Religiöses Lernen - Andrea Lehner-Hartmann - E-Book

Religiöses Lernen E-Book

Andrea Lehner-Hartmann

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Beschreibung

Jenseits von Lehrplänen und Bildungsreformen wird die Unterrichtspraxis vom Selbstverständnis und den Zielen der Lehrenden mitbestimmt. Welche "subjektiven Theorien" von religiösem Lernen haben die Betreuungspersonen von ReferendarInnen? Die Betonung des "Andersseins" von Religionsunterricht, die in der Untersuchung deutlich wird, birgt die Gefahr in sich, dass Religion und religiöses Lernen am Rand von Schule und schulischem Lernen angesiedelt wird. Das verlangt nach vermehrter Arbeit, Religion im Lebensraum Schule sichtbar zu machen, um sie selbstbewusst in den Diskurs mit anderen Disziplinen einzubringen und zu einem pluralitätsfähigen Umgang in der Schule beizutragen.

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Andrea Lehner-Hartmann

Religiöses Lernen

Praktische Theologie heute

Herausgegeben von

Gottfried Bitter

Kristian Fechtner

Ottmar Fuchs

Albert Gerhards

Thomas Klie

Helga Kohler-Spiegel

Isabelle Noth

Ulrike Wagner-Rau

 

Band 133

Andrea Lehner-Hartmann

Religiöses Lernen

Subjektive Theorien von ReligionslehrerInnen

Verlag W. Kohlhammer

Gedruckt mit Unterstützung

der Österreichischen Forschungsgemeinschaft (ÖFG).

1. Auflage 2014

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH Stuttgart

Reproduktionsvorlage: Christina Wachelhofer

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print: ISBN 978-3-17-023399-7

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-023465-9

epub:    ISBN 978-3-17-026958-3

mobi:    ISBN 978-3-17-026959-0

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist auschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Inhalt

Hinführung

Teil 1: Grundlegende Überlegungen

1.   Religiöses Lernen und religiöse Bildung

1.1.  Lernen und Bildung im gesellschaftspolitischen Alltagsdiskurs

1.2.  Grenzziehungen und Wegweisung

1.3.  Bildungsdiskurse im Spannungsfeld gesellschaftlicher Entwicklungen

2.   Religiöse Bildung

2.1.  Religion – Religiosität – Glaube

2.2.  Wenn Religion auf Bildung trifft

2.2.1. Eine Entwicklungsgeschichte: mit- und gegeneinander

2.2.2. Unterbrechung: eine gemeinsame Kurzdefinition

2.3.  Religiöse Bildung ist Allgemeinbildung

2.3.1. Unterwegs zu religiöser Urteils- und Begründungsfähigkeit

2.3.2. Religiöse Bildung und Konfessionalität

2.3.3. Welchem Gott dient religiöse Bildung?

2.4.  Religiöse Bildung und Identitätsbildung

2.4.1. Die Ausbildung einer christlichen Identität?

2.4.2. Christliche Identität als Fragment und Nicht-Identität

3.   Religiöses Lernen

3.1.  Anmerkungen zu aktuellen Diskursen von Lernen

3.2.  (Religiöses) Lernen im Horizont bildungstheoretischer Zugänge

3.3.  Exkurs: (Religiöse) Erfahrung

3.4.  Subjekttheoretische Notizen

3.4.1. Subjektwerdung – ein Einspruch gegen Selbstgenügsamkeit

3.4.2. Neubestimmung des Subjekts – wider den Abschied vom Subjekt

3.4.3. Subjektwerdung und Selbstinszenierung

3.4.4. Subjektorientierung in religionspädagogischen Konzeptionen

3.5.  Religiöses Lernen und Glauben lernen

3.6.  Religiöses Lernen unter dem Anspruch gesellschafts- und bildungspolitischer Herausforderungen

3.6.1. Aktuelle Diskussionspunkte

3.7.  Verwiesen auf andere – die soziale Dimension religiösen Lernens

3.7.1. Die Bedeutung der anderen für die Entwicklung von Religiosität

3.7.2. Lernen am Vorbild?

3.7.3. Fachdidaktische Konsequenzen

3.8.  Verstrickt in Machtverhältnisse – die politische Dimension religiösen Lernens

3.8.1. Abschied vom Mythos der Machtgleichheit durch Bildung

3.8.2. Bildungshindernisse

3.8.3. Empowerment versus Normierung und Disziplinierung

3.8.4. Fachdidaktische Herausforderung: Widerständig sein und werden

3.9.  Verwoben in Geschichte(n) und Räume – die zeit-räumliche Dimension religiösen Lernens

3.9.1. Religionspädagogische Aufmerksamkeit für Lernräume

3.9.2. Religiöses Lernen als Pilgerreise (B. Roebben)

3.9.3. Zeit nehmen und Zeit lassen

3.9.4. Spaß und Schnelligkeit als moderne Leitkategorien?

3.9.5. Kairologische Aufmerksamkeit als fachdidaktische Notwendigkeit

3.10.  Ver-rückte Sichtweisen – die experimentelle Dimension religiösen Lernens

3.10.1. Lernen und Lehren ver-rücken

3.10.2. Verstörende Sprach-Spiele

3.10.3. Religiöse Fragen an ver-rückten Orten

3.10.4. Irritieren, Verunsichern: dem Unverfügbaren Raum geben

3.10.5. Sich geplant auf Ungeplantes einlassen

3.10.6. Scheitern dürfen

Teil 2: Religiöses Lernen bei katholischen Betreuungslehrer/Innen

4.   Subjektive Theorien

4.1.  Was lässt sich darunter verstehen?

4.1.1. Subjektive Theorien im Kontext der Fachdidaktiken

4.1.2. Subjektive Theorien und implizites Wissen

4.2.  Das Forschungsprogramm Subjektive Theorien

4.2.1. Metatheoretische Grundannahmen

4.2.2. Subjektive Theorien auf dem Weg zu einer objektiven Theorie?

4.2.3. Methodologische Reflexionen

4.2.4. Kritische Einwände und Eingrenzungen

5.   Subjektive Theorien und Gruppendiskussion zu religiösem Lernen

5.1.  Problemstellung

5.2.  Metatheoretische und methodologische Überlegungen

5.2.1. Anthropologische Annahmen

5.2.2. Methodische Konkretisierungen

5.3.  Empirisches Vorgehen

5.3.1. Das Interview: Fragestellung und Leitfaden

5.3.2. Fallbeschreibungen

5.3.3. Gruppendiskussion zu religiösem Lernen unter Einbeziehung der Machtdimension

5.3.4. Abschließende Anmerkungen

6.   Fallbeschreibungen

6.1.  Die subjektive Theorie von Herrn A: Religion geht tiefer, weil sie intim ist

6.1.1. Paraphrasierende Erläuterungen der Strukturbilder

6.1.2. Zusammenfassung der Kernkonstrukte

6.2.  Die subjektive Theorie von Frau B: Religiöses Lernen heißt Mitgehen und Mitleiden

6.2.1. Paraphrasierende Erläuterungen der Strukturbilder

6.2.2. Zusammenfassung der Kernkonstrukte

6.3.  Die subjektive Theorie von Frau C: Religiöses Lernen als Suche nach der Frage

6.3.1. Paraphrasierende Erläuterungen der Strukturbilder

6.3.2. Zusammenfassung der Kernkonstrukte

6.4.  Die subjektive Theorie von Herrn D: Wann Lernen zu religiösem Lernen wird lässt sich nicht genau sagen

6.4.1. Paraphrasierende Erläuterungen der Strukturbilder

6.4.2. Zusammenfassung der Kernkonstrukte

6.5.  Die subjektive Theorie von Herrn E: Prozesshaftes Lernen in einem Subjekt-Subjekt-Verhältnis

6.5.1. Paraphrasierende Erläuterungen der Strukturbilder

6.5.2. Zusammenfassung der Kernkonstrukte

6.6.  Die subjektive Theorie von Frau F: Wenn es gelingt, gemeinsam Religiosität/Spiritualität zu leben

6.6.1. Paraphrasierende Erläuterungen der Strukturbilder

6.6.2. Zusammenfassung der Kernkonstrukte

7.   Gruppendiskussion

7.1.  Fokussierungsmetapher: Religiöses Lernen als Transformationsprozess

7.2.  Fokussierungsmetapher: Strukturen hinterfragen lernen

7.2.1. Inhaltliche Konstrukte zu den unterschiedlichen Rollen im System Schule

7.2.2. Diskussionsdynamische Auffälligkeiten zu Macht und Geschlecht

7.3.  … war da noch was zu religiösem Lernen?

7.4.  Subjektive Theorien: Auswertung der Gruppendiskussion durch die TeilnehmerInnen

7.4.1. Frau F

7.4.2. Herr A

7.4.3. Herr E

7.4.4. Frau C

7.4.5. Herr D

8.   Zusammenfassende und impulsgebende Anmerkungen für die Religionspädagogik

8.1.  Anzeichen für angestoßene Bildungsprozesse

8.2.  Erkenntnisse und Impulse

8.2.1. Religiöses Lernen als Orientierungswissen: die SchülerInnen im Mittelpunkt

8.2.2. Religiöse Pluralität – kein Thema?

8.2.3. Religiöses Lernen auf Augenhöhe

8.2.4. Die Bedeutung der Lehrperson: Vor-Leben oder Mit-Gehen?

8.2.5. Religiöses Lernen sprengt schulische Zeiten und Räume

8.2.6. Ein Fach unter anderen mit bestimmten Spezifika oder doch etwas ganz Anderes?

8.3.  Empirisches Arbeiten zu subjektiven Theorien als bildungsanregendes Element in der LehrerInnenbildung?

Literatur

Hinführung

Religiöses Lernen im Kontext Schule findet gegenwärtig unter speziellen Bedingungen statt. Während ein Teil der SchülerInnen religiöse Erfahrungen in den Schulraum mitbringen und dort auch sichtbar werden lassen, findet für viele SchülerInnen in der Schule so etwas wie eine Erstbegegnung mit Religion statt. Dass diese Erstbegegnung für viele auch der einzige Begegnungsraum mit Religion bleibt, dem keine weitere Anbindung an institutionell verfasste Religionen in anderen Lebensräumen, wie Gemeinden, religiösen Gemeinschaften etc. folgt, charakterisiert den Lebensraum Schule auf besondere Weise. Religion zeigt sich somit im Raum Schule als eine spezielle Form von Religion, die sich aus dem Kontext Schule heraus entwickelt und auf ihn hin zu entwickeln ist. Dabei kommt ihr nicht nur die Funktion der „gelehrten Religion“, sondern auch jene der „gelebten Religion“ zu1, die SchülerInnen und LehrerInnen mitbringen und dort auch erst neu entwickeln. Dass institutionell verfasste und subjektive religiöse Überzeugung ziemlich weit auseinanderklaffen können, wird kaum an einem anderen Ort so sichtbar wie an der Schule.

Am Phänomen Religion zeigt sich also, was sich in vielen anderen Bereichen menschlichen Seins ereignet. Kinder werden nicht mehr in vordefinierte Räume hineingeboren, wo ihre Identität und Lebenswege vorgezeichnet sind, sondern finden sich in einem Prozess lebenslanger „Arbeit an der eigenen Biografie und der Suche nach Sinn und Identität“2. Die in der Literatur mit den Stichworten „Individualisierung“ und „Pluralisierung“ ausgewiesenen Bedingungen, unter denen sich das moderne Leben vollzieht, fordern dem Einzelnen ab, sich selbst zu entwerfen. Dass dies aber nicht unabhängig von den Rahmenbedingungen gesehen werden kann, findet in den verschiedenen Diskursen zu wenig Beachtung. Die an den Einzelnen adressierten Aufträge „sich selbst zu entwerfen“, „sein Leben in die Hand zu nehmen“ und somit „seines eigenen Glückes Schmied“ zu sein, können in dieser individualisierten Form nicht gelingen, sondern benötigen Bedingungen zur Befähigung. Dazu müssten gesellschaftlichen Institutionen in unterschiedlichen Bereichen wie Bildung, Politik, Religion, Wirtschaft und Freizeit Hilfestellung und Unterstützung bieten. Die Religionspädagogik versucht diesen Herausforderungen in Ansätzen zu Subjektorientierung und den Entwürfen einer pluralitätsfähigen Religionspädagogik zu entsprechen. Ob diese Fokussierungen, wie sie in der Religionspädagogik verhandelt werden, ihren Niederschalg auch in den Überlegungen und Konzeptionen religiösen Lernens von ReligionslehrerInnen finden, bzw. welche bewussten oder teilbewussten Motive ihr Handeln leiten, gilt es in der vorliegenden Studie zu erkunden.

Religiöses Lernen bezeichnet eine spezielle Form des Lernens, welche nicht nur durch spezifische Inhalte konfessioneller Prägung bestimmt wird, sondern wesentlich von dem dahinterstehenden Lernverständnis. Wenngleich der alltagssprachliche Umgang mit Lernen und dem Reden über Lernen suggeriert, dass wir es hier mit einem konsensualen Verständnis zu tun haben, erhält der Begriff doch wesentlich seine unterschiedlichen Prägungen von seinem Kontext her, ob er nun im Bereich der Psychologie, Pädagogik, Theologie oder Biologie ausgebildet wird. Dies zeigt sich nicht zuletzt an den unterschiedlichen Welt- und Menschenbildern.

In den letzten Jahren dominieren vorrangig Erkenntnisse aus der Hirnforschung den Diskurs des Lernens. Das Gehirn wird dabei als zentrales Organ des Lernens angesehen. Es wird darauf verwiesen, dass für die Entwicklung bestimmter Fähig- und Fertigkeiten nur gewisse Zeitfenster zur Verfügung stehen. Psychologische Lerntheorien, die davor über Jahrzehnte den Lerndiskurs beherrschten und das Verhalten in den Mittelpunkt rückten, welches über Reiz-Reaktionsmuster zu steuern versucht wird oder auch konstruktivistische Modelle, die aus der Systemtheorie ableitend die Begriffe des selbstorganisierten Lernens in den Mittelpunkt stellten, finden sich nach wie vor parallel dazu. Zunehmend wird versucht, die jeweiligen Erkenntnisse in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen durch die Hirnforschung abzusichern. Daneben findet sich ein neu aufgeflammter pädagogischer Diskurs, der sich innerhalb der wissenschaftlichen Pädagogik in kritischer Auseinandersetzung, Ergänzung und Absetzung vom Diskurs der psychologischen Lerntheorien und Hirnforschung (wieder) zu etablieren beginnt. Dieser versteht Lernen nicht als einen kumulativen, fortschreitenden Prozess, aus dem Schwierigkeiten auszusondern bzw. zu überwinden versucht werden, sondern der von der Erfahrung ausgeht, die das Irritierende, Ver-Störende als Lernanlässe wieder hereinholt.3

Diese Diskurse prägen – als vergesellschaftete Ansicht und/oder persönliche Auseinandersetzung – die jeweiligen subjektiven Verständnisweisen der einzelnen Individuen, somit auch der LehrerInnen. Wenn in dieser Arbeit religiöses Lernen im Kontext Schule zu vermessen versucht wird, so sollen neben wissenschaftlichen Reflexionen vor allem die handelnden LehrerInnen mit ihren jeweiligen subjektiven Theorien in den Blick genommen werden. Damit wird hier auch einem Wissenschaftsverständnis gefolgt, das seine Auseinandersetzung nicht nur in der Begegnung mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen (hier der Lern- und Bildungstheorie und der Theologie), sondern auch in der Begegnung mit den Überzeugungen und Motiven der konkret handelnden ReligionslehrerInnen sucht.

Mit dem Ansatz der subjektiven Theorien kommt der jeweilige Mensch – im vorliegenden Fall handelt es sich um ReligionslehrerInnen, die als BetreuungslehrerInnen Studierende in den Beruf des/der Religionslehrers/in einführen4 – als jene Autorität, die als einzige adäquat und in umfassendem Maße über seine Überzeugungen Auskunft geben kann, in den Mittelpunkt der empirischen Untersuchung. In der vorliegenden Studie interessiert die Frage, welche Konzeptionen zu religiösem Lernen die jeweiligen LehrerInnen in ihrem religionsunterrichtlichen Handeln leiten. Die sehr breit angelegte Fragestellung soll es ermöglichen, biografische Erfahrungen auch aus ihren anderen Lebensbereichen hereinzuholen. Erst in einer weiteren Fokussierung soll religiöses Lernen auf den Kontext Schule/Religionsunterricht hin expliziert werden. Der Fokus liegt auf dem Erkunden der Überzeugungen der betreffenden LehrerInnen. Inkongruenzen und Dissonanzen, die es zwischen theoretischen Überlegungen und konkretem Handeln geben kann, werden empirisch nicht überprüft.

Mit dem Involvieren der LehrerInnen in einen Erkundungs- und somit Forschungsprozess, das deren Reflexions- und Argumentationsfähigkeit erfordert, verbindet sich das Anliegen, sie dadurch gleichzeitig in eine Art Bildungsprozess zu verstricken, der bisheriges Handeln und Denken reflexiv einholt, Unbewusstes bzw. Teilbewusstes (präziser) benennbar und damit der Veränderung zugänglich macht. Somit lautet eine erste Forschungsfrage, die diese Arbeit leitet: Welche subjektiven Theorien legen die befragten ReligionslehrerInnen ihrem religionsunterrichtlichen Handeln zugrunde? Damit in engem Zusammenhang steht die zweite Forschungsfrage: Lassen sich durch das Erheben von subjektiven Theorien Bildungsprozesse bei den LehrerInnen anstoßen? Woran wird das sichtbar? Wie können diese aussehen? Die dritte Forschungsfrage lenkt den Blick von der Praxis wieder zurück auf die Theoriebildung: Welche Erkenntnisse lassen sich daraus für den religionspädagogischen Diskurs und zukünftige Konzepte zur ReligionslehrerInnenbildung ableiten?5 Letztere Frage lässt sich in diesem Rahmen nicht umfassend beantworten, sondern lenkt die Aufmerksamkeit auf das Herausarbeiten von Auffälligkeiten, die es lohnt, näher in den Augenschein zu nehmen und in weiteren Untersuchungen konzentrierter zu beobachten und zu bearbeiten.

Der genaueren empirischen Bearbeitung und Erkundung dieser Forschungsfragen – angelehnt an das Forschungsprogramm Subjektive Theorien und mithilfe der Methoden der rekonstruktiven Sozialforschung – vorangestellt sind grundlegende theoretische Überlegungen zur Beziehungsklärung des Verhältnisses von Lernen und Bildung und der Beziehungsklärung von Religion zu Bildung und Lernen. Im religionspädagogischen Diskurs trifft man häufig auf eine synonyme Verwendung von religiösem Lernen mit religiöser Bildung, die darauf schließen lässt, dass religiöses Lernen mehr oder weniger explizit in einem bildungstheoretischen Horizont gedacht wird.6 Eine bildungstheoretische Einbettung des Diskurses zu religiösem Lernen liegt auch dieser Arbeit zugrunde. Es gilt dabei weniger religiöses Lernen definitorisch genau festzulegen als die Beziehung zwischen Lernen und Bildung näher zu bestimmen und unterschiedliche einflussgebende Dimensionen, wie sie sich aus gesellschaftlichen, theologischen oder anderen human- und geisteswissenschaftlichen Diskursen nahelegen, für religiöses Lernen auszuleuchten. Damit ist vorneweg der Anspruch einer allumfassenden theoretischen Auseinandersetzung abgelegt; vieles wird im Dunkeln bleiben (müssen). Dies entspricht durchaus dem Wesen der Sache selbst, da Bildung wie Religion als beständiger Suchprozess charakterisierbar sind, den es reflexiv immer wieder einzuholen gilt, der aber endgültig nicht festgelegt werden kann. Vielmehr geht es darum, die Bedeutung religiösen Lernens an Kernpunkten aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen, theologischer Überlegungen und (religions)pädagogischer und fachdidaktischer Diskurse aufzuzeigen. Dies immer im Bewusstsein darum, dass bei geänderten Voraussetzungen diese Bedeutungen neu erkundet werden müssen.

Wenn in dieser Studie der Fokus auf den subjektiven Theorien zu religiösem Lernen bei den ReligionslehrerInnen liegt, so ist dies forschungspragmatisch und zeittechnisch begründet. Es sei als Desiderat an dieser Stelle aber festgehalten, dass ein Erfragen der subjektiven Theorien von SchülerInnen dringend erforderlich ist, will man Unterricht nicht allein als ExpertInnentätigkeit von LehrerInnen fassen, sondern einem Verständnis von religiösem Lernen als gemeinsam zu gestaltendem und verantwortendem Lernprozess unter aktiver Mitbeteiligung von SchülerInnen Rechnung tragen.7 Bisherige Erfahrungen damit, wie sie im Rahmen eines Seminars mit Studierenden der Theologie und Religionswissenschaft8 und in der Begleitung von Diplomarbeiten, die sich mit den subjektiven Theorien von SchülerInnen beschäftigten9, gemacht werden konnten, bestätigen die Berechtigung dieser Forderung.

Wenn in vorliegendem Fall keine SchülerInnen befragt wurden, so sind diese aber in den subjektiven Theorien von ReligionslehrerInnen als mitbeteiligte AkteurInnen religiösen Lernens – wenn auch stumm und unsichtbar – immer anwesend.

Eine weitere Einschränkung der Thematik geschieht durch die Fokussierung auf katholische ReligionslehrerInnen in mitteleuropäischem urbanem Kontext. Wenngleich die religionspädagogische Theorieentwicklung weitgehend ökumenisch angelegt ist und sowohl evangelische wie katholische AutorInnen zu Wort kommen werden, bleibt der dominante Referenzrahmen der bearbeiteten Fragen und Antworten die katholische Religion. Ergebnisse, Überlegungen und Fragen mögen darüber hinaus durchaus Erkenntniswert haben, auch für religiöses Lernen in anderen religiösen Kontexten. Sie werden aber nicht unter diesen Perspektiven expliziert. Auf eine systematisierte theologische Begründung von (religiöser) Bildung wurde ebenfalls verzichtet, theologische Explikationen werden aber an ausgewählten Stellen immer wieder vorgenommen.

Die vorliegende Arbeit folgt in der Bearbeitung der angeführten Forschungsanliegen folgendem Aufbau:

In einem ersten Teil geht es darum, dass die Bedingungen religiösen Lernens im Kontext Schule im Spannungsfeld aktueller Entwicklungen zum Thema Lernen erkundet und die Beziehungen von Lernen und Bildung sowie Religion und Bildung herausgearbeitet werden. Nach diesen grundsätzlichen Beziehungsklärungen sollen bestimmende Dimensionen religiösen Lernens vorgestellt werden, wie sie sich in Auseinandersetzung mit allgemeinen Überlegungen zu Lernen in bildungstheoretischer Anbindung herausdestilliert haben. Die Bearbeitung der Fragestellungen erfolgt dazu in einer interdisziplinären Verschränkung von bildungs- und lerntheoretischer sowie religionspädagogischer Perspektive.

In einem zweiten Teil gilt es zunächst die Diskussion zu subjektiven Theorien allgemein und das Forschungsprogramm Subjektive Theorie, an das sich die empirische Vorgehensweise in dieser Studie anlehnt, darzustellen. Daran anschließend erfolgt die Offenlegung der methodologischen Grundlegung und der methodischen Vorgehensweise in Interview, Struktur-Legen, Fallbeschreibungen und Gruppendiskussion. Erkenntnisse aus der Triangulierung von subjektiven Theorien und dokumentarischer Interpretation der Gruppendiskussion werden mit Bezugnahme auf die hier vorgestellten Forschungsfragen abschließend zusammenfassend dargestellt. Dabei werden jene Auffälligkeiten herausgearbeitet, die für die zukünftige Konzeptionierung von ReligionslehrerInnenbildung erkenntnisleitend sein können.

1 Diese Unterscheidung wird durch die Studie zur „Religion“ der ReligionslehrerInnen von Feige/Dressler/Lukatis/Schöll 2000 ausführlich im religionspädagogischen Diskurs aufgegriffen. Als „gelehrte Religion“ wird verstanden, was die LehrerInnen in ihren Unterrichtskonzeptionen einbringen. Eine „reflexive Distanz“ zwischen gelehrter und gelebter Religion wird für den Religionsunterricht als produktiv angesehen. Religiöses Lernen erfordert von den ReligionslehrerInnen sogar eine „doppelte Reflexivität“, weil es die „eigene“ Religion zusätzlich noch unter didaktischen Fragestellungen (z.B. Welche biografischen Anteile bringe ich in den Unterricht ein?) zu reflektieren gilt. (Feige/Dressler/Lukatis/Schöll 2000, 455f; Feige 2004, 13ff) Gegen diese Betonung der Distanz zwischen „gelehrter“ und „gelebter“ Religion erhebt Meyer-Blanck Einspruch. Er verweist darauf, dass Lehre und Leben immer nur zusammen begegnen (z.B. in der Person der Mutter, des Lehrers, der Schülerin, die zuhört, etc.). Er setzt in seiner Unterscheidung nicht zwischen gelehrt und gelebt, sondern zwischen einer schulisch und an anderen Orten gelehrten Religion an. Um dem Missverständnis der Trennung von Lehre und Leben zu entkommen, schlägt er alternativ die Differenzierung in „Rede über Religion“ und „religiöser Rede“ vor. (Meyer-Blanck 2004, 113)

2 Gabriel 41995, 141

3 Göhlich/Wulf/Zirfas 2007; Göhlich/Zirfas 2007; Meyer-Drawe 2008

4 BetreuungslehrerInnen haben die Funktion, die Studierenden in den Praktika, die diese im Lehramtsstudium absolvieren müssen, zu begleiten. Im Pädagogischen Praktikum werden die Studierenden zunächst im beobachtenden Wahrnehmen und in der partiellen Beteiligung am Unterrichten begleitet, im Fachbezogenen Praktikum bereits in der Planung und Durchführung eigener Unterrichtseinheiten, die sie alleine oder im Teamteaching bewerkstelligen.

5 Diese Frage scheint insofern wichtig zu sein, da Erkenntnisse aus anderen empirischen Untersuchungen, wie die Studie zu den ReferendarInnen von Englert/Porzelt/Reese/Stams 2006, zeigen, dass „sich Theoreme der wissenschaftlichen Religionsdidaktik für die subjektiven Alltagstheorien der Referendar/innen als wenig relevant“ (Porzelt 2006, 462) erweisen und damit für die Religionsdidaktik die Herausforderung besteht, wie sie ihre Theoriebildung unter Bezugnahme auf Praxis (von ihr her und auf sie hin) vornehmen kann.

6 Darauf dürften auch die in letzter Zeit vermehrt geäußerten Forderungen nach einem verstärkten Einbeziehen von lernpsychologischen Erkenntnissen, die vor allem im Zuge der Beschäftigung mit der Kompetenzenfrage auftauchen, hindeuten. Vgl. Sander Gaiser 1/2008, vgl. auch Kaupp 5/2007; Themenheft „Klug vermitteln“ der Katechetischen Blätter 5/2010

7 Friedrich Schweitzer hat diese Perspektive bereits bei der ReligionslehrerInnenstudie von Feige/Dressler/Lukatis/Schöll 2000 als demokratisches Gebot, Beteiligte selber sprechen zu lassen, angemahnt. „Es scheint mir deshalb an der Zeit, auch bei der religionspädagogischen Unterrichtsforschung den vielbeschworenen Perspektiven-wechsel hin zu den Kindern und Jugendlichen zu vollziehen. Lehrerinnen und Lehrer sind Experten für ihren Unterricht – deshalb muss nach ihren Erfahrungen gefragt werden. Aber auch Kinder und Jugendliche sind Experten für ihr eigenes Leben und Lernen, und deshalb sollten auch ihre Erfahrungen und Reflexionen in Zukunft weit stärker einbezogen werden, als dies bislang der Fall ist.“ (Schweitzer 53/2001, 326)

8 Das Seminar „Subjektive Theorien religiösen Lernens“ wurde im WS 2008/09 als religionspädagogisches Seminar an der Universität Wien abgehalten und diente der Auseinandersetzung mit subjektiven Theorien im Allgemeinen und mit den subjektiven Theorien religiösen Lernens der Studierenden im Speziellen. Als sehr fruchtbar erwies sich, dass dabei sowohl Theologiestudierende als auch Studierende der Studienrichtung Religionswissenschaft teilnahmen und somit der Fokus konfessioneller Prägung und Deutung religiösen Lernens transzendiert wurde.

9 Wiedenhofer 2009 und Goldmann 2011

Teil 1:   Grundlegende Überlegungen

1.       Religiöses Lernen und religiöse Bildung

1.1.      Lernen und Bildung im gesellschaftspolitischen Alltagsdiskurs

Lernen und Bildung sind zwei Begriffe, die miteinander eng in Beziehung stehen, wobei nicht immer klar zu sein scheint, wie deren Beziehung tatsächlich aussieht. Im öffentlichen Diskurs werden sie meist überhaupt nicht unterschieden, sondern synonym verwendet. Dies scheint nicht zuletzt darin begründet zu sein, dass wir es hier mit Begriffen zu tun haben, die keine einheitliche und eindeutige Begriffsgeschichte aufweisen können, sondern historisch und kontextuell stark geprägt sind. Dass dabei die unterschiedlichen Interessen und Absichten zum Tragen kommen, die die jeweilige Zeit und den Kontext, aus dem heraus sie formuliert werden, charakterisieren, ist als evident anzusehen und erklärt die sehr unterschiedlichen, oft auch widersprüchlichen und konfligierenden Verständnisweisen von Lernen und Bildung. So haben aktuell Wirtschaft und Politik andere Lern- und Bildungsbegriffe als die Pädagogik. „Wenn sich eine Gesellschaft über pädagogische Begriffe wie ‚Lernen‘ und ‚Wissen‘ definiert und von hier den Sinn von ‚Bildung‘ zu erfassen sucht, wird einerseits die Rolle von Bildungsinstitutionen und -abschlüssen aufgewertet, während andererseits Bildung selbst unterbestimmt bleibt“10. In diesem Kontext scheint Lernen den klareren Begriff abzugeben. Seine wichtige Rolle wird im Zusammenhang mit dem Erwerb von Wissen, Können und Qualifikationen unbestritten anerkannt und erhält mit der Forderung des „lebenslangen Lernens“ sowohl für den Einzelnen als auch für die jeweiligen gesellschaftlichen Bereiche einen prominenten Platz auf Dauer. Bildung hingegen muss für viele gesellschaftliche Bestrebungen und Entwicklungen Pate stehen ohne sich selbst dadurch bestimmen zu können. „Bildung“ ist bei jedem Problem als General- oder Teillösung schnell zur Hand und gilt als wichtigstes Zauberwort für individuelle und gesellschaftliche Entwicklung, Wettbewerbs- und Zukunftsfähigkeit, friedvolles Zusammenleben etc… Mit ihm werden Verheißungen verbunden, die in Aussicht stellen, „dass ein individueller Werdensprozess schlummernde Potenziale entfaltet, die gegen das Negative gesellschaftlicher Krisen gerichtet werden können.“11 Bildung soll gleichsam „jenes Vakuum füllen, das mit dem Wegfall der religiösen Gewissensschärfung entstanden ist. Gerade die Herstellung von Loyalität, Berechenbarkeit oder Verlässlichkeit ist in den technisch hochgerüsteten Gesellschaften mit ihrer Überanfälligkeit und Fragilität von existentieller Bedeutung.“12 Besondere Aufmerksamkeit erhält dabei die Bildungsinstitution „Schule“, die bei jedem neu auftretenden Problem neue „Bildungsaufgaben“ übertragen bekommt.

Aber auch die scheinbare Klarheit über den Begriff des Lernens, den jeder ganz selbstverständlich verwendet, trügt.13 „Lernen – das war zumindest den Griechen der Klassik deutlich vor Augen, und darum stritten mittelalterliche Philosophen und Theologen – ist kein einfaches Phänomen, zu dem sich jeder nach Belieben äußern kann. Lernen berührt alle grundlegenden Fragen des Menschen. Die Palette der Antworten reichte von der Unmöglichkeit des Lehrens (Augustinus) bis hin zum Optimismus, alle alles von Grund auf lehren zu können (Comenius). Stets war man bemüht, Rechenschaft über die Bedeutung des Lernens abzulegen. Das hat sich bis in unsere heutige Zeit vollständig geändert. Lernen zu verstehen, scheint kein schwieriges Problem zu sein. (…) Es gibt gleichsam überhaupt keinen Laien auf diesem Gebiet. Jeder kann mitreden. Lernen ist banalisiert und trivialisiert worden. Alles, was sich verändern kann, lernt: Systeme, Gesellschaften, Regionen, Maschinen, Radios, intelligente Dinge wie der Kühlschrank, der seinen Inhalt kontrolliert und Buch darüber führt. In einer Gesellschaft flexibler Menschen meint Lernen eine Art opportuner Anpassung an soziale Erfordernisse. (…) Lernen aber“ so lautet eine der leitenden Thesen von Käte Meyer-Drawe, „ist ganz und gar nicht durchschaut. (…) Es gibt mehr Fragen als Antworten, sobald man sich auf das konkrete Leben einlässt und etwas zu begreifen versucht, das man streng genommen nicht bezeugen kann wie alle Vollzüge, durch welche wir auf uns selbst, auf unsere Welt und auf die anderen antworten.“14 Elmar Anhalt hebt hervor, dass jene, die aktiv oder beobachtend im Erziehungssystem agieren, dies vielfach ohne theoretische Fundierung vornehmen und in erster Linie ihren subjektiven Vorstellungen oder Vorstellungen, die aus pädagogikfremden Kontexten stammen, folgen.15 Diese Erkenntnis legt es nahe, den subjektiven Vorstellungen in Zukunft vermehrt Bedeutung zukommen zu lassen. Im Hinblick auf religiöses Lernen gibt der zweite Teil dieser Arbeit in den Falldarstellungen einen Einblick.

Wenn im historischen Rückblick besehen einmal Bildung und einmal Lernen stärker in den Vordergrund traten oder sogar ein Begriff durch den anderen ersetzt wurde, so verschwand doch keiner der Begriffe endgültig.16 Zumindest für den deutschen Sprachraum gilt, dass beide Begriffe nur als eng miteinander verwobene zu verstehen sind, wenngleich einer durch den anderen nicht (gänzlich) substituierbar ist. Auch in dieser Arbeit steht in erster Linie nicht die strikte Abgrenzung beider Begriffe im Sinne eines unversöhnlichen Gegenübers zur Diskussion, sondern deren Beziehung, ohne deren jeweilige Spezifik in einem platten Synonymismus aufzulösen. Aufmerksamkeit gilt es dabei jenen inhaltlichen und historischen Prägungen der jeweiligen Bildungs- und Lernbegriffe zu widmen, die einen Hinweis darauf geben, wie sehr beide Begriffe aneinander gekoppelt sind. So lässt sich mit Ludwig Pongratz zunächst festhalten: „Bildung ist nicht denkbar ohne Lern- und Unterrichtsprozesse – und doch hat Unterricht nicht notwendig Bildung zur Folge. Bildung ist auch nicht denkbar ohne ein Mindestmaß an vorausgegangener erzieherischer Hilfe – und doch hat Erziehung nicht notwendig Bildung zur Folge. (…) Keiner ist ohne Rückgriff auf den anderen reflektierbar. Erst im wechselseitigen Bezug wandelt und klärt sich ihre Bedeutung.“17 Die jeweiligen Begriffsbildungen tragen bestimmte normierende Annahmen in sich, die auch die anderen Begriffe prägen. So lassen psychologische Lerntheorien ein anderes Bildungsverständnis erkennen als philosophisch-pädagogische und in umgekehrter Weise prägen pädagogische Bildungskonzepte den Lernbegriff mit Inhalten und Charakteristika, die sich von jenen psychologischer Zugangsweisen erkennbar unterscheiden.

1.2.       Grenzziehungen und Wegweisung

Neben dem oft inhaltsarmen, aber verheißungsvollen Gebrauch von Bildung in der Alltagssemantik lässt sich im Kontext von Wissenschaft im letzten Jahrhundert auch eine gewisse Ambivalenz bis hin zur Abwehr im Umgang mit dem Begriff Bildung bemerken. Dies zeigt sich daran, dass er vielfach nur unter Anführungsstrichen bzw. nur mehr in zusammengesetzter Form als Schulbildung, Ausbildung, Weiterbildung, etc. verwendet oder gänzlich durch Sozialisation, Lernen oder Erziehung zu ersetzen versucht wurde. Nach Nipkow verkommt Bildung in dieser inflationären Verwendung zu einem bedeutungsleeren Wort, das pauschal Erziehungs-, Unterrichts- und Ausbildungsvorgänge und ihre Einrichtungen bezeichnet. „Der Begriff ist als normatives Konzept zerfallen und scheint als deskriptiv-analytische Kategorie unbrauchbar zu sein.“18

Diese Entwicklung macht deutlich, dass sich der Begriff durch seine Herkunft aus Aufklärung und Idealismus im Widerspruch von gesellschaftlicher Anpassung als Ziel von Bildung, wie sie am besten durch die Schule gewährleistet wurde und wird, und der Forderung nach dem aus der Selbst-Entfremdung befreiten Subjekt verstrickte.19 Während das Individuum unter den Stichworten Kompetenz, Standardisierung, Selbstorganisation, Evaluation etc. bestmöglich und uniform auf die gesellschaftlichen Herausforderungen zugerüstet werden soll, soll gleichzeitig verhindert werden, dass es durch jene Institutionen, die diese Formationen vorgeben, sich selbst entfremdet wird. Im Hinblick auf die Bildungsinstitution Schule konstatiert Nipkow, dass dieses Paradoxon nicht einholbar ist, sondern dass Bildung, die Entfremdung überwinden wollte, als institutionalisierte, verschulte Bildung selbst zu entfremdeter Bildung geworden ist. Darüber hinaus wird auch das Bestreben, dass Bildung Zusammenhänge bewahren will, durch verschulte Bildung und verschultes Lernen weitgehend verhindert.20

Auch die Erfahrungen aus dem Dritten Reich entzauberten die Heilserwartungen, die sich oftmals mit Bildung im aufklärerischen Ideal verbanden. Dass selbst „gebildete“ Menschen vor Gräueltaten nicht zurückschreckten, ließ deutlich werden, wie fragil die mit Bildung verbundenen Ideale, Hoffnungen und Erwartungen waren. Es schien kein Widerspruch zu sein, sich klassischer Musik und Literatur hinzugeben und danach den Befehl für die Vernichtung von „unwertem Leben“ zu geben. Bildung führte auch nicht dazu, die Frage nach dem Verbleib von Nachbarn oder MitschülerInnen insistierend zu stellen. Viele Menschen blieben trotz Bildung stumme, paralysierte Nicht- und Mitwisser wie Mittäter.21 Die optimistische Grundannahme eines idealistischen Bildungsverständnisses von der stetigen Entwicklung der Menschheit zu mehr Humanität wurde durch diese Taten und das Verhalten der Mehrheit auf brutale Weise widerlegt.22 Verantwortungsbereitschaft, die in der Tradition von Humboldt als ethische Dimension von Bildung immer mitschwingt, hat hier kläglich versagt.

Trotz der erkannten Ambivalenzen bis hin zu ablehnenden Haltungen dem Bildungsbegriff gegenüber, lässt sich so etwas wie eine Renaissance von Bildung im wissenschaftlich-pädagogischen Diskurs ausmachen. Gerade aus dem Bewusstsein um die Verkürzungen und die Unzulänglichkeiten heraus, denen auch die Ersatzbegriffe in ähnlicher Weise ausgesetzt sind, treffen wir auf einen herantastenden und kritischen Gebrauch des Begriffs. „Bildung lässt sich – ähnlich wie Liebe, Tod, Freude, Schmerz etc. – nicht definieren, festmachen, auf den Punkt bringen, sondern allenfalls umschreiben, betrachten, hin- und herwenden, auslegen, befragen usw. Sie ist Teil des individuellen und kollektiven Lebens, muss deshalb von jedem Einzelnen in seinem ganz persönlichen Leben immer wieder neu gewagt und bestimmt, muss aber auch von jeder Generation und jeder Gemeinschaft, jedem Volk und jeder Nation stets auf’s Neue gesucht und auf den Begriff gebracht werden.“23 So lauert zu jeder Zeit ein eigenes Gefahrenpotenzial. Abzuwehren gilt es gegenwärtig eine vereinnahmende Verwendung von Bildung,24 die u.a. darin zu sehen ist, dass Bildung unter dem Druck ökonomischer Hegemonie funktionalistisch auf Verwertbarkeit reduziert oder zum Abgrenzungskriterium einer schöngeistigen Elite verwendet wird. Sich von anderen Gesellschaftsgruppen abzuheben, im Konkurrenzkampf besser bestehen zu können und damit andere hinter sich zu lassen, droht Bildung und Lernen zum Vorteilsticket für die Bevorteilten werden zu lassen.25 Demgegenüber gilt es festzuhalten: „Bildung ist eine Aufgabe, kein Besitz und kein Prestige.“26 Oder wie Adorno formuliert: „Bildung lässt sich (…) nicht erwerben; Erwerb und schlechter Besitz wären eins.“27

Um den je neu lauernden Gefahren und Verkürzungen zu entkommen, ist permanente Bildungskritik notwendig, die lineare Fortschrittsgläubigkeit, verbunden mit dem idealistischen Glauben an eine Verbesserung von Welt und eine Vervollkommnung des Menschengeschlechts, immer wieder durchbricht. Dazu bedarf es sowohl der Kritik am Bildungsbegriff als auch der Kritik durch den Bildungsbegriff.28 Dieses (selbst)kritische Moment konstituiert ein Bildungsverständnis, das auf ein Erwerben und Klären eines Selbst- und Weltverständnisses und -verhältnisses abzielt, welches als unabschließbar zu verstehen ist, und welches vorfindbare Selbst- und Weltverhältnisse kritisch anfrägt. Es gilt, dem Bildungsverständnis sein gesellschaftspolitisch-kritisches Potenzial zurückzugeben und zu erhalten.29 Dazu haben auch Theologie und speziell Religionspädagogik Substanzielles einzubringen, was nicht ohne Auswirkung auf das damit in Beziehung stehende Verständnis von religiösem Lernen bleibt. „Das Fehlen eines kritischen Bildungsbegriffs und einer entsprechenden Bildungstheorie hat (…) mit dazu beigetragen, dass das Erziehungsverständnis – auch unter theologischem Einfluss – konservativ geprägt, das Lernverständnis instrumentell verengt und die Sozialisationskategorie rein deskriptiv verwendet wurde. Besonders das instrumentelle Verständnis von Lernen musste sich im Hinblick auf die Ziele und Inhalte sowie die Verlaufsformen religiöser Lernprozesse nachteilig auswirken.“30 Rudolf Englert formuliert es als Gebot der Stunde, dass sich die Religionspädagogik in die Auseinandersetzungen um den Bildungsbegriff einmischt und sich nicht auf die Bildung von Religion als einer ausgrenzbaren Domäne beschränkt. „Wer den Bildungsbegriff kampflos den pragmatischen Reduktionisten aus den Wirtschaftsverbänden und Handwerkskammern überlässt, darf sich nicht wundern, wenn ‚Religion‘ über kurz oder lang bildungspolitisch ganz und gar entbehrlich erscheint“31.

Bildung in diesem Sinne ist nur im Zusammenhang mit Lernen zu verstehen. Es gibt keine Bildung ohne Lernen. Leider gilt der Umkehrschluss nicht in derselben Weise: Ein Lernen ohne Bildung gibt es sehr wohl. Gerade in unseren staatlichen Bildungsinstitutionen, den Schulen, treffen wir nach wie vor ein Auswendiglernen von Textfragmenten, Gesetzen, Stichworten etc. für Prüfungen an, deren Sinnzusammenhang nicht erkennbar ist und die daher auch nicht sinnvoll angeeignet und für die Lernenden keine Bedeutung erlangen können.32 In dieser Form kann sich schulisches Lernen auch nicht daran bewähren, „dass die Lernenden unter dem Eindruck gewonnener Einsichten ‚täglich neu geboren‘, also gebildet werden (E. Fromm), sondern daran, dass sie bei Bedarf, nämlich auf Anweisung, das Gelernte möglichst unbenutzt wieder zutage fördern können.“33

Diese Sichtweise von Lernen, die vorrangig an einem vorformulierten Produkt und weniger an Erkenntnisgewinn orientiert ist, stellt eine verkürzte dar. Auch ein Verständnis von Lernen als bloße „Verhaltensänderung“34 oder als „Veränderungen im Gehirn des Lernenden“35 kann Lernen nicht im Horizont von Bildung, wie sie hier angesprochen wurde, erschließen. Um dem bedeutsamen, sinnvollen Lernen den Vorzug vor dem sinnlosen oder sinnentleerten Lernen geben zu können, ist es notwendig, Lernen an bildungstheoretische Überlegungen anzubinden. Wenn hier von (religiösem) Lernen die Rede ist, so geht es in erster Linie darum, dieses Verhältnis als ein eng miteinander verflochtenes zu konzipieren. Lerntheoretische Aussagen enthalten immer auch bildungstheoretische Implikationen, die auf konkrete anthropologische Grundannahmen rückverweisen.

1.3.      Bildungsdiskurse im Spannungsfeld gesellschaftlicher Entwicklungen

In der Gesellschaft werden wir in den unterschiedlichen Bereichen von Wirtschaft, Schule, Familie, Politik etc. je eigene Bildungstheorien mit ihren je eigenen Schwerpunktsetzungen ausgebildet. Während es unter einem wirtschaftlichen Fokus in erster Linie darum geht, die Frage nach dem Nutzen und der Verwertbarkeit für das wirtschaftliche Vorankommen einer Gesellschaft insgesamt, bestimmter (wirtschaftlicher) Ziele oder des jeweiligen Wirtschaftsunternehmens in den Vordergrund zu stellen, geht es unter einem politischen Fokus neben dem ökonomischen Nutzen von Wissen auch um Fragen der gesellschaftlichen Integration und der sozialen Stabilisierung einer Gesellschaft. In differenzierteren Diskursen kann es auch um Zivilcourage, Partizipation u.Ä. gehen, die Bildung neben diesen funktionalen Aufgaben auch als Instrument zur persönlichen und gesellschaftlichen Veränderung ansehen. Die gesellschaftspolitischen Maßnahmen zur Erreichung dieser Ziele fungieren zumeist unter dem Label „lebenslanges Lernen“, wobei sich hier in erster Linie Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen zum Integrieren in den Arbeitsmarkt, individuellem Bestehen auf dem Arbeitsmarkt und zur Stabilisierung des Arbeitsmarktes und der Gesellschaft verstehen lassen. Im Bereich der Pädagogik trifft man demgegenüber auch auf Verständnisweisen, die den Wert von Bildung für das Individuum jenseits von Nützlichkeits- und Zweckdenken betonen. Die Diskussionslinien zwischen den verschiedenen Diskursfeldern laufen – sofern sie stattfinden – ziemlich kontrovers, auch wenn es immer wieder Versuche gibt, „joint ventures“ einzugehen.36

Damit sich die verschiedenen Diskursfelder mit ihren unterschiedlichen Zugangsweisen zu Bildungsvorstellungen nicht einseitig verabsolutieren, bedürfen sie der gegenseitigen Kritik. So sinnlos es wäre, einen Bildungsbegriff jenseits von gesellschaftspolitischen Entwicklungen lediglich in der Betonung von Zweckfreiheit aufzubauen, so gefährlich wäre es, Bildung nur unter dem Fokus der Verwertbarkeit zu diskutieren. Selbst Humboldts Bildungskonzept stand im Dienste der Preußischen Reformen; „die Freisetzung des Individuums in zweckfreien Bildungsprozessen und die Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft aus den Zwängen der alten feudalen Ordnung waren zwei Seiten einer Medaille – Bildung ist zweckfrei, aber nützlich.“37 Anders herum formuliert betont Peukert im Rekurs auf Humboldts Vorgehen, „dass Bildung nur dann funktional sein kann, wenn sie nicht nur funktional ist.“38 In der gegenseitigen Kritik der unterschiedlichen Bildungskonzepte gilt es die Balance zwischen Zweckfreiheit und Verwertbarkeit, Muße und Effektivität anzustreben. Dieser Akt ist als fortdauernder Prozess aufzufassen und zu initiieren. Bildungsprozesse lassen sich in diesem Sinne nicht als abschließbare konzipieren; Ausbildung darf nicht gleichbedeutend mit dem „Aus“ an Bildung sein.

Da sich im gegenwärtigen gesellschaftlichen Leben der an wirtschaftlichen Kriterien orientierte Bildungsbegriff allerorts als dominanter erweist, 39 gilt es vor allem dem pädagogischen Diskurs und seinen Einsprüchen hier Raum zu geben. Dies nicht zuletzt deswegen, weil der Bildungsbegriff als Kampfbegriff eingesetzt wurde und wird, um eigene Machtansprüche in der Gesellschaft zu legitimieren.40 Nachdem die moderne Gesellschaft keinen strukturell abgesicherten kulturellen Kontext mehr abgibt, der Sinnfragen zufriedenstellend beantworten lässt, gewinnt nach Albert Scherr in Anlehnung an Erhard Meueler jene „Bildungspraxis an Bedeutung, die sich ‚als bewusstes Gegensteuern gegen Gefühle der Ohnmacht, der Isolation und der Sinnlosigkeit‘ versteht, in der also solche Angebote unterbreitet werden, die dazu befähigen, Fragen nach dem funktional nicht aufgehobenen Sinn der eigenen Lebenspraxis zu stellen und ohne Rückfall in religiöse oder sonstige Fundamentalismen zu bearbeiten.“41 Es geht nicht darum, Antworten in Form geschlossener Weltbilder bereit zu stellen, sondern Bildungspraxis kann Kommunikations- und Reflexionsorte eröffnen, in denen sich die Einzelnen über ihre Erfahrungen und Sichtweisen zu verständigen und anzufragen versuchen und mit den vielfältigen Sinnangeboten kritisch auseinandersetzen. Dazu ist es notwendig, eine innere Distanz zu den Zwängen der Effizienz und Verwertbarkeit, wie sie mittlerweile berufliche wie Freizeitaktivitäten charakterisieren, zu entwickeln, damit jene Haltung der inneren Gelassenheit und kritischen Reflexivität realisiert werden kann, die eine unabdingbare Voraussetzung für Bildungsprozesse darstellt. Dieses Gegen- und Innehalten ermöglicht, dass das Schicksal derjenigen, die hier nicht mithalten können oder wollen, überhaupt in den Blick kommt.42 Neben der allerorts geforderten Effizienz und Verwertbarkeit gilt es in Bildungsprozessen vor allem der Muße Bedeutung zu geben, da die Herausforderungen, vor die uns jene Phänomene, die Effizienz und Verwertbarkeit durchkreuzen, wie es beispielsweise physische, psychische und intellektuelle Beeinträchtigungen, Traumatisierungsfolgen oder soziale Ungerechtigkeiten tun können, stellen und die sich nicht sofort und wirksam lösen lassen, zunächst eine aufmerksame Wahrnehmung verlangen. Der bewusst verlangsamte Blick auf das Widerständige, Nicht-Leistbare, Irritierende in uns43 und anderen birgt die Chance, die Sinnfrage in die Gesellschaft neu einzuspeisen, diese auf Veränderungen hin zu öffnen und so Effizienz und Verwertbarkeit unter neuen Bedingungen zu ermöglichen oder aus bestimmten Bereichen aus humanitären Gründen auszusparen.

Rainer Kokemohr bringt ein Verständnis von Bildung ein, das sich als Transformationsprozess verstehen lässt, in welchem das Welt- und Selbstverständnis durch neue Herausforderungen weitreichende Veränderungen erfährt. Diese Herausforderungen stellen eine Art Krisenerfahrung dar, die das bisherige Welt- und Selbstverständnis erschüttern. Kokemohr vermutet, „dass Bildung als ein Prozess zu begreifen ist, der durch einen fremden Anspruch herausgefordert wird.“ Dieser Vermutung liegt die Vorstellung zu Grunde, „dass Bildungsprozesse dort notwendig werden, wo Erfahrungen nicht in die Grundfiguren jener lebensgeschichtlich aufgebauten Ordnung integriert werden können, die meine alltäglichen Interpretationen leiten.“ Bildung bedeutet somit einen „Prozess des Fraglichwerdens hergebrachter und des tentativen Entwurfs neuer Ordnungsfiguren“44. Zentral an Kokemohrs Position ist, dass er das Fremde als eine wesentliche Kategorie für Bildungsprozesse ansieht und den Prozesscharakter von Bildung betont. Von Bildung zu sprechen wird dann als gerechtfertigt angesehen, „wenn der Prozess der Be- oder Verarbeitung subsumtionsresistenter Erfahrung eine Veränderung von Grund legenden Figuren meines je gegebenen Welt- und Selbstentwurfs einschließt.“45 Damit ist aber auch ausgesagt, dass nicht jede subsumtionsresistente Erfahrung in einen Bildungsprozess einmündet. Traumatisierungserfahrungen beispielsweise können sich durch ihre überlebensnotwendigen Strategien des Verleugnens oder Verdrängens der Be- und Verarbeitung mit der Möglichkeit auf Veränderung von Welt- und Selbstentwurf verschließen.

Auch hinsichtlich des Subjektbegriffs, der hier ins Spiel kommt, versucht Kokemohr eine Neujustierung vorzunehmen, indem er Subjekt nicht als Instanz, sondern als Moment eines Prozesses zu denken versucht. Dies hat weitreichende Folgen im Hinblick auf bisherige Subjektverständnisse. „Der Bildungsbegriff der Aufklärungstradition gilt dem selbstreferenziellen Subjekt und seiner Autonomie. Die Figur des selbstreferenziellen Subjekts ist jedoch ebenso wie sein Kontext, das Projekt der Moderne, dem Verdacht imaginärer Konstruktion ausgesetzt und der Kritik unterworfen worden. Der vorgeschlagene Bildungsprozessbegriff steht dieser Kritik nahe, insofern er darauf verweist, dass die Konstruktion eines Subjekts ein Prozess ist, der sich auf eine Weise symbolisch-imaginär vollzieht, die den Autonomie-Topos untergräbt.“46 Kokemohr zieht aus diesen Überlegungen die Konsequenz, indem er die Rede vom selbstreferenziellen Subjekt durch jene vom sozialreferenziellen Subjekt ersetzt. Dabei geht es mehr als nur um den Austausch irgendeines Prädikates, das dem Subjekt zukommt oder nicht.47 Ein grundlegend anderes Verständnis von Subjekt ist hier im Spiel, welches auf Erfahrungen abgestützt wird, „dass manche Kulturen innerhalb ihres symbolischen Kosmos kein selbstreferenzielles Subjekt konstruieren. Während in europäischen Kulturen das, was als Subjekt bezeichnet wird, sprachlich unabhängig von je bestimmten Bezugnahmen auf andere mit dem indexikalischen, von bestimmten Kontexten weit gehend unabhängigen Ausdruck ich, oder seinen Äquivalenten etwa des englischen I, des französischen je usw. angesprochen werden kann, verweist eine Sprecherin oder ein Sprecher in manchen außereuropäischen Kulturen auf sich in verschiedenen semantisch-syntaktischen Redefiguren, deren Wahl von jenem anderen abhängt, auf den Bezug genommen wird.“48 Auch Pongratz weist darauf hin, dass die Transzendierung bzw. Aufhebung der Selbstbezüglichkeit des Bildungssubjekts, wie es in den idealistischen Konzeptionen vorgestellt wird, zunächst der Aufmerksamkeit für die gesellschaftlichen Bedingungen der Subjektkonstitution bedarf. „Denn jedes Selbst-Verhältnis ist eingelassen in eine mir gegenüber stehende, zunächst fremde Welt. (…) Bildung erschließt sich also nicht nur (…) vom Subjekt her, sondern umgekehrt gilt genauso: keine Bildung ohne Anerkennung des Anderen (vgl. Meyer-Drawe 2001), ohne die Bereitschaft, sich der Befremdlichkeit der Welt auszusetzen.“49 Diese sozialreferenzielle Perspektivierung lautet in religionspädagogischer Zuspitzung: „Genauso wenig wie man nie einfach aus sich selbst gebildet ist, sondern immer nur in der Teilhabe an einer gemeinsam zu verantwortenden Kultur, ist man auch nie nur für sich selbst gebildet, sondern immer auch, um Verantwortung für Andere übernehmen zu können.“50

Marotzki, Nohl und Ortlepp heben beim Bildungsbegriff seine hohe orientierende Funktion hervor. Als Kern wird – die Tradition Humboldts aufgreifend und weiterführend, ähnlich wie bei Kokemohr – die Entwicklung von Selbst- und Weltreferenzen durch die Ausbildung entsprechender sprachlich vermittelter Reflexionsmuster angesehen.51 In den gegenwärtigen hochkomplexen Gesellschaften geht es um die Frage, wie Orientierung in der Wissensgesellschaft möglich ist. Die Analyse von Jürgen Mittelstraß aufgreifend, wonach in modernen Gesellschaften der Abstand zwischen einem Verfügungswissen, das ein Faktenwissen darstellt, und einem Orientierungswissen immer weiter auseinanderklafft52, ist nach Marotzki, Nohl und Ortlepp die Klärung des Verhältnisses von Faktenwissen und Orientierungswissen zu einer zentralen Aufgabe geworden, die es bildungstheoretisch zu klären gilt.53 „Bildungsprozesse sind vor diesem Hintergrund immer weniger als Entwicklung des Einzelnen auf ein bestimmtes Ziel hin anzusehen, sondern lassen sich vielmehr über Transformationen der Welt- und Selbstreferenzen in lebensgeschichtlichen Horizonten verstehen. Bildungsprozesse sind dabei zentral an die Herstellung von Bestimmtheit und die Ermöglichung von Unbestimmtheit gebunden.“54 Vor allem der Gedanke der Ermöglichung von Unbestimmtheit ist wichtig im Hinblick darauf, sich in hochkomplexen Gesellschaften orientieren zu können. Dies heißt zunächst, dass man sich von der Vorstellung, dass Unbestimmtheiten immer gleich in Bestimmtheiten zu überführen seien, lösen muss.55 Faktenwissen, das Bestimmtheit erzeugt, ist notwendig, aber nicht ausreichend. Vielmehr gilt es, dass Unbestimmtheiten einen Platz in unserem Denken erhalten müssen; „dann und nur dann wird tentative, experimentelle, umspielende, erprobende, innovative, Kategorien erfindende, kreative Erfahrungsverarbeitung möglich.“ Bildung benötigt den Umgang mit den Unbestimmtheiten, um einen Zugang zu Vieldeutigkeiten zu eröffnen und den Prozess von Bildung nicht zu blockieren. „Bildung im Modus der Bestimmtheit ist tendentiell gefährdete Bildung als Ausdruck identitätstheoretischen Denkens. Bildung im Sinne von Unbestimmtheit ist sich erfüllende Bildung als Ausdruck differenztheoretischen Denkens.“56

10 Nipkow 2005a, 9

11 Meyer-Drawe 2007, 84

12 Gronemeyer 1997, 23

13 Vgl. Anhalt, der vor allem das Fehlen einer systematischen Reflexion dieses Begriffs in der Pädagogik kritisch festhält und diesen „Schlendrian“ zu beseitigen einmahnt. (Anhalt 2009)

14 Meyer-Drawe 2007, 29ff

15 Anhalt 2009, 19

16 Dahinter steht ein nicht gelöster Konflikt im Disput um den Kernbegriff der Pädagogik, der zudem auch noch die Begriffe Erziehung und Sozialisation umfasst. (Faulstich/Faulstich-Wieland 2008, 13f)

17 Pongratz 2010, 31

18 Nipkow 2005a, 17

19 Vgl. dazu näher Nipkow 2005a, insbes. 30-48; Winkel 2005, 197-474

20 Vgl. Nipkow 2005a, 20f

21 Hartmut von Hentig bezeichnet dieses „Nicht-Wissen“ als ein unentschuldbares Unterlassen von Wissen: „Später haben Deutsche behauptet, sie hätten ‚nichts gewusst‘. Was immer dies heißt, es entschuldigt sie nicht. Im Gegenteil, nicht gewusst zu haben, ist die Schuld, denn es bedeutet: nicht gefragt zu haben. Wenn heute mein Nachbar plötzlich und spurlos verschwindet, kümmere ich mich um seinen Verbleib. Es weiß jeder, warum er das damals unterließ.“ (Hentig 1983, 26)

22 Welche Herausforderungen dies unter veränderten Gegebenheiten gegenwärtig nach wie vor darstellt vgl. ausführlich in Pongratz 2010, 177ff

23 Winkel 2005, 240

24 Vgl. dazu die assoziativen, aussagekräftigen Gedankengänge von Dietrich Zilleßen zu Leit-bildung (Zilleßen 2001a)

25 Auch die seit Jahren anhaltende Schulreformdebatte v.a. in den deutschsprachigen Ländern ist eine Debatte um die Frage, wer der Bildung als würdig erachtet wird. In einem nach wie vor an Sozialstatus und weniger an Leistung orientierten Gesellschaftssystem wird die Bildungsfrage nicht nur inhaltlich eingeengt auf ein bildungsbürgerlich kanonisiertes Wissens- und Verhaltensrepertoire und die Befähigung zur gewinnbringenden Beteiligung an den wirtschaftlichen Herausforderungen, sondern zur gesellschaftspolitisch brisanten Frage, wer Zugang zu dieser Bildung erhalten soll und darf. So lange der soziale Status der wesentlichste Zugangsfaktor zu Bildung ist, können selbst eine Abschaffung früher Selektion und ein unbeschränkter Zugang zum tertiären Bildungssektor nicht so schnell etwas verändern. (vgl. Hartmann 2002)

26 Hofer 2/2010, 119; vgl. dazu auch Gronemeyer 1997, 86f

27 Adorno 2006, 33

28 Vgl. Pongratz 2001, 193; Pongratz und Bünger weisen dabei darauf hin, dass eine Neufassung des Bildungsbegriffs keine Neuerfindung bedeutet. „Jede begriffliche (Neu-) Bestimmung muss auf die gesellschaftliche Realität der Bildung Bezug nehmen: nicht als Abbild, nicht als schlichte Verdopplung der Realität in der Theorie, sondern als Kritik. Eine in diesem Sinn kritische Bildungstheorie setzt fort, was jedem Bildungsprozess eigentümlich ist: die Distanzierung von vermeintlichen Gewissheiten.“ (Pongratz/Bünger 2008, 127) Auch Astrid Messerschmidt weist darauf hin, dass selbst eine kritische Bildungstheorie nicht außerhalb der Kritik positioniert werden kann, weil sie dadurch kritiklos vereinnahmt, sondern dass es das Fragwürdigwerden von Kritik und die Widersprüchlichkeit jeder kritischen Intervention gleichfalls zu bedenken gilt. (Messerschmidt 2009)

29 Gerade weil Bildung heute als Generallösung für alle Probleme herhalten muss, werden mit ihr nur noch Gewinne und keine Verluste mehr verbunden. Ein derart faconierter Bildungsbegriff beraubt sich somit der (Selbst)Kritikfähigkeit. So hält auch Käte Meyer-Drawe fest: „Weil der moderne Bildungsbegriff als Kampfparole gegen jede Entfremdung ausgegeben wurde, konnte mit ihm kein inhärenter Mangel mehr formuliert werden.“ (Meyer-Drawe 2007, 90)

30 Biehl 2003a, 9

31 Englert 2/2010, 127

32 Selbiges lässt sich auch im universitären Kontext beobachten.

33 Gronemeyer 1997, 85

34 „Lernen bewirkt eine relativ dauerhafte Verhaltensänderung auf Grund von Erfahrung.“ (Schröder 22002, 14)

35 Spitzer 2006, 4

36 Am Beispiel „lebenslangen Lernens“ lässt sich aufzeigen, wie ein Konzept, das in der Pädagogik entwickelt wurde und zunächst als Vorstellung permanenter Erziehung an humanistischen und emanzipatorischen Idealen orientiert war, zunehmend vom Bildungsdiskurs der Wirtschaft aufgegriffen wurde und nun stark auf Flexibilität und Konkurrenz ausgerichtet ist und durch den Diskurs aus der Hirnforschung wissenschaftlich gestützt wird. (Meyer-Drawe 2008, 45; Pongratz 2010, 196f)

37 Sander 2/2009, 246

38 Peukert 2002, 56

39 Dazu lassen sich sicherlich auch jene bildungspolitischen Entwicklungen rechnen, die von der OECD durch PISA unter dem Stichwort Kompetenzorientierung als dominantes Veränderungsinstrument ins Spiel gebracht werden. (vgl. Brenner 2005, 244)

40 Scholz 2/2009, 317f; Pongratz verweist auch noch darauf, dass neben dem machtpolitischen Aspekt und inhaltlichen Gründen vor allem in den widersprüchlichen Intentionen von Bildung der Grund für das Ringen um ein rechtes Verständnis liegen. (Pongratz 2001, 192 und Pongratz /Bünger 2008, 110)

41 Scherr 2003, 91. Scherr nimmt hier Bezug auf Meueler, Erhard: Die Türen des Käfigs. Wege zum Subjekt in der Erwachsenenbildung, Stuttgart 1993, 127

42 Vgl. Scherr 2003, 91f

43 Vgl. dazu ausführlicher: Lehner-Hartmann 2013

44 Kokemohr 2007, 14

45 Kokemohr 2007, 21

46 Kokemohr 2007, 21

47 Auch Egon Erb weist in seinen Ausführungen zu Subjektmodellen in der Psychologie darauf hin, dass radikalkonstruktivistische Modelle mit ihrer starken Betonung von Selbstreferentialität soziale Interaktionen außer Acht lassen und in der Folge bestimmte Phänomen wie das Lernen als „Anpassung an die Umwelt“ nicht mehr hinreichend erklärt werden können. (Erb 1997, 171f)

48 Kokemohr 2007, 22

49 Pongratz 2010, 27

50 Englert 2007, 167f

51 Marotzki/Nohl/Ortlepp 2005, 169

52 Gemäß seiner Analyse sind moderne Gesellschaften stark in der Anhäufung von Verfügungswissen, aber schwach in der Ausbildung von Orientierungswissen. Als Verfügungswissen wird ein Wissen um Ursachen, Wirkungen und Mittel beschrieben und somit als positives Wissen ausgewiesen, Orientierungswissen hingegen ist ein Wissen um gerechtfertigte Zwecke und Ziele und somit ein regulatives Wissen. Orientierungswissen bezeichnet Einsichten, die im Leben orientieren und solche, die das Leben orientieren, ihm Sinn geben. (Mittelstraß 2003b, 12 und Mittelstraß 2002, 164)

53 Vgl. auch Mittelstraß 2003a, 256f

54 Marotzki/Nohl/Ortlepp 2005, 170

55 Diese Überlegungen erinnern an sokratische Gedanken zum Verhältnis von Wissen und Unwissen. Unwissen gilt es in Wissen zu überführen, wobei dieses Wissen auch das Nicht-Wissen mit einschließt – im Sinne eines Wissens über das, was man nicht weiß. Auch hier bleibt die Spannung vor allem zwischen Wissen, das in Gewusstheit überführt werden kann und dem Wissen, das ein Bewusstsein über das, was nicht gewusst wird, darstellt. Nichtwissen ist nicht ident mit Unwissen zu verstehen, sondern es geht darum, dass Unwissen in Form von bloßen Meinungen in Nichtwissen überführt wird. (vgl. Sander 2/2009, 245)

56 Marotzki/Nohl/Ortlepp 2005, 171

2.       Religiöse Bildung

2.1.      Religion – Religiosität – Glaube

Die Rede von religiösem Lernen und religiöser Bildung im Horizont bestimmter konfessioneller Ausprägungen unterlegt zumeist ein konsensuales Verständnis ohne der Beifügung „religiös“ weitere klärende Aufmerksamkeit zu widmen.57 Damit steht die Religionspädagogik nicht alleine da. Auch die Religionswissenschaft müht sich mit der Präzisierung ihres Zentralbegriffes „Religion“ ab; manche ziehen aus der Schwierigkeit, Religion definitorisch fassen zu können, sogar den Schluss, es ganz zu unterlassen.58 Die Probleme scheinen dabei vielschichtig zu sein. Ein zentrales Hindernis besteht zunächst in der stark eurozentrischen Entwicklungsgeschichte des Religionsbegriffs, der im Singular den Blick auf die Religionen anderer Kulturen verstellt. Zudem ist er begrifflich nicht eindeutig. „Einerseits bildet dieses Substantiv den Singular von Religionen (im Plural), andererseits ist er auch auf individuelle Religiosität bezogen, insofern gesagt wird: ‚ein Mensch hat Religion‘.“59 Mit dem Begriff von Religion werden beide Möglichkeiten, nämlich Religion als ein Religionssystem, wie wir es in den Formen von Christentum, Islam, Judentum, Buddhismus, Hinduismus etc. vorfinden, und Religiosität als persönliche Überzeugung des jeweiligen Individuums angesprochen. Dabei wird der Begriff der Religiosität, der in der Religionspädagogik bevorzugt gebraucht wird60, in zweierlei Hinsicht verwendet: zunächst um das Gemeinsame der Religionen auszudrücken und davon abgegrenzt die Differenz im Sinne des Individuell-Subjektiven zu den Religionssystemen. Um diese Phänomene definitorisch erfassen zu können, trifft man auf die umstrittenen substantialistischen bzw. funktionalistischen Bestimmungen von Religion, die einmal entlang der Orientierung an einem konkreten Religionssystem erfolgen und das andere Mal sich von ihren Funktionen herleiten. „Während es in substantiellen Definitionen darum geht festzustellen, was Religion ist, kommt es funktionalen Definitionen darauf an zu bestimmen, was Religion leistet.“61 Wird ersterem Definitionsversuch vorgehalten zu eng zu sein, wird ein funktionalistischer Religionsbegriff meist als zu weit gefasst empfunden, weil damit auch Phänomene umfasst werden, die nicht mehr als Religion zu verstehen sind. Daneben finden sich noch dimensionale Modelle von Religion62, die Aspekte, die bei (fast) allen Religionen auftreten, zu benennen suchen. Nach Johann Figl handelt es sich dabei aber weniger um Definitionen denn um Beschreibungen.63

Tendenziell wird in den (religions)wissenschaftlichen Debatten einem weiten Begriff der Vorzug gegeben, da ein „eng gefasster Religionsbegriff (…) zwar einen Gewinn an Trennschärfe gegenüber anderen kulturellen Segmenten mit sich [bringt], allerdings auf Kosten der höheren Erfassungsbreite.“64 Da sich religiöse Praxis bzw. Funktionen von Religion nicht mehr im Binnenraum institutionalisierter Religionen allein, sondern auch außerhalb von diesen auffinden lassen65, legt es sich für religionspädagogische Überlegungen nahe, diese nicht außer Acht zu lassen. So hat sich in religionspädagogischen Diskursen auch eine Fokussierung auf individuelle Religiosität und insofern eine Tendenz zu einem weiten Religionsverständnis, das christlich-konfessionelle Grenzen sprengt, etabliert. Der Begriff der Religiosität versucht das Freiheitsmoment religiöser Selbstdefinition unabhängig von bestimmten Religionssystemen zu garantieren, wenngleich dies den konkreten Individuen nur schwer gelingt, da sie individuelle Religiosität zumeist nur unter Bezugnahme auf Religion, wie sie in der jeweiligen Kultur auffindbar ist, zur Sprache bringen können.66 Bei aller Orientierung an den Fragen nach Sinn, den Erfahrungen von Solidarität, Gerechtigkeit und Liebe, die den/die Einzelne/n antreiben, lässt sich aber gleichzeitig ein Ringen um den Bezug zu einem institutionalisierten Religionssystem, im europäischen Raum konkret dem kirchlich repräsentierten Christentum feststellen.67 In zunehmend religiös pluraler werdenden Gesellschaften in Europa ist zudem eine Wachsamkeit für andere Sozialformen der Religion zu entwickeln.

Wenngleich auch Luckmanns Religionsbegriff in „Die unsichtbare Religion“ der Kritik fehlender Trennschärfe unterworfen wurde, eröffnet er für das Wahrnehmen von Religion und subjektiver Religiosität die Möglichkeit, eine Fixierung auf das, was innerhalb kirchlicher Organisationsformen fassbar ist, aufzulösen. Dass dadurch Phänomene von Religion in den Blick kommen, die außerhalb traditionell verfasster Religionen entstanden sind, nähert sich den realen Lebensbedingungen der SchülerInnen und deren (oftmals unbewussten) Erfahrungen von und mit Religion an. Für Luckmann besteht die Funktion von Religion darin, Menschen innerhalb einer geschichtlich entstandenen Ordnung zu Handelnden werden zu lassen. „Religion findet sich überall dort, wo aus dem Verhalten der Gattungsmitglieder moralisch beurteilbare Handlungen werden, wo ein Selbst sich in einer Welt findet, die von anderen Wesen bevölkert ist, mit welchen, für welche und gegen welche es in moralisch beurteilbarer Weise handelt.“68 Seine Auffassung von Religion steht in enger Verbindung mit seinem Verständnis von „Transzendenz“, das er in „kleine“, „mittlere“ und „große“ Transzendenzen unterscheidet. Transzendenzen markieren Grenzen der Erfahrung, die darauf beruhen, dass zwischen dem in der Erfahrung Gegebenen und dem Mit-Gegebenen, dem Nicht-Gegenwärtigen, unterschieden wird. Jede Erfahrung führt also Verweisungen mit sich, die nicht vergegenwärtigt sind. „Im weitesten Sinn des Wortes heißt Erfahrung von ‚Transzendenz‘, dass der jeweilige Inhalt der Erfahrung, was immer dieser auch sein mag, also auch, wenn er nicht etwas Fremdes erfasst, über sich selbst hinausweist.“69 In den „kleinen“ Transzendenzen ist das angezeigte Nicht-Erfahrene genau so erfahrbar wie das gegenwärtig Erfahrene, in vergangenen oder vorentworfenen Erfahrungen – z.B. kann es erinnert werden. Bei den „mittleren“ Transzendenzen geht es um die Erfahrung, dass sich etwas nur in der Vermittlung zeigt, wie das Verstehen der Mitmenschen und die Verständigung mit ihnen. Diese Fähigkeit des Menschen, sich selbst zu transzendieren, ist für Luckmann die Basis, auf der die institutionalisierten Formen von Religion aufsetzen. Unter „große“ Transzendenzen fallen die Erfahrungen angesichts von Tod, Überwältigung u.dgl., die auf eine andere, außeralltägliche und als solche nicht unmittelbar erfahrbare Wirklichkeit verweisen. Damit ist der eigentliche Bereich des Religiösen im engeren Sinne umschrieben. Hier spielen Symbole und Rituale eine wichtige Rolle, indem sie eine Brücke zwischen den Wirklichkeitsbereichen herstellen und Kommunikation ermöglichen. In den westlichen Gesellschaften lassen sich dazu institutionell spezialisierte Orte, wie die Kirchen, ausmachen, oder informelle Milieus, wie Friedensbewegung, Jugendszenen u.Ä., in denen Formen der Religiosität sichtbar werden.70

In einer konfessionellen Perspektive, die für einen konfessionellen Religionsunterricht nicht ausgespart bleiben kann, stellt sich zudem auch die Frage nach dem Glauben und somit nach der Entscheidung, die der Beschäftigung mit Religion sowohl hinsichtlich der persönlichen religiösen Fragen als auch hinsichtlich eines Religionssystems entspringt. Nach Hans-Georg Ziebertz steht der Religionsbegriff in einem christlichen Religionsunterricht „in einer kritisch-konstruktiven Spannung zum Begriff des Glaubens. Was Religion meint, ist dem Glauben nicht fremd, gleichwohl geht der Glaube nicht in Religion auf. Die Thematisierung von Religion im Licht des Glaubens konkretisiert Religion und verinhaltlicht sie. In diesem Sinn spricht das Johannes-Evangelium von Gott als Weg, Wahrheit und Leben und die gesamte Jesus-Verkündigung findet ihre Sinnspitze in der Ankündigung des Gottesreiches, das durch die Nachfolge anfanghaft erfahrbar wird.“71 Das Ziel konfessionellen Unterrichts liegt in erster Linie nicht darin, eine Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Religion treffen zu können. Dafür ist Schule nicht der erste und geeignete Ort, wenngleich die Potenzialität einer Entscheidung offen gehalten werden kann. Vielmehr geht es darum, sich mit den Fragen eigener Religiosität und in konfessioneller Perspektive mit einer geschichtlich konkret gewordenen Sozialgestalt von Religion begründet auseinanderzusetzen. Das Ziel lässt sich sehr wohl darin sehen, in der Gedankenwelt einer bestimmten Religion denken zu lernen bzw. die eigenen religiösen Fragen im Horizont einer vorgeformten religiösen Perspektive durchzudenken, anfragen zu lassen und weiter zu entwickeln.

2.2.      Wenn Religion auf Bildung trifft

2.2.1.   Eine Entwicklungsgeschichte: mit- und gegeneinander

Religion – im europäischen Raum in erster Linie in christlicher Prägung – bleibt von den Entwicklungen der aufgeklärten Moderne nicht unberührt, sondern wird in ihrer Vormachtstellung, die Definitionsmacht über Mensch und Welt zu besitzen, massiv angefragt. Als aufklärerisches Ziel wird nun vielmehr angesehen, sich über die Vernunft, in der Orientierung an Freiheit und Autonomie des Subjekts, aus den Fängen der Religion zu befreien und das menschliche Subjekt aus sich selbst heraus begründend zu konstituieren – unabhängig von göttlichen Größen und religiösen Determinationen. Die Hoffnung, dass dies verwirklichbar ist und gelingen möge, verknüpfte die Aufklärung mit dem Stichwort der Bildung. Konsequenterweise bedeutete dies eine Zurückdrängung öffentlicher Bedeutsamkeit von Religion, wie es sich u.a. in der Proklamation von Religion als Privatsache wiederfindet. Erziehungs-, Lern- und Bildungsprozesse haben hier einzig und allein die Aufgabe, den Einzelnen beim Finden seiner individuellen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen zu unterstützen. „Ob das wirklich so möglich ist und ob auf diese Weise nicht umso sublimer eine strukturelle Einbindung der Heranwachsenden in die herrschende Ideologie (z.B. ‚Konsumreligion‘) erfolgt, wird nicht zu Unrecht kritisch zurückgefragt.“72 So sehr es befreiend notwendig war, Religion in ihrer einengenden, determinierenden Form aufzudecken, so notwendig ist es auch, ein wachsames Auge darauf zu haben, dass dadurch entstehende Vakui nicht durch neue determinierende Formen religiös-ideologischer Art gefüllt werden. Wenn Bildung Befreiungsarbeit leisten soll, wird es notwendig sein, Religion nicht aus Bildungs- und Lernprozessen auszuklammern, sondern sie als Reflexionsobjekt zentral in den Blick zu nehmen und auf Humanität und Gerechtigkeit hin kritisch zu befragen. Und dies sowohl hinsichtlich individueller Überzeugungen als auch hinsichtlich institutionell verfasster Formen von Religion.

Obwohl Bildung und Religion oft als widersprüchliche, unvereinbare Begrifflichkeiten gegeneinander ausgespielt werden73, zeigen sich in ihren Begriffsgeschichten seltsam ähnliche Berührungspunkte. Beide Begriffe charakterisiert ein gewisses Maß an Widerständigkeit, mit dem sie sich einer endgültigen Definition entgegensetzen und die dazu zwingt, sie als bedeutungsüberschüssig auszuweisen. Ihre Wirkmacht und Bedeutung sind endgültig nicht festlegbar. Die Begriffe widersetzen sich einer starren Vorgabe und müssen kontextuell je neu und unterschiedlich eingeholt werden. Beide Begriffe haben ihren gesellschaftlichen Ausgangs- und Zielpunkt im bürgerlichen Milieu. Religion wie Bildung erhalten vorrangig in diesem gesellschaftlichen Segment Bedeutung. Bildungs- und Religionskritik müssen gerade diese Normierungen in den Blick nehmen, um anderen Gesellschaftsschichten Bildungschancen und den Zugang zu religiösen Fragen nicht zu verstellen. Durch diese Kritik muss gleichzeitig auch der Blick dafür geschärft werden, welche Formen von Bildung und religiösem Leben in anderen gesellschaftlichen Kontexten Bedeutung und Ausdruck finden.74 Diese Kritik begründet sich aus dem Freiheitsmoment, das beiden Konzepten zentral ist.75 Wenn – theologisch gesprochen – Gott den Menschen in Freiheit anruft und zur Antwort in Freiheit herausfordert, gilt es eine bürgerliche Religion anzufragen, ob sie dies allen ermöglicht bzw. wo der Weg dazu versperrt bleibt. Johann Baptist Metz weist darauf klar und deutlich hin, dass das Christentum als bürgerliche Religion nicht mit der Religion des Evangeliums gleichzusetzen ist. Vielmehr führte die mit dem aufklärerischen Ideal der „Mündigkeit“ einhergehende Einstellung gegenüber der Religion zur „bürgerlichen Unnahbarkeit gegenüber Religion“76. Darunter versteht er, dass Religion nicht mehr den Bürger beansprucht, sondern der Bürger die Religion, in dem er sich ihrer bedient, wenn er sie braucht, sie aber nicht mehr an sich heran lässt.77 Als Pflicht sieht er an, die Widersprüche im bürgerlichen Aufklärungsprozess wahrzunehmen und das Thema der Freiheit und Mündigkeit der Christen gründlicher und gegenüber dem bürgerlichen Individualismus auch solidarischer anzugehen.78 Dass Gott Mensch geworden ist und dies unter Bedingungen, die „geordneten“ Lebensverhältnissen entgegenstehen und seine Menschwerdung somit am Rand der Gesellschaft ansiedeln, mag ein Ansatzpunkt sein, den Platz der Menschwerdung Gottes wie der Menschen an den Rändern und nicht nur in der Mitte der Gesellschaft zu sehen. In ähnlicher Weise ist Bildung herausgefordert, ihr Ziel nicht nur in guten Sitten und Diskursfähigkeit in der sogenannten Hochkultur zu sehen, sondern die Bildungschancen, die den BürgerInnen nicht nur formal, sondern vor allem hinsichtlich ihrer realen Wirkung offeriert werden, anzufragen und Bildung gleichfalls an den Rändern der Gesellschaft zu verorten.79Rudolf Englert sieht für ein zukunftsfähiges Verständnis von Bildung zwei Richtungen, zwei Fragestellungen als wesentlich an: „Zum einen ist nach der bildenden Kraft des gelebten Lebens zu fragen.“80 Damit sind im Hinblick auf die Schule nicht nur die objektiven Vorgaben, wie Lehrpläne u. dgl. gemeint, sondern wesentlich die heimlichen Lehrpläne, die SchülerInnen aus ihrer Lebenswelt mit den dort geltenden Regeln und Anforderungen mitbringen.81 „Zum anderen muss nach der Bildung gerade derer gefragt werden, die sich mit der Entwicklung zur Wissensgesellschaft schwer tun“, damit Menschen nicht nur in eine Zuschauerrolle gedrängt werden und verlernen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. „Der Beitrag einer von Christinnen und Christen verantworteten religiösen Bildung könnte (…) darin bestehen, die Gedanken von der gleichen Würde und von der unterschiedlichen Berufung der Menschen stark zu machen. (…) Würde ist keine Variable gesellschaftlichen Erfolgs, der Wert einer Berufung nicht abhängig vom Vorhandensein brillanter Fähigkeiten.“82 Dass in der Betonung von Würde und Berufung die in Gott gründende Anerkennung jedes Einzelnen zum Tragen kommt, bedeutet, dass Menschen nicht ge- und vertröstet schicksalsergeben einen abgedrängten Zuschauerplatz einnehmen, sondern ermutigt werden, ihren Platz in der Gesellschaft zu beanspruchen, ihre Talente zu entdecken und einzusetzen und in hoher Selbstverantwortung ihre Lebensgestaltung in die Hand zu nehmen – im Bewusstsein um die Kritikwürdigkeit ihres Tuns.

Bildung und Religion tragen in sich das kritische Potenzial, Ungerechtigkeiten und Unterdrückungsmechanismen aufspüren, benennen und Veränderungen zugänglich machen zu können. Gleichzeitig können sie an der Erzeugung ungerechter, unterdrückender Verhältnisse wesentlich beteiligt sein, wenn der Zugang zu Wissen oder das Erkennen von Zusammenhängen dazu benutzt oder „im Namen Gottes“ Menschen in Abhängigkeitsverhältnissen gehalten werden. Wenngleich Bildung wie Religion auf die Einholung von Humanität und Gerechtigkeit gerichtet sein können; gewährleisten können sie dies nur in permanenter Selbstkritik.83

2.2.2.   Unterbrechung: eine gemeinsame Kurzdefinition

Aufgrund der Komplexität der Religions- und Bildungsdiskurse mag es verblüffen, dass sich in beiden Diskursfeldern Diskussionsstränge auffinden lassen, die Religion und Bildung mit ein und derselben Kurzformel belegen: Unterbrechung. Im Kontext der politischen Theologie hat Johann Baptist Metz die Aussage von der kürzesten Definition von Religion als Unterbrechung84 geprägt und im pädagogischen Kontext Ludwig A. Pongratz, der Unterbrechung als kürzesten Namen für Bildung ausweist85; beide aus unterschiedlichen theoretischen Positionen herkommend. Pongratz greift in seinen Analysen auf das Theorem der „Halbbildung“ bei Adorno zurück. Adorno sieht in seiner „Theorie der Halbbildung“ die in Bildung angelegte Vereinseitigung auf Kultur als Geisteskultur, die sich im Gegensatz zur Praxis sah, aber letztendlich zu einer Anpassung an die gesellschaftlichen Verhältnisse führt, als Kernproblem, weil dadurch die kritische Kraft, die von Bildung ausging, verloren wurde. „Erstarrt das Kraftfeld, das Bildung hieß, zu fixierten Kategorien, sei es Geist oder Natur, Souveränität oder Anpassung, so gerät jede einzelne dieser isolierten Kategorien in Widerspruch zu dem von ihr Gemeinten und gibt sich her zur Ideologie, befördert die Rückbildung.“86 In einem einseitig an Geisteskultur orientierten Kulturverständnis wird die gesellschaftlich vollzogene Trennung von körperlicher und geistiger Arbeit und somit von gesellschaftlicher Ungleichheit gerechtfertigt.87 Halbbildung ist das Produkt dieser gesellschaftlich verursachten Verhinderung von Bildung. Gesellschaftliche Ökonomisierung hat auch vor Bildung nicht Halt gemacht; vielmehr können durch zahllose Kanäle die Massen mit Bildungsinhalten versorgt werden, sodass Bildungsinhalte zu Waren verändert wurden und zum Konsum angeboten werden.88 So leben die Individuen oftmals in der Vorstellung frei zu sein, während die gesellschaftlichen Verhältnisse dies nicht zulassen. Eine Veränderung des Bewusstseins der sich bildenden Subjekte ist auch nicht das Ziel.89 Vielmehr geht es um Anpassung. „Anpassung aber ist unmittelbar das Schema fortschreitender Herrschaft.“90 Halbbildung als sozialisierte Bildung verstellt somit den Zugang zu einem tieferen Verstehen und Erkennen und erschöpft sich oft in portioniertem, ausschnitthaftem Wissen mit dem Ziel, sich als wissend, dazugehörig oder Fachmann ausweisen zu können. „Das Halbverstandene und Halberfahrene ist nicht die Vorstufe der Bildung, sondern ihr Todfeind“91