerdem stand ich dabei zum ersten und zum letzten Mal in meinem Leben im Rampenlicht. Doch, wirklich. Und das hatte ich der Laune eines Sängers zu verdanken, der von der Bühne stieg und singend von Tisch zu Tisch ging, gefolgt vom Licht eines Scheinwerfers. Auch zu unserem Tisch kam er, und ausgerechnet vor ihm bleibt er stehen. O Schreck, denke ich – da neigt er sich auch schon zu mir, zwischen seinem Mund und meinem Ohr nur das Mikrophon, und singt, als wäre sein Lied einzig und allein für mich bestimmt. Der grelle Scheinwerfer, der ihn und mich anstrahlt, blendet mich. Ich spüre förmlich wie Nadeln die Blicke des Publikums auf mir und zwinge mich zu einem Lächeln, etwas Besseres fällt mir nicht ein. Zum Glück ist es ein kurzes Lied, so daß mich bald wieder das gnädige Halbdunkel umhüllt. Dein Vater amüsierte sich bei diesem Zwischenspiel königlich. Die übrigen Beiträge gefielen ihm nicht annähernd so gut. Sie waren ihm von zu viel Spektakel begleitet, und er tröstete sich mit dem Rum, von dem jedes Paar eine Flasche vor sich auf dem Tisch stehen hatte, über diesen Umstand hinweg. Immer wenn er einen kräftigen Schuß unter sein Cola mischte, warf ihm unser Reiseleiter einen besorgten Blick zu. Zuerst dachte ich, er wäre um unser Wohl bedacht, weil der Inhalt unserer Flasche schon bedenklich abgenommen hatte, obwohl die Vorstellung noch voll im Gange war. Später wurde mir klar, daß seine Sorge einzig sich selbst gegolten hatte, denn er und unser Fahrer waren auf die Reste in den Flaschen aus, die sie nach der Veranstaltung zusammengossen und mitnahmen. Bei uns machten sie allerdings ein schlechtes Geschäft, denn unsere Flasche war so gut wie leer.

Spätabends kamen wir zurück in unser Hotel, in dem wir uns bis dahin kaum aufgehalten hatten. An seinen Namen erinnere ich mich nicht mehr, nur daß es fünf Sterne hatte und ein riesiger Kasten war, dessen Fassade einer Zuckerfabrik nachempfunden war. In der Halle spielte ein Pianist Schlager aus den zwanziger und dreißiger Jahren. Und noch etwas fällt mir ein: Die Handseife im Bad roch ziemlich penetrant, jedenfalls für ein Hotel dieser Kategorie. Ich komme darauf, weil wir in jedem Urlaub die Seife der Hotels, in denen wir untergebracht waren, sammelten. Das war so ein Spleen von uns. Diese billige Hotelseife verschenkten einige der Gäste auf der Straße an Passanten. Seife, auch Kugelschreiber, waren sehr begehrt, aber wir sahen die Leute niemals darum betteln.“

Camagüey, die nächstgelegene Stadt, liegt 100 Kilometer von uns entfernt. Ein Suzuki „Samurai“ bringt uns mühelos dorthin. Die Stadt hat 270.000 Einwohner. Kapitän Ahabs Mannschaft, hier hat sie ihre Zuflucht gefunden, lümmelt sich auf der Plaza, John Houstons Film „Moby Dick“ frisch entsprungen. Viel Arbeit für unseren Photoapparat.

„Beinahe wäre es mit dem Photographieren nichts geworden. Wir hatten nämlich nicht genügend Filme mitgenommen und den letzten bereits auf der Hinfahrt verknipst. Nach allem, was wir über die schlechte Wirtschaftslage gehört hatten, bestand wenig Hoffnung, in einer Region, wo der Tourismus noch nicht Fuß gefaßt hatte, ein solches Luxusgut wie einen Film aufzutreiben. Um so größer war unsere Überraschung, als wir in einem kleinen Photoladen Kodakfilme entdeckten, von denen wir gleich mehrere kauften, zu einem erschwinglichen Preis und, wie sich herausstellen sollte, von einwandfreier Qualität. So konnten wir doch noch nach Herzenslust photographieren. Es gab so viele herrliche Motive, die es im Bild festzuhalten galt. Da war zum Beispiel ein recht baufälliger Balkon, bestückt mit den ausgefallensten Behältern, die ich je zur Unterbringung von Topfpflanzen gesehen habe. Vom Wasserkessel bis zur Waschschüssel war so ziemlich alles vertreten. Eine Frau goß gerade die Pflanzen. Als sie uns ihren Balkon photographieren sah, eilte sie ins Zimmer und holte noch mehr solcher Kuriositäten hervor, die sie uns voller Stolz zeigte.

In Camagüey bekamen wir endlich auch einen gut erhaltenen Drei-Pesos-Schein mit dem berühmten Konterfei Che Guevaras, nach dem wir bislang vergeblich gesucht hatten. Wir erwarben den Schein für einen Dollar von einem vorbeikommenden Radfahrer, den wir aufs Geratewohl danach gefragt hatten. Bis dahin waren uns nur schmuddelige oder zerfledderte Scheine in die Hände geraten, die sich als Andenken nicht lohnten. Zufrieden mit unserem Handel gingen wir weiter und hatten uns schon ein gutes Stück weit entfernt, als wir ein wildes Geklingel vernahmen und unser Radfahrer, begleitet von zwei weiteren, hinter uns erschien. Die drei hielten alle möglichen Pesos-Noten in den Händen, die sie uns zum Kauf anboten. Mit so viel Geschäftssinn hatten wir nicht gerechnet. Wir zogen uns aus der Affäre, indem wir vorgaben, nur an neuwertigen Scheinen, und nicht an abgegriffenen, wie die ihren es waren, interessiert zu sein, worauf sie prompt auf ihren Rädern loseilten, um uns bessere zu besorgen. Als sie außer Sicht waren, machten wir uns schleunigst fort, denn wir befürchteten, bald das ganze Viertel mit Banknoten auf dem Hals zu haben.

In Camagüey war es auch, wo wir sie kennenlernten. Sie hatte uns auf der Straße angesprochen, aus keinem besonderen Grund, einfach nur so. Es war vor einem kleinen Hotel, in dem wir einen Kaffee getrunken hatten und das wir gerade verließen, als sie daran vorbeikam. Sie merkte schnell, daß wir aus Deutschland kamen, und nachdem sie sich erst auf englisch mit uns verständigt hatte, sprach sie zu unserer Überraschung plötzlich Deutsch. Sie sei ein Jahr lang in der DDR gewesen, sagte sie uns, als Austauschstudentin. In Chemnitz hatte sie angeblich einen Freund. Sie arbeitete in einer Fabrik, was ihr gar nicht zu gefallen schien. Wir nahmen sie mit nach Santa Lucia, ihr Heimatort. Auf der Fahrt diskutierte sie mit deinem Vater über Politik. Sie redeten sich die Köpfe heiß und vergaßen alles um sich herum. Ich beteiligte mich nicht an ihrer Diskussion, sondern schaute mir lieber die Gegend an. Für Politik konnte ich mich noch nie begeistern, das weißt du ja. Zum Schluß kamen sie auf die Zukunft Kubas nach Castro zu sprechen. Sie hoffte auf einen stärkeren Handelsaustausch mit Europa, und er fragte sie, wie sie sich das in der Praxis vorstelle. Sie zählte daraufhin eine Reihe von landwirtschaftlichen Produkten auf, von denen sie überzeugt war, daß sie Kuba die dringend benötigten Devisen verschaffen würden. Man hätte nun erwarten können, daß sie dabei dem einheimischen Tabak den Vorrang gab. Aber nein, sie setzte in erster Linie auf die Ausfuhr von Kartoffeln. Er widersprach ihr natürlich aufs heftigste, weil kubanische Kartoffeln auf dem europäischen Markt nicht konkurrenzfähig wären, und merkte überhaupt nicht, daß sie ihn auf den Arm nahm.

In Santa Lucia verabschiedeten wir uns, tauschten aber zuvor noch unsere Adressen aus. Wir sollten ihr ein deutsches Wörterbuch schicken, weil sie die feste Absicht hatte, nach Deutschland zu kommen und deshalb ihre Deutschkenntnisse verbessern wollte. Wir schickten ihr von zu Hause das gewünschte Wörterbuch und dazu noch ein paar Dollars. Ein halbes Jahr später erhielten wir einen kurzen Brief von ihr, in dem sie sich bei uns für beides bedankte. Ihre Reise nach Deutschland stünde kurz bevor, teilte sie uns mit. Sie versprach, sich bei uns zu melden, sobald sie in Deutschland sei …

Auf Barhockern sitzend, lauschen wir abends den Klängen des Son und vermischen unsere Erlebnisse mit dem Inhalt unserer Gläser. Bis spät in die Nacht erwecken wir den Geist des Zuckerrohrs aus seinem siebenjährigen Eichenfaß-schlummer, der schwarze Geier und rosarote Flamingos über uns kreisen läßt. Am Morgen vertreibt der durch ein Riff gezähmte Atlantik, der reich ist an bunt schillerndem Meeresgetier, das kokett vor unseren Taucherbrillen posiert, die nächtlichen Geister.

„Mein Gott, wie lange ist das her. Fast auf den Tag genau zwanzig Jahre. Es war unser letzter gemeinsamer Urlaub. Wir hatten fünfzehn glückliche Jahre, waren ein Herz und eine Seele, wie man so sagt. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn ich nicht schwanger geworden wäre. Eigentlich war ich mit fünfunddreißig schon zu alt für ein Kind, und Kinder wollte er nie haben, schon gar keine Tochter. Er traf sich heimlich mit ihr. Ich war blind und habe es anfänglich nicht bemerkt. Hübsch war sie, damals jedenfalls, eine verteufelt schöne Mulattin, das muß man ihr lassen, und dazu noch jünger als ich. Dagegen kam ich nicht an. Aber was rede ich, das weißt du ja alles.“

„Wann sagtest du, ist die Beerdigung?“

„In einer Woche. Wirst du mitgehen?“

„Ich weiß es noch nicht.“

Die Serpentinen hinter Nuwara Eliya I

Hinter Nuwara Eliya windet sich die Straße nach Kandy in schier endlosen Serpentinen talwärts. Sattgrüne Teeplantagen überziehen die Berghänge. Es ist heiß im Reisebus, obwohl es erst zehn Uhr morgens ist. Die meisten Businsassen dösen, und nur das ruckartige Bremsen in den zahllosen Kurven verhindert, daß die vierundzwanzig Personen, ausgenommen der einheimische Reiseleiter und sein Landsmann am Steuer, fest schlafen. Die bunt gekleideten Teepflückerinnen, die da und dort am Straßenrand oder in den Pflanzungen zu sehen sind, erregen kaum noch Interesse, und ihr freundliches Winken bleibt ohne Erwiderung. Selbst Oswald, den alle Ossi nennen, hängt schläfrig in seinem Sitz; vor wenigen Minuten hat seine Stimme aufgehört zu dröhnen. Zwei Knöpfe seines Hemdes stehen über dem gelockerten Hosengürtel offen und geben einen kleinen Ausschnitt seines nackten und prallen Bauches preis, auf den ein vorwitziger Sonnenstrahl fällt.

Seit der Bus vor zwei Stunden vom Hotel abgefahren ist, hat Ossi ununterbrochen Witze erzählt und lauthals Anekdoten aus seinem Leben zum besten gegeben. Jetzt ist er müde vom vielen Reden, auch ein wenig vom Arrak, den er zusammen mit seinen Freundinnen − zwei unverheiratete Frauen in mittleren Jahren und eine etwas ältere Witwe −, getrunken hat. Ossi fährt, wie jeder inzwischen auswendig weiß, ein Müllauto in Hamburg. Vier italienische Gastarbeiter hat er unter sich, denen er keine Nachlässigkeit durchgehen läßt. Im hinteren Teil des Busses, den er für sich und seinen Harem in Beschlag genommen hat, ist er König. Welche der drei Frauen seine Favoritin ist, weiß er selbst noch nicht. Im Augenblick ordnen sie ihre Kleider und Haare, die seine kecken Hände durcheinander gebracht haben.

Der alte Süßmilch hat seine Krawatte gelockert. Wie immer trägt er, auch in der größten Hitze, einen Anzug. Von Zeit zu Zeit sackt sein Kopf vornüber, um im nächsten Moment, kaum daß sein Kinn die Brust berührt, in seine Ausgangsposition zurückzuschnellen, wie von einer unsichtbaren Rückholfeder gezogen. Vielleicht träumt er von Bangkok, Hongkong, Penang, im Anschluß an Ceylon die weiteren Ziele der dreiwöchigen Rundreise. Für seine achtzig Jahre ist er noch erstaunlich rüstig. Im Ruana Nationalpark ließ er sich wie jeder andere im offenen Geländewagen auf holprigen Pisten die Bandscheiben bei der vergeblichen Suche nach einer Elefantenherde malträtieren, und kein Weg zu einem der Hindutempel oder zu einer der Dagobas, die auf dem Programm standen, war ihm zu weit gewesen.

Der hagere Herr, der hinter ihm sitzt, beugt sich vor und fragt ihn nach der genauen Uhrzeit, aber er muß seine Frage wiederholen, bevor der Kopf des alten Süßmilch zur Ruhe kommt und er eine Antwort erhält. So forsch, wie er der Gruppe bei ihren Besichtigungen voranschreitet, dem Reiseleiter meist ein paar Meter voraus, so forsch teilt der hagere Herr seinen Hinterleuten, zwei jungen Männern, mit, daß sie mindestens zehn Minuten Verspätung hätten und nach planmäßigem Reiseverlauf eigentlich schon in der Teefabrik angekommen sein müßten. Dann greift er ins Gepäcknetz über sich nach seinem Hut, einem Südwester, dessen rechte Krempe hochgeschlagen ist und der seine Khakiuniform vervollständigt, setzt ihn auf und fährt fort, der neben ihm sitzenden Dame, der er vorübergehend seinen Fensterplatz überlassen hat, von seinem letzten Urlaub in Ostafrika zu erzählen. Sie ist ungefähr in seinem Alter, um die fünfzig, versucht aber, sich jünger zu geben, besonders mit ihrem flötenden Lachen, das sie häufig hören läßt. Ihr gerötetes Gesicht ist ihm zugewandt, und durch gelegentliches Kopfnicken oder einem plötzlichen Öffnen des Mundes gibt sie ihm zu erkennen, daß seine Worte nicht auf unfruchtbaren Boden fallen. Eine dicke Fliege findet Gefallen an ihrem geblümten Kleid und setzt oberhalb ihres wallenden Busens, am Rand des Ausschnitts, in kreisendem Flug zur Landung auf einer gelben Rose an. Sie bemerkt die Fliege und durchkreuzt deren Absicht mit heftigen Handbewegungen, die nicht nur das freche Insekt verscheuchen, sondern durch die Sitzreihen auch den üppigen Duft von Lavendel schicken, der sie in einer beständigen Wolke umschwebt.