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In seiner Dissertation aus dem Jahr 1961 untersucht Paul M. Zulehner die vielfältigen Gründe der Entfremdung zwischen Kirche und Arbeiterschaft in Österreich. Der erste Teil der Studie zeichnet diese Entfremdungsgeschichte nach, vom Entstehen der Industriearbeiterschaft bis zur Organisation einer christlichen Sozialtätigkeit einerseits und zum Zusammenschluss der Arbeitermassen unter der Fahne von Marx andererseits. Den zweiten Teil bildet eine empirische Studie über die Religion von Industriearbeitern. Herkunft, geistige Lage und soziale Situation werden als wesentliche Faktoren analysiert. Zulehner konnte in seiner frühen Studie zeigen, dass der politische Bruch mit der Kirche geschah, nicht aber mit der Religion und deren rituellem Reichtum, wie Taufe oder Beerdigung. Der Autor ist überzeugt: Die Kenntnis der Entfremdungsgeschichte und das Wissen um Anknüpfungspunkte sind die Voraussetzung für eine pastorale Annäherung zwischen Kirche und Arbeiterschaft - bis heute.
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Seitenzahl: 438
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Cover
Haupttitel
Inhalt
Über den Autor
Über das Buch
Impressum
Hinweise des Verlags
Leseempfehlung
Paul M. Zulehner
Religion und industrielle Gesellschaft
Zur Entfremdung von Arbeiterschaft und Kirche
Eine historische und empirische Studie
Patmos Verlag
Zum Geleit
Vorwort
Einleitung
Ursachen der Entfremdung zwischen Kirche und Arbeiterschaft
Die Umwelt als Ursache der Entfremdung
Der Liberalismus
Wesen und Wurzeln
Der Liberalismus als politische Bewegung
Der ökonomische Liberalismus
Die Entchristlichung der Wirtschaft
Die antikirchliche Haltung des Liberalismus
Das Pressewesen
Liberale Ideen und die Arbeiterschaft
Andere Umweltfaktoren
Der Protestantismus
Der Deutschkatholizismus
Die Judenfrage
Die politische Stellung des Judentums
Die Juden im Wirtschaftsleben
Der Antisemitismus
Judentum und Kirche
Die Juden als Entfremdungsfaktor
Zusammenfassung
Die Entfremdung vom Arbeiter aus gesehen
Die Industrialisierung in Österreich
Die Herkunft der Industriegesellschaft
Der Proletarier
Die geistige Situation des Proletariats
Die Hauptquellen des Proletariats
Unbrauchbare Menschen
Der Bauernstand
Die Zünfte
Der Standortverlust
Die religiöse Lage des Volkes überhaupt
Die religiöse Lage der Zünfte und des Bauernstandes
Die Bauernschaft
Die Zünfte
Zusammenfassung
Die soziale Lage der Arbeiterschaft
Berichte über die soziale Lage
Zusammenfassung der wesentlichen Missstände
Soziales Elend und Sittlichkeit
Zum Verhältnis von Armut und Sittlichkeit
Jugendverwahrlosung
Der Familienzerfall
Lebensflucht
Rückblick
Die Organisation der Arbeiterschaft durch den Sozialismus
Die Wurzeln des Marxismus
Der Weg zur Partei
Die Zeit bis einschließlich 1848
Die Zeit von 1848 bis 1867
Die Zeit von 1867–1870
Die Zeit von 1870–1878
Die Zeit von 1878–1888/89
Die Stellung der roten Arbeiterorganisation zu Kirche und Religion
Die Stellung des vormarxistischen Sozialismus in Österreich zu Kirche und Religion
Der marxistische Sozialismus in Österreich
Die Bedeutung dieses Entfremdungsfaktors
Die Entfremdung von der Kirche aus gesehen
Die Situation in der Kirche
Die Staatskirche
Geschichte und Wesen
Die Folgen des Staatskirchentums
Der Auszug aus der Öffentlichkeit
Die Seelsorgssituation
Äußere Umstände
Mammutpfarren
Fehlen von Kirchen
Überlastung der Seelsorger
Zerfall der Pfarrfamilie
Der Klerus
Der Mangel an Seelsorgern
Die Herkunft der Seelsorger
Die Stellung des Klerus zur Seelsorge
Die Problemblindheit
Wirklichkeitsfremde Begründung der sozialen Frage
Gottgewollte Armut
Sittliche Begründung
Problemblinde Lösungsvorschläge
Caritas statt iustitia
Der Konservativismus
Stellung zur neuen Wirtschaftsreform
Stellung zum Arbeiter
Das religiöse Verhalten des heutigen Industriearbeiters
Vorbemerkungen
Bedeutung und Grenzen der empirischen Sozialforschung
Fragebogen und Arbeitshypothese
Das Sample
Das Sample der Aktivenbefragung
Das Sample der Rentnerbefragung
Die Kontaktaufnahme
Die formelle Religiosität
Die Gläubigkeit
Gott
Glaube an ein höheres Wesen und Alter
Glaube an ein höheres Wesen und Herkunft
Glaube an ein höheres Wesen und Schulbildung
Christus
Gott und Christus
Alter und Einstellung zu Christus
Auferstehung des Leibes
Auferstehungsglaube und Alter
Der Glaube an Gott und an ein Weiterleben nach dem Tode
Bemerkungen zu dieser Frage
Die Kirchlichkeit
Kirchgang
Frequenz und Alter
Frequenz und Herkunft
Frequenz und Schulbildung
Sakramentenempfang (Kommunion)
Gründe für die Unkirchlichkeit
Ende der Praxis
Entfremdungsgründe
Schichtarbeit am Sonntag
Die Arbeitsumwelt
Kirche als Geldmacht
Weitere Entfremdungsgründe
Zusammenfassung
Die informelle Religiosität
Konventionelle Kirchlichkeit
Öffentlichkeitsferne Religiosität
Informeller Gottesglaube
Informelles Gebet
Weitere, eigentliche informelle Religiosität
Informelle Religion in der Familie
Verschönerung der Kindheit durch die Religion
Religion als Erziehungsmittel
Religion aber nur für die Zeit der Erziehung
Schlussbemerkungen
Allgemeine Zusammenfassung
Gedanken zur Entfremdung des heutigen Arbeiters von der religiösen Institution
Entfremdung durch eine Ersatzreligion
Direkte Entfremdung von der religiösen Institution
Innere Problematik der religiösen Institution
Differenzen mit der religiösen Institution durch Sublimierung
Erkenntnisse und Ergebnisse
Fundierung und Wesen der Religion
Die Bestimmung des Menschen
Das Wesen der Religion
Die individuelle Dimension der Religion
Die soziale Dimension der Religion
Die Religion in der industriellen Gesellschaft
Die individuelle Dimension der Religion in der industriellen Gesellschaft
Actus fundamentaliter intellectualis
Gründe für das Fehlen einer positiven Erkenntnisgrundlage
Religionswidrige Erkenntnisgrundlagen
Actus formaliter voluntativus
Consequenter actus emotionalis
Die soziale Dimension der Religion in der industriellen Gesellschaft
Die endogene Problematik
Die Binnenstruktur der Kirche
Übermacht der sekundären Systeme
Die exogene Problematik
Mobilität der Gesellschaft.
Pluralistische Gesellschaft
Anmerkungen
Schrifttumsverzeichnis
Fragebogen, welcher bei der empirischen Untersuchung verwendet wurde
Das Verhältnis zwischen der katholischen Kirche und der aufkommenden Industriearbeiterschaft in Österreich war von allem Anfang an die Geschichte einer tiefen Entfremdung. Die vom Staatsabsolutismus geknebelte Kirche rang zu dieser Zeit um ihre Freiheit vom Staat und konnte diese im Zuge der Revolution von 1848 auch erstreiten. Das änderte aber nichts daran, dass die Kirche an die vergehende ständische Gesellschaft gebunden war und diese aus tragischem Selbstinteresse verteidigte. Die arbeitenden Menschen in den neuen Fabriken rund um Wien waren, so analysierten Zeitzeugen, ein Abfallprodukt der zerfallenden mittelalterlichen Stände der Bauern und des Handwerks, zu denen neben dem Adel und dem Bürgertum auch der Klerus gehörte. Zu begreifen, dass mit der Industrialisierung die ständische Gesellschaft zu Ende ging und eine nach Klassen geteilte Gesellschaft mit einem prekär lebenden Industrieproletariat entstand: Das war den Klerikern, aber auch den Theologen dieser Zeit nicht zugänglich. Sie waren problemblind, vertrösteten – so belegen Predigten und Erbauungsschriften – die Ausgebeuteten auf das Jenseits und organisierten für die Massen der Elenden lediglich Armenhilfe. »Klingelbeutelsozialreform« geschah, so ätzte die junge Arbeiterzeitung 1890. Die Ursachen der Verelendung der wachsenden Arbeitermassen wurden erst von Leo XIII. kirchenamtlich wahrgenommen, fast ein halbes Jahrhundert nach den Analysen von Karl Marx.
Die vorliegende Arbeit geht dieser Geschichte der Entfremdung von Kirche und Arbeiterschaft in Österreich einfühlsam nach. Viele Dokumente, Flugblätter, Reden und analytische Beiträge bilden die Grundlage der Studie und werden so in Erinnerung gebracht.
Die christlich-soziale Bewegung, zur selben Zeit wie die sozialistische Partei entstanden, beendete die Blindheit der Katholiken in Österreich für die Arbeiterfrage. Viele berührende Erfahrungsberichte aus der sozialkritischen Zeitschrift »Vaterland« unter der Federführung des Freiherrn Carl von Vogelsang belegen den neuen, geschärften Blick.
Es freut mich, dass ich als langjähriger Vorsitzender der FCG im ÖGB die Drucklegung dieser ersten Dissertation des Religions- und Werteforschers Paul M. Zulehner aus dem Jahre 1961 ermöglichen konnte. Paul M. Zulehner hatte fast ein Vierteljahrhundert den Lehrstuhl für Pastoraltheologie inne, der 1774 von Maria-Theresia zur Ausbildung von staatstreuen Religionsdienern in der k.u.k. Monarchie gegründet worden war. Just die vom feudalen Staat gebildeten und von diesem in Dienst genommenen Kleriker waren es, welche die Entfremdung der Arbeiter von der Kirche nachhaltig mitverschuldet haben. Ihre Pflicht war es, die ständische Ordnung zu sichern, Gehorsam gegenüber der Autorität und die Pflicht zum Zahlen der Steuern einzumahnen. Für das Aufkommen der Industriegesellschaft waren sie, dank solcher Aufgaben für den absolutistischen Staat, mit einer professionellen Blindheit geschlagen, als die einsetzende Industrialisierung vielen Menschen unvorstellbares Elend, damit aber das alte gesellschaftliche Gefüge ins Wanken brachte.
Die Geschichte lehrt, dass ohne Gerechtigkeit keine Gesellschaft auf Dauer Bestand hat.
Fritz Neugebauer,
Nationalratspräsident a. D.
Wien, 2015
Dies ist die erste Drucklegung meiner Dissertation aus dem Jahre 1961. Der Titel der damals von Johannes Schasching SJ in Innsbruck betreuten Doktorarbeit lautete: »Das religiöse Verhalten der Industriearbeiterschaft. Versuch einer religionsphilosophischen Analyse«.
Die Entscheidung für die Drucklegung hat mehrere gute Gründe. Erstens führt die Studie ein in das hochsensible Verhältnis der weithin austromarxistisch geprägten Österreichischen Arbeiterschaft zur Kirche. Es war, was die Arbeiterinnen und Arbeiter betraf, weniger ein ideologischer Konflikt, sondern mehr ein politischer. Die Kirche war mit dem politischen Lager der Christlichsozialen eng verwoben. Die Arbeiterschaft hingegen wurde weithin von der Sozialistischen Partei organisiert und vertreten. Zwischen Christlichsozialen und Austromarxisten verschärften sich die politischen Konflikte bis zum Bürgerkrieg. Der Bundeskanzler Prälat Ignaz Seipel ließ auf kämpfende Arbeiter schießen. Auch im innerkirchlichen Bereich waren die Spannungen mit Händen zu greifen. Manche Beichtväter verweigerten die Lossprechung, wenn sich der Beichtende als Mitglied der Sozialistischen Partei deklarierte.
Nach 1945 war der politische Kampf zu Ende gegangen. In den Konzentrationslagern des Nationalsozialismus lernten einander führende Köpfe beider politischer Lager kennen und verstehen. Unter dem Sozialisten Bruno Kreisky und Kardinal Franz König kam es formell zur Annäherung. Es wurde – aus der Sicht der Kirche – auch aus pastoralen Gründen Frieden geschlossen.
Die Aussöhnung auf der Ebene der führenden Persönlichkeiten führt aber nicht von selbst zur Aussöhnung der Menschen. Voraussetzung für eine pastorale Annäherung ist sowohl die Kenntnis der Entfremdungsgeschichte, zugleich aber auch ein gediegenes Wissen um mögliche Anknüpfungspunkte. Von hier aus ergibt sich die Aufgabenstellung der beiden Hauptteile dieser Studie. Der erste Teil geht der Entfremdungsgeschichte nach. Der zweite Teil ist eine empirische Studie über die Religion von Industriearbeitern – Frauen wie Männern.
Im historischen Teil kommen wenig bekannte Dokumente ans Licht. So beispielsweise Flugblätter aus dem Jahre 1848. In diesem Jahr gab es zunächst noch eine Allianz zwischen Bürgerlichen und Arbeitern. Doch im Verlauf der Revolution kam es zur Entfremdung. Arbeiter stürmten Fabriken. Liberale und Sozialisten kämpften zwar politisch gegen das herrschende Regime, trennten sich aber rasch aus sozialpolitischen Gründen.
Der empirische Teil macht einen Sprung in die (damalige) Gegenwart. Mit noch ziemlich einfachen Mitteln wurde eine Repräsentativstudie unter arbeitenden Menschen der VÖEST in Linz durchgeführt. Thema war die Religion von Industriearbeitern. Es sollte sich zeigen, dass der politische Bruch mit der Kirche geschah, nicht aber mit der Religion und deren rituellem Reichtum, wie Taufe oder Beerdigung. Die Auswertung der durch mündliche Erhebung gesammelten Daten geschah damals händisch, Computerprogramme standen noch nicht zur Verfügung. Auch Lochkarten und Auszählmaschinen waren nicht zur Hand. Und dennoch lohnt es sich, die rudimentär präsentierten Ergebnisse zu dokumentieren. Denn es ist die erste größere religionssoziologische Studie in Österreich (und wohl auch darüber hinaus).
Paul M. Zulehner, Wien 2015
Es ist eine Tatsache, dass auf Grund der wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Entfaltung eine Reihe von Institutionen und Sozialgebilden einem bedeutenden Wandel unterliegen. Dieser Wandel betrifft einerseits das innere Gefüge solcher Institutionen, er betrifft aber auch das Verhältnis verschiedener Institutionen zueinander.
Die Interpretation dieses Wandels verlangt sowohl eine historische Analyse sowie auch eine empirische Bestandsaufnahme des Gewordenen. Erst aus dem Ergebnis dieser beiden Untersuchungen und aus der Zusammenschau beider Faktoren ergibt sich die Möglichkeit eines Versuches einer grundsätzlichen Systematisierung dieses gesamtgesellschaftlichen Phänomens.
Zu diesen erwähnten Sozialgebilden und Institutionen gehört zweifellos auch das Sozialgebilde ›Kirche‹. In den kommenden Ausführungen soll der Versuch unternommen werden, die besondere Problematik, welche dieser Institution im Raum der industriellen Arbeitswelt erwächst, sowohl auf Grund einer historischen Analyse als auch einer empirisch-soziologischen Forschung näher in den Griff zu bekommen.
Die Tatsache, dass die Kirche in der heutigen industriellen Gesellschaft der Zugang zu einem sehr großen Teil der Bevölkerung nicht offen steht, läßt sich nicht leugnen. Kirche und Arbeiter sind entfremdet. Durch diese kategorische Aussage ist selbstverständlich noch nicht gesagt, dass es nicht Kreise in der Arbeiterschaft gibt und gab, die mit der Kirche stets verbunden waren und sind. Dennoch aber kommen wir um die Tatsache nicht herum, dass dieser große Sektor der Gesellschaft abseits von der Kirche steht.
Ein Rückblick auf die Anfänge des Christentums macht diese Tatsache noch fragwürdiger. Denn waren es nicht gerade die arbeitenden Schichten des Volkes, die in der Urkirche die breite Basis des Christentums ausmachten und in ihm Linderung ihrer Lage, Kraft zum Ertragen und oft auch den Ausweg aus ihrem Schicksal fanden? Und eben diese Schichten, die, wie es die Urzeit der Kirche zeigt, eigentlich primär den Weg zum Christentum finden, eben diese Schichten stehen der Kirche der neuesten Zeit so ferne.
Es hilft dabei auch nicht, auf simplifizierende Weise zu sagen, dass an der Religionsferne des Industriearbeiters die spezielle soziale Not der Neuzeit Schuld sei. Denn wäre dies der Fall, so wäre nicht einzusehen, warum zum Beispiel der durch den Agrarkapitalismus verarmte Bauernstand nicht so sehr von der Kirche abgerückt ist. Wie wir später sehen werden, hat die soziale Not auch eine Bedeutung am Prozess der Entfremdung. Aber sie ist nicht, wie man vielfach hören kann, die alleinige Ursache. Dieses Beispiel sollte uns nur zeigen, dass mit einer Simplifizierung und Dogmatisierung die sehr komplexe Wirklichkeit dieses Entfremdungsprozesses auch nicht annähernd getroffen werden kann. Die Ursachen dieser Entfremdung sind derart vielfältig, dass nur eine sorgfältige Analyse sie aufdecken kann.
Will man also die vielfältigen Gründe dieser Entfremdung auffinden, so muss man auf die Wurzeln und die geschichtlichen Anfänge dieser Entwicklung zurückgreifen. Die geschichtliche Betrachtungsweise ist in diesem Suchen nach den Ursachen der Entfremdung ja von fundamentaler Bedeutung. Denn eine so große Gruppe einer Gesellschaft entfremdet sich nicht von heute auf morgen von der Kirche. Vielmehr vollzieht sich die Entfremdung in verschiedensten Stufen, welche oft so klein sind, dass sie von der lebenden Generation selbst nicht bemerkt werden.
Da es aber im Rahmen dieser Arbeit zu uferlos wäre, die ganze Entwicklung zu analysieren, so wird hier nur auf die erste Zeit des Entfremdungsprozesses besondere Rücksicht genommen werden. In dieser Zeit, welche sich vom Entstehen der Industriearbeiterschaft bis zur Organisation einer christlichen Sozialtätigkeit einerseits und zum Zusammenschluss der Arbeitermassen unter der Fahne von Marx andererseits erstreckt, vollziehen sich nämlich die bedeutendsten Wandlungen im Verhältnis der jungen Industriearbeiterschaft zur Kirche. Denn wie nach Jantke die Geschichte aller sozialen Probleme unseres Industriesystems mit der vollen Entfaltung des Fabrikindustrialismus und dem durch verstärkten Einsatz moderner Verkehrsmittel unaufhaltsam werdenden Wanderungsprozess in die rasch wachsenden städtischen industriellen Produktionszentren beginnt1, so hat auch die Geschichte der Entfremdung der Arbeiterschaft von der Kirche hier ihren Ansatz. Dazu kommt noch, dass gerade diese ersten Schritte besonders bedeutsam waren.
Die Untersuchung der vielfältigen Ursachen dieses Prozesses könnte nun unter verschiedensten Gesichtspunkten aufgebaut werden. Man könnte die Ursachen zum Beispiel in politische, wirtschaftliche und geistesgeschichtlich-weltanschauliche unterteilen. Diese Einteilung wäre durchaus möglich, birgt aber vielleicht in sich die Gefahr, dass sie die Pluralität der Ursachen zu sehr in dieses Schema pressen würde. In dieser Arbeit soll daher eine andere Einteilung vorgezogen werden, welche zunächst die beiden entfremdeten Gruppen betrachtet, inwieweit diese Anlass zur Entfremdung geboten haben. Und da diese beiden Gruppen im Großraum der Umwelt leben, so werden auch von Seiten der Umwelt Entfremdungsursachen zu erwarten sein. Somit haben wir also drei wesentliche Quellen für Entfremdungsursachen: die Umwelt, mit welcher der Anfang gemacht werden soll; die Arbeiterschaft weiter als den einen Pol und die Kirche als Gegenpol.
Es ist auch gleich einzusehen, dass diese drei Quellen nicht streng getrennt werden können. Dies beruht vor allem darauf, dass Probleme, die einen Gesellschaftsteil betreffen, auch leicht im Abschnitt für die Ursachen aus der Umwelt behandelt werden könnten, da ja die Umwelt die Basis für die verschiedenen Gesellschaftsteile darstellt.
Im ersten Abschnitt über die Entfremdungsursachen von Seiten der Umwelt wird vor allem über den Liberalismus gesprochen werden, und zwar über sein geistiges Hinterland, seine wirtschaftliche Ausformung und seine Folgen für die Stellung der Gesellschaft und der Wirtschaft zum Christentum. In diesem Zusammenhang wird auch die Presse der Zeit vor allem von 1848 einer näheren Betrachtung unterzogen werden. In einem zweiten Kapitel werden dann noch weitere Umweltfaktoren behandelt. Es wird dort darum gehen, die Stellung der Juden, des Protestantismus und des Deutschkatholizismus im Prozess der Entfremdung zu beleuchten.
Der zweite Abschnitt wird die Entfremdung von Seiten des Arbeiters untersuchen. Hier werden es primär die Fragen nach der Herkunft des Arbeiters, seiner geistigen Lage, seiner sozialen Situation sein, die in ihrer Stellung zur Entreligiosierung des Arbeiters analysiert werden müssen. In diesem Abschnitt werden wir dann auch den ersten Organisationsversuchen der Arbeiterschaft nachgehen, welche letztlich im Sozialismus als Partei mündeten.
Der dritte Abschnitt schließlich wird das Problem der Entfremdung von Seiten der Kirche beleuchten. Es wird vor allem die Lage der Kirche als Staatskirche, zu der sie durch die josephinische Kirchenpolitik wurde, im Vordergrund stehen. Nach einem kurzen Rückblick auf die Entwicklung und das Wesen werden die Folgen dieses Systems für die kirchliche Tätigkeit behandelt werden. In einem weiteren Kapitel wird es uns um eine kritische Schau der Seelsorge gehen. Dabei muss hier gleich festgestellt werden, dass alles Negative, das zur Sprache kommen wird, nur deshalb gesagt werden wird, damit aus diesen Fehlern gelernt werden könne: denn gerade in diesem Punkt ist die Geschichte sehr lehrreich. Dies gilt dann besonders vom dritten Kapitel, in welchem von der ›Problemblindheit‹ die Rede sein wird.
Der Liberalismus ist eine nach Zeit und Ort sich verschieden äußernde geistige Bewegung. Er tritt in den verschiedensten Formen auf und ist auch in den einzelnen Ländern oft sehr andersartig strukturiert.2 Dennoch dürfe man ihn in seinen wesentlichsten Zügen als jene umfassende geistige Bewegung bezeichnen können, die auf der individualistischen Deutung der Natur des Menschen und der Gesellschaft beruht und darin ihre obersten Prinzipien für die Gestaltung des gesamten gesellschaftlichen Lebens sucht.3
Es liegt somit dem Liberalismus der Individualismus als Weltanschauung zugrunde. Das Individuum wird zum Sinn und Träger allen Weltgeschehens, es ist das Atom, um welches das gesellschaftliche Geschehen kreist. Diese Akzentsetzung auf das Individuum brachte in der Zeit, in welcher der Individualismus groß wurde, zunächst manchen bedeutenden Fortschritt. Es wurde durch ihn der großartige Kampf um die Freiheit des Menschen und um die Gleichstellung der gar verschieden eingestuften Menschen ausgelöst. Auch auf wirtschaftlichem Gebiet ist dem Liberalismus mancher Fortschritt zu verdanken, weil dieser die Initiative der Unternehmer stark anspornte und dadurch zur Triebkraft der Entfaltung der Industrie werden konnte.
Dennoch basiert der individualistische Liberalismus, für welchen die unbedingte Freiheitforderung der oberste Grundsatz ist, auf einem nicht tragbaren Freiheitsbegriff. Denn das höchste Ziel ist ihm das autonome Individuum, das sich gänzlich selbst bestimmt und von jeglicher Bindung völlig frei ist. Es ist also der negative Freiheitsbegriff, ein Freisein von etwas, der den Individualismus kennzeichnet.
Die geistesgeschichtlichen Wurzeln4 des individualistischen Liberalismus reichen bis in die Spätscholastik hinab: ihr Nominalismus bildet den ersten Ansatz. Denn nach diesem ist nur das Einzelne wirklich, alles Allgemeine aber, so neben den Allgemeinbegriffen auf gesellschaftlicher Ebene vor allem die Gesellschaft selbst ist unwirklich, ist nur ein Gedanke oder ein Name. Somit ist aber auch schon die Grundthese des Individualismus aufgestellt, weil eben die Natur des Menschen nur individualistisch gedeutet und jeder soziale Wesenszug in der Natur des Menschen abgestritten wird. Da nun aber jegliche ontische Beziehung des Menschen auf einen anderen hin geleugnet wird, so werden folgerichtig auch alle sittlichen Normen und Verpflichtungen anderer gegenüber aufgehoben: Es herrscht eben jedes Individuum in seiner Willensfreiheit über sich selbst, ist in sich autonom.
Diese individualistischen Ansätze des Nominalismus lassen sich im Zeitalter des Rationalismus weiterverfolgen. Der subjektivistische Wahrheitsansatz von Descartes (1596–1650) im Cogito ergo sum, der alle Richtigkeit des Denkens in der denkenden Vernunft begründet, ist im Grunde genommen ebenso individualistisch wie der Ansatz Humes (1711–1776), nach welchem als Erkenntnisquelle nur Empfindung und Vorstellung bestehen bleiben, und auch die Sittlichkeit nur nach dem Gefühl bemessen wird.
Freilich wird im individualistischen Liberalismus gegenüber Hume bald der Rationalismus vorherrschend. Denn die Wurzel des liberalen Freiheitsstrebens ist vor allem der Glaube an das Vermögen der Vernunft, allein aus sich die Welt restlos begreifen und erklären und auf Grund dieser Einsichten das gesamte menschliche Leben regeln und die Welt machen zu können.5
Als klassischer Vertreter des Liberalismus aber aus der Zeit des 17. Jahrhunderts gilt John Locke (1632–1704). Nach seiner Staatstheorie bleibt der Staat stets von den Abstimmungen der Individuen abhängig und hat immer ihrem Nutzen und ihrer Sicherheit zu dienen. Der Staat ist nur mehr der ›Nachtwächter‹ der Individuen, wie ihn die Gegner Lockes nannten.6
Ähnliche Gesellschaftsauffassungen vertraten auch Hobbes (1588–1679) und Rousseau (1712–1778). Auch nach ihnen steht am Anfang das bindungslose Individuum, sei es, dass dieses mit allen ›Wolf spielt‹ und deshalb aus spielerischem Vorteil durch die Spielregel, nämlich den Gesellschaftsvertrag, etwas von seiner Freiheit hergibt, oder sei es, wie Rousseau meint, dass jedes Individuum nur sich selbst gehorcht und selbst der Abschluss eines Gesellschaftsvertrages diese Autonomie nur beweisen kann, weil jeder im Vertrag wieder nur sich selbst gehorcht und sich selbst begrenzt.
Allerdings hat der Individualismus auch noch unreifere Früchte gezeitigt: Denn einige Gesellschaftslehrer sahen die Anarchie als einziges Mittel zur Durchsetzung des Individualismus an. Diese stellten sie als ihr Ziel vor und suchten sie auch auf praktischem Wege zu erreichen (so u.a. Proudhon, Bakunin, Kropotkin).
Eine sehr bedeutende Wurzel des Individualismus aber ist schließlich neben Nominalismus und Rationalismus die mit dem Rationalismus eng verwandte Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts. Denn in ihr rückte die Vernunft, wie sie der Rationalismus entdeckt hatte, in das Rampenlicht des Interesses: Die allmächtige und alles erkennende Vernunft macht es überflüssig, dass eine absolutistische ›Finsterlingsherrschaft‹ besteht und macht es ebenso überflüssig, dass man einer religiösen Autorität Gehorsam leistet. Denn dieser Vernunft ist es unwürdig, von etwas außer ihr bestimmt zu werden; sie ist sich selbst Richtschnur und bestimmt auch das Wollen. Diese Verabsolutierung der menschlichen Vernunft warf aber ihre Schatten noch weiter: denn ist allein schon die Vernunft so erhaben, so gilt Gleiches auch für den ganzen Menschen. Dieser wurde zum letzten Blickpunkt, auf ihm ruhte unbegrenztes Vertrauen, er musste sich selbst genügen. Dass ein solches überragendes Wesen auch keine Offenbarung und keine Gnade oder auch keine gesellschaftliche Autorität braucht, nicht an sie gebunden sein kann, ist selbstverständlich. E. Rosenstock bezeichnete daher dieses aufgeklärte Humanitätsideal als ›die Ketzerei der letzten Jahrhunderte‹.
Fassen wir kurz zusammen, so zeigt sich folgendes Quellgebiet des individualistischen Liberalismus, der seine Wasser noch vielen nachfolgenden Gesellschaftslehren leihen wird (Kapitalismus und auch Sozialismus): die individualistische Freiheitsidee, die schon im Nominalismus sich abzeichnete; der Rationalismus, welcher die Stellung der Vernunft überbewertete, welche schließlich in der Aufklärung auf die Spitze getrieben wurde; die Aufklärung verband dazu diese verabsolutierte Vernunft mit einem diesseitigen Humanitätsideal.
Wir haben uns bisher auf höchster theoretischer Ebene bewegt und sind dem Wesen und den Wurzeln des Liberalismus nachgegangen. Doch der Liberalismus ist nicht bloß eine geistige Konstruktion, ein ›Kathedergewäsch‹7 geblieben: als reine Theorie hätte er nie besondere Bedeutung erlangt. Nun aber ist der Liberalismus alles eher als ein welt- und lebensfremdes Denken. Wir sind darauf schon bei der Behandlung des Wesens des Liberalismus gestoßen, wo wir feststellen mussten, dass der Liberalismus je nach Zeit und Ort in verschiedenen Gewändern auftritt.8 Er ist eben nicht als akademischer Begriff geprägt worden, sondern er stand als Kampfruf auf einem entrollten Banner, das dem Streit um die Freiheit vorangetragen wurde.9
Auch in Österreich erlangte der Liberalismus nach einem Stadium der Unwichtigkeit und Unbekanntheit eine wichtige politische Stellung. Er war um 1870 praktisch alleiniger Machtträger im politischen Geschehen. Der Weg bis dahin ist aber für den Liberalismus nicht immer leicht gewesen, sondern er musste manchen schweren Kampf bestehen gegen die alte, fest verwurzelte Ordnung.
Wir haben gesehen, dass es gerade die Gedanken der Aufklärung waren, welche den Vorstoß des Liberalismus vorbereitet hatten.
Die Gedanken nun fanden größte Verbreitung durch das Logenwesen, dessen Werdegang in der Gesellschaft des österreichischen Liberalismus nicht ohne Bedeutung ist und daher kurz gezeichnet werden soll.10 Die Geburtsstunde des Freimaurertums als weltweite Organisation hatte 1719 in England geschlagen, als Theophil Desagulier Großmeister der Großloge von London geworden war. Er war es, welcher die Loge mit dem Freimaurerbrevier versah, welches in zwei Teilen 1723 und 1738 erschien und 1741 auch ins Deutsche übertragen wurde. Weltanschaulich bewegte man sich zunächst auf dem Boden eines dogmenlosen Christentums, um mit den Protestanten eine gemeinsame Basis zu haben. Unter romanischem, besonders französischem Einfluss machte jedoch das Freimaurertum eine radikale Wendung gegen Kirche und Papsttum und strebte als Ziel die Weltdemokratie an.
Für die Entwicklung des Logenwesens in Österreich war die Mitgliedschaft des Herzogs Franz Stephan von Lothringen ausschlaggebend. Durch seine Mitgliedschaft bekamen die Brüder in Österreich viel Auftrieb, da Franz Stephan als Gemahl der Kaiserin Maria Theresia unter anderem die Veröffentlichung der Exkommunikationsbulle des Papstes Clemens II. ›In eminenti‹ vom 28. April 1728 zu verhindern wusste, welche ein tödlicher Schlag für das Logenwesen gewesen wäre. Im Jahre vorher war in Hamburg die vielleicht berühmteste Loge des deutschen Sprachraumes gegründet worden, die mit Friedrich dem Großen, Herder und Wieland, Goethe und Voß, Fichte, Chamisso, Freiligrath, Mozart und Mathias Claudius recht angesehene Mitglieder vereinigte. In Wien wurde die erste Loge am 17. September 1742 errichtet (›Zu den drei Kanonen‹). Von da ab blühte die Vereinigung der Maurer zusehends auf, bis die Jesuiten 1764 ein gesetzliches Verbot erreichen konnten, nachdem eine weitere Bulle (›Providas‹ vom 17. Mai 1751) mit der Androhung der Exkommunikation über die Freimaurer auch nicht seine Adressanten erreicht hatte. Doch hatte dieses gesetzliche Verbot kaum eine weitgehende Wirkung. Es brachte höchstens den Jesuiten noch mehr Unbeliebtheit, an der sie später scheitern sollten. Vielmehr stand das goldene Zeitalter der Logen in Österreich erst bevor und wurde durch die gesetzliche Anerkennung unter Joseph II. eingeleitet. 1784 gab es allein in Wien acht, in Österreich 45 Logen. Die Brüder waren es auch, welche an den ›Kirchlichen Reformen‹ Josephs mitgearbeitet haben. Joseph selbst schien freilich bald von den Freimaurern genug gehabt zu haben, denn das Freimaurerpatent vom 11. Dezember 1785 beschränkte die ›Gaukeley der Freimaurerei‹ auf die Hauptstädte und stellte sie unter Staatskontrolle.
Da das Freimaurertum auch eine rege Pressetätigkeit entfaltet hatte, wurde es zur Quelle des aufgeklärten Gedankengutes, das sich in den oberen Schichten breitzumachen begann und auf diese Weise den Boden des Liberalismus bereitete. Dieses Gedankengut beherrschte manche Gegenden so sehr, dass man z.B. heute noch vom ›Kärntner Freisinn‹ spricht, welcher sich in dieser Zeit ausgebildet hatte.11
Die Überbetonung der Vernunft war auch der Anlass dafür, dass das Freimaurertum schließlich auch in den wissenschaftlichen Sozialismus seinen Eingang fand und in politisch-sozialer Färbung im Proletariat an Boden gewinnen konnte. Mit dieser Parole des ›Wissens als Macht‹ übernahm der Sozialismus auch den Gedanken an die Weltdemokratie.
Wir haben weiter oben gesehen, dass die liberalen Brüder an der Reform des Kaisers Joseph mitgearbeitet hatten. Doch lag hier noch nicht der Liberalismus als politische Bewegung vor. Vielmehr wirkten bloß die liberalen Gedanken der Aufklärung, ohne noch den Ruf nach politischer Freiheit erhoben zu haben. Daran änderte in Österreich äußerlich auch jene Zeit nicht viel, in der die Wellen der französischen Revolution gegen den Absolutismus rollten. Erst als durch die Errichtung der Heiligen Allianz den durch die Freiheitskriege des Jahres 1809 erwachten Völkern durch Metternich ein neuer, harter Kurs auferlegt worden war, begann sich der Liberalismus vom Josephinismus zu scheiden und nahm gegen den Staat Stellung.
Zum ersten Mal brach dann im Jahre 1848 dieser politische Liberalismus mit allen Kräften los und konnte den schon morschen Absolutismus in der alten Metternich’schen Form im ersten Ansturm spielend nehmen. Doch war diesem Aufblühen nur eine kurze Zeit beschieden, denn die Reaktion der ›Schwarzgelben‹12 machte ihm bald wieder ein Ende. Es brauchte wieder Jahre des Kräftesammelns, bis endlich durch den Kampf gegen das Konkordat der letzte Widerstand der Krone und der Regierung gebrochen und der Liberalismus am Gipfel seiner Macht angelangt war.
Der Anlass zum Durchbruch des Liberalismus war die Wende in der österreichischen Kulturpolitik im Jahre 1861. In diesem Jahr hatte man nämlich über die Stellung der akatholischen Konfessionen zu beraten begonnen: aus dieser Debatte aber wurde ein Kampf gegen das stärkste Bollwerk gegen den Liberalismus, nämlich gegen die katholische Kirche.
Doch sollte dem Liberalismus die Macht nicht allzu lang in Händen bleiben. Ein Grund lag in dem, was man oft schon mit dem ›Dilemma des Liberalismus‹ und der Freiheitsidee bezeichnet hat:13 Es ist die Tatsache, dass die liberalen Parteien entgegen ihrem Namen den Grundsatz der Toleranz missachteten und in einem ›Rausche des Alleinbesitzes der Macht‹14 alle anderen Richtungen und Parteien von der Gleichberechtigung ausschlossen und in sehr illiberaler Weise bekämpften. Vor allem aber stellte sich der Liberalismus gegen den politischen Konservativismus, welcher ihm als eine höchst gefährliche Richtung erschien und welchen er mit allen Mitteln bekämpfen musste. Zu diesen politisch Konservativen zählte damals auch die katholische Kirche, welcher daher in der Presse besondere Aufmerksamkeit erwiesen wurde (dazu später noch mehr). Aber gerade dieser Kampf gegen die katholische Kirche wurde dem Liberalismus zum eigenen Grabe. Denn er erregte in den eigentlichen Volksmassen eine weitgehende Opposition. Besonders die bäuerlichen Kreise und auch die slawischen Provinzen konnte der Liberalismus nie für sich gegen die katholische Kirche gewinnen. Der Prozess gegen den Linzer Bischof Rudigier (1952–1884) war es zum Beispiel, welcher in Oberösterreich eine rege Volksbewegung gegen den Liberalismus entfacht hatte.15 Als erbittertster und gefährlichster Gegner jedoch erstand dem Liberalismus die Sozialdemokratie unter dem Banner von Karl Marx.
Der Sozialismus war es auch, der nach dem Niedergang des Liberalismus dessen geistiges Erbe antrat und in Österreich vor allem während der Ersten Republik sehr stark liberale Kulturpolitik betrieb. Es waren prophetische Worte, die Sebastian Brunner im Jahre 1848 den Liberalen entgegenrief: »Wenn nur ihr Reichen den Glauben an den gerechten Gott lächerlich findet, so werden die Proletarier bald den Glauben an euren gerechten Besitz zum Totlachen finden!«16
Besonders scharfe Auswirkungen zeitigte die Idee des Liberalismus im wirtschaftlichen Leben. Denn hier stellte er gegenüber den bisherigen Auffassungen von Gewerbe und Wirtschaft die oberste Maxime des wohlverstandenen Selbstinteresses auf, die besagt, dass das autonome Individuum auch auf wirtschaftlichem Gebiet in keiner Weise in seiner grenzenlosen Freiheit beschränkt werden dürfe. Es verbirgt sich auch dahinter wieder der Glaube an den perfekten Menschen, durch dessen moralische Kraft diese Selbstinteressen aufs Beste harmonieren würden.
Dieses Prinzip birgt in sich jedoch einen nicht unbedeutenden Fehler. Denn es werden in ihm Voraussetzungen gemacht, die in keinem Wirtschaftssystem eintreffen werden: Schon die anfängliche Startgleichheit aller an der Wirtschaft beteiligten ist eine Illusion. Weiter fehlt den meisten der Überblick über das, was im konkreten Fall ihr Selbstinteresse ist. Schließlich zeigt aber die Erfahrung, dass es gerade in der liberalistischen Wirtschaft an jener moralischen Kraft gebricht, welche für ein harmonisches Gedeihen der ›Wirtschaftsatome‹ erforderlich wäre.
Nur langsam konnte dieses Prinzip in der Wirtschaft Fuß fassen17. So glaubte Adam Smith noch an eine lenkende göttliche Allmacht, welche die an sich freien Individuen in den rechten Schranken hält: es sind dies die Schranken der Gerechtigkeit und des gentleman agreement. Riccardo ging schon weiter. Er und mit ihm die Manchesterschule für Nationalökonomie forderten als oberstes wirtschaftliches Prinzip schrankenlose Freiheit. Freier Markt und freier Wettbewerb müssten die ausschließlichen Ordnungsfaktoren der Wirtschaft darstellen. Denn diese reguliere sich selbst und dagegen habe auch der Staat nichts zu unternehmen. Er bleibe gleichsam nur das Spielfeld, auf dem das freie und wahllose, vom Selbstinteresse geleitete Treiben der Wirtschaft abrolle.
So sind die wesentlichsten Freiheitsforderungen des ökonomischen Liberalismus die Erwerbsfreiheit, welche Gewerbefreiheit, Freiheit der Berufswahl und Freizügigkeit umfasst; weiter die Vertragsfreiheit, vor allem die Freiheit beim Abschließen eines Arbeitsvertrages; die Freiheit über das Eigentum in dessen Verwendung, Veräußerung und Verschuldung, und schließlich die Vererbungsfreiheit. Sombart meint zum Wirtschaftssystem des Liberalismus ganz treffend, dass dieser ein System von subjektiven Rechten sei, denen keine Pflichten gegenüberstünden.
Seine verheerenden Folgen zeitigte diese Wirtschaftsauffassung vor allem in der Verbindung mit dem Kapitalismus. Denn der liberale Kapitalismus war es, der das soziale Elend des industriellen Zeitalters heraufbeschworen hatte und so Mitursache der Entfremdung zwischen Kirche und Arbeiterschaft geworden war. Über die soziale Not als Entfremdungsursache soll allerdings erst später im zweiten Abschnitt die Rede sein. Hier sollen nur andere Folgen der liberalistischen Wirtschaftstheorie für das Verhältnis zwischen Kirche und Arbeiterschaft behandelt werden.
Dem liberalistischen Wirtschaftssystem war geschichtlich die Ordnung der Wirtschaft durch die Zünfte vorausgegangen. Diese waren im 12. Jahrhundert entstanden und stellten Gewerbegenossenschaften der Handwerker dar; innerhalb der Stadtgemeinde bildeten sie zugleich eine militärische und politisch-verwaltungsmäßige Gliederung, nahmen fürsorgliche und religiöse Aufgaben wahr und waren einer eigenen Gerichtsbarkeit unterstellt. Oft waren die Zünfte aus religiösen Bruderschaften hervorgegangen. Der Zunftzwang bedeutete eine ganz unliberalistische Monopolisierung der einzelnen Gewerbezweige. Die Zunftverordnungen schrieben die Qualität der Waren, die Ausbildungsweise der Gesellen und Lehrlinge und deren Rechte und Pflichten vor und schützten die Zunftmitglieder vor unlauterem Wettbewerb. Das Zentrum der Zunft war das eigene Zunfthaus oder die sogenannte Gildenhalle.
Seit dem 14. Jahrhundert nahmen die Zünfte regen Anteil am politischen Leben der Städte. Seit der Ausdehnung der Landesherrschaft aber und dem Untergang der Selbstbestimmung der Städte hatten die Zünfte nur mehr gewerbepolizeiliche Funktionen.
Reformversuche vom 17. bis zum 19. Jahrhundert brachten keine neue Blüte.18 Als in Österreich der sich neu bildende Zentralstaat des 18. Jahrhunderts nach der Niederlage im Siebenjährigen Krieg Staatsgelder brauchte, konnte er diese nur von seinen Untertanen bekommen. Dazu musste aber auch auf der anderen Seite die Wirtschaft gefördert werden und dies sollte durch die Ausschaltung aller nicht zentralen Instanzen der Wirtschaft geschehen. So wurde den Zünften durch den Erlass der Gewerbefreiheit im Jahre 1859 der endgültige Todesstoß versetzt. Diese Gewerbefreiheit, die aus dem Streben des Staates nach Zentralisierung auf Grund seiner wirtschaftlichen und finanziellen Nöten geboren wurde – insofern stehen Finanzentwicklung und Staatenbildung im engsten Zusammenhang19 –, wurde freilich gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Kampf um eine soziale Neuordnung wieder eingeschränkt. Dies liegt jedoch bereits außer dem Gesichtskreis unserer Untersuchung.
Der wirtschaftliche Liberalismus hatte also nach einem Zwischenspiel des Merkantilismus, welcher diesem Absterben der Zünfte in keiner Weise entgegenarbeitete, die Zünfte verdrängt. Mit den Zünften aber wurde auch die christliche und religiöse Grundidee der Zünfte im wirtschaftlichen Bereich ausgeschaltet. Denn der neue Kurs in der Wirtschaft betonte als obersten Grundsatz die völlige Freiheit, auch die Freiheit und Eigenständigkeit der einzelnen Kultursachgebiete, damit aber endlich Unabhängigkeit der Wirtschaft von irgend welchen moralischen und unwirtschaftlichen Beschränkungen. Religion und Wirtschaft wurden zu eigenständigen Gebieten erklärt und jede Beziehung zueinander wurde ihnen abgesprochen. Diese Entwicklung begann schon im Aufklärungsstaat: in ihm sprach man zwar noch nicht von der Eigenständigkeit einzelner Kulturbereiche; sondern es wurden alle Gebiete in eine derartige Abhängigkeit vom Staate gebracht, dass sie untereinander keinerlei Beziehungen mehr unterhalten konnten. Alles besorgte der Staat. Dieser Staat wurde nun in der liberalistischen Wirtschaftslehre zum ›Nachtwächter‹ degradiert, ohne dass jedoch die Verbindung der bisher auf den Staat ausgerichteten und untereinander nicht in Beziehung stehenden Gebiete wieder aufgerichtet worden wäre.
Dieser Wandel erfasste nicht nur das Wirtschaftsgefüge selbst. Auch der Unternehmer machte in seinem wirtschaftlichen Ethos einen Wandel durch. Michel formuliert diesen Umstand etwa so, dass die vorindustrielle nationale und kirchliche Welt rasch abgebaut worden und an die Stelle der von dieser Welt geformten Persönlichkeit das reduzierte Ich in seiner Willkür, seinem Subjektivismus und seinem materiellen Gewinnstreben getreten sei.20
Die Entchristlichung der liberalen Wirtschaft wird besonders an Hand der Stellung der Sonn- und Feiertage deutlich. Schon im Jahre 1840 musste eine Kurrende der Erzdiözese Wien an alle Seelsorger an die Urgierung des Kirchengebotes der Heiligung der Sonn- und Feiertage erinnern: Nachdem festgestellt worden war, dass die Entheiligung der Sonn- und Feiertage allezeit ein sicheres Zeichen für den Verfall des religiösen Sinnes sei, fährt der Text der Kurrende fort: »… Mit Wehmut hat Seine fürstlichen Gnaden, der Hochwürdigste Herr Fürsterzbischof, erfahren, dass die Entheiligung der Sonn- und Feiertage, ohngeachtet der wiederholten Ermahnungen um sich greifet, indem Kaufläden geöffnet, Sand, Schotter, Ziegel und dergleichen geführet und Arbeiten öffentlich verrichtet werden«. Dann werden die Herren Pfarrer noch gemahnt, »wenn sie dergleichen Übertretungen wahrnehmen, dieselben gemäß der h. Regierungsverordnung vom 15. Februar 1833 der betreffenden Ortsobrigkeit … anzuzeigen«.21
Doch scheint sich durch diese Kurrende das Übel keineswegs gebessert zu haben. Denn in den Dekanatsvisitationsberichten von Klosterneuburg aus dem Jahre 1841 können wir folgendes lesen: »Infolge der sich immer breiter machenden Unordnung alles dessen, was die Religion vorschreibt, was Gottes und seiner Gerechtigkeit ist, unter das irdische Streben und Ringen nach zeitlichen Zwecken, ist, wie schon mit einigen Worten erwähnt wurde, auch die Entheiligung der Sonn- und Feiertage an der Tagesordnung. Schon viele der gewöhnlichen Handwerksleute, dann noch mehr die Wirths- und Kaufleute, am meisten aber die größeren und kleineren Inhaber der Drucker- und Färberfabriken und Werkstätten setzen sich und damit die Schar der in denselben arbeitenden Gehülfen und Kinder, ohne die mindeste Gewissensunruhe, mit schnöder Gleichgültigkeit, über das göttliche und kirchliche Geboth der Rueh von knechtlicher Arbeit und der Heiligung der Sonn- und Feiertage hinaus. Offenbar scheint es, ganz zu schweigen, dass die Religion den Menschen freilich nicht angezwungen werden kann, an der nöthigen, durchgreifenden Energie in der Handhabung der bestehenden polizeilichen Vorschriften von Seiten der Polizei oder der Herrschaftsbeamten, oder von beiden Seiten zugleich zu fehlen. Denn obschon von Zeit zu Zeit, wie schon erwähnt worden, die dießfalls bestehenden polizeilichen Vorschriften erneuert und einige Zeit etwas genauer gehandhabt wurden; so reißt doch, bei bald laxerer Handhabung, die vorige Ungebundenheit wieder ein …«22 Der Bericht des gleichen Dekanats über das Jahr 1845 stellt uns das Verhalten der liberalen Wirtschaftsherren noch deutlicher vor Augen: »Und wollte der Fabriksknabe dem Gottesdienste und dem Christenlehrunterricht an Sonn- und Feiertagen beiwohnen; er kann es nicht; denn da wird in der Regel gearbeitet und er muss mitarbeiten – nicht bloß inner der Mauern der Werkstätten, sondern ziemlich öffentlich, am Wienbache vor den Augen der Welt.« Und weiter unten fährt der Bericht fort: »… die Entheiligung (ist) unter gewissen Classen von Menschen beinahe an der Tagesordnung, die Inhaber der Druck-Fabriken und Werkstätten, die Färber, die Kauf- und Wirthsleute, die Kunstweber, sogar die Schotterfuhrleute u.f., besonders in den Fabriken und anderen Orten von der Mariahilfer Linie setzen sich … ohne die mindeste Gewissensunruhe … über die Sonntagsheiligung hinaus …«. Dass dies gerade bei den Fabrikbesitzern der Fall ist, welche vom neuen Wirtschaftsgeist besonders erfasst waren, weit mehr als andere Kreise, lässt sich, abgesehen von der ausdrücklichen Erwähnung solcher Personen, auch an der abschließenden Bemerkung des Berichtes zeigen, wo es heißt: »Doch wäre es allwegs so, dem Untergange wäre der ganze Bezirk gereift. Dem ist aber nicht so …«23
Ein noch negativeres Bild zeichnete der Professor der Theologie an der Universität Wien, Fesl, in der Zeitschrift für die gesamte katholische Theologie im Jahre 1852: »In einem katholischen Land ist es fast unmöglich, jeden Augenblick an religiöse Dinge, durch die äußeren Sinne selbst, nicht erinnert zu werden; allein die betrachtet man wie viele andere Mißbräuche am liebsten als veraltete sinnlose und darum lästige Förmlichkeiten, welchen ausgewichen wird; ohne Unterscheidung der Tage wird die gewohnte Arbeit, das Gewerbe, selbst das amtliche Wirken gedankenlos fortgesetzt. Das Frauenzimmer vertreibt die Zeit am Nähtisch, verschwätzt sie in der Visite; die Männer verbringen sie am Spieltisch, in den Gasthäusern, bei allerlei Belustigungen; Männer und Frauen ergötzen sich auf Spaziergängen, in ländlichen Ausflügen. Der Roman ersetzt das Gebetbuch, die politische Zeitung, die Stadtneuigkeiten geben den Stoff des unterhaltenden Gespräches. Der Markt des geräuschvollen, nach Gewinn und Genuß haschenden Lebens ist die ausschließliche Beschäftigung der Seele und füllt all ihre Bestrebungen, ihre Sehnsucht aus. Die Naturwissenschaften, die Industrie, das Geld, die vielseitige Befriedigung sinnlicher, stets verfeinerter Bedürfnisse haben den ehemaligen Ehrenplatz des Sittlichen, Religiösen und Kirchlichen ganz für sich eingenommen …«24 Dass aber gerade dieser geräuschvolle Markt es ist, dieses Streben nach Gewinn und Reichtum, welches die soziale Not im Gefolge mitführt, darauf verwies Kardinal Gruscha von Wien in seinem ersten Arbeiterhirtenbrief aus dem Jahr 1911 in einem geschichtlichen Rückblick: »Die beklagenswerten Zustände der Arbeiterklasse werden nicht von der katholischen Religion heraufbeschworen, daran sind stolze, unchristliche Lehrmeinungen schuld, welche sich der geoffenbarten Wahrheit gegenüberstellen und sich mit dem bestechenden Namen Humanität bekleidet, Eingang zu verschaffen wußten …«25
Doch nicht nur der wirtschaftliche Liberalismus hat durch seine äußere Blockierung des kirchlichen Lebens die Arbeiter von der Kirche entwöhnt. Vielmehr hat der Liberalismus überhaupt als mächtige geistige Strömung viel zu dieser Entfremdung beigetragen. Deshalb soll kurz die Stellung des Liberalismus zu allem Kirchlichen behandelt werden.
Bei der Betrachtung des Wesens des Liberalismus haben wir den Individualismus als den bestimmenden Hauptfaktor hervorgehoben. Der Liberalismus ist aber dadurch noch nicht voll gezeichnet, sondern er muss auch als Weltanschauung gesehen werden, zu der ihn besonders die Logenbrüder gemacht haben. Bevor auf einzelne Punkte des Verhältnisses zwischen Liberalismus und Kirche eingegangen wird, sollen zuvor noch skizzenhaft die Hauptzüge des weltanschaulichen Liberalismus dargestellt werden.
Ganz im Vordergrund steht das Weltbild der Diesseitigkeit.26 Dieses Weltbild gründet auf der aufgeklärten Humanitätsidee der Aufklärung, welche durch die vollkommenen Kräfte des autonomen Menschen eine harmonische Weltordnung zu erreichen meint. Zunächst wurde dabei noch an einem Schöpfergott festgehalten. Der Theismus stand somit durchaus am Beginn der Entwicklung. Je mehr aber die Eigenwirksamkeit der Dinge betont wurde, desto mehr wurde der alles leitende Schöpfergott in den Hintergrund geschoben: die Mitte der Bühne aber betrat der ›natürliche Mensch‹ mit seiner vergotteten Natur. Der deutsche Deismus, welcher an den englischen anknüpfte, war zunächst viel gemäßigter als der radikale französische. Denn dem Kampf, den Voltaire gegen die ›infame Kirche‹ führte, stand im deutschen Sprachraum eher der Toleranzgedanke gegenüber, den besonders Lessing im Nathan (1779) und neben ihm auch die Philosophen Leibnitz und Wolff vertraten. Auch Kant gehört in die Reihe dieser ausgeklärten Deisten (Was ist Aufklärung 1784, Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft 1793). Bald aber setzte sich auch in den deutschen Landen ein schärferer Wind durch und das im Jahre 1913 konfiszierte Buch von A. P. Kayser kann bezeugen, wie weit die Freimaurer – in diesem Falle in Kärnten – den Kampf gegen die kirchlichen Institutionen betrieben.27
Neben dem Deismus hat der Liberalismus als weltanschauliche Forderung die unbedingte Weltlichkeit aufgestellt. Religiöses Leben habe höchstens im privaten Leben des einzelnen Platz, eine öffentliche Sendung aber wird der Kirche abgeschrieben. ›Religion ist Privatsache‹, und auf diesem Grundsatz beruht die liberalistische Toleranz. Aus ihm zehrt aber auch der Kulturkampf gegen das Konkordat von 1855 und die durch dieses Konkordat rechtlich sehr gut gestellte Kirche, welcher die Emigration der Kirche aus den Fragen der Schule und Ehe zur Folge hatte. Das öffentliche Leben galt es nämlich mit allen Mitteln zu neutralisieren.
Über diese Verweltlichung führte 1906 Kardinal Gruscha in einem Hirtenbrief, den der gesamte Episkopat zeichnete, Klage. Er wies zunächst auf den Kampf der Geistlichkeit »gegen die schlimmen Ideen, die in unserer Zeit so zahlreich auftauchen« hin und sprach dann über die Verweltlichung, »die immer mehr alle menschlichen Verhältnisse durchdringt und die Blicke und Sorgen der Menschen ausschließlich auf die Bedingungen dieses irdischen Lebens hinzurichten trachtet. Das Übersinnliche und Übernatürliche sucht man gänzlich zu verdrängen und jede Erinnerung daran auszulöschen. Und damit glaubt man, die menschliche Gesellschaft zu dauernder Befriedigung und glücklichen Zuständen zu führen.«28
Wenn auch dieser Text aus dem Jahre 1906 stammt, so sah doch Gruscha schon 1848 diese Verweltlichung und Entchristlichung. So schrieb er im November 1848 in der Wiener Kirchenzeitung, dass durch die Entchristlichung das Volk in das erste Stadium seines politischen Auflösungsprozesses eintrete. »Gott oder nicht Gott« sei die Losung dieser ungeheuren Geisterschlacht, die zu schlagen man sich anschicke.29
Auch Professor Fesl gab den politischen Pessimisten recht, die hinter dieser Abwendung vom christlichen Ethos die Auflösung der Gesellschaft heraufsteigen sahen: »Nicht verargen kann man es den Kummervollen«, schrieb er im schon erwähnten Aufsatz, »wenn sie beim Anblick dieses täglich sich steigernden Hasses gegen die Priesterschaft, dieser Verachtung der kirchlichen Anstalten, dieser Gleichgültigkeit gegen die religiösen Wahrheiten und Gebote, endlich bei dieser Umkehrung und Verwerfung der sittlichen Obliegenheiten selbst die entmutigende Ahnung hegen, dass unsere Zeit einer völligen Auflösung der Gesellschaft entgegeneile, und dass man auch bei den einzelnen günstigen Wendungen dieser Dinge auf keine Dauer, auf keine Festigung unserer Zustände rechnen dürfe.«30
Wir haben bisher die zwei Hauptpunkte der Gegensätzlichkeit zwischen dem weltanschaulichen Liberalismus und der Kirche ins Auge gefasst. Es sind dies der »Abfall« zum Deismus und die völlige Diesseitsorientierung, welche die Verdrängung der Kirche aus dem öffentlichen Leben bedingte. Religion sei und dürfe nicht mehr sein als eine Privatsache. Gerade zu dieser Parole hat übrigens Kardinal Gruscha sehr dialektisch gemeint: »Ist, wie eine zerstörende Partei als Losungswort ausgegeben, die ›Religion Privatsache‹, – gut – so wollen wir sie als Privatsache auch gelten lassen, in dem Sinne gelten lassen, dass bei jedem einzelnen, in jeder einzelnen Familie, für jede Mutter und jeden Vater, wie für alle, die an den Kindern Vater- und Mutterstelle vertreten, die Religion die Hauptaufgabe der Erziehung bildet; und gewiss, wenn wir die Religion in diesem Sinne als Privatsache ernst auffassen und üben, wird sie auch öffentliche Sache, Angelegenheit der ganzen Gesellschaft sein und bleiben.«31 Doch gerade das wollte der Liberalismus nicht.
Diesem Ausschluss der Kirche aus der Öffentlichkeit suchte der Liberalismus mit allen zu Gebote stehenden Mitteln zu erreichen. Vor allem wurde die Tradition der Aufklärung fortgesetzt, die die Kirche als ›Volksverdummungsanstalt‹ brandmarkte und daher für sie im Zeitalter der Vernunft keine Existenzberechtigung sah. Dieses Gedankengut hat der wortgewaltige Redakteur der Wiener Kirchenzeitung Sebastian Brunner sehr treffend charakterisiert. Er schrieb im Gründungsjahr dieses Blattes, nämlich im Oktober 1848 zu einer Zeit, als die aufgeklärten Gedanken sich im revolutionierenden Pöbel breitmachten, über die ›Grenzen der sogenannten Aufklärung‹: »Die engsten Grenzen sind: Derjenige, welcher den Namen eines Aufgeklärten verdienen will, darf keinen gewissen Glauben haben, er muss dem Zweifel anheimgefallen sein, er muss den Hochmut haben, über Gott und Ewigkeit, Himmel und Hölle, Tod und Gericht Witze zu reißen und darüber anzuhören, ohne dagegen eine Einwendung zu machen. Die äußersten Grenzen aber, oder das folgerichtige Ende dieser Aufklärung besteht im fertigen Unglauben, in völliger Verläugnung (sic!) eines persönlichen Gottes, wie der persönlichen Unsterblichkeit des Menschen. Wer damit nicht einverstanden ist, der wird zur Klasse der Verdummer oder Verdummten gezählt, und ist er ein Geistlicher, sei er Katholik oder ein positivgläubiger Protestant, so wird er der ›Volksverdummung‹ beschuldigt.« Damit hat Brunner die Grenzen angegeben. Nun fährt er mit der Beschreibung des wahren Aufgeklärten in noch schärferer Formulierung fort: »Die wahren Aufgeklärten sind nun diejenigen, die gar keinen Glauben haben, die mit ihren Interessen nur die Diesseits, hier auf Erden wurzeln, und die auch in anderen den Glauben an Gott, Jenseits und Erlösung mit der Wurzel auszureißen suchen, und das sind die religiösen Radikalen. Wer von Glaube, Hoffnung und Liebe, von der Erbsünde und vom Gottessohn Jesus Christus, oder von der dreieinigen Wesensentfaltung Gottes redet, der ist ein Dummkopf, Pfaffe oder Pfaffenknecht«.32
Dieser kämpferische Typ, der ›religiöse Radikale‹ war vor allem bei den Freimaurern zu finden, die mit den Logen der romanischen Länder in Verbindung standen. Bei den deutschen Brüdern standen jedoch die Toleranz, das rein rationalistische Denken und die religiöse Gleichgültigkeit im Vordergrund. Der spätere Kardinal Gruscha urteilte 1857 in einer Ansprache folgendermaßen über die Logen: »Die Freimaurerei (ist) eine Propaganda des Glaubensindifferentismus, die unter der heuchlerischen Maske der Humanität Tausende in ihr Netz lockt, die sich aber den Zweck gesetzt hat, die katholische Kirche als die positive Grundlage aller göttlichen und menschlichen Autorität auf Erden zu zerstören, und die Fundamente des sozialen Lebens nach einem klug und consequent durchgeführten Plane zu untergraben«.33 Zu diesem Plane gehörte der Antiklerikalismus, welcher zum Teil auch schon vor der Aufklärung vorhanden war, in ihr aber neue Formen ausbildete; denn nun setzten heftige Angriffe gegen die Institutionen der Kirche und gegen den Klerus ein.
Selbst vor Bühnen und anderen öffentlichen Kommunikationsmitteln machten Hohn und Spott nicht halt.34 Der Liberalismus nun übernahm diese Einstellung und durch ihn auch die Freidenkerbewegung, durch welche wiederum diese Haltung in die Sozialdemokratie Eingang fand.
Wir haben bei der Skizzierung der Geschichte des politischen Liberalismus gesehen, dass sich dieser im Gründungsjahr der Heiligen Allianz vom Josephinismus abzweigte. Denn man sah in dieser Vereinigung des absolutistischen Herrscher nur ein Mittel, die erwachten freiheitlichen Bestrebungen unterdrücken zu können, damit es nicht zu einer Wiederholung der französischen Revolution in anderen Ländern käme. Im Zusammenhang mit der Opposition gegen den absolutistischen Staat erstand jetzt auch eine starke Opposition gegen die mit dem Staat eng verbundene Kirche der josephinischen Ära. In dieser Zeit wurde für die Staatstreuen die Bezeichnung ›Reaktionäre‹ geschaffen, mit welcher man auch später die Kirche treffen wollte.
Zwar proklamierte der Liberalismus die politische Freiheit als obersten Grundsatz. Dennoch »begannen bereits die damaligen Politiker, die Liberalen unseligen Andenkens, die Dummheit der Kirchenhetze statt der Ausbildung freiheitlicher politischer Einrichtungen«.35
Der Liberalismus »war eben einmal auf religiösem Gebiete zum Atheismus gekommen, zur Kirchenverfolgung im weiteren Sinne und zeigte seinen Pferdefuß. Für Gott und Christus einzustehen, erlaubt die schrankenlose Freiheit bekanntlich bis heute nicht« – das sind Worte, die der bedeutende Moralist und Sozialpolitiker Josef Scheicher im Jahre 1884 niederschrieb.36
Dass die durch die Revolution im Jahre 1848 freigewordene, aber durchaus noch nicht vom Staate getrennte Kirche unter diesem Kampfe sehr litt, zeigt eine Bittadresse, welche die im Jahr 1867 zu Wien versammelten Erzbischöfe und Bischöfe an ›Seine k. k. apostolische Majestät‹ richteten: »Allergnädigster Herr! Österreich steht vor Fragen, welche sich nicht vertagen lassen und deren glückliche Lösung von maßgebender Wichtigkeit ist.37 … Dennoch findet sich eine Partei, welche die Zeit des Dranges auserwählt, um die Religion, zu welcher Eure Majestät, Ihr erlauchtes Haus und eine Mehrzahl der Bevölkerung sich bekennt, zum Gegenstand ihrer Angriffe zu machen. Wohl mögen von Jenen (sic), welche in den Vorderreihen stehen, nur wenige die ganze Tragweite ihrer Bestrebungen kennen, doch wenn dieß (sic) ihnen zur Entschuldigung gereicht, so wird doch in der Sache nichts geändert«.38
Trotz dieses kirchlichen Hilferufes erlangten aber die Liberalen ihren entscheidenden Sieg, indem sie das Konkordat zu Fall brachten und so der Kirche einen Schlag versetzen konnten, der so bedeutend war, dass die Bischöfe 1926 noch resigniert feststellten, dass dieses Verdrängt-Werden aus der Öffentlichkeit auch auf sozialem Gebiet schwerwiegende Folgen gezeitigt habe: »Bei dieser wirtschaftlichen Entwicklung39 wurde die Kirche nicht gehört. Sie war damals, als dies alles einsetzte, aus der Öffentlichkeit verdrängt und der Geringschätzung preisgegeben. Die ungläubige Gesellschaft hatte über sie das Todesurteil gesprochen.«40
Diese Feststellung der Bischöfe betrifft hauptsächlich die Anfänge des Industrialismus. Denn als die Sozialtätigkeit katholischer Männer41 begann, wurde dem Liberalismus auf diesem Gebiet der Einfluss der Kirche unangenehm. Dabei war dies ein Gebiet, welches dem Liberalismus artfremd ist und er deshalb bisher tunlichst gemieden hatte. Er konnte aus Prinzip nichts tun, war ihm doch schrankenlose Freiheit die oberste Norm und musste so die Initiative auf diesem Gebiet anderen Parteien überlassen. Da aber gerade dieses Gebiet über die Macht entscheiden sollte, kam der Liberalismus hier zu Fall. Noch zur Zeit der höchsten Macht sprach ein liberaler Politiker in der Ministerratssitzung vom 20. November 1869 die Befürchtung aus, dass für den Liberalismus von der auf allen anderen Gebieten ausgeschalteten Kirche eben von der sozialen Seite her neue Gefahr drohe. Im Bericht über diese Sitzung heißt es: »Der Vorsitzende Sektionschef Banhans leitete sodann eine Diskussion über die Errichtung von Arbeiterwohnungen, zunächst in Wien, ein. Es sei notwendig, die Unternehmung der Sorge für die Arbeiterwohnungen in verlässliche Hände zu bringen. Gegenwärtig haben sich nur Leute der klerikalen Richtung dieser Sache angenommen, und dieser Umstand sei gefährlich.«42
Zusammenfassend können wir also sagen: der aufgeklärte Liberalismus sah in der Kirche eine überholte weltanschauliche Fixierung. Daher suchte er sie auszuschalten. Danach strebte er als ökonomischer Liberalismus, weil er, wie Scheicher sagte, »durchaus materiell angelegt, ohne Geistesschwung über er Materie (ist und) im Grunde jede Kirche, jede Confession haßt, weil er sie nicht versteht, nicht verstehen kann«.43 Und er strebt danach als politischer Liberalismus, weil die Kirche der Verwirklichung der liberalistischen Ideen ein Hindernis bedeutete.
Am 14. März 1848 konnten die Wiener von den Mauern der Stadt folgenden Anschlag lesen: «Seine k. k. apostolische Majestät haben die Aufhebung der Censur und die alsbaldige Veröffentlichung eines Preßgesetzes allergnädigst zu beschließen geruht. Wien am 14. März, Joh. Talatzko, Frhr. v. Gestielicz, k. k. Nieder-Österr. Regierungs-Präsident«.44 Mit diesem Erlass war dem alteingesessenen und sehr unbeliebten Zensurwesen des Metternich’schen Systems unter Sedlnitzky ein Ende gesetzt worden. Schon unter Kaiser Joseph II. war 1781 eine ›erweiterte Preßfreiheit‹ erreicht worden. Diese Erweiterung hatte eine Springflut von Broschüren zur Folge, die aber von jener des Jahres 1848 noch weit in den Schatten gestellt wurde. Dennoch war 1781 für die Entwicklung des Antiklerikalismus in Österreich nicht ohne Bedeutung geblieben.45 Diese Broschüren beschäftigen sich nämlich in großem Ausmaße mit der josephinischen Kirchenreform, kritisierten die Predigten der Geistlichen und bekämpften den Jesuitenorden. Der Ton war damals schon rüde und witzelnd, jener des Jahres 1848 aber stand ihm – wie wir noch an einigen Beispielen sehen werden – in keiner Weise nach. Besonders die beiden Exjesuiten Michael Denis und Alois Blumauer aus Steyr taten sich besonders hervor.
Diese erweiterte »Preßfreiheit« von 1781 war aber dem reaktionären Metternich’schen System wieder zum Opfer gefallen und erst die Revolution von 1848 konnte sie wieder erzwingen. Weil man aber für diese unbeschränkte Freiheit noch nicht reif war und es zu krasse Auswüchse gab, wurde die in der Märzverfassung des Jahres 1849 verankerte Freiheit der Meinungsäußerung46 schon eine Woche später durch das sogenannte Repressivgesetz wieder eingeschränkt. Endlich führte der Neoabsolutismus am 6. Juli 1851 wieder das System der Verwarnung durch die politische Behörde ein. Der Zeitungsstempel, ohne den keine Zeitung vertrieben werden durfte, war lange Zeit das Zeichen dieser staatlichen Kontrolle über das Zeitungswesen und fiel erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts weg. Das Repressivgesetz wurde allerdings schon zur Zeit des Hochliberalismus am 15. Oktober 1868 wieder beseitigt.
Kehren wir aber wieder zu 1848 zurück. Dieses Jahr ist in der Geschichte des Zeitungswesens einzigartig. Denn in diesem Jahre entstand eine ungeheure Anzahl von Zeitschriften und Broschüren. Aber auch für die Untersuchung der Antikirchlichkeit ist gerade diese Zeitspanne zwischen der Proklamation der »Preßfreiheit« im März 1848 und seiner neuerlichen Einschränkung durch das Repressivgesetz im März 1849 von weittragender Bedeutung. Man bediente sich nämlich in dieser Zeit einer derartigen offenen Sprache, die oft bis zur realistischen Derbheit hinüberreicht und sich kein Blatt vor den Mund nimmt. So können aus den Schriften dieser Zeit bedeutsame Anhaltspunkte für das Verhältnis der liberalen Revolutionäre zur Kirche gewonnen werden. Daher ist die Flugschriftensammlung, die das Erzbischöfliche Ordinariatsarchiv in Wien in einem einzig dastehenden Umfange besitzt – nicht einmal die Österreichische Nationalbibliothek kann eine solche Fülle aufweisen – eine wahre Fundgrube.