Inhaltsverzeichnis
EINBEGLEITUNG
SEHNSUCHT - EIN SPIRITUELLER ESSAY
Ursehnen
Vertröstung aufs Diesseits
Die Weite suchen
Copyright
EINBEGLEITUNG
Die Welt wird weltanschaulich immer bunter. Neben den großen Weltreligionen (Juden, Muslime, Christen, Buddhisten, Hinduisten, Taoisten) finden wir spirituell unbehauste Pilger, aber auch friedliche wie aggressive Neoatheisten und Wissenschaftsgläubige. Alle haben sie ein großes Anliegen: die Entfaltung der Welt und darin des Menschen. Sie streben auf dem Boden ihres »Glaubens« nach Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung des Oikos, den die Glaubenden Schöpfung nennen. Gott ist ein Gott aller dieser Menschen: Er ist auch ein Gott der Atheisten, von denen nicht wenige wissen, dass sie einen Gott leugnen, den es Gott sei Dank gar nicht gibt. Aber selbst die Atheisten, die heute auf Autobussen den Glaubenden zurufen, dass es möglicherweise gar keinen Gott gebe und sie daher doch endlich anfangen sollten, das Leben zu genießen (als ob das Leben in den Gaskammern des gottlosen Nationalsozialismus und im stalinistischen GULAG so bekömmlich gewesen war und das Leben im barocken katholischen Wien so lebensfeindlich!), kommen nicht herum, in ihrem Logo »Atheisten« an Gott zu erinnern. Allein dass es dieses unauslotbare Wort Gott gibt, irritiert.
Und dann verstehen sich die christlichen Kirchen als Gottes Kollaborateure auf Erden. Möge im Kraftfeld Gottes doch der Mensch aufkommen, statt verstrickt in seiner dunklen Geschichte des Mordes und der Lüge umzukommen! Dein Reich komme, beten die Christen einmütig und versuchen, ihm wenigstens spurenhaft auf dem Boden ihrer Gemeinschaften Raum zu geben und so die Welt zu vermenschlichen: mit welch halbherzigem Erfolg, Gott sei’s geklagt!
Aber die Kirchen verstehen sich längst nicht mehr exklusiv: als wäre den Getauften allein Heil gewährt. Als würden nur sie gerettet werden und in der dritten Geburt des Todes allein sie hineingeboren werden in die vollendete Schöpfung, von der der auferstandene Menschensohn Jesus Christus der Erstgeborene ist. Wenn Gott ein Gott aller Menschen ist, dann ist auch die Kirche eine Kirche aller - auch der Atheisten.
Das mag nach Vereinnahmung klingen, ist es aber nicht. Der Vorwurf, den der eine große Theologe des letzten Jahrhunderts Hans Urs von Balthasar dem anderen großen Theologen Karl Rahner machte, dass nämlich das Bild von den anonymen Christen ein unverschämter Übergriff in die Freiheit der Anderen sei, ist vom Tisch. Hans Urs von Balthasar hat ja nicht die Sache kritisiert, sondern das Bildwort. Er hat sich anders und wie ich finde besser ausgedrückt: Alle Menschen reifen in das Heil hinein, kraft des Wirkens des Heiligen Geistes, der weht, wo er will - natürlich auch in den Kirchen, aber nicht nur da - oder manchmal da ziemlich leise. Erkennbar ist dieses Geistwirken und die Wandlung, die der Geist herabgerufen immer bewirkt, daran, dass jemand eine wahrhaft Liebende wird, ein wahrhaft Liebender. Hier ereignet sich das Ausreifen eines Menschen in die vollendete Gestalt hinein. Das kann ja auch nicht anders sein: Wenn Gott in sich ein Tanz der Liebe ist (dreifaltig sagen wir theologisch spröde dazu), dann ist alles, was er gebiert (so Meister Eckhart) Liebe. Und die einzige Aufgabe des Menschen in einem langen oder kurzen Leben besteht darin, dass er wird, was er ist: Liebe, Hingabe, Solidarität: und das nicht nur zu jenen, die einen auch lieben, sondern gerade zu den Fremden und den Armen der einen Welt. Dass diese Liebe, die dem Menschen im Lauf seines Lebens aus dem göttlichen Ursprung einfließt, universell ist, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass wir Christen, monotheistisch, eben glauben: Wenn nur ein Gott ist, dann ist jede und jeder einer von uns. Der Glaube an den einen Gott schafft daher nicht intolerante Gewalt (so der Ägyptologe Assmann und mit ihm viele andere trotz inzwischen ausreichender Widerlegung), sondern universelle Liebe.
Das ist daher das erste edle Projekt der christlichen Kirchen: so mit allen Menschen solidarisch zu sein, dass sie in der Liebe wachsen können. Wie kann das alle beflügeln, die mit hoher Fachkundigkeit im Namen der Kirche in Krankenhäusern, Altenheimen, Kindergärten, Schulen tätig sind? Vermeintlich machen sie etwas Profanes, wenn sie Menschen bilden, tragen und stützen. Aber in der Sache wirken sie am Heil dieser Menschen mit - in atheistischem Modus, wenn es erlaubt ist, so zu sprechen.
Freilich: Den christlichen Kirchen ist zudem anvertraut, so Balthasar, das Verhüllte zu enthüllen: also offenbar zu machen, was ihr als Kirche Gottes geoffenbart ist. Hier ist das zweite edle Projekt der christlichen Kirchen. Das Enthüllen geschieht heute längst nicht mehr gewaltförmig, wie das auch aus Heilsangst jahrhundertelang passiert ist - und das mit dem tragischen »Erfolg«, dass dort, wo Menschen gewaltsam zu Christen wurden, das Christentum heute am schnellsten verdunstet - also vor allem in den Gebieten der nicht sehr zimperlichen Gegenreformation. Aber auch die protestantischen Herrscher waren nicht feinfühliger, wenn es darum ging, die eigene Herrschaft dadurch zu sichern, dass das Volk zum eigenen Glauben gebracht wurde: notfalls durch konkrete Ausweisung ins Jenseits und etwas später, als die Toleranz langsam um sich griff, durch Ausweisung. Heute herrscht verbriefte Religionsfreiheit, zumindest in jenen Weltregionen, in denen die Christen das gesellschaftliche Leben nachhaltig mitgestalten und diese sich an die Weisungen des Zweiten Vatikanischen Konzils halten. Gewalt und Gott vertragen sich nicht, so die zentrale Botschaft der Rede von Benedikt XVI. in Regensburg. Daher kann Mission heute nur geschehen durch glaubhaftes Vorleben, in christlichen Gemeinschaften und Gemeinden. Sie ist verwiesen darauf, dass uns die Menschen Fragen stellen, bei deren Beantwortung wir als Glaubende Rechenschaft geben von der Hoffnung, die in uns ist. Vielleicht ist es uns auch erlaubt, andere Fragen zu stellen: eine pastorale Praxis, der sich Gott im Paradies schon bedient hat: »Adam, wo bist Du?«, »Kain, wo ist dein Bruder Abel?« Die in diesem Buch vorgelegten Texte atmen den Geist der Weite des christlichen Glaubens. Sie sind auch nicht primär an die unerschütterlich Glaubenden gerichtet, sondern eher an die skeptischen Zeitgenossen - und da nicht nur die Frommen. Das Gespräch wird mit allen gesucht. Ob es angeknüpft werden wird? Der Titel lautet »Christenmut«. Das ist in erster Linie gesellschaftlich gemeint. Im Zuge der Privatisierung des Glaubens haben wir Christen eine seltsame »Bekenntnisscheu« (Renate Köcher) entwickelt. Selbst ehrenamtlich Mitwirkende in der Kirche fühlen eine Art Scheu, von ihrem Dienst öffentlich zu erzählen. Am liebsten ist es ihnen, wenn nicht wahrgenommen wird, dass sie Christen sind und gar in der Kirche mitwirken. Damit steht auch im Zusammenhang, dass »Mission« bis in die Kernschichten der Kirche hinein einen negativen Klang besitzt. Der Vorwurf ist in innerkirchlichen Debatten schnell bei der Hand, man betreibe lediglich eine Art »Selbstrekrutierung« der Kirche. Dahinter steht der Vorwurf, dass es bei pastoralen Bemühungen eher darum geht, (zahlende) Mitglieder zu gewinnen, statt bestrebt zu sein, dass das Evangelium in der Kultur und in den Lebensgeschichten der nächsten Generation eingepflanzt wird - und das einzig mit den Ziel, dass dabei die Menschen werden, was sie sind: Liebende. Wenn dann jemand auf diesem Weg seines persönlichen Heils den Ruf Gottes vernimmt, Gott beanspruche (das meint wirklich an-sprechen, be-rufen) sie oder ihn, sich seinem Volk »hinzufügen« zu lassen, damit dieses leben und wirken kann: Dann ist das ein höchst freier Vorgang, den eine Kirche begleiten, aber nie ernötigen kann, selbst wenn sie wollte.
»Christenmut« kann aber noch eine andere Färbung bekommen. Dann dreht es sich um die Courage, innerhalb der eigenen Kirche sich zu Wort zu melden. Das wird in nicht seltenen Fällen ein Wort der Kritik sein. Stets war ich der Meinung, dass solche Kritik einer der ernsthaftesten Dienste an der eigenen Kirche wie an Schwesterkirchen ist. Vor allem dann ist dies der Fall, wenn die Kritik aus einer Grundloyalität heraus erwächst. Die Themen der Kritik ergeben sich zumeist von zwei Seiten: Entweder ist die Kirche zu wenig jesuanisch oder zu wenig zeitnah. Das eine Mal wird Kirchenreform verlangt von innen, vom unveräußerbaren Auftrag Jesu an seine Kirche; das andere Mal wirbt Gott um Erneuerung über die »Zeichen der Zeit«, in die er uns hineingestellt hat. Schon der Prophet Jeremia geißelt im 29. Kapitel jene falschen Propheten, die dem Volk nostalgisch die Heimkehr in die Lieblichkeit und Einfachheit des Lebens in Jerusalem wünschten. Anders der wahre Prophet im Namen Gottes: Sie sollten sich um das Wohl jener Stadt kümmern, in die er sie hinweggeführt hat. Ist eine christliche Kirche nicht immer eine Hinweggeführte, eine Hineingestellte - also eine Gemeinschaft, die sich nicht aussucht, für wen Gott sie beansprucht? Es war und ist meine feste Überzeugung nach langem Wirken als Pastoraltheologe, dass eine solche Überprüfung der Kirchenund Christenpraxis auf Jesusgemäßheit und Zeitgerechtigkeit zum Urgeschäft dieser theologischen Disziplin gehört. Damit ist sie auch von Haus aus loyaler Kritik oder kritischer Loyalität verpflichtet. Schweigt dieses Fach angepasst, verrät es seinen unverzichtbaren Dienst. Natürlich sind Kritiker nicht beliebt. Sie stören den harmoniegesteuerten Betrieb. Sie beunruhigen, zwingen zum Nachdenken, fordern zur Kurskorrektur auf. Sehr erfolgreich ist das gerade heute nicht. Umso mehr braucht es heute solchen Christenmut. Und ich hoffe, dieser ist in dem vorliegenden Buch immer wieder zu spüren.
Wien, im Februar 2010
Paul M. Zulehner
SEHNSUCHT
EIN SPIRITUELLER ESSAY
Keine Angst: Es folgt kein wissenschaftlicher Grundlagenbeitrag. Auch kein Ratgeber, weder für Süchtige noch für solche, die sie therapieren. Sie lesen vielmehr spielerisch entworfene Mutmaßungen, eine Art spiritueller Essay. Er erhebt keinerlei Anspruch auf allgemeine Gültigkeit. Vielleicht treffen die vorgetragenen Gedanken nur für mich selbst zu und offenbaren mehr über mich, als sie für andere hilfreich sind. Doch könnte es durchaus sein (ein wenig erhoffe ich es sogar), dass dieser Beitrag auch bei anderen etwas zum Schwingen bringt.
Ursehnen
Der französische Psychotherapeut Jacques Lacan hat es mir mit seiner Definition des Menschen schon vor Jahren angetan. Zwei Wörter der gerade bei diesem Thema so wohltuenden französischen Sprache bemüht er, um das unauslotbare Geheimnis des Menschen einzufangen: désir und manque. Désir meint Sehnen, Auslangen, Aussein. Das deutsche Wort Sehnsucht klingt dagegen viel dunkler. Das Wort désir ist musisch, tänzerisch und bedächtig in einem, macht den Menschen zu einer Melodie der »leise flehenden Lieder« (Franz Schubert), klingt wieder in »Schöne Nacht, du Liebesnacht« (Jacques Offenbach) und tönt selbst aus dem leidvollen »Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide« (noch einmal Franz Schubert in der Vertonung des Liedes der Mignon von Johann Wolfgang von Goethe). Vielleicht sind Poesie und Musik (neben der Religion) die besten Kundschafter dieses désir und können es auch in Annäherung zum Ausdruck bringen. Ein Grundmerkmal des désir ist, dass es nicht in die Raumzeit passt. Es ist ohne Maß. Ihm eignet Ewigkeit und Unendlichkeit. Ständig ufert es aus.
Für Lacan hat das zur Folge, dass das helle désir durch ein zu erleidendes manque stets verschattet ist: die Entbehrung, das Unerfülltbleiben. Wer kennt nicht solche Erfahrungen: Die Lebensrechnungen bleiben letztlich offen. Jede und jeder ist auf mehr aus, als stattfindet. Wir leben mit einem ständigen utopischen Überschuss an Träumen und Wünschen. Der Theologe Karl Rahner benennt solche Erfahrungen und deutet sie kühn als »Erfahrungen der Gnade«.1
Die christlichen Theologen haben für diese doppelgesichtige Erfahrung des désir und seines es ständig begleitenden manque eine alte biblische Deutung zur Hand. Maßlos ist das Sehnen des menschlichen Herzens, weil es von seiner Grundorientierung an seinem Ursprung kündet. Seine Herkunft aus einem Lebensquell wird erinnert, der in der Menschheitsgeschichte mit dem Namen Gottes belegt worden ist. Ein jüdischer Theologe, nicht so sprachschüchtern wie unsere postaufgeklärte Theologie, redet unbekümmert von einer Sehnsucht des maßlosen Gottes nach dem Menschen, die sich in der maßlosen Sehnsucht des Menschen nach Gott widerspiegelt. Dass also das désir in unserer Lebenserfahrung immer unerfüllt bleibt und unter dem manque leidet (es ist letztlich ein Leiden an der Endlichkeit angesichts der verkosteten Unendlichkeit des désir): Könnte dies gar eine charmante Art Gottes sein, sich bei uns Gottvergessenen in Erinnerung zu halten?
Es gibt freilich auch Versuche, diese Ratlosigkeiten »atheistisch« aufzulösen. Mit Erfolg? Henri Lefebvre, französischer marxistischer Soziologe, Intellektueller und Philosoph, verwies in seiner Kritik des Alltagslebens (1955) auf jene Momente, die (vereinzelt und selten) ins Leben eingestreut »vorkommen«, also in diesem gleichsam auftauchen, ohne herbeigezwungen werden zu können. Diese Momente ließen sich auch Feste nennen. Er zählt dazu gute Arbeit, die Liebe, das Erkennen, das Spiel. Typisch für sie sei, dass sie aus der Raumzeit herausragen. Sie sind eine Erfahrung von Tiefe und Intensität, von Leben pur. Den Menschen, dem sie zufallen, ergreifen sie so sehr, dass er Hütten bauen will auf dem Berg der Verklärung. »Werd ich zum Augenblicke sagen, verweile doch, du bist so schön« (so Johann Wolfgang von Goethe im Faust), dann ist mir ein solches Lebensfest widerfahren. Aber, so sagen Lefebvre wie Lacan: Die Momente »scheitern«. Der Mensch muss vom Berg der Verklärung herab in die Niederung seines Alltagslebens. Aber die in diesen versöhnten Alltag eingestreuten Momente erhalten ihn lebendig: Indem er sich an diese Feste zurückerinnert, sehnt er sich nach neuen Festen.
Von Lefebvre können die Gottesanhänger lernen. Denn der Atheist hat nichts in der Hand als dieses Leben. Er ist nicht in Gefahr, die Welt als Ort der Enttäuschung einer Gottessehnsucht zu verachten und womöglich die eingestreuten Erfahrungen in Liebe, Arbeit, Erkennen und Spiel »abzutöten«, damit diese Gottessehnsucht nur ja ihr Ziel nicht verfehlt. Aber könnte nicht auch derjenige, der Gott nicht gläubig herglaubt, sondern »religiös unmusikalisch« wegglaubt, vom Gottesanhänger lernen, dass selbst die Erfahrungen der Liebe, der Arbeit, des Erkennens und des Spiels nur Ahnungen sind von einem Leben, das aussteht, also Spuren eines in dieses Leben schon hereinragenden Himmels?
Vertröstung aufs Diesseits
Lefebvre scheint aber dem Lebensdesign der Mehrheit der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen mehr zu entsprechen als die Poesie des Königs David, der auf einer Wallfahrt in den Tempel dichtete: »Gott, du mein Gott, dich suche ich, meine Seele dürstet nach dir!« (Psalm 63). Nicht mehr die Vertröstung auf das Jenseits macht unserer Kultur zu schaffen, vielmehr ist es eine Vertröstung auf das Diesseits, die kulturell dominant ist.
Marianne Gronemeyer hat in ihrer Analyse modernen Lebens einen passenden Ausdruck hierfür gefunden: »Leben als letzte Gelegenheit«.2 In den überschaubaren 90 Jahren - und nur diese werden dem Lebensentwurf zugrunde gelegt - suchen immer mehr Menschen optimal leidfreies Glück, und das in Liebe, Arbeit und Amüsement. »Optimal leidfreies Glück« ist letztlich eine säkulare Chiffre für die Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies. Diese ist nicht gänzlich erloschen, eher schon verschüttet: In den lauten Frequenzen des Alltags ist die leise Musik Gottes nicht zu hören. Aber weil das Paradies, der Himmel, modernen Zeitgenossen verschlossen zu sein scheint (ist das auch wirklich der Fall?), leiten sie die Himmelssehnsucht auf die Erde um.
Das zwingt zu einer Lebensart, die geprägt ist von Lebenshast, Anforderung und Überforderung. Die Angst, zu kurz zu kommen, dominiert, und diese Angst entsolidarisiert uns, weil die/ der Andere - der Lebenspartner, der Fremde, andere Völker - zur Rivalin/zum Rivalen meines erhofften Glücks wird.
Diese Lebensart ist auch nicht frei von Gewalt, sondern trägt ein enormes gewaltträchtiges Potenzial in sich: Gewalt gegenüber sich selbst (etwa im Sinn maßloser Ausbeutung bis zum Burnout), subtile oder offene Gewalt anderen und auch der Umwelt gegenüber. Die erbsündliche Formel lautet: Wer das Glück erzwingen muss, erliegt leicht der Gewalt.
Könnte in diesem »Leben als letzte Gelegenheit« nicht eine der heute intensiv sprudelnden Hauptquellen der Sucht liegen? Nicht irgendeine Sehnsucht kippt, sondern die Ursehnsucht des Menschen. Ihre Maßlosigkeit wird an Mäßigem festgemacht. Die solchem Lebensdesign eingeschriebene Unstillbarkeit treibt immer mehr an. Kommt die Täuschung hinzu, dass durch die immer raschere Wiederholung doch der Durchbruch von der erlittenen maßvollen Tröstung der (Ur-)Sehnsucht zur völligen Befriedung durch maßlose Erfüllung gelingt? Könnte also Sucht der vorhersehbar zum Scheitern verurteilte Versuch sein, auf Erden den Himmel zu erzwingen, inmitten der Raumzeit Ewigkeit und Unendlichkeit zu erleben? Aber wie kann Trinken, Kaufen, Essen und Internetsurfen mehr als die Ahnung kleiner Tröstungen bringen, die deshalb auch immer rascher abfolgen müssen, weil die Zwischenzeiten unerträglich werden? Die Suche nach der Erfüllung kann leicht in das Davonlaufen vor dem Leben kippen. Eskapismus ist das Fachwort für: »Das Weite suchen«. Die Flucht in das chemisch erzeugte Paradies der Droge ist der vielleicht tragischste, weil folgenschwerste Versuch eines solchen escape.
Die Weite suchen
Nicht alle suchen »das Weite«, einige vielmehr »die Weite«. Sie finden sich nicht ab mit der Flucht vor dem alltäglichen Leben und den letztlich enttäuschenden Versuchen, den Himmel auf Erden zu erzwingen. Sie laufen nicht weg vor ihrem zunehmend banalen und unerfüllten Leben mit seiner unstillbar-ungestillten Sehnsucht. Sie sind nicht bereit, nach und nach auch ihre Sehnsucht zu ertränken und sich vor dem Tod im Nichtleben einzurichten.
Sie halten es mit Marie von Ebner-Eschenbach: »Nenne dich nicht arm, weil deine Träume nicht in Erfüllung gegangen sind; wirklich arm ist nur, der nie geträumt hat.« Die zeitgenössische spirituelle Suche in säkularen Kulturen verdankt sich diesem
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Nachweis der Erstveröffentlichungen (in Teilen für dies Buch bearbeitet):
Ein Obdach der Seele: Düsseldorf 1994. Das Gottesgerücht: Düsseldorf 1989. Wider die Resignation in der Kirche: Wien 1989. Auferweckung schon jetzt: Meitingen/Freising 1984.
1. Auflage
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eISBN : 978-3-641-04829-7
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