Religion – Eine Zukunft für die Zukunft - Anand Buchwald - E-Book

Religion – Eine Zukunft für die Zukunft E-Book

Buchwald Anand

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Beschreibung

Die Religion gibt es seit es Menschen gibt. Was als individuelles religiöses Empfinden begann, entwickelte sich zu einer Institution, die bald ziemlich viel Einfluss auf alle Bereiche menschlichen Lebens nahm. Lange Zeit war die Religion aus unserem Leben nicht wegzudenken, aber seit der Morgenröte des Zeitalters der Vernunft und der ­Wissenschaft schwindet die Bedeutung der ­Religion, nicht zuletzt auch, weil sie sich vordringlich um den Erhalt ihres gesellschaftlichen Einflusses sorgt und ihre Kernaufgabe vernachlässigt. Man könnte dieses Buch als anti-religiös bezeichnen, weil es das Ende des traditionellen Religionsverständnisses und der mechanischen Religionstradition beschwört, oder als super-religiös, weil es Gott kompromisslos in den Mittelpunkt stellt und die Religion auffordert, zu ihrer wahren Natur zu finden. Traditionelle Religion folgt dem Prinzip Divide et impera, indem sie Gott und den Menschen gegenüber und gegeneinander und sich selbst in den Mittelpunkt stellt; wahre Religion hingegen stellt Gott in den Mittelpunkt und sucht ihn im Menschen zu finden und hervorzuholen. Gott und Mensch sind keine Widersprüche, sondern eine Einheit. Durch diese Einsicht relativieren sich die Eigenheiten der verschiedenen Religionen und es öffnet sich der Weg zu einer nicht nur konfessions-, sondern religionsübergreifenden Ökumene, in der Glaubenskriege eine Sache der Vergangenheit sein werden. Wenn der religiöse Organismus, der hier ausführlich analysiert wird, gesundet, kann er zur Speerspitze eines tiefgreifenden und notwendigen gesellschaftlichen Wandels und Paradigmenwechsels werden.

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Über dieses Buch:

 

Die Religion gibt es seit es Menschen gibt. Was als individuelles religiöses Empfinden begann, entwickelte sich zu einer Institution, die bald ziemlich viel Einfluss auf alle Bereiche menschlichen Lebens nahm. Lange Zeit war die Religion aus unserem Leben nicht wegzudenken, aber seit der Morgenröte des Zeitalters der Vernunft und der ­Wissenschaft schwindet die Bedeutung der ­Religion, nicht zuletzt auch, weil sie sich vordringlich um den Erhalt ihres gesellschaftlichen Einflusses sorgt und ihre Kernaufgabe vernachlässigt. Man könnte dieses Buch als anti-religiös bezeichnen, weil es das Ende des traditionellen Religionsverständnisses und der mechanischen Religionstradition beschwört, oder als super-religiös, weil es Gott kompromisslos in den Mittelpunkt stellt und die Religion auffordert, zu ihrer wahren Natur zu finden. Traditionelle Religion folgt dem Prinzip „Divide et impera“, indem sie Gott und den Menschen gegenüber und gegeneinander und sich selbst in den Mittelpunkt stellt; wahre Religion hingegen stellt Gott in den Mittelpunkt und sucht ihn im Menschen zu finden und hervorzuholen. Gott und Mensch sind keine Widersprüche, sondern eine Einheit. Durch diese Einsicht relativieren sich die Eigenheiten der verschiedenen Religionen und es öffnet sich der Weg zu einer nicht nur konfessions-, sondern religionsübergreifenden Ökumene, in der Glaubenskriege eine Sache der Vergangenheit sein werden. Wenn der religiöse Organismus, der hier ausführlich analysiert wird, gesundet, kann er zur Speerspitze eines tiefgreifenden und notwendigen gesellschaftlichen Wandels und Paradigmenwechsels werden.

Anand Buchwald

 

Religion –  Eine Zukunft für die Zukunft

 

 

 

 

Mirapuri-Verlag

 

Impressum

 2020

ISBN (print) 978-3-86710-195-0 ISBN (epub) 978-3-86710-196-7 ISBN (mobi) 978-3-86710-205-6

 

Copyright 2020 Mirapuri-Verlag, Gauting Gesamtherstellung: Miraprint Offsetdruck, Gauting

 

 

INHALT:

1. Fragen zu Religion und Gesellschaft

2. Die gesellschaftliche Evolution der Religion

3. Die individuelle Evolution der Religion

4. Die Religion als Organismus – Der Körper

5. Das Leben der Religion

6. Das Mentale der Religion

7. Das Transformsyndrom

8. Gott und Seele und Ego

9. Die religiöse Praxis        a) Die religiöse Unterweisung        b) Der Gottesdienst        c) Das Gebet        d) Gottesbild und Predigt        e) Das Opfer        f) Die Beichte

10. Die individuelle Evolution der Religion, Teil 2

11. Willensfreiheit und Selbstbestimmung

12. Eine rationale Religion

13. Eines Tages … (3. Blickwinkel)

Verlagshinweis

1. Kapitel

Fragen zu Religion und Gesellschaft

Ein Bereich des menschlichen Lebens, der recht kontrovers betrachtet wird und der sehr große Auswirkungen auf unsere globale Gesellschaft hat, ist die Religion. In einer kurzen und oberflächlichen Definition ist Religion der Bereich des menschlichen Lebens, der sich mit dem Göttlichen beschäftigt und mit einer mehr oder weniger ausgeprägten Ritualistik verbunden ist. Dabei gibt es durchaus Grenzfälle wie den Buddhismus, der keine explizite Gottheit kennt, aber sehr rituell ist, oder den Fußball, der rituell wie eine Gottheit verehrt wird, oder die Religion des Fliegenden Spaghettimonsters, die formell eine Gottheit hat, der rituell gehuldigt wird, die aber scheinbar nur aus Spaß gegründet wurde. Die Religion ist ein Quell sozialen Fortschritts, sozialer Stagnation und sozialen Rückschritts. Sie ist verantwortlich für vermutlich wesentlich mehr Krieg als Frieden. Sie vermag uns zu inneren Weiten zu öffnen oder uns diese durch obstinate Engstirnigkeit zu verschließen. Und sie hat Einfluss auf gewaltige Menschenmassen, auch wenn dieser in der westlichen Welt langsam weniger wird. Noch aber ist die Religion eine Macht mit gewaltiger Sprengkraft, die bei der Ausformung der Zukunft und bei der Entfaltung des Menschseins eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt, sie ist eine Kraft, die im Konzert der Mächte dieser Welt eine bedeutende Rolle einnimmt und mithelfen kann, die Menschheit in eine hoffnungsvolle und lebenswerte Zukunft zu führen. Sie könnte bei den Entwicklungen, die vor uns liegen, das Zünglein an der Waage darstellen. Dementsprechend trägt sie auch eine enorme Verantwortung. Aber wird sie dieser Verantwortung auch gerecht? Und steht ihr diese Verantwortung überhaupt zu? Und wenn nicht, was ist ihre Verantwortung, welches ist ihre eigentliche Aufgabe im Gesamtbild der menschlichen Gesellschaft, und erfüllt sie diese Aufgabe auch zufriedenstellend? Und das führt dann zu der grundlegenden Frage, was Religion eigentlich ist, wo sie beginnt und wo sie aufhört und wie es um die viel gerühmte Religionsfreiheit steht. All diese Fragen müssen geklärt werden, nicht nur intellektuell und individuell, sondern vor allem ganz praktisch und global mit den zugehörigen Wandlungen und Paradigmenwechseln. Das ist kein leichtes Unterfangen, insbesondere weil es dem aktuellen Selbstverständnis der Religion widerspricht und die Beharrungskräfte ihrer Organisation und Nicht-Organisation enorm sind. Und dann ist da noch das Problem mit der Alleingültigkeit, die nahezu jede Religion wie selbstverständlich für sich in Anspruch nimmt. Der erste wichtige Schritt für diese Unternehmung besteht darum darin, die Evolution der Religion etwas genauer zu beleuchten.

 

Es ist die wahre Aufgabe der Religion, Geist, Leben und die körperliche Existenz des Menschen für die Aufnahme des spirituellen Bewusstseins vorzubereiten. Sie muss ihn zu dem Punkt führen, wo das innere Licht voll aufzuleuchten beginnt. Die Religion muss lernen, sich in diesem Moment unterzuordnen und nicht auf ihren Äußerlichkeiten zu bestehen, sondern dem inneren Spirit selbst volle Bewegungsfreiheit zu geben, damit er seine eigene Wahrheit und Wirklichkeit entwickeln kann.

Sri Aurobindo

2. Kapitel

Die gesellschaftliche Evolution der Religion

Über die soziale und gesellschaftliche Entwicklung der Anfänge der Menschheit gibt es weder gesicherte Erkenntnisse noch Überlieferungen, wenn man von einem reichhaltigen Fundus an Schöpfungsmythen überall auf der Welt absieht. Aber die Erde beherbergt auch heute noch eine ganze Skala von Kulturen mit den unterschiedlichsten Zivilisationsstufen, und deren Studium, zusammen mit archäologischen Funden und Erkenntnissen und vor allem modernen Einblicken in die menschliche Psyche, erlaubt uns eine Extrapolation der Vergangenheit, die freilich nicht fehlerlos sein kann. Aber man kann davon ausgehen, dass religiöse Empfindungen bereits den Beginn der Bewusstwerdung der menschlichen Lebensform begleiteten. Irgendwann hörten unsere ersten Vorfahren auf, ausschließlich wie Tiere zu empfinden und wahrzunehmen und begannen bewusst mit ihrer Umwelt zu interagieren. Als Tiere waren sie nahezu ausschließlich instinktgetrieben und eingebunden in ihre Umwelt und ein Lebensganzes. Mit dem Beginn der Menschwerdung lösten sie sich unmerklich von dieser Einbindung und der Instinktsteuerung — ein Vorgang, der bis heute nicht wirklich abgeschlossen ist. Je mehr die Instinkte in den Hintergrund traten, desto mehr stellte sich eine Empfindung des Verlustes dieses Eingebundenseins und dieses Einsseins ein. Und mit dem wachsenden Intellekt kam das Bewusstsein, dass man viele Dinge und Zusammenhänge nicht wirklich verstand. Das tat man zwar auch in der vormenschlichen Zeit nicht, aber da befand man sich im Fluss und hatte kein Bedürfnis nach Verständnis und auch kein denkendes und reflektierendes Bewusstsein. In der Folge wurde diese vage Erinnerung an das Eingebundensein ebenso mystifiziert wie die unverstandenen Gewalten, denen sich der Mensch ausgeliefert sah. Diese wurden als größer und übergeordnet empfunden, und aus der Achtung und Furcht, die ihnen entgegengebracht wurden, entwickelte sich die Empfindung und das Konzept einer höheren, abgetrennten, übergeordneten und verehrungswürdigen Instanz; es entstanden die ersten religiösen Gefühle. Diese Instanz war fragmentiert und mit den umgebenden Naturgewalten und Erscheinungen assoziiert, mit Blitz, Donner, Regen, Sturm und mit dem Feuer oder auch mit den Jahreszeiten. Diese mutierten ebenso zu Geistern und Gottheiten wie etwa die Pflanzen, die Schutz bietenden und Nahrung tragenden Bäume oder die Nahrungspflanzen und die Heilpflanzen. Die Geister wohnten entweder in den Pflanzen oder beschützten diese und gestatteten dem Menschen deren Nutzung. Der Mensch war also von höheren Wesenheiten abhängig und auf deren Wohlwollen angewiesen. Er musste immer in Verbindung mit ihnen stehen und für gute Stimmung sorgen, durfte also keinen Raubbau an den Ressourcen betreiben, die ihm als Gabe zur Verfügung gestellt wurden, und versuchte dieses Wohlwollen auch mit Opfergaben zu erkaufen. Das Gleiche galt auch für die jeweilige Tierwelt, die einen womöglich größeren Eindruck auf die frühzeitlichen Menschen machte. Die Tiere wurden oft als kleine oder große Brüder betrachtet, von denen man lernen konnte und die einen beschützten. Besonders die großen Raubtiere wie Bären und Wölfe wurden nahezu global verehrt, und lokal kamen noch weitere hinzu, die aus verschiedenen Gründen Eindruck machten, etwa wegen ihrer Wendigkeit oder Schlauheit. Ein Beispiel für eine solche lokale Verehrung ist der Bison der nordamerikanischen Prärieindianer. Einige wenige erlegte Tiere konnten einen ganzen Stamm für lange Zeit ernähren. Und als Zeichen, dass man die Gabe des mystischen Großen Bisons oder des Großen Geistes, der sich im Großen Bison ausdrückt, auch wirklich schätzte, wurden soweit wie möglich alle seine Bestandteile einer sinnvollen Verwendung zugeführt. Man könnte aus moderner Sicht sagen, dass die Bisons nachhaltig bewirtschaftet wurden. Und als dann der weiße Mann kam und die Bisons zum Sport oder nur seiner Felle wegen jagte und sie dabei praktisch ausrottete, war das für die Indianer ein Kulturschock und eine unfassbare Barbarei. Ebenfalls in diese Phase fiel die Vorstellung der Erde als Mutter oder Urmutter, die alles hervorgebracht hat und die alles gleichermaßen hegt und pflegt und liebt und vor deren Augen alle gleich und vielleicht auch gleichwertig sind, so dass die ganze Natur als eine große Familie empfunden wurde — mit den üblichen Familienstreitigkeiten. Damit wurde damals bereits die Grundlage für die spätere Vorstellung eines einzigen und allmächtigen Schöpfergottes gelegt. Mit der Bewusstwerdung gingen die auftauchenden Vorstellungen, Konzepte und Empfindungen aus dem individuellen und privaten Bereich in den öffentlichen Bereich über und wurden zunehmend systematisiert und organisiert. Dieser Vorgang entsprach im Prinzip einer sozialen und spirituellen Spaltung, einem Übergang von einer individuellen und wahrscheinlich unausgedrückten Urreligion zu einer lokalen, organisierten Religion. Die damit verbundene Arbeit übernahm anfangs sicherlich der Häuptling oder der Clanführer oder das Stammesoberhaupt in Personalunion. Als die Gruppen größer wurden, kam es zu einer Art politischen Spaltung, indem eine ausgewählte Person, aus der sich im Laufe der Zeit der Schamane (oder die Schamanin) entwickelte, der häufig auch gleichzeitig Medizinmann (oder Medizinfrau) war, den spirituellen oder sakralen Teil der Stammesführung übernahm. Aufgabe des Schamanen war es, mit der Geisterwelt in Verbindung zu stehen, die Geister gewogen zu stimmen, Rituale abzuhalten (und sie auch zu entwickeln), das Wissen dieser sich entwickelnden Naturreligion weiterzugeben, böse Geister auszutreiben und den Stammesführer zu beraten. Zwar war es die Aufgabe des Stammesführers, das Überleben und Wohlergehen aller zu sichern, aber der zusätzliche Blickwinkel eines Schamanen, der die Welt mit anderen Augen betrachtet, konnte ihm diese Arbeit bisweilen erleichtern. Allerdings war das Verhältnis der beiden nicht immer ungetrübt. Ein etwas zu sehr von sich überzeugter und von seiner Machtfülle eingenommener Stammesführer war dann über die Eingaben oder die Einmischung des Schamanen nicht sehr erbaut. Und der Schamane, der seinerseits über eine eigene, spirituelle Einflusssphäre und Machtbasis verfügte, war oft durchaus nicht abgeneigt, seinen Einfluss auf den weltlichen Bereich auszuweiten. Im Laufe der Zeit wurden immer mehr der ursprünglichen Jäger und Sammler sesshaft, und es entwickelten sich größere Ansiedlungen und Städte. Parallel dazu schritt auch die Entwicklung der Religion voran. Da die Stammesstrukturen nach und nach abgebaut und die Beziehungen der Menschen durch die zunehmende Anonymisierung lockerer und unverbindlicher wurden, konnte die intime und immer noch einigermaßen individuelle Form der Religion, wie sie im Stammesverband verstanden und ausgeübt wurde, nicht länger aufrecht erhalten werden. Auch trafen nun vermehrt leicht unterschiedliche Religionsauffassungen aufeinander. Zudem war vermutlich durch die geringere Identifikation großer Menschenansammlungen der Zusammenhalt und das Einheitsgefühl in der Siedlung weniger ausgeprägt als in den alten Stammesverbänden. Die verschiedenen Glaubenssysteme mussten zusammengeführt und das Gemeinschaftsgefühl gestärkt werden. Diese Umstände und die damit verbundenen Notwendigkeiten führten dann zu einer neuen Form der Religiosität, die weniger individuell und fließend geprägt, sondern genauer definiert und festgelegt war. Die Religion bekam eine äußere Form und eine festere innere Struktur. Die Naturgewalten, Geister und Götter nahmen einen definierteren, genauer umrissenen Charakter an und erhielten eine Persönlichkeit, die sich stark an menschlichen Eigenschaften orientierte; ihnen wurden Bereiche des menschlichen Lebens zugeordnet, über die sie herrschten, sie erhielten ein Geschlecht, eine Gestalt, und es wurden ihnen Attribute und Accessoires zugeschrieben. Diese mystischen Wesenheiten unterhielten Beziehungen, die sich nicht wirklich von den menschlichen Beziehungen unterschieden. Es entstand ein anfangs lokaler, später zunehmend regionaler und durch Handel und Eroberungen sich verbreitender Pantheon mit größeren und kleineren Gottheiten, die oft miteinander verwandt waren und auch die Hierarchien widerspiegelten, die aus der menschlichen Gesellschaft bekannt waren. Manche Pantheons entstanden aus einem Schöpfergott, andere aus einem Vater-Mutter-Paar, die dann in der Regel auch die Oberhoheit über die anderen Gottheiten und anderen höheren Wesenheiten hatten. Bisweilen, wie etwa im griechischen Pantheon, in dem es besonders rabiat zuging, bekriegten sich seine Mitglieder, und es fanden Morde aller Art statt. Aus diesem Pantheon erkoren sich viele Menschen, Stämme und Städte einzelne Götter als Schutzgottheiten und verehrten diese besonders. Bekanntestes Beispiel dafür dürfte wohl die Stadt Athen sein, die nach der griechischen Göttin Pallas Athene benannt wurde. Um die Götter wohlgesonnen zu stimmen, wurden sie besonders verehrt; ihnen wurden Opfergaben dargebracht und Tempel errichtet. Im Falle Athens und der vor allem dort verehrten Athene war dies der Parthenon, der das zentrale Gebäude der Akropolis war und über Athen thronte. Zudem entwickelten sich um einzelne Gottheiten ausgearbeitete öffentliche Kulte und manchmal geheime Mysterien und Initiationsrituale. Damit sicherte und vertiefte die Priesterschaft einerseits ihren Einfluss und festigte die Struktur der Religion, andererseits waren sie, indem sie über sporadische Festivitäten zu Ehren einer Gottheit hinausgingen, auch der erste Versuch, religiöse Erfahrungen, die der eine oder andere vielleicht gemacht hat, anderen interessierten Menschen zu vermitteln und Möglichkeiten auszuarbeiten, dem Geheimnis des fernen Göttlichen und den Gottheiten selbst näher zu kommen, nicht unbedingt nur um sich deren Gunst zu erkaufen, sondern auch weil man zu seinem Ursprung und der verlorenen Einheit zurückfinden wollte. Besonders ausgeprägt war dies in der indischen Götterwelt, die hochkomplex war, aber doch eine große, individuelle Flexibilität und Freiheit erlaubte und die ohne eine zentrale Organisation auskam. Die Gottheiten eines Pantheons entsprechen, wenn sie nicht eine Naturgewalt widerspiegeln, menschlichen Charaktereigenschaften und Persönlichkeitsaspekten, und mehr noch als bei den griechischen Mysterienschulen, die sich als tiefergehender Zweig der Religion etablierten, entwickelten sich im aufkommenden Hinduismus neben der ritualisierten Religion Schulen, die intensiv mit diesen einzelnen Aspekten arbeiteten und sie zu einem Instrument der Persönlichkeitsentwicklung und der Selbstfindung machten und darüber hinaus zu einem Mittel, Gott näher zu kommen, ihn zu finden und mit ihm eins zu werden. In dieser Hinsicht war der Hinduismus schon früh sehr modern, denn zur Zeit seiner Entfaltung war in der übrigen Welt, statt einer freundschaftlichen und liebevollen Beziehung, die Furcht vor Gott und die Empfindung seiner Unnahbarkeit vorherrschend. Gleichzeitig entwickelte sich auch eine Kosmologie, die einen riesigen Pantheon mit einer obersten Gottheit aufwies, bei dem die einzelnen Götter zumindest unterschwellig, vor allem von den Menschen, die sich intensiver mit der Religion befassten, als Auswüchse, Ausformungen, Aspekte oder Verkörperungen Brahmans, der damit höchsten und einzigen Gottheit, betrachtet wurden. Durch diese Auffassung war der Hinduismus anderen Religionen gegenüber sehr tolerant und sogar akzeptant, solange sie nicht versuchten, ihn zu verdrängen, zu unterdrücken oder gar auszulöschen. Von seinem Wesen her, sozusagen in seiner Tiefe, kann man ihn darum, trotz seines äußeren Erscheinungsbildes, als eine monotheistische Religion betrachten, in der die Aspekte des Göttlichen in Form von Gottheiten personalisiert sind. Im alten Ägypten, in dem eigentlich Amun-Re eine Brahman vergleichbare Stellung einnahm, versuchte der Pharao Echnaton einen sichtbaren Ein-Gott-Glauben zu etablieren, indem er Aton zur obersten Gottheit erhob und versuchte, die anderen Götter in ihrer Bedeutung herabzusetzen oder sie ganz verschwinden zu lassen. Aber für einen ausschließlichen und offensichtlichen Monotheismus, wie wir ihn heute kennen, war das Bewusstsein der damaligen Zeit noch nicht hinreichend gereift. Nach Echnatons Tod versandeten die Bemühungen um die Etablierung einer ausschließlichen Gottheit. Etwa zur selben Zeit begann sich das Judentum herauszubilden, bei dem vermutlich eine der vielen damaligen Gottheiten, JHWH, erfolgreich zur alleinigen Gottheit aufstieg und das jüdische Volk regelrecht auf sich einschwor, so dass es sich gegen alle anderen Glaubensrichtungen und Gottheiten abschottete und den sich entwickelnden Glauben im Wesentlichen unverändert bis heute bewahrt hat. Diese Unduldsamkeit gegen anderen Göttern führte auch zu einer Unduldsamkeit gegenüber anderen Religionen, die sich in gewissem Maß auf die beiden anderen aus dem Judentum entstandenen monotheistischen Religionen, das Christentum und den Islam, übertrug, die sich jeweils als Weiterentwicklung voneinander betrachten und auf die jeweiligen Vorgänger bisweilen offen oder versteckt herabschauen. Diese Herablassung scheint allen offensichtlich monotheistischen Religionen gemein zu sein und zu einem sehr eng gefassten und ausschließlichen Gottesbild und zu einer sehr ritualistischen und starren Religionsauffassung geführt zu haben, in der Gott eine fast menschlich begrenzte, aber unveränderliche Persönlichkeit hat und seine Aussagen ewig, unveränderlich und absolut allgemeingültig sind. Das bedeutet, dass es innerhalb dieser Religionen keinen großen Spielraum mehr für Veränderung, Neubewertung, Ausweitung und Evolution gibt. Gott ist festgelegt und der Mensch ebenso. Und das ist auch mit ein Grund, weshalb nicht nur die drei großen monotheistischen Weltreligionen, sondern fast alle organisierten Religionen vielen Veränderungen oft fast feindselig gegenüberstehen und vor allem die drei abrahamitischen Religionen Gott unnahbar in die Ferne rücken und eine innere, freundschaftliche oder gar liebende Beziehung zu und mit ihm nicht gerade fördern, sondern sie allenfalls wenigen Mystikern vorbehalten. Auch wenn das Gebiet der Religion ganz allgemein eine Evolution durchläuft, so scheint das für die einzelnen Religionen kaum zu gelten. Vor allem monotheistische Religionen sind hier deutlich starrer, was auch daran liegt, dass sie sich in der Regel auf eine heilige Schrift stützen, die auf Unfehlbarkeit und nicht auf Plastizität ausgerichtet ist, und zum Teil auch auf einen Kodex von Entscheidungen und Interpretationen, der im Laufe der Existenz einer Religion angewachsen ist und der Festlegungen enthält, die einer früheren Religionsauffassung geschuldet sind, aber im Licht neuerer Entwicklungen überholt erscheinen. Solche Dinge abzuschaffen oder zu relativieren, würde viele ideologische Winkelzüge erfordern oder bedeuten, frühe Fehler in der Religion zuzugeben. Nicht zuletzt durch die Aufklärung hat, vor allem in der westlichen Welt, das Bewusstsein eine deutliche Entwicklung erfahren, und die Welt und die Dinge werden rationaler betrachtet. Die soziale Evolution hat an Geschwindigkeit zugenommen, wurde aber durch religiöse Dogmen und Einschränkungen in Verbindung mit einem wuchernden Kapitalismus, der bislang zu keinem ernsthaften Weckruf der Religionen geführt hat, behindert und verzerrt, so dass wir nicht auf der Höhe unserer Möglichkeiten leben. Aufgabe der Religion wäre es, das soziale Wachstum zu unterstützen und allen Entwicklungen zur Seite zu stehen, indem sie alles fördert, was dem Menschen Frieden und Liebe bringt und ihn näher zu Gott führt. Statt dessen perpetuiert sie Unzufriedenheit, indem sie zum Beispiel im Fall der christlichen Religion die Scheidung verweigert, was etwa im Fall von Heinrich VIII. zu zwei geköpften Frauen und zur Abspaltung der anglikanischen Kirche führte. Und bis heute dämonisieren die meisten großen Religionen mit einem sehr dürftigen theologischen Unterbau die vor allem männliche Homosexualität, manchmal mit einem Eifer, als wäre dieses Thema eine religiöse Grundlage. Oder es werden im äußersten Widerspruch zum innersten Wesen der Religion Waffen gesegnet, Gewalttaten motiviert, Kriege gefördert oder gar gefordert. Der moderne und im Bewusstsein gewachsene und mit einem humanistischen Selbstverständnis ausgestattete Mensch scheint meist besser befähigt, die wahren Werte einer Religion zu verstehen und auch umzusetzen und auszudrücken, als die meisten religiösen Würdenträger. Was sie nicht verstehen können, ist die Engstirnigkeit, die viele Religionen ausmacht, ihre Inflexibilität und dass sie bisweilen ihren tiefsten und offensichtlich verborgenen Überzeugungen zuwider handeln. Die Religion hat damit ihre moralische und gewissermaßen auch ihre religiöse Kompetenz verloren und wird von vielen Menschen, denen dieser Mangel an Evolution natürlich auf Dauer nicht verborgen bleibt, pauschal abgelehnt, sei es passiv-privat oder aktiv-öffentlich. Und das ist sicherlich zum Teil mit ein Grund, warum zum Beispiel in Deutschland bereits etwa jeder Dritte religionslos ist — mit steigender Tendenz. Dabei bedeutet „religionslos“ nicht unbedingt automatisch auch atheistisch, sondern zuerst einmal nur eine Lossagung von der organisierten Religion aus einem oder mehreren Gründen. Und solange sich die Religion sträubt, ihre eigentliche Aufgabe wahr- und anzunehmen und zu sich zu finden, wird sich dieser Vorgang der rationalen Abspaltung weiter fortsetzen. Da die Religion ihre eigentliche Aufgabe nicht ausfüllen kann oder möchte, treten in der weiteren Evolution nun zwei Entwicklungen auf, die erst einmal in entgegengesetzte Richtungen führen. Durch die Wahrnehmung der Mängel und augenscheinlichen Defizite der Religionen werden sie häufig als purer Aberglauben abgetan und als durchaus aktives Hindernis für alle Arten von Fortschritt empfunden, dem mit Entschiedenheit entgegengetreten werden und dem man mit einem wissenschaftlich geprägten Weltbild begegnen muss. Das kann direkt zu einem aggressiven Anti-Theismus führen, der in seinem Fanatismus dem religiösen Fanatismus in nichts nachsteht und der im Unterschied zu einem Atheismus, der sich durch einfaches Nicht-an-Gott-Glauben auszeichnet, als Glaubensrichtung, mit der Wissenschaft als seiner einzigen Gottheit, durchaus einen religiösen Charakter aufweisen kann. Er nimmt der Religion gegenüber die gleiche Haltung ein, die etwa die christliche Religion gegenüber der durch Galileo Galilei vertretenen Wissenschaft eingenommen hat. Das atheistische Wertesystem kann von einem fundierten Humanismus bis zu einer unnachgiebigen, technokratisch und kapitalistisch geprägten Welt- und Lebensauffassung reichen. Darum kann man nicht pauschal sagen, dass die eine oder andere Auffassung den Menschen und die Welt in eine bessere Zukunft führen kann. Dazu ist wohl, in Verbindung mit einem fundierten Realismus, die andere Richtung besser geeignet, wenn es ihr gelingt, die ihr immanenten Fallstricke zu umgehen, denn alles, was mit Glauben zu tun hat, neigt ganz grundsätzlich zu einem unkontrollierten Eigenleben und zu Selbsttäuschung. Diese andere Richtung verneint nicht grundsätzlich den Glauben an Gott oder die Bedeutung der Religion, sondern koppelt sich von ihren ritualistischen, dogmatischen, politischen und beengenden Aspekten ab und nimmt die Religion als Vorstufe für eine weiterführende Entwicklung an. Das, was über die Religion hinausführt, ist die Spiritualität. Diese beschäftigt sich nicht mit den üblichen heiligen Büchern und einer vermenschlichten und mechanistischen Gottesauffassung und begrenzenden Vorgaben, sondern mit dem Göttlichen an sich. Die Spiritualität nimmt Gott nicht als eine wesensfremde und unnahbare, aber doch auch irgendwie menschliche Entität wahr, sondern als Grundlage unseres Seins, der man sich progressiv annähern und mit der man auch ganz konkret in Beziehung treten kann, und dies nicht nur auf oberflächliche Weise, sondern durchaus tiefgehend bis hin zu einer Einswerdung, die nicht im Fokus der religiösen Gottesauffassung steht und die mit der traditionellen Religionspraxis auch kaum erreicht werden kann. Die Spiritualität verhält sich zur Religion wie die Realität zu einer Art Traumwelt.

Wenn jemand eine spirituelle Erfahrung und einen Glauben besitzt, dann formuliert er sie in den für ihn selbst passendsten Worten. Aber wenn er überzeugt ist, dass dieser Ausdruck der einzig korrekte und wahre für diese Erfahrung und diesen Glauben ist, wird er dogmatisch und neigt dazu, eine Religion zu erschaffen.

Mira Alfassa – Die Mutter

3. Kapitel

Die individuelle Evolution der Religion

Die Religion und ihre Genese ist zwar am Sichtbarsten ein gesellschaftliches und in ihrer Bedeutung ein zunehmend globales Phänomen, aber sie ist in noch viel größerem Maße vor allem eine zutiefst individuelle Angelegenheit, die weit über die „Richtlinienkompetenz“ der organisierten Religion und ihrer Institutionen hinausgeht. Diese können große Veranstaltungen planen und wichtige Feste zelebrieren, sie können Reden halten und Dogmen festlegen, sie können Rituale vorgeben und Gedanken, Empfindungen, Denkweisen und Ge- und Verbote in die Gläubigen pflanzen und damit in gewissem Rahmen beeinflussen, was in den Menschen vorgeht, sie können Stimmungen, Urteile und Vorurteile erzeugen und abbauen, aber sie können dies nicht aus eigener Machtvollkommenheit tun, sondern nur das nutzen und beeinflussen, was im Menschen natürlicherweise bereits angelegt ist. Sie können den Menschen gewollt oder ungewollt auf den Weg zu Gott führen oder ihn davon abbringen, und doch sind sie nur mehr oder weniger fähige Mittler, die dem, was im Menschen schlummert, wie mehr oder weniger ungeübte und planlose Billardspieler, einen Anstoß geben. In unterschiedlicher Tiefe ist im Menschen eine Offenheit da, eine Bereitschaft zu glauben, die wie eine Andockstation auf zellularer Ebene wirkt, wie ein Schloss, das auf den passenden Schlüssel wartet, um eine neue Dimension des Seins zu öffnen. Es ist die Fähigkeit und vor allem die Bereitschaft zu glauben. Dabei ist es erst einmal unerheblich, worum es dabei geht. Dieses Glauben-können und vielleicht sogar Glauben-wollen hat womöglich sogar eine biologische Komponente. Ganz grundsätzlich gibt es zwei unterschiedliche Methoden, etwas zu lernen: Die eine basiert auf Erleben und Erfahren, die andere auf dem Annehmen übermittelter Erfahrungen. Als kleines Kind ist man in seinen allerersten Lebensjahren vom Wissen der Alten abhängig, und der Versuch, nur durch Erfahrung zu lernen, wäre ausgesprochen fatal, schon allein, weil die Fähigkeit zur Wahrnehmung der Umwelt bei Neugeborenen extrem eingeschränkt ist, und später, weil man manche Erfahrungen, wie etwa giftige Maiglöckchen zu essen, nur einmal machen kann. Der größte Lernerfolg und der umfangreichste Erfahrungsschatz kommt durch die Kombination der beiden Methoden zustande, durch Erleben und die nachfolgende oder begleitende Wissensvermittlung oder durch eine Wissensvermittlung, die durch das Erleben überprüft (Feuer tut weh) oder einfach geglaubt wird (Maiglöckchen sind giftig). Ohne diese Bereitschaft zu glauben, würden wir jegliches Wissen anzweifeln und müssten alle Erfahrungen mit ihren teilweise recht negativen Folgen selbst machen, und da uns darüber hinaus der Erfahrungsreichtum unserer Vorfahren verschlossen bliebe und wir auf diesen Fremderfahrungen auch nicht aufbauen könnten, würde unsere individuelle wie gesellschaftliche Entwicklung stagnieren, es fände also keine Evolution statt, und der Mensch wäre nie entstanden. Der Mensch ist also ohne die Fähigkeit und die Offenheit zu glauben nicht wirklich vorstellbar. Sie gehört zu den Grundlagen seines Seins. Und diese Offenheit ist ihrer Natur nach nicht diskriminierend — und kann es auch gar nicht sein —, sondern zuerst einmal für alles aufgeschlossen, was ihr begegnet. Erst in der späteren Entwicklung bekommt sie alle möglichen Arten und Größen von Scheuklappen verpasst. Dies geschieht durch negative Erfahrungen, durch die Konzentration auf bestimmte Entwicklungslinien, die bestimmte Bereiche inhaltlich oder durch Beschränkungen der Kapazität ausschließen, oder durch einseitige Wissensvermittlung und Konditionierung von Seiten der Eltern, der Freunde, der Schule oder durch gezielte Propaganda von Menschen, die ihren begrenzten Horizont für das Maß aller Dinge halten. Diese Menschen — und jeder von uns trägt etwas von ihnen in sich — sind nicht von Natur aus beschränkt, sondern haben sich einer Sache oder einem Glauben geöffnet, die sich als absolut darstellt und darum kein weiteres Wachstum, keine neuen Erfahrungen und keine Ausweitung zulässt und sich zum Teil auch auf die Hoffnung auf ein besseres Leben im Jenseits stützt. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, weshalb Karl Marx die Religion als „Opium für das Volk“ bezeichnet hat, denn starke, süchtig machende Rauschgifte verändern das Bewusstsein und den Blick auf die Welt, indem sie dem Menschen Scheuklappen verpassen und bestimmte Sichtweisen und Entwicklungen nicht mehr zulassen, ihn also in seiner Freiheit, in seiner Erkenntnisfähigkeit, in seiner Wahrnehmung der Welt und der Realität und in seiner Offenheit des Glaubens einschränken. Und die Religion schränkt den Menschen nicht nur in seiner Beziehung zur Welt ein, sondern auch in seiner Fähigkeit zu glauben. Sie ist also eigentlich ihr eigener und deshalb größter Feind. Man könnte die Religion darum mit Karl Marx für überflüssig und gefährlich halten. Aber die Religion hat durchaus eine Funktion im menschlichen Sein, auch wenn diese kaum wahrgenommen und gefördert wird. Ihre Grundlage ist diese Fähigkeit zu Glauben, die Ausdruck einer grundsätzlichen Offenheit ist, und die Bereitschaft, an etwas zu glauben, das auf Anhieb nicht bewusst wahrnehmbar ist und dem wissenschaftlichen Weltbild zu widersprechen scheint, hält die kreative Neugier und die Bereitschaft, Dinge wahrzunehmen und das eigene Weltbild auszuweiten am Leben, wenn auch mit Einschränkungen, die sie zu einer Sackgasse machen können. Dies ist aber nicht unumgänglich. Michel Montecrossa hat mit dem Bild eines sechsteiligen Bewusstseinsrades einen Ort und eine Bedeutung der Religion in der menschlichen Bewusstseinsentwicklung aufgezeigt, in der sie einen wichtigen Platz einnimmt und nicht als Sackgasse der inneren Evolution endet.

Der Ausgangspunkt dieser inneren Evolution ist genau genommen die Zeugung und Empfängnis, aber praktisch manifestiert sie sich im Einklang mit dem Wachstum der Wahrnehmungsfähigkeit des Kleinkindes. Sein Selbstempfinden ist anfangs eher global und vor allem auf der vitalen und der körperlichen Ebene egoistisch, und seine Wahrnehmung ist weniger analytisch als vielmehr künstlerisch. Ein Baby hat zwar ein Bewusstsein seiner selbst, aber noch kein denkendes und reflektierendes Bewusstsein, und dementsprechend ist seine Wahrnehmung auch ein ungefiltertes Einströmen von Eindrücken auf allen Sinneskanälen. Wahrnehmung bedeutet, dass man das, was man über die Sinne aufnimmt, mit seinem Bewusstsein und mit dem, was in diesem vorhanden ist, in Beziehung setzt. Man kann darüber nur spekulieren, was ein neugeborenes und sich entfaltendes Bewusstsein ausmacht, aber es wird gewiss keine großartige mentale Struktur enthalten. Vielmehr wird es aus Empfindungen bestehen, und wenn man davon ausgeht, dass der Mensch mit einer Seele zur Welt kommt, die in eine Weltenseele oder eine universale oder göttliche Seele oder in ein Großes Bewusstsein eingebettet ist, mit ihr in Beziehung steht und aus ihr schöpft, dann ist davon auch etwas in seinem Bewusstsein gegenwärtig. Die ersten Strukturen, die ein Kind in seinem Bewusstsein aufbaut, sind also globale Empfindungsstrukturen, die es zu seiner noch nicht völlig ausgeformten Persönlichkeit und eingebetteten Stellung in einer größeren Welt in Beziehung setzt. Das Bewusstseinsfeld, das sich somit um den Persönlichkeitskern herum ausbildet, ist darum von Eindrücken geprägt, die nichts Mentales an sich haben, sondern pure Empfindungen sind, also Licht und Dunkel, Farben in unendlichen Abstufungen und Intensitäten, Gerüche aller Art, Geschmacksempfindungen von zart bis heftig und von süß bis umami, helle und dumpfe und klare und verwaschene und leise und laute Klänge, Tastempfindungen, Kälte, Wärme, Berührungen, harte, weiche, flüssige Konsistenzen, Formen in endloser Vielfalt, Körperempfindungen wie Hunger und Durst, das Fließen des Urins, die körperliche Nähe und die Berührung anderer Menschen, die Empfindungen, die sie einem entgegenbringen, ihre Ausstrahlung, ihre Präsenz und ihr Temperament … All dies sind Eindrücke und Empfindungen, die zueinander und zum eigenen Bewusstsein und der eigenen Persönlichkeit in Beziehung gesetzt werden, und das ist anfangs und für lange Zeit weniger eine geistige, als vielmehr eine künstlerische Arbeit, denn die Kunst beschäftigt sich, zumindest anfänglich und für eine lange Zeit nicht mit mentaler Analyse und rationalen Beziehungen, sondern mit innerer und äußerer Wahrnehmung, mit Empfindungen und Ausdruck und mit emotionalen und seelischen Verbindungen. Die synergetische Wahrnehmung, die Verarbeitung von Eindrücken, ihr gegenseitiges In-Beziehung-Setzen und die Bezugnahme zu ihnen ist ein wesentlicher Bestandteil des künstlerischen Bewusstseins. Und lange ehe die Welt mental und rational entdeckt wird, wird sie künstlerisch erforscht und entdeckt. Wenn das Kind sprechen lernt, verknüpft es Klangbilder mit optischen Bildern und einer Vielzahl weiterer Eindrücke, und erst daraus entsteht dann ein mentales Bild. Sprache und Sprechen lernen ist in diesem Alter noch ein zutiefst künstlerischer Vorgang, zu dem sich mit wachsendem Fortschritt noch mentale Elemente hinzugesellen. Sowie das Kind mehr Kontrolle über seinen Körper erlangt, beginnt es, zusätzlich zu Mimik und Körpersprache und -kontakt physisch zu kommunizieren. Und natürlich findet diese Kommunikation künstlerisch statt, denn da das Bewusstsein bislang fast ausschließlich künstlerisch geprägt ist, ist auch der Ausdruck künstlerisch, und außerdem bedeutet Kunst ja auch die Kommunikation zwischen der inneren und der äußeren Welt; sie macht die äußere Welt verstehbar und verhilft der äußeren Welt, den anderen Menschen, zu einem Einblick in die innere Welt, sei es in ihre eigene oder in die des Künstlers. Bislang hat das Kind Eindrücke von außen empfangen, jetzt möchte es selbst Eindrücke schaffen und sich ausdrücken, und dazu wird alles benutzt, was greifbar ist und sich in irgendeiner Form manipulieren lässt, zuerst die Stimme und dann Bauklötze, Stifte, die Gegenstände der Umgebung und die Spielsachen. Durch diesen künstlerischen Ausdruck wird das künstlerische Bewusstsein stärker ausgebildet und individualisiert. Je reichhaltiger die Möglichkeiten sind, die ihm dafür zur Verfügung stehen, desto reichhaltiger wird auch die resultierende künstlerische Persönlichkeit ausfallen. Genau genommen ist der ganze Mensch an sich ein selbst geschaffenes Kunstwerk, das sich in einem stetigen Prozess der Verfeinerung, der Konkretisierung und des Wachstums an Ausdruck und Erkenntnis befinden sollte. Dieses künstlerische Bewusstsein ist die hauptsächliche Grundlage für unsere Fähigkeit, Verknüpfungen und Beziehungen herstellen zu können; das mentale Bewusstsein ist davon nur der Nutznießer und für seine Existenz wahrscheinlich sogar darauf angewiesen. Auch heute noch wird die Kunst, selbst wenn man sich gerne mit ihr umgibt, belächelt und als nebensächlich und unwichtig abgetan, dabei ist sie der Schlüssel für unser weiteres Leben und die Grundlage unserer Entwicklung und Entfaltung. Bei der Kunst muss man eine Unterscheidung zwischen ihrer reproduktiven und ihrer kreativen Form treffen. Die reproduktive Form ist etwas weniger wertvoll, da sie sich nicht mit der Schöpfung von Neuem befasst, aber sie vermittelt denen, die sie ausüben, die Möglichkeit, ihre technische Grundlage und ihre Fertigkeiten zu trainieren und zu verfeinern, so dass sie, wenn sie sich der schöpferischen Seite zuwenden, die Fähigkeit zu einem optimalen Ausdruck besitzen. Außerdem fördert reproduktive Kunst, vor allem in der Musik, das Eintauchen in die Seele des Kunstwerks und erlaubt dem Empfänger der Wiedergabe gleichfalls, dessen Dimensionen zu erforschen. Die kreative Kunst hingegen bietet einen weiteren bedeutenden Aspekt. Der Künstler, also der aktiv schöpferische Mensch, nimmt die Welt tiefer und reichhaltiger wahr, als der nur mentale und rationale Mensch; er kann mehr Verbindungen erkennen und herstellen, die Welt umfassender wahrnehmen und für neue Entwicklungen und Erkenntnisse offener sein. Darum ist der künstlerische Aspekt unseres Lebens, unserer Erziehung und Bildung, und dazu zählt auch die sportliche und die kreative körperliche Betätigung, von immenser individueller, gesellschaftlicher und globaler Bedeutung und sollte in Bildungsfragen immer an erster statt an letzter Stelle stehen. Die innere Evolution des Menschen läuft nicht so ab, dass man eine Entwicklung vollzieht und sie dann mit dem Eintreten in die nächste Entwicklungsstufe abschließt, wegsperrt und ignoriert, sondern dass jede Stufe die Grundlage (und in gewisser Weise auch Bestandteil) der nächsten und aller kommenden ist, denn jede Stufe mag zwar eine größere Wahrheit in sich bergen, ist aber für sich allein nicht lebensfähig und nur ein Aspekt dieser größeren Wahrheit, so wie auch das Leben auf dem körperlichen Dasein aufbaut und ohne dieses nicht existieren könnte und keine Ausdrucksmöglichkeit hätte, oder wie der Geist für seine Existenz und seinen Ausdruck auf Leben und Körper angewiesen ist. Darum sollte man die Kunst, in welcher Form auch immer, zeitlebens und möglichst vielfältig pflegen, andernfalls man Gefahr läuft, sich in der nächsten Entwicklungsstufe zu verlieren und sie für die einzige Realität zu halten, wie es bei zu vielen Menschen der Fall ist, weshalb wir auch in einer so zerstörten und kalten Welt leben, die von Pseudo-Rationalismus und eiskaltem Kapitalismus regiert wird.