Relight My Fire - C. K. McDonnell - E-Book

Relight My Fire E-Book

C. K. McDonnell

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Beschreibung

Stella genießt ihr Leben als Fast-Studentin; zumindest bis ein Mann direkt vor ihr vom Himmel fällt und ein großes Loch im Bürgersteig hinterlässt. Auf die offensichtliche Frage, wie er überhaupt in den Himmel gekommen ist, gibt es keine offensichtliche Antwort. Als der Verdacht aufkommt, Stella könnte etwas mit dem mysteriösen Ereignis zu tun haben, muss die Redaktion der Stranger Times ihre Unschuld beweisen - und herausfinden, was zum Teufel wirklich vor sich geht.

Leider werden die Ermittlungen von dem üblichen Wahnsinn in Manchester gestört: sturen Ghulen, widerspenstigen Gnomen und einer rauschenden Party voller Stars, die eine königliche Hochzeit in den Schatten stellen würde.

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Seitenzahl: 652

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über den Autor

Titel

Impressum

Widmung

Anmerkung des Autors

Dramatis Personae/Lieblingsdrink-Verzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Epilog 1

Epilog 2

Kostenloser Bonus

Danksagung

Über das Buch

Stella genießt ihr Leben als Fast-Studentin; zumindest bis ein Mann direkt vor ihr vom Himmel fällt und ein großes Loch im Bürgersteig hinterlässt. Auf die offensichtliche Frage, wie er überhaupt in den Himmel gekommen ist, gibt es keine offensichtliche Antwort. Als der Verdacht aufkommt, Stella könnte etwas mit dem mysteriösen Ereignis zu tun haben, muss die Redaktion der Stranger Times ihre Unschuld beweisen - und herausfinden, was zum Teufel wirklich vor sich geht. Leider werden die Ermittlungen von dem üblichen Wahnsinn in Manchester gestört: sturen Ghulen, widerspenstigen Gnomen und einer rauschenden Party voller Stars, die eine königliche Hochzeit in den Schatten stellen würde.

Über den Autor

CK McDonnell ist das Pseudonym von Caimh McDonnell, einem preisgekrönten irischen Stand-up-Comedian und Bestsellerautor der Dublin Trilogy. Bis heute hat er über 200.000 Bücher verkauft, davon allein im letzten Jahr über 110.000. Seine Bücher wurden als »eine der lustigsten Krimireihen, die Sie jemals gelesen haben« (The Express) und »ein brillanter humoristischer Thriller« (The Irish Post) bezeichnet. McDonnell lebt und schreibt in Manchester.

C. K. McDonnell

Manche Comebacks sind einfach mörderisch. The Stranger Times ermittelt

Roman

Übersetzung aus dem Englischen von André Mumot

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Eichborn Verlag

Titel der englischen Originalausgabe:»Relight My Fire«

Für die Originalausgabe:Copyright © 2024 McFori Ink Ltd

Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2024 byBastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Textredaktion: Sabine Biskup, MainzUmschlaggestaltung: Thomas Krämer nach einem Originalentwurf von Marianne Issa El-Khoury/TWEinband-/Umschlagmotiv: © getty-images; © iStockeBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7517-5956-4

luebbe.delesejury.de

Für Zombie Gary, zum Dank für seine Freundschaft, das gemeinsame Lachen und – vor allem – für all die Zombies.Für Christopher Brookmyre, dafür, dass er mit der Frustrierte-Rockstars-Fiction ein eigenes Genre erfunden hat. Und für die Toten, die mich, wie ich aus berufenem Munde erfahren habe, nicht verklagen können.<

Anmerkung des Autors

Mir ist zu Ohren gekommen, dass Schriftstellerinnen und Schriftsteller heutzutage am Beginn ihrer Bücher klarstellen sollten, ob beim Schreibprozess künstliche Intelligenz zum Einsatz gekommen ist. Erst einmal bin ich dieser Technik gegenüber zutiefst misstrauisch. Ich hege große Zweifel, dass die KI einen Roman schreiben könnte, der tatsächlich etwas taugt. Etwas kann sie aber ganz sicher: eine Anmerkung schreiben, die Ihnen erklärt, dass sie dies nicht getan hat.

Zweitens habe ich einen Hund. Zwei, um genau zu sein, aber insbesondere einer von beiden ist ein hochgradig pflegebedürftiger, angstgestörter, gegen alles allergischer Idiot, der mich in den finanziellen Ruin treibt. Eines Tages werde ich vielleicht in der Lage sein, mir einen Roboter anzuschaffen, der mit dem Idioten Gassi geht, den Idioten füttert, den Idioten sauber hält und dem Idioten seine verschiedenen Medikamente verabreicht. Vielleicht steht dieser Roboter dann sogar draußen und wird pitschnass, während er dem Idioten einen Regenschirm über den Kopf hält, weil dieser sich ganz schrecklich vor Regen fürchtet, ihn seine Magenprobleme aber trotzdem nach draußen treiben. Ich könnte mir einen Roboter besorgen, der all das übernimmt, aber dann würde ich den besten Freund verlieren, den ich jemals hatte.

Bei der Kreativität geht es nicht darum, andere zu imitieren, um etwas richtig zu machen, sondern darum, es auf die richtige Weise falsch zu machen. Sie können also ganz beruhigt sein: Ich habe in dieser Schwarte jedes einzelne Wort selbst geschrieben. Und auch über dieses Buch habe ich gewissermaßen einen Schirm gehalten, während es darauf bestanden hat, mir Probleme zu bereiten. Ganz im Ernst: Ich habe zwanzig Minuten lang im strömenden Regen gestanden, weil das Kapitel 56 einfach nicht funktionieren wollte. Aber hey – gern geschehen. Ich möchte wirklich mal sehen, wie eine KI so was macht.

Also, wenn Sie mich nun entschuldigen wollen, ich muss mit meinem geliebten Idioten augenblicklich Gassi gehen. Wir leben nämlich in Manchester, und ausnahmsweise regnet es nicht.

Caimh (C. K.) McDonnell

Dramatis Personae/ Lieblingsdrink-Verzeichnis

Die Belegschaft der Stranger Times

Vincent Banecroft – Chefredakteur. Whiskey, gelegentlich Rum/was gerade zur Hand ist.

Hannah Willis – stellvertretende Chefredakteurin. Milchkaffee oder Weißwein.

Grace Yeboah – Büroleiterin. Starker schwarzer Tee. Drei Stück Zucker.

Ox Chen – Redakteur für UFOs und Verschwörungstheorien. Unaussprechlicher russischer Energydrink, der in dreiundzwanzig Staaten verboten ist.

Reginald »Reggie« Fairfax, der Dritte – Redakteur für Paranormales. Kräutertee/Gin Tonic.

Stella (Nachname unbekannt) – Journalistin in Ausbildung. Prime Energy.

Manny* – Drucker/Rastafari. Tee au naturel (wie er selbst)/Kräuterzigaretten gegen sein Glaukom.

Greater Manchester Police

DI Tom Sturgess – Detective Inspector. Cola light.

DS Andrea Wilkerson – Detective Sergeant. Ein Glas Malbec. Wenn’s geht, ein möglichst großes.

Weitere Parteien

John Mór – Pub-Besitzer/Hochrangiges Altvolk-Mitglied. Ein Pint London Pride.

Cogs – Bänkelsänger/Mann, der nur die Wahrheit sprechen kann. Was haben Sie dabei?

Zeke – sprechender Hund/eigentlich gar kein Hund. Dasselbe wie Cogs, bitte.

Dr. Veronica Carter – Vertreterin der Begründer. Cosmopolitan.

Tamsin Baladin – Millionärin und Entrepreneurin./Neu angeworbene Mitarbeiterin der Begründer. Gurkenwasser.

Alan Baladin – Millionär und Entrepreneur/Monströser Megalomane. Blut.

*Engel, der sich mit Manny einen Körper teilt – Hüter der Kirche der Alten Seelen. Keine Getränkepräferenz bekannt.

Prolog

Und mit einem plötzlichen Nachluftschnappen kam sie zu sich.

Das Erste, was sie spürte, war das rasende Hämmern ihres Herzschlags, der durch ihren Körper pulsierte.

Shyanne blinzelte mehrmals und versuchte, die Welt scharf zu stellen. Es war eine Welt, die sie nicht kannte. Sie befand sich in einem Raum, dessen farblose Wände aus Metall bestanden, und es gab auch keine Möbel, nur den Metallstuhl, auf dem sie saß.

Nein. Sie saß nicht darauf, sie war daran gefesselt.

Sie schaute auf ihre Hände herab. Metallschnallen fixierten ihre Unterarme an den Lehnen. Sie versuchte, die Füße zu bewegen, aber auch sie wurden von irgendetwas festgehalten. Und ihr Oberkörper – irgendetwas war quer über ihren Brustkorb gespannt worden. Sie zog den Kopf etwas zurück und senkte den Blick. Dort war ebenfalls eine Metallfessel. Nun sah sie auch, dass sie ein grünes Krankenhaus-Nachthemd trug.

An ihren rechten Oberarm hatte man zwei Kanülen angeschlossen; von einer führte ein dünner Schlauch zu einer blauen Infusionsflasche, von der anderen zu einer grünen. Sie waren mit einer Vorrichtung verbunden, die sich hinter ihr befinden musste, die sie aber nicht sehen konnte.

Unpassende Kling-Klang-Musik drang durch unsichtbare Lautsprecher in den Raum. Wellness-Spas spielten so was während der Massagen ab, in der irrigen Annahme, es würde für eine entspanntere Atmosphäre sorgen.

Zu den süßlichen Klängen gesellte sich nun eine Frauenstimme: »Test einunddreißig, 11:22 Uhr. Objekt ist zu Bewusstsein gekommen. Macht einen vergleichsweise beunruhigten Eindruck.« Der Ton änderte sich von klinisch-sachlich zu genervt. »Müssen Sie hier drin essen?«

»Was?«, erklang eine schroffe männliche Stimme. »Ich hatte noch kein Frühstück. Schließlich muss ich hier anschließend alles sauber machen und …«

Shyanne versuchte, zu sprechen, aber es gelang ihr nicht. Aus ihrer Kehle drang nicht viel mehr als ein keuchendes Ächzen.

»Dann benutzen Sie wenigstens einen Teller. Sie krümeln hier alles voll, Sie ekelhaftes Ferkel.«

Shyanne würgte, bewegte ihren Kiefer und versuchte verzweifelt, ihre Stimme wiederzufinden. Der Trommelschlag ihres Herzens legte dabei erheblich an Geschwindigkeit zu.

Endlich sagte sie mit krächzender Stimme: »Hallo?«

»Und machen Sie Ihren Hosenstall zu, Sie nutzloser, unfähiger Kretin.«

Die Antwort darauf war ein unverständliches Grummeln.

»Ich kann Sie hören!«, rief Shyanne, endlich laut genug.

Die Stimmen verstummten, dann zischte die Frau in einem empörten Flüstern: »Das Mikrofon ist an? Sie gottserbärmlicher Idiot!«

»Haben Sie es nicht stumm gestellt?«

»Natürlich, ich habe …«

»Bitte reden Sie mit mir«, flehte Shyanne. »Was geht hier vor?«

Die Fremden hörten mit ihrer Streiterei auf, und nach einem kurzen Moment meldete sich wieder die Frau, diesmal lauter. Sie sprach in einem langsamen, wohl bemessenen Ton. »Okay, Shyanne. Ihnen ist nichts passiert. Entspannen Sie sich. Alles ist in bester Ordnung.«

»Wo bin ich?«

»Sie sind in Sicherheit. Es hat einen Unfall gegeben, aber jetzt ist alles wieder in Ordnung.«

Ein Bild blitzte in Shyannes Kopf auf. Sie schaute im Supermarkt auf ihren Einkaufswagen herab, versuchte, sich am Griff festzuhalten, während er davonrollte und sie zu Boden stürzte. »Ich verstehe nicht …«

»Nur fürs Protokoll«, sagte die Frau. »Können Sie mir bitte Ihren vollen Namen nennen?«

»Ich …« Shyanne ließ den Blick wieder durch den Raum schweifen. Das Tempo ihrer Herzschläge erhöhte sich ein weiteres Mal. »Wo bin ich?«

»Sie befinden sich in einem Krankenhaus. Entspannen Sie sich einfach und lassen Sie mich Ihnen helfen. Also, wie lautet Ihr voller Name?«

»Shyanne Jane Rivers«, sagte sie, beinahe wie auf Autopilot. Wieder senkte sie den Blick. »Moment, warum bin ich an diesen Stuhl gefesselt?«

»Das ist nur eine Vorsichtsmaßnahme«, erwiderte die Frau. »Also, wie lautet der Name Ihrer Eltern?«

»Martin und Philomena Rivers.« Sie hielt inne. »Allerdings … ist Mum schon tot.«

»Hervorragend. Ich meine … sind Sie verheiratet?«

»Ja, mit Kieran. Oh Gott, wo ist Kieran? Ich muss mit Kieran sprechen.«

»Er wartet draußen.«

Noch einmal beschleunigte sich ihr Herzschlag. »Und meine Kinder? Jemand muss meine Kinder abholen. Sarah ist beim Ballett, und Tom ist … bei seinem Freund …« Bei seinem Freund? Wie konnte es sein, dass sie sich nicht an den Namen von Toms Freund erinnerte? »Mir … mir fällt sein Name nicht ein, aber Kieran wird es wissen. Sagen Sie ihm, dass er die Kinder abholen soll.«

»Ihre Kinder sind bei Kieran. Alles ist gut. Versuchen Sie, ruhig zu bleiben.«

»Ich will sie sehen.«

»Das werden Sie bald.«

»Ich …« Shyanne riss an den Fesseln. »Lassen Sie mich gehen. Das ist … Was für eine Art Krankenhaus ist das denn hier?«

»Es geht Ihnen gut. Sie waren verwirrt, Shyanne. Wir müssen lediglich sicherstellen, dass mit Ihnen alles in Ordnung ist. Dann werden auch die Fixierungen abgenommen und Sie können Ihre Familie wieder…«

»Verwirrt? Was meinen Sie mit verwirrt?« Das Trommeln ihres Herzens wurde erneut schneller. Auch lauter. »Inwiefern war ich verwirrt?«

»Das ist nicht wichtig«, sagte die Frau. »Je früher Sie unsere Fragen beantworten, desto früher kommen Sie hier auch wieder raus. Also, wie lautet Ihr Geburtsdatum?«

»Siebzehnter Juni neunzehnhunderteinundachtzig. Was für ein Krankenhaus ist das?«

»Wir sind eine Privatklinik. Wo sind Sie zur Schule gegangen?«

»St. Martin’s Primary und … Moment, weshalb müssen Sie das alles wissen?«

»Wir testen nur Ihr Gedächtnis. Entspannen Sie sich. Es handelt sich lediglich um Standardfragen. Bitte, atmen Sie einmal tief durch und beruhigen Sie sich.«

Shyanne bemühte sich, der Aufforderung nachzukommen. Es fühlte sich aber seltsam an. Als würde irgendetwas nicht stimmen. Als hätte sie bis zu dieser Anweisung überhaupt nicht geatmet.

»Können Sie mir Ihr letztes Urlaubsziel nennen?«

»Mexiko.«

Wieder wanderte ihr Blick durch den Raum. Es gab keine Fenster, und alles war aus Metall. Warum war hier alles aus Metall?

»Okay, Shyanne, hatten Sie irgendwelche Haustiere in Ihrer …«

»Was ist das für ein Geruch?«

»Wie bitte?«

Shyanne versuchte, sich zu konzentrieren, während das Dröhnen ihres Herzschlags drohte, jeden ihrer Gedanken zu übertönen. »Es riecht hier nach Benzin. Oder so was in der Art.«

»Einen kleinen Moment, bitte.« Shyanne hörte ein leises Klicken, dann ertönte die Stimme erneut. »Interessant. Objekt meldet olfaktorische Funktionalität, was sich …«

»Warum haben Sie mich Objekt genannt?«

»Ich …« Die Frau hielt inne. Dann hörte man, wie sie, vom Mikrofon abgewandt, zischte: »Der dämliche Stummschalt-Knopf funktioniert nicht. Sie hatten genau dieseeine Aufgabe!«

»Gestern ging er noch«, jammerte die männliche Person.

»Bitte verzeihen Sie, Shyanne«, sagte die Frau, die nun wieder emotionslos und gefasst klang. »Darüber müssen Sie sich keine Sorgen machen.«

»Lassen Sie mich raus!«, schrie Shyanne.

»Sie müssen ruhig bleiben.«

»Sagen Sie mir nicht dauernd, dass ich ruhig bleiben soll. Lassen Sie mich raus!« Der Trommelschlag ihres Herzens ging in wilde Raserei über, und ihr Puls donnerte ihr in den Ohren.

»Shyanne, wenn Sie Ihre Familie wiedersehen woll…«

»Lassen Sie mich raus!«, schrie sie nun aus voller Kraft, während sie vor- und zurückschaukelte und jede Sehne ihres Körpers gegen die metallenen Fesseln stemmte. »Lassen Sie mich raus! RAUS! RAUS!«

»Bitte …«

Shyanne schrie neuerlich auf. Diesmal kamen keine Worte. Nur wilde, instinktive Wut. Dann wandte sie den Kopf, schnappte mit den Zähnen nach den Schläuchen, die Gott weiß was in ihren rechten Arm pumpten, und riss sie heraus.

Wo sich ihr linker Unterarm gegen die Fessel gestemmt hatte, wurde die Haut aufgeschlitzt, und ihr Arm hing nun in einem unnatürlichen Winkel herab, als wäre er gebrochen. Aber sie spürte keinen Schmerz. Sah kein Blut. Das bedeutete, sie konnte ihn aus den Fesseln ziehen. Sie bäumte ihren Rücken auf und brüllte. Freiheit. Eine Art Freiheit jedenfalls.

Die weibliche Person stieß ein resigniertes Seufzen aus. »11:28 Uhr – Test einunddreißig abgebrochen.«

Shyanne hob den Kopf zur rußbefleckten Decke und brüllte eine urzeitliche Wut heraus, während ihr gesamtes Sein vom Rhythmus ihres Herzens ausgefüllt wurde. Das waren keine individuellen Schläge mehr, nur ein endloses ohrenbetäubendes Rauschen.

Sie fuchtelte mit ihrem befreiten linken Arm herum, wobei ihre Hand in einem Übelkeit erregenden Winkel hin und her baumelte, während sie aus voller Kehle schrie und schrie.

Tief in ihrem Inneren gab es noch etwas, das bei Sinnen war und hinter ihr ein Klicken wahrnahm.

Dann.

Eine Pause von wenigen Sekunden.

Und darauf …

Die Zündung.

Kapitel 1

Eines zeichnete das Leben aus: dass es im Grunde genommen unmöglich war.

Nicht, dass Wayne Grainger nicht an die Evolutionstheorie geglaubt hätte. Ihm war einfach nur klar geworden, dass wir sie alle aus der falschen Perspektive betrachten. Wir sind das Ergebnis der Evolution, und damit ist sie für uns selbstbestätigend. Aber niemand dachte von ihrem Ursprung aus über sie nach. Man musste sich nur mal vorstellen, man wäre jener einzellige Organismus vor vielen Millionen oder Milliarden Jahren. Und dann würde einen jemand beiseitenehmen und sagen: »Alles klar, Kumpel, ich bin jetzt mal ganz ehrlich mit dir; du musst deine Grütze wirklich zusammennehmen, und zwar schnell. Du und deine Nachfahren, ihr müsst euch jetzt nämlich zu Schwämmen oder so was weiterentwickeln, und anschließend zu Fischen. Dann sollten diese Fische zu dem Schluss kommen, dass Wasser so was von letztes Jahrtausend ist, sich zügig Beine wachsen lassen und Richtung Strandurlaub aufbrechen. Anschließend werdet ihr zu Säugetieren. Mit Brustwarzen. Brustwarzen sind nämlich irre wichtig und, hey, sie machen auch echt Spaß. Dann müsst ihr zu Affen werden, und anschließend – das ist der schwere Teil – müsst ihr wieder aufhören, Affen zu sein, was wirklich blöd ist, denn das war der lustigste Teil von eurer Reise. Allerdings dürft ihr euch an bestimmten Orten nicht aufhalten und müsst bitte vermeiden, gefressen zu werden, weil … ach ja, das habe ich ganz vergessen, zu erwähnen: Während der gesamten Zeit hat sich alles andere ebenfalls weiterentwickelt, und zwar in lauter Lebewesen, die es nur darauf abgesehen haben, euch umzubringen, und zwar auf hundert verschiedene Arten von Warum-man-in-Australien-besser-nicht-das-Haus-verlässt. Einer eurer evolutionären Brüder wird ein T-Rex sein, der die Größe eines Triple-Decker-Busses hat. Klingt nicht nach einem fairen Kampf, ich weiß. Aber keine Sorge, die werden alle ausgelöscht bei so einem gigantischen Aussterbe-Event. Woraus folgt: Immer brav nach oben schauen! Auch ihr solltet nach solchen Endgegner-Momenten Ausschau halten. Und immer schön weglaufen, wenn helle Lichter rasend schnell vom Himmel fallen – oder sich gewaltige Eismassen in eure Richtung schieben. Ihr wollt es in eurem Umfeld weder zu heiß noch zu kalt haben. Alles in allem wollt ihr nur schnell die Kurve kriegen und durchhalten. Und wenn ihr diesen Mordanschlägen der Evolution tatsächlich erfolgreich entkommt, solltet ihr noch mal einen Zahn zulegen. Du und dein Team, ihr müsst euch nämlich zum Basis-Homo-Sapiens entwickeln, der lernt, einfache Werkzeuge zu verwenden – also etwa auf den Stand von den Typen in der Schule kommen, die hinten im Bus sitzen und vor denen die Lehrer angeblich keine Angst haben. Dann wirst du endlich zum Menschen, also zum richtigen Menschen – mit Crocs und Orgasmen und iPhones und Studentendarlehen. Und eines Tages gehst du zur Uni und studierst Film, während du versuchst, dich immer noch weiterzuentwickeln, indem du den Leuten sagst, dass sie dich Zack nennen sollen. Allerdings taucht dann der gottverdammte Daniel Wallace aus deiner alten Schule auf und sorgt dafür, dass alle mitkriegen, dass du in Wahrheit doch nur ein Wayne bist. Also, was ich damit sagen will, mein kleiner Einzeller-Freund: Das ist der evolutionäre Slalomlauf, den du und deine Nachkommen vor euch habt, und die Frage lautet: Bist du bereit?«

Vernünftigerweise hätte die Antwort lauten sollen: »Nein, danke, das hört sich an wie der reinste Albtraum. Absolut unmöglich.« Und das wäre auch vollkommen korrekt gewesen. Denn aus der Einzeller-Perspektive ist das Leben so unvorstellbar unwahrscheinlich, dass es im Grunde genommen unmöglich ist.

Doch hatte man das einmal begriffen, war es herrlich befreiend. Dass das Leben unmöglich ist, beweist ja, dass das Unmögliche eben nicht unmöglich ist. Ipso facto, quod erat demonstrandum.

Oh Mann, was auch immer in diesen Pillen war, die er von Deano bekommen hatte – es war wirklich gut. Wayne musste das alles unbedingt aufschreiben. Er hatte eigentlich erst später eine nehmen wollen, wenn sie um die Häuser zogen. Aber nicht zu wissen, was auf ihn zukam, behagte ihm nicht. In der Oberstufe hatte er eine schreckliche Erfahrung mit Wodka gemacht, und er wollte sich wirklich nicht noch einmal in die Hosen scheißen. Das soziale Stigma dieser Aktion war er bis heute nicht losgeworden. Der gottverdammte Daniel Wallace hatte erst aufgehört, das rumzuerzählen, als Wayne ihm fünfzig Kröten zugesteckt hatte. Aber auch das, befürchtete er, war wohl keine langfristige Lösung. Er hatte schon überlegt, ob er sich seinem Image einfach hingeben und zu einem krassen Party-Monster werden sollte. Leider war er sich nicht sicher, ob er die nötige Konstitution dafür mitbrachte.

Doch nun wusste er ja, dass alles möglich war.

Wayne hatte heimlich – tief in seinem Inneren – immer daran geglaubt, dass er fliegen konnte. Sein altes Ich wusste, dass das Unsinn war, aber sein neues Ich war deutlich freigeistiger eingestellt. Wayne konnte nicht fliegen, aber vielleicht Zack? Die Menschheit steckte nun schon so lange im Schlamm fest. Es war mal wieder Zeit für ein bisschen Evolution, und vielleicht war er genau der Richtige für diesen Job.

Irgendwo in den Tiefen seines Verstandes war er sich der Tatsache bewusst, dass er nicht der erste Mensch war, der Drogen nahm und glaubte, fliegen zu können. Also ja, er würde aufs Dach eines zweiunddreißigstöckigen Hochhauses steigen, aber runterspringen würde er nicht. Er war ja kein Idiot. Er wollte nur deshalb da hoch, weil sich dort alle Ablenkungen auf ein Minimum reduzieren ließen. Als würde er dem Himmel schon mal auf halber Strecke entgegenkommen.

Deano hatte den Sicherheitscode fürs Dach rausgekriegt, als vor ein paar Wochen die Fensterputzer im Gebäude gewesen waren. Die Aussicht von da oben war absolut geisteskrank. Sie waren letzten Montag schon für eine kurze Session dort gewesen.

Wayne blieb am oberen Treppenabsatz stehen, wappnete sich und tippte den Code ein. Nach einem Augenblick schaltete das kleine Lämpchen auf Grün, und mit einem Summen öffnete sich die Tür. Das Universum gab ihm ein Zeichen. Es stärkte ihm schon den ganzen Tag den Rücken. Das spürte er mit jeder Faser seines Körpers.

Manchester streckte sich funkelnd vor ihm aus, und der Anblick war kein bisschen weniger atemberaubend als beim letzten Mal. Wie sollte man sich hier nicht wie ein Gott fühlen – so weit oben?

Mit einem heftigen Windstoß knallte die Tür hinter ihm ins Schloss. Er schaute zu ihr. Als sie zum ersten Mal hier raufgekommen waren, hatte Deano die Tür extra verkeilt. Warum hatte er das getan? Auch von dieser Seite konnte man schließlich den Code eingeben, oder etwa nicht? Plötzlich beschlich ihn das mulmige Gefühl, vielleicht nicht richtig aufgepasst zu haben, als Deano ihm alles erklärt hatte. Zu Zacks starker, beruhigender Stimme in seinem Kopf, die ihm sagte, dass er fliegen könne, gesellte sich nun eine leisere Stimme. Sie gehörte eindeutig zu Wayne und informierte ihn darüber, dass er möglicherweise tief in der Scheiße steckte. Vielleicht sollte er gleich mal versuchen, die Tür zu öffnen? Nachsehen, ob er jetzt ein Problem hatte – für den unwahrscheinlichen Fall, dass er doch nicht fliegen konnte.

Ach was, scheiß drauf, keine negativen Gedanken. Nicht zurückschauen.

Positiv bleiben.

Er stellte sich in der Mitte des Daches auf und schloss die Augen. Der rasiermesserscharfe Herbstwind fuhr peitschend über seine Haut, und in der Luft lag der Geschmack von Regen. Er konnte sich an keinerlei Wind erinnern, als er vor einer Stunde von der Vorlesung nach Hause gegangen war. Aber andererseits: Er befand sich jetzt einhundertneun Meter über der Erdoberfläche. Das hier oben war eine andere Welt. Eine Welt der Freiheit. Eine Welt, in der man fliegen konnte. Das ist die Evolution, Baby!

Er musste einfach bloß Flug-Gedanken denken. Es hatte keinen Sinn, in die Luft zu springen. In die Luft springen würde nur jemand, der zu fliegen versuchte. Wayne – nein, Zack – wusste bereits, dass er fliegen konnte. Er musste es nur geschehen lassen. Sein Körper würde schlicht entscheiden, dass die Schwerkraft kein ehernes Gesetz war, sondern lediglich eine grobe Richtlinie, und dann ginge alles wie von selbst.

Er stand da und suchte seine Mitte. Er wusste nicht wirklich, was das bedeuten sollte. Aber er hatte diesen Satz immer mal wieder gehört, und es klang wie etwas, das er jetzt tun sollte. Erst letzten Freitag hatte ihm dieses Zara-Girl erzählt, dass sie total auf Zen-Buddhismus abfuhr. Wayne hatte geblufft und versucht, ihr weiszumachen, dass er da ganz bei ihr war. Aber er musste sich wohl dazu erst mal aus der Bibliothek ein Buch besorgen und diesen Mist einmal richtig durchackern. Er hatte derzeit also zwei Optionen: Zen-Experte werden oder Party-Monster, wobei er stark zu Ersterem tendierte. Er war sich nämlich ziemlich sicher, dass spirituelle Erleuchtung das perfekte Mittel war, um Bräute flachzulegen.

Er verlangsamte seinen Atem und lauschte dem Wind. Er musste eins werden mit diesem fantastischen, unmöglichen Universum.

Sich neu erfinden.

Weiterentwickeln.

Fliegen.

*

Während die Sekunden verstrichen, kämpfte er darum, seine positive Einstellung aufrechtzuerhalten. Doch die leise Stimme, sein innerer Wayne, war zurück. Sie erklärte Zack, dass er sich vielleicht doch etwas Wärmeres hätte anziehen sollen, nicht bloß das Retro-Nirvana-T-Shirt, wenn er vorhatte, mitten im Oktober, in Manchester, wie ein Depp auf einem Dach rumzustehen. Er versuchte, Wayne zu ignorieren, aber je länger er dort ausharrte und sich bemühte, Flug-Gedanken zu denken, desto deutlicher ließ sein Rausch nach und desto Wayne-artiger fühlte er sich. Immer wieder wanderten seine Gedanken zu dem Moment zurück, als die Tür hinter ihm zugeknallt war, und zu der Tatsache, dass er sein Handy nicht dabeihatte. Herrgott, hoffentlich funktionierte der Code auch von dieser Seite der Tür, sonst würde er ganz schön in der Scheiße stecken. Sie konnten ihn nach gerade mal zwei Wochen nicht einfach wieder von der Uni schmeißen, oder? Immer vorausgesetzt natürlich, dass er nicht vorher an Unterkühlung starb. In dem Fall würde ihm seine Mutter wirklich aufs Dach steigen.

Aufs Dach.

Er war auf dem Dach.

Er musste ganz schnell weg von hier, durfte niemandem davon erzählen und …

Wayne öffnete die Augen.

Allerdings war er nicht mehr Wayne.

Wayne hatte bis eben auf dem Dach gestanden, Zack schwebte nun darüber.

Wayne war an den Boden gebunden gewesen, Zack konnte fliegen.

Er schätzte, dass er sich gute drei Meter über dem Dach befand. Er blickte auf seine Füße herab, völlig perplex, dass sie unter ihm in der Luft baumelten. Zögernd bewegte er den linken. Nein, er war wirklich nicht mehr mit dem Boden in Kontakt.

HEILIGE SCHEISSE!

Adrenalin schoss durch seinen Körper.

Das war es.

DAS war es!

Er hatte es gewusst. Er hatte es immer gewusst. Unmöglich war nur ein Wort. Er war Zack, und er konnte verdammt noch mal fliegen! Das würde Johnny und seine beschissene Gitarre ganz schön alt aussehen lassen. Viel Glück, wenn er bei der nächsten Party im Studentenheim wieder mal die gesamte Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollte, indem er mit geschlossenen Augen Wonderwall sang wie der letzte Vollhonk. Und der verdammte Daniel Wallace konnte sich auch in den Arsch beißen. Niemanden würde noch interessieren, dass der fliegende Typ damals seinen Dad anrufen musste, damit der ihn abholte und eine neue Hose mitbrachte, weil er sich im betrunkenen Zustand nicht im Griff gehabt hatte.

Das hier würde dafür sorgen, dass er Frauen ins Bett bekam. Bei Susan hatte er schon das Fundament gelegt, aber scheiß drauf. Das hier war ein Gamechanger. Ihre beste Freundin, die unerreichbare, Zen-erfüllte Zara, war nun eindeutig in seine Reichweite gerückt. Ach, am Arsch! Warum nicht beide? Zack war jemand, der alle Konventionen hinter sich ließ. So wie dieser Regisseur der Thor-Filme. Hatte er auf Insta gesehen. Der hatte gleich mit zwei unfassbar heißen Bräuten eine Beziehung. Unerreichbar war bloß ein Wort. Genau wie unmöglich. Wörter, die für Zack – der er jetzt eindeutig war – überhaupt keine Rolle spielten.

Es sagt einiges darüber aus, wie der Kopf junger Männer funktioniert, dass Zack eine bloße Minute nachdem er die Flugfähigkeit erlangt hatte, beinahe nur noch an Sex dachte. Derart konzentriert dachte er daran, dass er um sich herum nichts mehr mitbekam. Seine Umgebung war nun vollkommen irrelevant. Er hatte sie bezwungen. Er hatte die Erdanziehung zu seiner Bitch gemacht.

Er wandte den Kopf, sog die Aussicht in sich auf. Eine Aussicht, die er auf eine Weise erlebte, wie es noch niemand in der Geschichte dieser Welt vor ihm getan hatte.

Er war eine Legende.

Ein Gott.

Er würde sehr wahrscheinlich Beyoncé treffen.

Herrgott, was sagte man, wenn man vor Beyoncé stand? Sie war schließlich Beyoncé, und das Einzige, was er konnte, war fliegen.

Er achtete nicht auf den Wind oder auf die Tatsache, dass dieser ihn stetig in eine Richtung trieb.

Schließlich machte sich aber doch noch das winzige Flüstern bemerkbar, das von Wayne übrig geblieben war, und er schaute nach unten.

Er schwebte nicht mehr über dem Dach. Er war abgetrieben und befand sich etwa einhundertzwanzig Meter über der Hulme Street.

Sein Geist glaubte vielleicht daran, dass er fliegen konnte. Nur seine Blase teilte diese Zuversicht nicht.

Genau wie der Strom aus sich rasend schnell abkühlendem Urin, der sein Bein hinunterrann, verflüchtigte sich nun auch sein Selbstvertrauen.

Die Erdanziehung zu seiner Bitch zu machen brachte eindeutig ein Problem mit sich: Die Bitch konnte zurückschlagen.

Kapitel 2

Mit einem scherzhaften »Genießen Sie Ihren Donnerstagabend, aber nicht zu sehr« beendete der Dozent die Vorlesung, und schon stopfte Stella das Notebook in ihre Tasche, setzte sich die Kopfhörer auf und steuerte den Ausgang an. Sie redete sich ein, sie habe es nur deshalb so eilig, weil sie zur Arbeit zurückmusste, aber das stimmte nur zum Teil. Hannah war als stellvertretende Chefredakteurin der Stranger Times nun seit zwei Monaten zurück im Amt. Zwar lief immer noch nicht alles reibungslos, aber eindeutig effizienter als je zuvor, seit Stella zur Redaktion gehörte.

Hannah hatte es geschafft, ein klein wenig Vorausplanung einzuführen. Seitdem herrschte an den Donnerstagabenden, wenn sie alles für die Veröffentlichung der Zeitung fertigstellten, eine etwas weniger panische Hektik. Vincent Banecroft schrie zwar noch immer, er brüllte seine Belegschaft an, rügte sie, machte sich über sie lustig und stampfte sie gelegentlich in Grund und Boden, aber die echten Connaisseurs seiner Ausbrüche hatten ein Nachlassen ihrer Intensität bemerkt. Es war, als hätte man einen Hurrikan zu einem Tropensturm herabgestuft. Die Windverhältnisse waren also deutlich besser, aber um gemütlich einen Drachen steigen zu lassen, reichte es noch nicht. Banecroft gab nach wie vor dieselben Gemeinheiten von sich, nur die Lautstärke war weniger ohrenbetäubend. Vielleicht lag es an Hannahs organisatorischen Verbesserungen, vielleicht aber auch an einem »gewissen Vorfall«.

Apropos: Die ganze Uni-Geschichte war Banecrofts Idee gewesen. Er hatte schon eine ganze Weile angekündigt, Stella auf eine Fortbildung schicken zu wollen. Dann war passiert, was passiert war, und einige Wochen später hatte sie sich plötzlich als »nicht eingeschriebene« Studentin an der Manchester Metropolitan University wiedergefunden, wo sie nun auf einen inoffiziellen Bachelor-Abschluss in Multimedia-Journalismus hinarbeitete.

Offenbar waren Vincent Banecrofts Schuldgefühle ein starker Motivator. Dass Stella Kurse an Manchesters zweitrenommiertester Universität belegen durfte, war, wie sie von Hannah erfahren hatte, einer Kombination verschiedener Faktoren zu verdanken: Offenbar hatte Banecroft einige Gefallen geltend gemacht, die man ihm in der Fleet Street noch immer schuldete. Zudem hatte er einige Leute bedrängt, beschwatzt und schamlos erpresst sowie eine Dame namens Cathy eingestellt, die sich, wie Hannah es formulierte, »gut mit Computern auskannte«. Stella würde keine Prüfungen ablegen müssen und auch keine offiziellen Bewertungen erhalten. Etwas, das Banecroft ohnehin vollkommen gleichgültig war, denn die einzige Bewertung, die ihm etwas bedeutete, war seine eigene.

Man hatte Stella zudem darüber informiert, dass sie, falls jemand fragen sollte, Bestnoten in Englisch, Mathematik und Französisch vorzuweisen hatte. Nicht, dass dies ihre größte Sorge gewesen wäre, aber warum hatten sie sich ausgerechnet Französisch ausgesucht? Sie kannte kaum ein Wort dieser Sprache. Die Vorstellung, dass sie plötzlich jemand auf Französisch ansprach, machte sie derartig fertig, dass sie sich eine App heruntergeladen hatte und täglich versuchte, wenigstens einige Ausdrücke zu lernen. Bislang blieb ihr nur die Hoffnung, dass womöglich auftauchende redselige Franzosen lediglich von ihr wissen wollten, wo sich die Bibliothek befand. Bei allen anderen Themen wäre sie erledigt.

Als sie durch die Drehtür der Universität nach draußen trat, traf sie die kalte Herbstluft wie ein Schlag ins Gesicht. Von hier aus konnte sie übrigens problemlos auf die Bibliothek zeigen, was ihr frisch gelerntes Französisch überflüssig machte.

Eine Vorlesung ausgerechnet am Donnerstagabend zu haben hatte bei ihren Kommilitonen zu reichlich Gestöhne geführt, schließlich war das der große Ausgehtag der Woche. Draußen standen bereits zahlreiche Studierende in Gruppen zusammen, lachten, redeten zu laut und genossen das Leben. Sah nett aus.

Stella zog ihren Kapuzenpulli enger um sich. Wieder einmal wurde ihr bewusst, dass sie sich dringend strapazierfähige Wintersachen anschaffen musste, die Winter in Manchester waren schließlich ziemlich strapaziös. Sie stellte ihre Musik an und hatte sofort die Stimme von Robert Smith im Ohr, der der Welt versicherte, dass er eine Lovecat war. The Cure war ihre derzeitige Lieblingsband – die exzentrische Leidensmentalität der Songs sprach sie stark an. Sie achtete jedoch darauf, das in der Redaktion nicht zu erwähnen. Wenn bekannt würde, dass sie etwas hörte, was die älteren Herrschaften kannten und womöglich selbst mochten, wäre die Band für sie sofort ruiniert.

Stella hatte schreckliche Angst gehabt, sofort als Hochstaplerin enttarnt zu werden, aber Reggie, Hannah und Ox hatten sich am Abend vor dem Vorlesungsbeginn mit ihr zusammengesetzt und ihr Mut zugesprochen. Ihre Motivationsrede ließ sich folgendermaßen zusammenfassen: Mach dir keine Sorgen. Alle, die an der Uni anfangen, halten sich für totale Hochstapler. Die Leute nutzen die Zeit eh, um sich andauernd neu zu erfinden und …

Jemand packte von hinten Stellas Unterarm, und sie wirbelte herum. Augenblicklich spannte sie jede Sehne ihres Körpers an, ging leicht in die Knie und nahm eine Verteidigungsposition ein. Sie spürte, wie »das Etwas« in ihr aufsprang; jenes ekelerregende Knistern von Kraft.

Ihr gegenüber stand eine erschrockene Yvette – eine Studentin aus ihrem Kurs mit einem runden, fröhlichen Gesicht, das von blonden Locken eingerahmt wurde. Sie hatte die Hände hochgerissen und sah bestürzt aus.

»Scheiße! Entschuldige, entschuldige, entschuldige«, sagte Yvette. »Ich bin so was von blöd. Ich wollte dich nicht erschrecken. Herrgott, gut gemacht, Yvette. Läufst durch die Gegend und versetzt unschuldige Leute in Panik.«

Stella trat einen Schritt zurück und atmete tief ein, um sich zu beruhigen. »Nein, mir tut’s leid«, erwiderte sie. »Meine Schuld. Ich bin total schreckhaft.«

»Nein, komplett meine Schuld. Ich sollte keine Frauen von hinten angrapschen als wären sie eine Handpuppe. Hab ja noch Glück gehabt, dass du mir keinen Haustürschlüssel ins Gesicht gerammt hast. Das haben sie uns nämlich erst letzte Woche beigebracht – in dem Selbstverteidigungskurs für alle Studienanfängerinnen, die sich als Frauen definieren. Guter Kurs, allerdings auch verdammt beängstigend. Ich meine, Herrgott, es ist so krass. Da draußen laufen wirklich ein paar gruselige Gestalten rum.«

Ja, dachte Stella, und ich bin eine von denen. Ein Bild blitzte unfreiwillig in ihrem Kopf auf – von einer massiven Welle blauer Energie, die aus ihr hervorbrach und einen tiefen Graben in die Erde pflügte. Aber sie schob die Erinnerung rasch beiseite.

»Mach dir keine Sorgen. Hatte bloß zu viel Kaffee.« Stella bemühte sich, ein Lächeln aufzusetzen. Eigentlich trank sie das Zeug gar nicht, aber sie hatte herausgefunden, dass Kaffee als Erklärung für übertriebene Schreckhaftigkeit allgemein akzeptiert wurde. Ihr Herzschlag verlangsamte sich, war aber immer noch auf Punk-Tempo, wenn auch auf der melodischeren Seite des Spektrums.

»Okay, na gut, ich wollte dir auch nur sagen, dass ich heute Abend mit ein paar Leuten in der Canal Street vorbeischauen will. Wir haben uns gefragt, ob du vielleicht mitkommen magst? Das ist das Queer-Viertel, aber man muss ja selbst nicht queer sein – auch wenn es natürlich toll ist, wenn man’s ist. Aisha ist lesbisch, und sie kommt auch mit, glaube ich. Und Bea denkt, sie ist vielleicht bi. Ich meine, nicht, dass irgendwas davon eine Rolle spielen würde. Es ist mehr, na ja, du weißt schon … wollte nur mal hören, ob du Lust hast.«

Yvette redete immer so. Es war ein endloser Bewusstseinsstrom, der plappernd aus ihr hervorsprudelte, bevor sie ihn endlich mit einer konkreten Frage zum Stillstand brachte. Sie stellte viele Fragen. Stella vermutete, dass sie sie als Bremsmechanismus benutzte.

»Würde ich total gern«, sagte Stella. »Aber ich fürchte, ich muss zurück in die Redaktion. Wir veröffentlichen morgen früh.«

»Okay«, sagte Yvette. »Ja, klar. Die halten dich ganz schön auf Trab.«

Stella verzog das Gesicht. »Deadlines.«

»Gott, ja, du machst ja schon richtigen Journalismus und so. Echt der Wahnsinn.«

Eins hatte Stella gegen ihr Hochstapler-Syndrom geholfen – die ersten praktischen Kurse, in denen sie Texte redigieren und mit Adobe InDesign Seiten formatieren sollten. Dabei hatte Stella ihrem Dozenten, John, einige einfachere Wege gezeigt, um Artikel über zwei Seiten zu gestalten, auch wenn sie wirklich nicht angeben wollte. Sie hatte das einfach bei der Arbeit aufgeschnappt und war nicht davon ausgegangen, dass es so eine große Sache war. John hatte es jedoch regelrecht vom Stuhl gehauen.

Über die Stranger Times wollte sie eigentlich den Mantel des Schweigens hüllen, aber als man sie fragte, wo sie ihr ganzes Wissen herhatte, musste sie doch Farbe bekennen. Ihre Kommilitonen waren größtenteils beeindruckt gewesen, aber ob sie das ernst meinten, war schwer einzuschätzen. Stella hatte nur wenig Erfahrungen mit Menschen in ihrem Alter – oder, besser gesagt, mit Menschen, von denen sie glaubte, dass sie in ihrem Alter waren.

Yvette nickte enttäuscht. »Klar, dann ein anderes Mal? Wir könnten auch mal Anfang der Woche was unternehmen, wenn dir diese Deadlines nicht so im Nacken sitzen.«

»Ja, das klingt gut. Dann habt mal viel Spaß heute Abend.«

Sie verabschiedeten sich voneinander, und Stella suchte rasch das Weite, indem sie auf die Oxford Road zusteuerte. Sie hatte noch nichts gegessen, und sie wollte sich beim SPAR ein paar Snacks besorgen, bevor sie in die Redaktion ging und sich den unvermeidlichen Änderungen stellte, die Banecroft in letzter Sekunde umgesetzt sehen wollte.

Gleich am allerersten Vorlesungstag hatte sich Yvette auf den Platz neben Stella fallen gelassen, mit einem »Du warst gar nicht bei der Einführung« losgelegt und dann mit einer Meile pro Minute weitergeredet. Sie war bei allen Leuten gesprächig, aber bei Stella schien sie es sich außerdem fest in den Kopf gesetzt zu haben, dass sie unbedingt Freundinnen werden sollten. Manchmal fragte sich Stella, ob Yvette womöglich bloß ein blondes Mädchen aus der Provinz war, das unbedingt mit einer Schwarzen befreundet sein wollte, um auf ihrem ach so wichtigen Instagram-Feed zu zeigen, wie cool sie war. Doch wahrscheinlich war das unfair. Stella fiel es einfach nur schwer, anderen zu vertrauen.

Der SPAR war brechend voll mit Studierenden, die sich fürs Vorglühen mit Alkohol eindeckten. Stella hatte irgendwo einen Artikel darüber gelesen. Wegen der großen Krise der Lebenshaltungskosten sparten junge Leute offenbar Geld, indem sie sich bereits volllaufen ließen, bevor sie ausgingen. Bereits auf der Türschwelle eines Clubs rausgeschmissen zu werden, bevor man es überhaupt reingeschafft hatte, war jetzt ein häufig auftretendes Phänomen. Genau wie überhaupt nicht zu trinken, was ebenfalls immer öfter vorkam. Zwei sehr konsequente Lebenskonzepte. Stella gehörte eindeutig zur zweiten Fraktion. Die Kontrolle zu verlieren war ihre persönliche Vorstellung der Hölle.

Halloween war erst am Dienstag, aber viele Leute trugen schon jetzt mit großer Begeisterung ihre Kostüme. Gestern Abend hatte sie ein weißes Mädchen gesehen, das ihr Gesicht schwarz geschminkt hatte, weil sie Crazy Eyes aus Orange Is The New Black darstellen wollte. Sie wusste gar nicht, wo sie da anfangen sollte.

Nachdem Stella eine Tüte M&M’s, eine Flasche Prime Energy, Sweet-Chili-Chips und ein Eiersalatsandwich gekauft hatte, marschierte sie die Hulme Street hinab.

Sie war immer noch dabei herauszufinden, wie sie mit alledem umgehen sollte. Sie besuchte nicht die Universität, um sich »neu zu erfinden«, sondern hauptsächlich, weil sie sich überhaupt erst mal finden musste. Deshalb machte Yvette ihr auch solche Angst. Dieses Mädchen war ein niemals endender Strom aus Fragen, und Stella fehlten die guten Antworten.

»Also, wo kommst du eigentlich her, Yvette? Aus Surrey? Cool. Was, ich? Oh, keine Ahnung. Ich meine, ich weiß, dass ich in einer Art Internat-Schrägstrich-Gefängnis festgehalten wurde. Dann bin ich ausgebrochen, in den erstbesten Zug gestiegen und in Manchester gelandet. Da bin ich dann zu einer komischen alten Kirche gegangen, weil – ich weiß auch nicht –, irgendwas hat mich da hingezogen. Und ich bin mir auch ziemlich sicher, dass mich irgendwer verfolgt hat, aber frag mich bloß nicht, wer. Die alte Kirche stellte sich dann als Redaktion der Stranger Times heraus, was ich herausfand, als der Chefredakteur mit einer Blunderbuss-Flinte auf mich zielte, während ich mitten in der Nacht durch sein Bürofenster eingebrochen bin. Anschließend haben sie mich da aufgenommen wie eine streunende Katze, und jetzt lebe/arbeite ich da.

Das ist aber noch nicht mal der verrückteste Teil, weil ich nämlich nicht weiß, wie alt ich bin, wann ich Geburtstag habe, wo ich geboren wurde, wer zur Hölle meine Eltern sind – im Wesentlichen also, wer ich bin. Nichts davon. Ich habe nicht mal eine vollständige Erinnerung. Es ist, als hätte ich keine Kindheit gehabt. Nicht im Sinne von: Ich wurde an den Heizkörper gefesselt und habe sieben Geschwister aufgezogen. Nein, da ist bloß eine riesengroße, klaffende Lücke, wo ein Leben gewesen sein muss. Aber mir sind nur ein paar unzusammenhängende Erinnerungsbruchstücke geblieben, die alle auch aus denselben zwei Wochen stammen könnten.

Noch verrückter ist, dass mir erst vor Kurzem aufgegangen ist, wie seltsam das eigentlich ist. Als hätte ich gar nicht gewusst, dass ich es nicht gewusst habe. Als wäre ich gar nicht richtig am Leben. Als würde ich nicht existieren oder zumindest, als hätte ich das nicht wirklich, bis vor ungefähr einem Jahr, als ich in diesen Zug gesprungen bin. Und – ach, ja – vor ein paar Monaten habe ich auf einem ausrangierten Golfplatz einen Mann getötet, weil ich nämlich diese gewaltige, beängstigende, unkontrollierbare Kraft in mir habe, die allen eine wahnsinnige Angst macht, mir am meisten, und über die ich ebenfalls nichts weiß. Es war Notwehr, da der fragliche Wichser versucht hat – ich nehme an, man könnte sagen: mir meine Kraft auszusaugen oder so was in der Art, bevor er mich zweifellos umgebracht hätte, zusammen mit einigen meiner Freunde. Aber, ja, das bedeutet, dass ich immer noch schreiend aus dem Schlaf hochschrecke und dass ich sehr viel mehr golfplatzbezogene Ängste habe, als man von einem Mädchen in meinem Alter erwarten würde. Dabei fällt mir ein: Habe ich schon erwähnt, dass ich mein Alter gar nicht kenne? Aber egal, genug von mir. Auf welche Bands stehst du so?«

Oh ja, sosehr Hannah das Herz auch am rechten Fleck hatte, ihr Rat an Stella, da rauszugehen und ein normales Leben zu führen, würde sich nicht so einfach in die Tat umsetzen lassen. Stella war auch nicht mit zu dem Selbstverteidigungskurs gegangen, von dem Yvette gesprochen hatte. Sie hatte es schlichtweg nicht nötig, sich so verteidigen zu müssen wie andere Frauen. Der Himmel mochte allen Sexualstraftätern gnädig sein, die sich ihr näherten. Denn wenn sie das, was in ihr war, von der Kette ließ, würde von ihnen nur ein Haufen verstreuter Vergewaltiger-Atome übrig bleiben, die Manchesters leichte Brise in alle Himmelsrichtungen verwehte.

Nicht, dass Stella nicht in Gefahr schwebte; im Verlauf von nur zwei Monaten war sie immerhin zweimal entführt worden. Beim zweiten Mal von Banecroft, ihrem Mentor, weil der bereits erwähnte mörderische Golfplatz-Wichser sich in seinen Kopf hineingestohlen und Banecrofts Trauer um seine verstorbene Frau ausgenutzt hatte, um ihn in eine Waffe zu verwandeln. Banecroft hatte nicht gewusst, was er da tat. Auf rein intellektueller Ebene war Stella das klar, aber gefühlsmäßig verletzte es sie dennoch. Es war immer noch ein Verrat, wenn auch ein nachvollziehbarer. Sie wusste, auch Banecroft ließ das keine Ruhe – was man sehr deutlich an seiner Überkompensation erkennen konnte. Beispielsweise, indem er sein Versprechen, ihr ein paar Tage Fortbildung zu gönnen, zu einem dreijährigen Studium aufgeblasen hatte, für das sie sich gar nicht bewerben wollte.

Und doch, trotz alledem und trotz all ihrer Angst, machte es Stella glücklich, hier zu sein. Sie war eine Studentin, zumindest beinahe. Sie tat, was andere Menschen in ihrem Alter taten, vorausgesetzt, dass ihre Altersschätzung halbwegs zutraf. Wie Ox hilfreicherweise hervorgehoben hatte, waren Schwarze ja angeblich mit beneidenswert guter Haut gesegnet, die lange faltenfrei blieb, – Stella könnte also ebenso gut vierunddreißig sein. So oder so, vielleicht kehrte ja jetzt endlich etwas Ruhe ein. Und vielleicht, nur vielleicht, könnte sie tatsächlich beginnen, ein halbwegs normales Leben zu führen.

Zugegeben, meinte sie damit höchstens eine Annäherung an Normalität. Wenn sie nicht gerade entführt worden war, hatte sie in den letzten sechs Monaten nämlich herausgefunden, dass unter der Oberfläche der Welt, wie sie die meisten Leute kannten, noch eine andere magische Welt existierte, und sie war bevölkert von allen möglichen verrückten und wunderbaren Geschöpfen und Persönlichkeiten, von denen einen viele jederzeit umbringen konnten. Und dann gab es da noch diese Verschwörung von mega mächtigen Schurken, die heimlich die Welt regierten, auch bekannt als die Begründer. Auch wenn es von denen jetzt einen weniger gab – seit jenem Vorfall auf dem vierzehnten Grün des Swinton-Golfplatzes.

All das führte dazu, dass Stella bei der Arbeit nun Artikel über einen Mann aus Bradford schrieb, der behauptete, Ufos hätten seine Hündin verschleppt und gegen eine identische Kopie ausgetauscht, sowie über einige Leute in North Wales, die eine Sekte gegründet hatten, in der sie Tom Jones anbeteten. Und über einen Typen, der an jedem Irren-Tag zu ihnen in die Redaktion kam und berichtete, dass er sich sexuell zu Zigarettenautomaten hingezogen fühlte.

Stella stopfte sich eine Handvoll M&M’s in den Mund. Ja, es sah so aus, als ginge es langsam bergauf. Sie beschloss, sich bewusst um eine positivere Einstellung zu bemühen und zu schauen, wohin das führte. Vielleicht würde sie ja beginnen, Freude am Leben zu haben, und, wer weiß – vielleicht fiel auch ein halbwegs anständiger Typ vom Himmel und sie könnte es einmal mit einer von diesen Beziehungen probieren, von denen ständig die Rede war. Es waren schon seltsamere Dinge passiert – ihr auf jeden Fall. Ganz ähnlich wie Yvettes Freundin Bea war auch sie vor Kurzem in sich gegangen, aber zu der Erkenntnis gelangt, dass sie bedauerlicherweise heterosexuell war. Das nervte ziemlich, da Männer offenbar nur in sehr begrenzten, wenig beeindruckenden Varianten desselben basalen Idioten-Modells auf den Markt kamen.

An einer Kreuzung vor ihr bemerkte sie eine Gruppe von sechs Studierenden, die aufgeregt miteinander redeten und mit ihren Handys in der Gegend herumfuchtelten. Stella musste zugeben, dass das Klischee, dass Menschen ihrer – mutmaßlichen – Altersgruppe unentwegt Selfies von sich machten und sich filmten, mehr als zutreffend war. Es war eine Obsession. Man konnte keine zwei Meter über den Campus laufen, ohne an jemandem vorbeizukommen, der sich gerade mit seinem Telefon filmte und jeden seiner ungefilterten Gedanken mit der Welt teilte.

Sie war auch kein Fan des digitalen Teils ihres Journalismus-Studiums. Die Stranger Times hatte nicht mal eine Webseite, was verrückt war, aber irgendwie auch retro und cool. Genau wie ihre große alte Druckerpresse, die von einem bekifften Rastafari bedient wurde. Die ganze Nacht hindurch rumorte sie und brachte das Gebäude zum Beben, während sie die neuesten Papierbögen ausspie. Vermutlich hätte Stella die Maschine dafür hassen sollen, dass sie sie um den Schlaf brachte, aber nichts auf dieser Erde beruhigte Stella so sehr wie dieses Geräusch. Es sagte ihr: Eine weitere Ausgabe der Stranger Times ist beinahe fertig, und mit der Welt ist alles in Ordnung.

Als sie sich der Kreuzung näherte, wurde die Menge größer, da sich immer mehr Leute dazugesellten. Stella hatte anfangs gedacht, die Studierenden würden ihre Handys in die Höhe halten, um den perfekten Selfie-Winkel zu finden, aber das war gar nicht der Fall. Die allgemeine Aufmerksamkeit richtete sich auf etwas oben am Himmel. Sie tippte auf ihre Kopfhörer, um die Musik anzuhalten, und wollte gerade dem Blick der Leute folgen, als das Geschrei einsetzte. Stella versuchte, sich auf das zu konzentrieren, was die Passanten am dunklen Himmel anstarrten, aber es gelang ihr nicht. Mit Verspätung wurde ihr bewusst, dass es daran lag, dass dieses Etwas rasend schnell auf sie zukam.

Sie erstarrte, während die anderen in alle Richtungen davonstoben. So schnell, dass sie es nur verschwommen wahrnehmen konnte, sauste etwas keinen Meter entfernt an ihrem Gesicht vorbei, bevor es mit einem dumpfen, klatschenden Geräusch, bei dem sich ihr der Magen umdrehte, auf dem Boden aufschlug. Eine feuchte Substanz spritzte auf ihre Wangen, während sie rückwärtstaumelte. Blaue Blitze schossen knisternd aus ihren Fingerkuppen, als die Panik das Ungeheuer in ihrem Inneren weckte. Sie stürzte, aber Hände griffen nach ihr und hielten sie fest.

Stella schaute zu Boden.

Ein halbwegs anständiger Typ war vom Himmel gefallen.

Kapitel 3

Hannah beobachtete von der Ecke Hulme Street und Oxford Road, wie sich die Situation zuspitzte: die Menge der Schaulustigen, die mit offenem Mund hinaufstarrten, die Gestalt, die über der Kreuzung in der Luft schwebte, Stella, die auf all das zumarschierte, mit den Kopfhörern auf den Ohren, ganz in ihrer eigenen Welt und völlig blind für ihre Umgebung.

Eine beängstigende Vorahnung fuhr eiskalt durch Hannahs Körper. Also umklammerte sie ihre Handtasche und begann zu rennen. Später erst wurde ihr bewusst, dass es die Körpersprache des schwebenden Mannes gewesen sein musste, die sie in derartige Alarmbereitschaft versetzt hatte. So wie man in einem Flugzeug auf keinen Fall Unsicherheit in der Stimme des Kapitäns hören wollte. Niemand wollte gesagt bekommen: »Ich werde mit diesem Ding hier jetzt eine Notlandung hinlegen. Mal sehen, ob das klappt.« Selbst aus der Entfernung erweckte die Gestalt am Himmel den starken Eindruck, über sich selbst ebenso schockiert zu sein wie die Schaulustigen. Während Hannah die Straße hinunterrannte, begann der Typ, mit den Armen zu rudern. Damit erreichte er jedoch nur, dass er weiter an Höhe gewann, was er ganz offensichtlich nicht wollte. Eine unzusammenhängende Erinnerung an eine Szene aus Charlie und die Schokoladenfabrik tauchte in Hannahs Kopf auf: Wie Charlie und sein Großvater das Fliegen genossen hatten, bis ihnen bewusst wurde, dass sie einem gewaltigen Dunstabzug entgegensausten. Über dem Mann gab es jedoch keinen Abzug, nur mehr und mehr Abendhimmel voller Wolken.

Das Raunen der Menge wurde lauter, und einige der klügeren Beobachter zogen sich bereits ein Stück zurück.

Hannah trat auf die Straße und wich einer Gruppe Verkleideter aus, die den Gehweg blockierten und sich umgedreht hatten, um sich das Spektakel anzuschauen. Sie eilte zwischen zwei parkenden Wagen hindurch und stieß sich an einer Stoßstange das Schienbein. Sie schrie auf vor Schmerz, blieb aber nicht stehen, stolperte in den sich langsam vorrückenden Verkehr und rannte weiter. Vor ihr stapfte Stella noch immer mit gesenktem Kopf voran. Die Menge vor sich hielt sie offenkundig nur für ein weiteres Hindernis, das sie auf ihrem Nachhauseweg umgehen musste.

Hannah schaute auf. Die fliegende Gestalt stieg inzwischen immer schneller in die Höhe und fuchtelte in blinder Panik mit Armen und Beinen. Der Mann rief etwas, das Hannah nicht verstand, aber in seiner Stimme lag eindeutiges Entsetzen. Nur eine Haaresbreite vom Schreien entfernt.

Und dann hing er einen schrecklichen Augenblick bewegungslos in der Luft, in bester Wile-E.-Coyote-Manier, bis ihn das, was ihn gehalten hatte, im Stich ließ. Während er zu Boden stürzte, schrie er nicht mehr. Dafür andere umso mehr. Leute hechteten in alle Richtungen, sodass Stella plötzlich allein dastand. Sie hielt inne, da ihr offenbar das Gerenne um sie herum auffiel. Hannah war nur noch wenige Meter von ihr entfernt. Nah, aber nicht nah genug.

Der Mann traf einen guten Meter von Stella entfernt mit einem ekelerregenden Geräusch auf, das Hannah nie wieder vergessen würde. Verstört taumelte Stella zurück und fiel ihrer sich nähernden Kollegin direkt in die Arme. Sie gingen beide zu Boden, während blaue Energie aus Stellas Händen hervorknisterte, was sofort eine neue Welle aus Panik in Hannah aufbranden ließ. Sie versuchte, ihre Gedanken beiseitezuschieben, aber Bruchstücke des Traums, den sie in den vergangenen zwei Monaten immer wieder geträumt hatte, liefen vor ihrem inneren Auge ab – wie Stella nur wenige Meter von dieser Stelle entfernt stand, an der Kreuzung Oxford Road und Withworth Street, und eine unfassbare Zerstörung hervorrief. Hannah hatte im Lauf der vergangenen Wochen immer wieder an dieser Kreuzung angehalten und versucht, sich davon zu überzeugen, dass es nur ein alberner Traum war. Ein überaus realistischer, detailgenauer, alberner Traum.

Das blaue Glühen verschwand, und Hannah kam als Erste wieder auf die Füße. Stella schaute sie an, und die Verwirrung stand ihr überdeutlich ins Gesicht geschrieben. Hannah half ihr auf, während um sie herum das Chaos ausbrach. Sie hob rasch Stellas Kopfhörer vom Boden auf, bevor sie plattgewalzt werden konnten von der zurückkehrenden Flut der Schaulustigen, die einen besseren Blick auf den armen Verunglückten werfen wollten, um ihre morbide Neugier zu befriedigen.

Sie lehnte Stella gegen einen Laternenpfahl, während die Leute, unsicher, was sie tun sollten, in alle Richtungen rannten. Hannah hielt Stellas Kopf in beiden Händen. »Ist alles okay?«

»Typ. Vom Himmel.«

»Ja, hab ich gesehen, aber bist du okay?«

Stella versuchte, Hannah wegzuschubsen. »Er braucht Hilfe.«

Hannah bemühte sich, Stellas Sicht zu verstellen. »Braucht er leider nicht. Aber geht’s dir gut?«

»Ich …«

»Hast du dich verletzt?«

»Nein.«

»Und du bist …« Hannah fiel nicht ein, wie sie in Worte fassen sollte, was sie sagen wollte. Also wiederholte sie noch einmal: »Bist du okay?«

»Mir geht’s gut.« Stella trat ein Stück beiseite. »Ich bin nicht diejenige, die …«

Hannah warf einen Blick auf das Fenster des chinesischen Restaurants an der Ecke, wo sich die glotzenden Gesichter der Kunden von innen gegen die Scheibe drückten. Sie versuchte, sie zu verdecken, während sich Stella Richtung Rinnstein herabbeugte und den Inhalt ihres Magens erbrach.

»Was zur Hölle tun Sie hier?«

Hannah schaute auf und sah, dass die Stimme einer Polizistin gehörte, die eine Sicherheitsweste trug und gemeinsam mit einem Kollegen an der Unfallstelle eingetroffen war. Sie stand vor dem Leichnam und versperrte so die Sicht einiger Leute, die ihre Handys hervorgeholt hatten, um alles zu filmen.

»Verschwinden Sie hier, Sie Aasgeier. Sie sollten sich schämen.«

Ihr Kollege beendete sein Gespräch am Funkgerät und näherte sich ebenfalls Stella und Hannah. Er sprach mit einem harten Manchester-Akzent. »Geht’s ihr gut?«

»Ja«, sagte Hannah und streichelte Stellas Rücken. »Sie steht bloß unter Schock. Sie stand direkt hier … wo der arme Typ aufgekommen ist.«

»Okay, und …« Er verstummte. Dann sah sie, wie ihm etwas klar wurde. »Oh, warten Sie … Sie sind doch die Frau von der Irren-Zeitung, oder?«

Hannah gefiel sein Tonfall nicht. »Wenn Sie damit die Stranger Times meinen, dann bin ich das, ja. Ich kam hier gerade vorbei.«

»Oh nein, das ist hier wieder so ein übernatürlicher Stuss, oder?«

»Wie bitte?«

»Wir haben einen Anruf bekommen, dass ein Typ in der Luft schwebt. Das ist doch genau die Art von übernatürlichem Stuss, mit dem ihr euch abgebt, oder nicht?«

»Wir sind Journalisten, und das hat mit uns nicht das Geringste zu tun. Auch wenn …« Sie senkte die Stimme. »Ja, von dem, was ich mitbekommen habe, muss ich zugeben, dass es sich durchaus um etwas gehandelt hat, was man als unerklärliches Phänomen bezeichnen könnte.«

Er nickte und wandte sich zu seiner Kollegin, die sich bemühte, die Leute in mehrere Richtungen gleichzeitig abzudrängen. Dabei wiederholte sie mehrfach die offenkundig unzutreffende Aussage, es gäbe hier nichts zu sehen.

»Marcy, die Frau hier ist von der Irren-Zeitung und bestätigt, dass es sich um übernatürlichen Stuss handelt. Wir sollten Sturgess informieren.«

Hannah riss alarmiert die Brauen in die Höhe. »Ich habe keineswegs gesagt … Sagen Sie ihm nicht, ich hätte gesagt …« Sie hörte genau, wie dumm der Rest des Satzes klingen würde, und schaffte es glücklicherweise, sich zu unterbrechen.

»Zentrale«, sagte der Police Constable in das Funkgerät, das an seiner Brust befestigt war, »bestätige, dass es sich hier um einen Code zweiundvierzig handelt. Ich wiederhole: Code zweiundvierzig. Wir brauchen einen Rettungswagen und irgendwen, den ihr entbehren könnt, um die Menge in Schach zu halten. Wir werden die Straße sperren müssen. Und Sichtschutz – davon brauchen wir jede Menge.« Er schaute zu den Leuten auf, die inzwischen auf den Balkonen der umliegenden Wohngebäude standen und nach unten starrten. »Am besten ein Zelt. Wenn die Spurensicherung nicht so schnell wie möglich hier ist, müssen wir uns woanders eins besorgen. Die Sache hier zieht mehr Leute an als City bei der Champions League.«

Stella, die offenbar nichts mehr im Magen hatte, kam wieder auf die Füße.

»Okay«, sagte Hannah. »Also, ich denke, ich muss meine Freundin jetzt nach Hause bringen.«

»Oh nein«, sagte der Police Constable. »Sie beide gehen nirgendwohin. Sie sind Zeugen.«

»Schauen Sie sich um, Officer – an Zeugen besteht kein Mangel. Um ehrlich zu sein, habe ich sowieso nicht viel gesehen.«

»Das kann ja durchaus sein, Schätzchen, aber sie hat offensichtlich ziemlich viel gesehen.«

»Was meinen Sie …« Hannah schaute Stella an und griff, ohne zu zögern, in ihre Handtasche. »Okay, warte eine Sekunde, Stella.«

Stella sah sie ausdruckslos an. »Was?«

»Ich habe …« Hannah zog ein Päckchen Taschentücher hervor und holte eines heraus. Dann trat sie auf Stella zu. »Lass mich nur kurz …«

Stella hob die Hände, um sie aufzuhalten. »Was zur Hölle hast du vor?«

»Ich wollte nur … Du hast da …«

»Du hast überall Reste von dem Toten auf dir, Schätzchen«, warf der Polizist unbekümmert ein.

Stella wandte sich um und musste feststellen, dass sie doch noch nicht alles erbrochen hatte.

Hannah funkelte den Beamten böse an. »Hat man Sie zu einem Spezialkurs geschickt, wo man lernt, so mit Menschen umzugehen, oder sind Sie einfach ein Naturtalent?«

Der Police Constable schüttelte den Kopf und wandte sich ab. »Übernatürlicher Stuss. Hab ich doch gleich gesagt.« Er zeigte mit dem Finger auf jemanden, der etwa drei Meter entfernt auf dem Bürgersteig stand. »Hey Sie, verschwinden Sie da augenblicklich! Sonst verhafte ich Sie wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses, weil Sie versucht haben, sich Ihr Handy aus dem Arsch zu ziehen.«

»Aber mein Handy ist doch gar nicht …«

»Wird es aber in einer Sekunde!«

WAS GEHT, GLASGOW?

Experten zeigen sich ratlos angesichts des unerklärlichen Auftauchens von Menschen aus Turin in der schottischen Stadt Glasgow. Im Verlauf der vergangenen sechs Monate sind bereits siebenundvierzig Vorfälle gemeldet worden, bei denen verwirrte Italiener von der Polizei aufgegriffen wurden, die alle dieselbe Geschichte erzählten. Sämtliche Personen haben zu Protokoll gegeben, dass sie sich in Turin aufgehalten haben, um eine Ecke gebogen seien und sich dann unerklärlicherweise in Schottland wiedergefunden hätten.

Der aktuellste Fall betrifft einen gewissen Giuseppe Borgo, der uns Folgendes berichtet hat: »Ich war gerade auf dem Weg zum negozio di formaggi, um mir ein schönes Stück Käse zu besorgen. Und dann bin ich plötzlich an einem Ort, der sich wohl Soggy Hall Street nennt oder so ähnlich, und irgendein Typ sagt mir, wenn ich noch einmal seine Alte so angucke, nietet er mich um. Ich habe ihn gefragt, was er damit meinen würde. Dann bin ich im Krankenhaus wieder aufgewacht.«

Dr. Wilbur Flake vom Institut für Physik und Astronomie der Universität Glasgow hat die Theorie aufgestellt, dass beide Städte durch ein Wurmloch verbunden seien, das Menschen unvermittelt von einem Ort zum anderen transportiert. »Experten diskutieren schon lange über das Phänomen von Zwillingsstädten wie Turin und Glasgow, und es könnte sich durchaus herausstellen, dass die überraschende Erklärung darin zu finden ist, dass sie durch Verästelungen im Raum-Zeit-Kontinuum miteinander verbunden sind. Der Beweis dafür ist allerdings schwer zu führen, da beide Enden des Wurmlochs nie sehr lange an ein und derselben Stelle zu finden sind.«

Der Stadtrat von Glasgow hat ein eilig einberufenes Einsatzteam in Stellung gebracht, um sich mit dem Problem zu befassen, nachdem ein Italiener unerwartet mitten im September nach Glasgow versetzt wurde und schwere Erfrierungen davongetragen hat. Währenddessen haben die Behörden die Bevölkerung der schottischen Metropole dazu aufgefordert, Ruhe zu bewahren, da eine hohe Zahl Glasgower Familien dabei beobachtet wurde, wie sie, ausgestattet mit Reisekoffern, durch ihre Heimatstadt irrten und in der Hoffnung auf eine billige Urlaubsreise immer wieder um die verschiedensten Straßenecken gebogen sind.

Kapitel 4

Stella und Hannah saßen hinten auf den ausgeklappten Trittstufen des Rettungswagens und sahen zu, wie die Greater Manchester Police Absperrungen aufstellte, um die Flut der amüsierwilligen Donnerstagabend-Passanten zurückzudrängen. Die Menge, in ihren verschiedensten Stadien des Alkoholrausches, war im Laufe der letzten Stunde stetig angewachsen, und überall verrenkten sich die Leute die Hälse, um zu sehen, was vor sich ging. Zum Glück war relativ rasch ein höhergestellter Beamter mit einem dieser Tatortzelte aufgetaucht. Genau genommen gab es also nicht mehr viel zu sehen. Was die Menschen jedoch nicht davon abhielt, es weiter zu versuchen. Ein Idiot, der sich als Walter aus Wo ist Walter verkleidet hatte, war gerade erst über die Absperrung gesprungen. Mit heimlichem Vergnügen beobachtete Hannah die Polizistin, die schon zu Beginn aufgetaucht war, dabei, wie sie ihn mithilfe einer nahestehenden Hauswand in Gewahrsam nahm. Als er abgeführt wurde, sah er so mitgenommen aus, dass er vermutlich sogar Schwierigkeiten gehabt hätte, sich selbst in einem Wimmelbild zu finden.

Links von Stella und Hannah war zwischen einem Typen mit langen schwarzen Haaren auf einem Balkon im dritten Stock und einem der Polizisten eine interessante Diskussion ausgebrochen. Sie bezog sich im Wesentlichen auf das, was nach englischem Recht nicht gefilmt werden durfte. Die Meinungsfreiheit wurde dabei ebenso ins Gespräch gebracht wie die Magna Carta – beides kam dieser Tage offenbar in den seltsamsten Zusammenhängen zur Sprache – ebenso wie die Versicherung, dass, wenn der Mann nicht augenblicklich zurück in seine Wohnung ginge, seine Tür eingetreten würde, was er dann gerne auch filmen dürfe.

»Das wird sich noch eine Weile hinziehen, was?«, fragte Stella.

»Ja«, stimmte Hannah zu. »Sieht ganz so aus.« Sie öffnete ihre Handtasche und schaute hinein. »Ich glaube, ich habe noch ein paar Minzbonbons hier drin, falls du eins haben möchtest?«

Stella schlug sich die Hand über den Mund. »Verdammt, ist mein Mundgeruch so schlimm?«

»Nein, nein, überhaupt nicht. Ich dachte nur, du weißt schon … nur wegen des Geschmacks.« Hannah holte eine kleine Schachtel Tic Tacs hervor. Stella nahm sich gleich zwei, dann saßen sie weiter da und ließen den minzigen Geschmack auf sich wirken.