Rena & Callan 1. From Now On - Emma Lindberg - E-Book
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Rena & Callan 1. From Now On E-Book

Emma Lindberg

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Beschreibung

Serena zeichnet für ihr Leben gern, schläft mit einer Schere unter dem Kissen und hat Angst vor der Zahl Dreizehn. Callan ist nie ohne Gitarre anzutreffen, trägt Motiv-Boxershorts und verheimlicht die Alkoholprobleme seines Vaters. Beide kennen sich seit einer Ewigkeit – und empfinden für den anderen mehr, als sie zugeben wollen. Denn Callan ist der beste Freund von Serenas Bruder und ihre heile Familie sein Zufluchtsort, den er auf keinen Fall verlieren will. Doch ihre Verliebtheit lässt sich nicht ignorieren, und bei einem gemeinsamen Campingtrip wird die Harmonie zwischen den Dreien auf eine harte Probe gestellt ...

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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Über dieses Buch

»Ohne nachzudenken, nahm ich eine seiner Strähnen zwischen Daumen und Zeigefinger und strich sie ihm sanft hinters Ohr.

Shit.

Nein.

Das hatte ich nicht wirklich getan, oder?«

 

Rena und Callan kennen sich seit einer Ewigkeit – und empfinden mehr füreinander, als sie zugeben wollen.

Callan ist der beste Freund von Renas älterem Bruder und ihre heile Familie sein Zufluchtsort, den er auf keinen Fall verlieren will.

Doch die beiden können ihre Gefühle nicht länger ignorieren.

 

Band 1 der New-Adult-Dilogie um Rena & Callan – sexy, intensiv und aufwühlend

Liebe*r Leser*in,

 

wenn du traumatisierende Erfahrungen gemacht hast, können einige Passagen in diesem Buch triggernd wirken. Sollte es dir damit nicht gut gehen, sprich mit einer Person deines Vertrauens. Auch hier kannst du Hilfe finden:

www.nummergegenkummer.de

 

Unter Triggerwarnung findest du eine Auflistung der potenziell triggernden Themen in diesem Buch. (Um keinem*r Leser*in etwas zu spoilern, steht der Hinweis hinten im Buch.)

Für Stevi und Yasmin

Playlist

In the Woods

Billy Talent – Fallen Leaves

Lena – Bee

 

Around the Campfire

Imagine Dragons – Demons

 

Cold Stone

Christina Perri – Jar of Hearts

 

Party

Nirvana – In Bloom

 

Night Sky

Jonathan Young – Africa

Billie Eilish – lovely (with Khalid)

 

The Truth

STARSET – Point Of No Return

Nathan Wagner – Innocence

Sia – Broken Glass

 

Family

Sleeping At Last – North

 

Seattle

Aerosmith – I Don’t Want to Miss a Thing

 

Stellar

Roy Orbison – Pretty Woman

SVRCINA – Burning Heart

 

Scars

Carina Round – For Everything a Reason

David Guetta – Titanium (feat. Sia)

 

Broken Pieces

P!nk – Just Give Me a Reason (feat. Nate Ruess)

Roxette – It Must Have Been Love

3 Doors Down – Here Without You

1 | CALLAN | Das ist deine Linienführung

Ich hatte geahnt, dass mein Vater verärgert sein würde, aber ich hatte nicht mit dem Ausmaß seines Zorns gerechnet. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er schon am Nachmittag so viel Whisky intus hatte, dass ich ihn riechen konnte, obwohl ich gerade erst das Haus betreten hatte.

Freitags machte die Praxis schon am Mittag zu, damit mein Vater in Begleitung meiner Mutter Hausbesuche machen konnte, und wie es aussah, stand heute kein Termin mehr an.

»Da bist du ja.«

Er klang herrisch wie immer, bewegte sich zielgerichtet wie immer, und wie immer war ich fast beeindruckt, dass er eine solche Menge Alkohol so problemlos wegstecken konnte. Wenn er praktizierte, rührte er keinen Tropfen an, doch an den Abenden und am Wochenende kam ich in den vollen Genuss seiner Sucht – und tat ebenso wie Mom alles, um sie zu verschleiern.

»Du kleines Arschloch hast gedacht, ich würde es nicht merken, stimmt’s?«

Er kam auf mich zu, und obwohl ich ihn mittlerweile um einige Zentimeter überragte, musste ich mich zusammenreißen, um nicht zurückzuweichen.

»Ich wusste …«

Die Ohrfeige, die mich traf, war hart und präzise ausgeführt. Ich spürte, wie meine Unterlippe aufplatzte. Gegen die offene Kühlschranktür gelaufen. Mal wieder. Himmel, Callan war so ungeschickt.

»Du sprichst nur, wenn du gefragt wirst.«

Ich wies ihn nicht darauf hin, dass er soeben eine Frage gestellt hatte, sondern nickte stumm. Mir war klar, worum es ging: Mit ziemlicher Sicherheit hatte mein Erdkundelehrer angerufen wegen meines Täuschungsversuchs bei der heutigen Arbeit.

»Willst du etwas dazu sagen, du erbärmlicher Versager?«

»Es tut mir leid«, brachte ich hervor, kurz bevor er mir die Flasche gegen die Rippen schmetterte, sodass ich mit einem schmerzerfüllten Aufkeuchen einen Schritt nach hinten trat.

Die offene Kühlschranktür würde nicht mehr ausreichen. Vielleicht der klassische Treppensturz? Wann hatte ich den zuletzt bemüht? Das dürfte schon einige Monate her sein. Dann also ein falscher Schritt auf der untersten Treppenstufe mit einer anschließenden Kollision mit der Kommode. Details waren wichtig, denn sie machten glaubwürdig, und Glaubwürdigkeit war wichtiger als alles andere.

»Gute Idee«, kommentierte mein Vater höhnisch. »Geh mir aus den Augen, bevor ich dich totschlage. Hätte ich längst tun sollen.«

Er hob erneut die Flasche, doch ich wartete nicht auf den nächsten Angriff. Stattdessen rannte ich förmlich die Treppe empor, griff nach meiner Reisetasche, die genau für solche Fälle immer gepackt in der Ecke meines Schrankes stand, hängte mir meine Gitarre und meinen Rucksack um und suchte das Weite, bevor mein Vater seine Drohung wahr machen konnte.

Er war nicht immer so aggressiv und gewaltbereit; lediglich, wenn er getrunken hatte. Glücklicherweise richtete sich sein Zorn ausschließlich gegen mich, nicht gegen meine Mom. Bei ihr kannte er Grenzen – bei mir nicht. Sie schien er zu lieben – mich nicht. Aber das machte nichts. Ich hatte mich daran gewöhnt, und ich wusste, dass ich nur noch vier Monate durchhalten musste. Dann würde ich auf die Uni gehen und endlich die Chance haben, einen Neustart zu wagen.

 

Tief in Gedanken versunken ging ich die Straßen Woodfields entlang und war froh, dass mir niemand Beachtung schenkte. Man war es gewöhnt, mich in Begleitung meiner Gitarre anzutreffen, und das zusätzliche Gepäck fiel nicht weiter auf. Mein Ziel war – wie meistens nach einer Eskalation in meinem Elternhaus – die Familie Godwin. Darren war seit dem letzten Kindergartenjahr mein bester Freund, und ich beneidete ihn glühend um seine Eltern und vor allem um seine Schwester. Wobei, nein. Um nichts in der Welt würde ich Serena Godwin zur Schwester haben wollen.

Schon als ich den hüfthohen Gartenzaun erreichte, den ich im letzten Jahr gemeinsam mit Stella, Darrens Mom, blau angestrichen hatte, erkannte ich an dem vollgeladenen Auto in der Einfahrt, dass die Godwins auf dem Weg zu einem ihrer heiß geliebten Campingtrips waren. Fuck, das hatte ich total vergessen.

»Cal!« Thomas wischte sich den Schweiß von der Stirn und winkte mir zu. »Kommst du mit? Darren hat dich gar nicht erwähnt. Aber kein Problem. Für dich finden wir auch noch einen Platz.«

Ich kam näher und ließ meine Tasche zu Boden sinken.

»Oh nein.« Stella erschien hinter dem Wagen, nahm mich kurz in den Arm und inspizierte meine Wange. »Was ist passiert?«

Mit einem Grinsen berichtete ich von meinem Treppensturz und schaffte es, ihn mit witzigen Anekdoten zu würzen, sodass nicht einmal der Hauch eines Zweifels an meiner Geschichte entstand.

»Du bewegst dich so geschmeidig.« Stella schüttelte den Kopf. »Und bist doch ein solcher Tollpatsch.«

Ich hob mit einem schiefen Lächeln die Schultern. »Niemand ist perfekt.«

»Und das ist auch gar nicht nötig.« Stella schenkte mir ein mütterliches Lächeln, dann machte sie sich wieder daran, das restliche Gepäck umzuschichten, das Thomas bereits in den Kofferraum des Kombis geladen hatte.

Ich stellte sowohl Tasche als auch Gitarre ab und wollte mich gerade auf den Weg zum Haus machen, da hörte ich Darrens Stimme.

»Das ist einfach nur mies, Rena«, sagte er gerade.

»Du musst es ja nicht verstehen«, gab sie scharf zurück. »Du musst einfach nur deine Klappe halten!«

Die beiden Geschwister traten nacheinander in die Nachmittagssonne hinaus, und obwohl Darren als Erster das Haus verließ, fesselte Rena meine Aufmerksamkeit. Das tat sie immer. Sie trug kurze Shorts, die ihre langen Beine freigaben, und hatte sich trotz der Hitze einen langärmeligen Kapuzenpullover übergestreift. Die Sonne brachte ihr langes, braunes Haar zum Glänzen, und ihre Karamellaugen glühten vor Zorn. Auch ihre Körperhaltung zeigte deutlich, dass ihr Bruder in Ungnade gefallen war, und ich verkniff mir ein Grinsen. Ich war gespannt, worum es dieses Mal ging. Den letzten handfesten Streit hatten sie ausgefochten, weil Darren geschworen hatte, dass Rena seinen Rasierer geklaut hatte, um sich die Beine und … andere Stellen zu rasieren. Den Ausgang des Disputs hatte ich nicht mitbekommen, weil ich zu sehr damit beschäftigt gewesen war, gegen meine Fantasien anzukämpfen, die mit gewohnter Effizienz mein Gehirn lahmgelegt hatten.

»Rena hat etwas, was sie euch unbedingt zeigen möchte!«, brüllte Darren durch den Garten. »Und ihre Ausrede dafür wird euch ganz besonders gut gefallen.«

Thomas tauchte erneut hinter dem Auto auf und warf den beiden einen fragenden Blick zu. »Was denn?«

»Nichts«, erwiderte Rena so unschuldig, dass sie damit auch Stellas Aufmerksamkeit auf sich zog.

»Hey«, sagte ich in Richtung der Geschwister in der Hoffnung, Darrens Enthüllung zu verhindern. Sein selbstgefälliges Grinsen machte deutlich, dass es sich um etwas handeln musste, was Rena in Schwierigkeiten bringen würde.

Ohne etwas zu erwidern, drehte sie den Kopf und musterte mit besorgter Miene meine Verletzungen. Obwohl sie weiterhin schwieg, war es offensichtlich, dass sie sowohl den beginnenden Bluterguss auf meiner Wange als auch die aufgeplatzte Lippe registriert hatte.

»Scheiße, was ist denn mit deinem Gesicht, Mann?«, meldete sich Darren zu Wort und sah zwischen mir und meiner Reisetasche hin und her. »Kommst du mit?«

Ich nickte, und seine Miene hellte sich augenblicklich auf. Dann wandte er sich wieder seiner Schwester zu.

»Roll doch mal deine Ärmel für uns hoch, Rena.«

»Du kannst mich mal«, murmelte sie leise, und ich hoffte, dass es ihre Eltern nicht gehört hatten. Was Beleidigungen anging, waren die Godwins wenig tolerant.

»Wieso willst du, dass sie ihre Ärmel hochrollt?«, fragte Stella mit beunruhigter Miene. Offensichtlich dachte sie an Schnittwunden oder Einstichstellen von Spritzen, und ich hoffte, dass Rena diese Sorgen schnell zerstreuen würde.

»Wieso will er, dass du deine Ärmel hochrollst?«, echote nun auch Thomas, nachdem er meine Sachen eingeladen und den Deckel des Kofferraums mit einem Knall geschlossen hatte.

Statt eine Antwort zu geben, kam Rena der Aufforderung nach, woraufhin nicht nur ihr schmales Handgelenk, sondern auch ein Tattoo auf der Innenseite ihres Unterarms zum Vorschein kam.

»Wow«, sagte ich begeistert und trat einen Schritt vor, um nach ihrer Hand zu greifen und ihren Arm ein wenig anzuheben. »Das ist ja genial gestochen. Wo hast du das machen lassen? Das war garantiert nicht Timothy in seiner Drecksbude.«

Ich betrachtete die filigranen Linien und strich ganz vorsichtig mit dem Zeigefinger über den kleinen Bienenkörper mit den ausgebreiteten Flügeln.

»Die Vorlage hast du selbst gemacht, oder?«, setzte ich mein Fragefeuerwerk fort, noch immer hingerissen von dem Tattoo, das die eigentlich perfekte Rena noch ein wenig perfekter machte. »Das ist deine Linienführung.«

»Sie behauptet, es würde sie an Oma erinnern«, meldete sich Darren missmutig, der sich offensichtlich einen anderen Verlauf gewünscht hatte.

»Weil sie Bienen mochte?« Ich sah Rena an. Ihre Großmutter war erst vor wenigen Monaten gestorben, und die beiden hatten einander sehr nahegestanden. »Das ist echt das perfekte Tattoo. Eine eigene Vorlage und ein Motiv, das nie an Bedeutung verlieren wird.«

»Und dafür musste sie nur die Unterschrift von Mom oder Dad fälschen«, ergänzte Darren. »Und vermutlich ihr Erspartes plündern.«

»Es war ein Tattoostudio in Pittsburgh, wo die Schwester einer Freundin arbeitet«, wandte sich Rena an mich und ignorierte die Sticheleien ihres Bruders. »Und ja, es ist von mir. Ich habe 27 Bienen gezeichnet, bevor ich mich für eine davon entscheiden konnte.«

Ich nickte, während sich vor meinem inneren Auge das Bild Renas formte, wie sie inmitten Dutzender Skizzenblätter am Boden saß, die Stirn leicht gerunzelt, während sie gedankenverloren auf ihrer Unterlippe kaute.

Mit Verspätung wurde mir klar, dass meine Finger noch um ihr Handgelenk lagen, und ich trat peinlich berührt einen Schritt zurück.

»Du hast ein Tattoo«, stellte Thomas ungläubig fest, während Stella die Stirn in Falten legte. »Und du hast dafür unsere Unterschrift gefälscht? Weshalb hast du uns nicht vorher gefragt? Vielleicht hätten wir es erlaubt.«

»Hättet ihr nicht«, warf Darren ein und verstummte abrupt wieder, als ihn von allen Seiten finstere Blicke trafen.

»Muss ich euch wirklich an eure Reaktion erinnern, als ich vor ein paar Monaten ein Tattoo angesprochen habe?«, verteidigte sich Rena.

»Das weiß ich nicht mehr«, sagte Thomas, »und es spielt auch keine Rolle. Du hättest unsere Unterschrift nicht fälschen dürfen.« Er sah sie an und schien zu überlegen. Ganz offensichtlich dachte er über eine angemessene Strafe nach. Dann schüttelte er den Kopf. »Wir reden später noch darüber, Serena. Steigt ein.«

Wie in jeder Klischee-Komödie, die je gedreht worden war und die eine Szene mit Eltern hatte, die ihre Kinder zurechtwiesen, verwendete er ihren vollen Vornamen, um besonders streng zu klingen. Serena, nicht Rena. Und trotzdem konnte ich bei jedem Wort spüren, wie wichtig sie ihm war – egal, wie aufgebracht er gerade wirkte.

Schon seit meiner Kindheit hatte ich bewundert, wie die Familie Godwin mit Konflikten umging. Ein knapper Tadel statt einer Ohrfeige. Einige Tage Hausarrest statt eines Tritts in die Rippen. Liebevolle Strenge statt gleichgültiger Gewalt.

 

Wenige Minuten später saßen wir alle im Auto, wobei wir uns zu dritt auf die Rückbank quetschen mussten. Rena kauerte auf dem mittleren Platz zwischen Darren und mir, was die Fahrt zum Campingplatz ziemlich anstrengend machte. Einerseits war es toll, Rena so nah bei mir zu haben, während ich mich andererseits bemühte, so zu tun, als fände ich die Beengtheit der Rückbank nicht besonders prickelnd.

»Auf dem Heimweg sitzt du in der Mitte«, sagte Rena in Richtung ihres Bruders, und ich kämpfte gegen die aufsteigende Enttäuschung an. Während ich ihre Nähe in vollen Zügen genoss, schien sie das genaue Gegenteil zu empfinden.

»Ich würde ja anbieten, dass ich in der Mitte sitze«, mischte ich mich, bemüht um einen lockeren Tonfall, ein, bevor Darren auf das mürrische Gegrummel seiner Schwester antworten konnte, »aber ich will nicht als euer Punchingball herhalten. Mir hat der Zusammenstoß mit der Vase gereicht, die der Meinung war, mir auf den Kopf fallen zu müssen, nachdem ich an die Kommode geknallt bin.«

Darren lachte und nutzte die Vorlage natürlich, um sich während der restlichen Fahrt über mich lustig zu machen – und ich war froh darüber. Spott konnte ich ertragen, Mitleid oder Sorge nicht.

2 | RENA | Achatgrau mit einem Hauch Aquamarin

Nachdem wir die drei Zelte mühelos aufgebaut hatten, schlossen Mom und Dad die Wertsachen – darunter auch Cals geliebte Gitarre – im Auto ein, dann brachen sie zu ihrem üblichen Camping-Eröffnungsspaziergang auf. Wie immer bot uns Mom mit einem hoffnungsvollen Lächeln an, sie zu begleiten. Wie immer winkte Darren ab. Seinem gespielten Gähnen fehlte es heute allerdings etwas an Überzeugungskraft, und an Callans Gesichtsausdruck konnte ich sehen, dass ihm das auch aufgefallen war.

»Lasst uns zum See gehen. Darren?« Ich gab meinem Bruder einen Stoß mit dem Ellbogen, woraufhin er leise schnaubte und sich schließlich schulterzuckend in Bewegung setzte. Es war noch zu kalt zum Schwimmen, deshalb war am Ufer bis auf wenige Spaziergänger nicht viel los. Wir steuerten den kleinen Steg an, setzten uns schweigend nebeneinander auf die Holzbretter und ließen die Beine baumeln. Meine zitronengelben Chucks machten sich neben Cals schwarzen ziemlich gut. Fand ich zumindest.

»Schieß los«, fing ich mit einem Seitenblick auf Darren an, der sein Handy vor der Sonne abschirmte und mit gerunzelter Stirn über das Display fuhr. »Warum bist du heute so ein Arschloch?«

»Rena …«, setzte Cal beschwichtigend an, drehte dann aber ebenfalls den Kopf, um meinen Bruder nachdenklich zu mustern. Etwas stimmte nicht, das spürten wir beide. Natürlich verhielt sich Darren oft wie ein kompletter Idiot, aber dass er meinen Eltern von dem Tattoo erzählte und mich derart wegen Oma anfuhr, sah ihm nicht ähnlich.

»Letzten Samstag bist du so betrunken von Steves Party nach Hause gekommen, dass du mitten in den Flur gekotzt und dich dann einfach danebengelegt hast. Ich habe es mitten in der Nacht aufgewischt und dich in dein Zimmer geschleppt, damit Mom und Dad nichts mitkriegen«, sagte ich. Darren starrte immer noch auf sein Handy. »Verdammt, ich hab deine Kotze aufgewischt. Kapierst du eigentlich, wie eklig das war? Und du kannst nicht mal wegen meines Tattoos dichthalten?«

Er zuckte wieder nur mit den Schultern. Langsam ging er mir wirklich auf die Nerven.

»Weißt du, wie viele Wochen Hausarrest ich dir allein diesen Monat erspart habe?« Meine Stimme wurde etwas lauter. Ich hasste es, wenn er mir derart in den Rücken fiel, besonders, wenn ich keine Ahnung hatte, warum. Es gefiel mir besser, wenn wir zusammenhielten. Wenn ich wusste, dass wir uns aufeinander verlassen konnten, was solche Dinge anging. Ich war mir sicher gewesen, dass er mein Tattoo für sich behalten würde – aber ich hatte mich geirrt, und das tat ziemlich weh.

»Was ist los?«, mischte sich nun auch Cal ein. Im Gegensatz zu mir war sein Tonfall jedoch ruhig und um einiges verständnisvoller. Darren ließ endlich sein Handy sinken, sah kurz auf die Boote in der Ferne und blickte dann uns an.

»Ich glaube, Kelly will Schluss machen.«

Für einige Sekunden herrschte Schweigen, während ich versuchte, diese Information zu verarbeiten. Darren und Kelly waren seit einem guten Jahr zusammen, und auch wenn sich mein Bruder oft genug aufführte wie ein totaler Idiot, wusste ich, wie verrückt er nach ihr war.

»Wie kommst du darauf?« Callan beugte sich ein wenig vor und strich sich einige lange Haarsträhnen aus dem Gesicht.

Darren zuckte unglücklich mit den Schultern und deutete auf sein Handy, das jetzt neben ihm auf dem Steg lag.

»Wir waren gestern zum Telefonieren verabredet«, sagte er nach einer kurzen Pause. »Und sie ist nicht rangegangen. Ich hab’s den ganzen Abend lang versucht, aber ich habe sie nicht erreicht.«

So überheblich er manchmal wirkte, so unsicher war er, wenn es um Kelly ging. Sie war ein Jahr älter als er, und seit sie Anfang des Jahres für ein dreimonatiges Praktikum nach Cleveland gezogen war, hatte seine Sorge weiter zugenommen. Auch wenn er manchmal gereizt war, ich konnte ihn verstehen. Ich wollte lieber nicht daran denken, dass Cal nach seinem Abschluss im Sommer Woodfield verlassen würde.

»Das muss doch nichts bedeuten«, sagte dieser gerade, woraufhin Darren ein entnervtes Ächzen von sich gab.

»Das kann aber was bedeuten«, erwiderte er dann. »Zum Beispiel, dass sie irgendeinen Typen kennengelernt hat und jetzt überlegt, wie sie mich loswird.«

»Es kann aber auch bedeuten, dass ihr Akku leer war oder dass es einen anderen harmlosen Grund gibt«, hielt Cal entgegen, und ich nickte bekräftigend. Kelly war ihm verfallen, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass sich das so plötzlich änderte.

»Du hast gut reden.« Darren warf ihm einen resignierten Blick zu. »Dir liegen die Frauen zu Füßen. Du musst nur mit den Fingern schnippen oder deine verdammte Gitarre auspacken, und sie reißen sich die Kleider vom Leib.«

»Komm schon, Mann«, fuhr Cal fort und überging Darrens kleine Stichelei. Ich wusste, dass mein Bruder nicht wirklich neidisch auf Callan war, insbesondere nicht mehr, seit er Kelly hatte, aber ihm war ebenso wenig entgangen wie mir, dass Cal bei den Mädchen erfolgreicher war – und das leider auch redlich ausnutzte.

»Ihr habt die letzten Monate so gut überstanden. Jetzt verlier nicht auf den letzten Metern das Vertrauen in sie. Bald ist sie wieder da, dann kannst du ihr beweisen, wie gut ihr zusammenpasst.«

Bei den letzten Worten hatte seine Stimme einen eindeutigen Unterton angenommen, und um seine Mundwinkel spielte ein verschmitztes Grinsen.

Mein Herzschlag beschleunigte sich, und ich wandte schnell den Blick ab, weil ich wusste, dass ich ihn sonst zu offensichtlich anstarren würde. Wenn Callan grinste, hellte sich sein ganzes Gesicht auf, und das wiederum führte dazu, dass mein eigenes sich heiß anfühlte. Besonders, wenn er solche Andeutungen machte.

»Und wenn sie plötzlich spontan in Cleveland bei ihrem neuen Typen bleibt?«, fragte Darren, während ich unruhig mit den Beinen wippte. Das war kein guter Zeitpunkt, um mir auszumalen, wie Cal mir bewies, dass wir gut zusammenpassen würden. Ich war schon zu lange still gewesen.

»Sie wird sich bald melden.« Aufmunternd stieß ich mit der Schulter gegen die meines Bruders. »Ich habe gesehen, wie sie dich beim Abschied angesehen hat. Das war sogar für mich fast zu kitschig, und du weißt ja, was mein Lieblingsfilm ist.«

»Pretty Woman«, kam es fast simultan von Darren und Cal, wobei mein Bruder exzessiv mit den Augen rollte.

»Außerdem«, fuhr ich fort, »ist Ohio der Staat mit den wenigsten heißen Typen, während wir in Pennsylvania ganz vorne liegen. Hab ich mal in einer Studie gelesen.« Ich warf Cal einen auffordernden Blick zu, den er belustigt erwiderte.

»Das stimmt. Hab ich auch schon gehört.«

Darren seufzte erneut, streckte sich und legte sich dann rücklings auf den Steg. »Ihr seid bescheuert. Alle beide.« Um seine Mundwinkel zuckte ein Lächeln. »So was von bescheuert.«

Ich folgte seinem Beispiel, und kurz darauf lagen wir alle drei nebeneinander auf dem Steg in der Sonne.

»Sorry wegen dem Tattoo«, sagte Darren nach einer Weile. »Das war … uncool.«

Ich schaute hoch in den fast wolkenlosen Himmel. »Schon gut. Ich werde ein paar Tage Hausarrest überleben.«

»Wie wärs mit einer Runde WIL?« Darrens Stimme hatte wieder einen unbeschwerteren Klang angenommen.

»Klar.«

»Schieß los.«

»Okay.« Er überlegte kurz. »Würdet ihr lieber fünf Jahre lang jedes Wochenende von einem gruseligen Clown auf Schritt und Tritt verfolgt werden, oder ein Jahr lang jedes Wochenende als gruseliger Clown verkleidet jemandem überallhin folgen?«

Ich prustete los. Wir spielten dieses Spiel, seit wir klein waren, und die Fragen waren uns immer noch nicht ausgegangen. Sie wurden nur von Jahr zu Jahr bizarrer.

»Ich glaube, ich könnte fünf Jahre lang mit einem Clown-Stalker leben.« Ich kicherte. »Warte – würde er mir auch ins Bad folgen?«

»Er würde vor der Tür warten und Luftballontiere machen«, erklärte Darren in viel zu ernstem Tonfall.

»Das ist ziemlich unheimlich.« Callans Stimme war die Belustigung anzuhören, die mein Herz jedes Mal sofort höherschlagen ließ. Ohne den Kopf zu drehen, wusste ich haargenau, wie sein Lächeln in diesem Moment aussah.

»Was ist mit dir?«, wollte mein Bruder von ihm wissen. »Würdest du ein Jahr lang den gruseligen Clown spielen?«

Cal grub die Zähne in seine Unterlippe und sah nachdenklich auf den See hinaus. »Ich würde auch den Clown-Stalker bevorzugen«, sagte er schließlich. »Ansonsten könnte ich ja ein Jahr lang kein Wochenende das tun, was ich will, weil ich die ganze Zeit mit der Verfolgung beschäftigt wäre.«

Ich nickte beeindruckt, während Darren die Augen verdrehte. »Echt, Cal. Du denkst viel zu viel.«

»Schon gut.« Callan hob besänftigend die Hände, dann schlich sich ein Funkeln in seine Augen. »Würdet ihr lieber in allen möglichen Situationen einen Orgasmus bekommen oder nie wieder einen?«, fragte er, und als sich Darren begeistert an die Erstellung einer Pro-und-Kontra-Liste machte, wusste ich, dass es uns zumindest für den Moment gelungen war, ihn ein wenig aufzuheitern.

 

Als wir nach einigen weiteren Runden WIL zum Zeltplatz zurückkehrten, holte Dad gerade die Angelausrüstung aus dem Kofferraum und warf Darren einen erwartungsvollen Blick zu. Angeln war etwas, das die beiden seit jeher zusammen machten, eine Vater-Sohn-Sache, die mir unglaublich langweilig vorkam. Man saß in einem leicht schaukelnden Boot in der Nachmittagssonne, sah auf den See, in den man nicht einmal springen konnte, weil man damit die Fische verjagen würde, und wartete darauf, dass irgendetwas passierte. Dass man einen Zug an der Angelrute spürte und eine nasse, zuckende Forelle aus dem Wasser holen konnte. Dad hatte den Versuch, mein Interesse fürs Angeln zu wecken, vor langer Zeit aufgegeben.

»Kommst du mit, Cal?«, hörte ich meinen Bruder fragen, als ich mir gerade das viel zu warme Sweatshirt auszog und mir die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammenband. Obwohl Cal noch nie besonders viel Interesse am Angeln gezeigt hatte, gab Darren es nie auf, ihn dazu überreden zu wollen.

»Ich könnte etwas Hilfe beim Brennholzsammeln gebrauchen«, warf ich ein, während ich meine beste Freundin per SMS darüber informierte, dass Callan spontan mit auf den Familienausflug gekommen war. Auf Tianas Weisheiten und seelische Unterstützung konnte ich dieses Wochenende auf keinen Fall verzichten. »Oder wollt ihr mich wirklich alleine in den Wald schicken, so unfallanfällig, wie ich bin?« Meine Familie machte sich oft genug darüber lustig, dass ich etwas ungeschickter war und mich öfter verletzte als der durchschnittliche Mensch – etwas, das ich mit Cal gemeinsam hatte.

Mom war überzeugt davon, dass wir die tollpatschigsten Menschen in ganz Woodfield waren, und auf mich traf das eindeutig zu. Doch während Cal mich oft dabei beobachtete, wie ich mir beim Kochen in den Finger schnitt, von Bäumen fiel, mich an Soda verschluckte oder mir am Lagerfeuer Verbrennungen zuzog, hatte ich ihn nie fallen oder auch nur stolpern sehen. Er war der am wenigsten tollpatschige tollpatschige Junge, den ich kannte. Und das ergab für mich nicht besonders viel Sinn – obwohl in seiner Nähe ohnehin nichts besonders viel Sinn ergab, weil das Herzklopfen meine Gedanken stilllegte.

»Ich denke, ich werde unser Bienchen in den Wald begleiten«, sagte Cal, woraufhin irgendetwas in meinem Inneren einen Salto vollführte, auf den jeder Akrobat neidisch gewesen wäre. Er schob sich die Ärmel seines Hoodies zurück – er hatte die Angewohnheit, selbst in den wärmeren Monaten oft lange Kleidung zu tragen, weil ihm schnell kalt wurde. Dann warf er Mom einen kurzen Blick zu, so, als wolle er um Erlaubnis fragen, mit mir kommen zu dürfen. Sie lächelte zustimmend – vermutlich war sie erleichtert darüber, dass ich nicht alleine ins Unterholz ging. Als ob ich Rotkäppchen wäre und der böse Wolf da draußen auf mich lauerte.

Mein Bruder hingegen zog die Augenbrauen zusammen. »Sorry, dass du den Babysitter für meine Schwester spielen musst«, sagte er mit einem enttäuschten Schulterzucken. »Pass auf, dass sie nicht über ihre eigenen Füße stolpert und in einem Graben landet – oder von einem fallenden Ast erschlagen wird.«

Babysitter. Ich ließ mir nichts anmerken, aber in diesem Moment hätte ich nichts dagegen gehabt, wenn Darren von einem fallenden Ast erschlagen worden wäre. Natürlich hatte er recht – Cal sah mich nur als kleine Schwester, und auf einem Campingtrip konnte ich ihn wohl kaum von meiner Weiblichkeit überzeugen. Besonders nicht in zerrissenen Shorts und abgetragenen Chucks. Ich wünschte, ich hätte zumindest etwas mehr Make-up aufgetragen.

Natürlich war es keine kluge Idee, mit Cal in den Wald zu gehen, nachdem ich mir schon im Auto ausgemalt hatte, dass die Rückbank nur aus zwei Sitzen bestand und ich auf seinem Schoß sitzen musste, aber ich wollte nicht klug sein. Ich wollte mit ihm durchs Unterholz laufen, und genau das taten wir.

Die Eichen, Buchen und die anderen Baumarten, die ich nicht kannte, ließen weniger Sonnenlicht durch ihr Blätterdach, je tiefer wir uns hineinwagten.

»Warum hast du nichts von dem Tattoo erzählt?«, erkundigte Cal sich, während er einige trockene Äste vom Boden klaubte. Richtig, wir waren ja zum Holzsammeln hier. »Du weißt, dass ich dich begleitet hätte. Wie lange hast du es überhaupt schon? Hast du etwa gedacht, ich würde dich an Darren verpetzen?«

»Ich hab es vor einer Woche machen lassen.« In Wahrheit hatte ich mich schon kurz nach Omas Tod danach gesehnt, weil ich mich dadurch mit ihr verbunden fühlte, aber ich hatte erst vor Kurzem den Mut aufgebracht, es ohne die Einwilligung meiner Eltern durchzuziehen.

Abrupt blieb ich stehen, legte den Kopf schräg und warf ihm einen amüsierten Blick zu. »Ach komm, ihr seid doch schon ewig lang befreundet. Soll ich dir wirklich glauben, dass ihr euch nicht alles erzählt?«

»Du willst nicht wissen, was wir uns erzählen, Bienchen«, stichelte er, während er das Lederband aus seinem Pferdeschwanz zog, um sich die Haare etwas fester zusammenzubinden. Als sich nach wenigen Sekunden trotzdem wieder eine Strähne löste, die er sich entnervt hinters Ohr strich, konnte ich mir ein Grinsen nicht verkneifen. Ich war fasziniert von seinen dunkelblonden Haaren, die er manchmal offen trug, meistens aber in einem Pferdeschwanz, und die nie so richtig das taten, was er wollte. Wie oft hatte ich mir schon vorgestellt, die Hand auszustrecken und ihn zu necken, indem ich leicht an dem Lederband zupfte, bis sich noch mehr Strähnen lösten und sein Gesicht umrahmten? Zu oft. Eindeutig zu oft.

»Aber nein, ich hätte dich nicht verraten«, fuhr er fort und holte mich augenblicklich wieder aus meiner bescheuerten Haar-Fantasie. »Ebenso wenig, wie ich ihm verraten habe, dass du es warst, die seine Lieblings-CD zerkratzt, seine favorisierte Boxershorts verschlampt und heimlich seinen WhatsApp-Verlauf gelesen hat. Soll ich weitermachen?«

»Nicht nötig.« Er hätte mein Geheimnis bewahrt. Ich hatte das Gefühl, dass meine Füße den Boden gar nicht mehr berührten.

Eine Familie kam uns entgegen. Laut plappernd und beladen mit Ästen und Zweigen. Der Kleinste von ihnen, ein Junge, der wahrscheinlich gerade mal fünf war, sang lauthals ein Kinderlied, in der Hand einen Zweig, den er fröhlich hin und her schwenkte. Vermutlich würden uns noch mehr Menschen entgegenkommen, wenn wir diesen Weg weiter verfolgten.

»Lass uns etwas abseits suchen. Die Ausbeute hier lässt eher zu wünschen übrig«, sagte ich spontan und wandte mich vom Pfad ab, um tiefer in den Wald zu gehen, dorthin, wo kein Wanderweg uns mehr einschränkte. Ich wollte nicht da gehen, wo alle anderen vom Campingplatz entlangliefen. Ich wollte ein Abenteuer.

»Hättest du mich wirklich begleitet?«, fragte ich mit einiger Verzögerung und warf ihm dabei einen neugierigen Blick zu. »Wenn du dir etwas stechen lassen müsstest, welches Motiv würdest du wählen?«

Cal folgte mir, ohne sich zu beschweren.

»Natürlich hätte ich dich begleitet«, bestätigte er und hatte vermutlich keine Ahnung, welche Wärme diese einfachen Worte in mir auslösten. »Ich hätte dir sogar die Hand gehalten und deine Tränen getrocknet«, fügte er provozierend hinzu.

Das war es dann wohl wieder mit der Wärme. Er wollte mich nur ärgern.

»Ich habe schon eine Vorlage.« Seinen Worten folgte ein kurzes Zögern. Er wirkte nachdenklich. »Ich werde es mir stechen lassen, wenn ich die Aufnahmeprüfung geschafft habe und an der Hochschule Musik studiere.«

Ich wartete darauf, dass er mir erzählte, um welches Motiv es sich handelte, doch er schien es nicht eilig zu haben, das mit mir zu teilen.

»Das klingt nach einer guten Belohnung für die Aufnahmeprüfung«, sagte ich schließlich. »Und lass mich raten: Du hast nicht vor, mir zu sagen, welche Vorlage du dir ausgesucht hast?«

Als Antwort bekam ich nur ein geheimnisvolles Lächeln. Es machte ihm viel zu viel Spaß, meine Neugier auszukosten.

Ich bückte mich nach zwei weiteren Zweigen. Langsam fing ich an, zu verstehen, weshalb Hänsel und Gretel Brotkrumen zurückgelassen hatten. Abseits des gekennzeichneten Wegs sah der Wald von jeder Seite gleich aus. Ich konnte mich im Kreis drehen und komplett die Orientierung verlieren. Okay, vielleicht hatte ich sie schon verloren. Und vielleicht musste ich mich dafür nicht einmal im Kreis drehen.

»Willst du die Wahrheit über die Boxershorts erfahren, die ich angeblich verschlampt habe?« Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr ich fort. »Die habe ich bei einer Wette verloren. Ich musste sie einer Freundin geben, die aus irgendeinem verrückten Grund auf Darren steht. Und bevor du das Gesicht verziehst: Sie war frisch gewaschen.« Ich grinste. »Sie schläft darin.«

Als ob ich mich darüber lustig machen konnte. Wenn ich eine von Cals Boxershorts hätte, würde ich sie nachts auch tragen. Leider hatte er keine Geschwister …

Nein. Es war seltsam, die Unterwäsche von jemandem zu klauen, mit dem man nicht einmal zusammen war. Meine Freundin war verrückt, und ich war es anscheinend auch, denn ich hätte wirklich nicht widerstehen können, wenn sich eine Möglichkeit geboten hätte.

»Das musst du auch für dich behalten«, fügte ich dramatisch hinzu, »sonst werden mein Bruder und meine Freundin sich darum streiten, wer mich zuerst von einer Klippe stoßen darf. Mein Leben liegt in deinen Händen.« Das Adrenalin schoss durch meinen Körper, als ich das sagte – auch wenn es nur ein Scherz war.

»Du hast Darrens Lieblingsshorts verwettet?«, fragte Cal und klang dabei halb irritiert, halb amüsiert. »Dieser Freundin wäre es sicher nicht aufgefallen, wenn du ein anderes Exemplar gewählt hättest. Gib’s doch zu, dass du die Gelegenheit genutzt hast, um ihn ein wenig mehr zu quälen.« Er schüttelte den Kopf. »Es ist immer wieder faszinierend, etwas über dich zu erfahren … und über deine Skrupellosigkeit. Was mich jetzt interessiert: Was hättest du als Wetteinsatz bekommen? Auch ein paar Shorts von irgendeinem Kerl? Vielleicht von Cross Cooper? Wobei, der würde sie dir auch freiwillig geben, so wie er dich anschaut.«

Während ich mich fragte, wie zum Teufel er auf Cross Cooper kam, ging er auf einen Stamm zu und strich über das Moos auf der Rinde, wobei ihm diese eine, widerspenstige Haarsträhne erneut ins Gesicht fiel. In sein wunderschönes, sanftes Gesicht, das heute einen versehentlichen Zusammenstoß mit einer Vase gehabt hatte – wenn ich das wirklich glauben sollte.

Wahrscheinlich hatte er recht, und ich hatte Darren damals ein wenig quälen wollen. Ich erinnerte mich daran, dass mein Bruder eine Woche vor der Wette unabsichtlich Kaffee über eine meiner Zeichnungen, an der ich stundenlang gesessen hatte und die von Dad besonders gelobt worden war, verschüttet hatte. Er war schon immer eifersüchtig gewesen, wenn ich wegen meiner Zeichnungen gelobt wurde. Meistens hatte ich dafür Verständnis, aber an diesem Tag war er zu weit gegangen.

»Kann sein. Darren ist manchmal ein richtiges Arschloch. Und was ich bekommen hätte, verrate ich dir lieber nicht. Was machst du da?«

Er war immer noch damit beschäftigt, das Moos zu inspizieren.

»Du hast keinen Plan, wo wir sind, oder?«, fragte er.

Ich konzentrierte mich wieder auf unsere Umgebung. Es war so friedlich um uns herum, wir waren so weit vom Weg abgewichen, dass es mir vorkam, als wären wir die einzigen Menschen in diesem Wald. Oder die einzigen Menschen auf der Welt. Die Eichen und Buchen um uns herum sahen alle gleich aus, und natürlich konnte ich nicht mit Sicherheit sagen, welche Richtung zurück zum Weg und zum Campingplatz führte. Cal schien es auch nicht zu wissen, obwohl sein Orientierungssinn bestimmt besser war als meiner. Brotkrumen wären wirklich keine schlechte Idee gewesen. Obwohl die Vögel sich vielleicht auch bei uns darüber hergemacht hätten.

»Nein«, gab ich zu. Ich machte mir keine allzu großen Sorgen. Irgendwie würden wir schon wieder zurückfinden, und bis dahin konnte ich noch etwas Zeit mit ihm alleine verbringen.

»Die Seite, an der das Moos auf dem Stamm wächst, ist Norden«, erklärte Cal und ging optimistisch zum nächstgelegenen Baum, dann zu dessen Nachbarn. Okay, von dieser Moos-Sache hatte ich auch schon gehört. Trotzdem machte ich keine Anstalten, ihm zu helfen, und nutzte lieber die Gelegenheit, um ihn weiterhin zu betrachten.

»Die Scheiß-Dinger haben überall Moos«, murmelte er kurz darauf kleinlaut. »Sorry. Ich habe keine Ahnung, wo wir sind.« Er lachte, ein so helles, ansteckendes und klares Lachen, dass ich nicht anders konnte, als einzustimmen. Es war befreiend. Wir standen mitten im Unterholz, das Laub raschelte unter unseren Füßen, die Vögel sangen über unseren Köpfen, und wir lachten, weil wir nicht wussten, wo wir waren, und weil das Moos sich nicht Cals fraglichen Weisheiten beugen wollte.

Als ich mich wieder etwas beruhigt hatte, warf ich ihm ein provozierendes Lächeln zu. »Die gute Nachricht ist, dass wir genug Holz für das Lagerfeuer gesammelt haben. Und die noch bessere Nachricht ist, dass ich hier bin, um deine Hand zu halten und deine Tränen zu trocknen, falls du schreckliche Angst bekommst, weil wir uns wirklich verirrt haben.«

Anstatt eines Grinsens erntete ich jedoch nur ein frustriertes Seufzen. Die Stimmung veränderte sich so schnell, dass ich davon beinahe ein Schleudertrauma bekam. Gerade eben noch war Cal mehr als belustigt gewesen, und nun verdunkelte sich seine Miene. Es war, als wäre die Sonne plötzlich hinter dicken Wolken verschwunden. Ich trat unruhig von einem Fuß auf den anderen, während ich das Holz in meinen Armen balancierte.

»Toll. Die markieren die Bäume wegen jedem Scheiß, aber ein Wanderzeichen können sie nicht anbringen. Deine Eltern werden mich killen, wenn ich dich vor Einbruch der Dunkelheit nicht zum Campingplatz zurückgebracht habe.«

Sein Stirnrunzeln verunsicherte mich. Machte er sich wirklich so große Sorgen deswegen? Ich bezweifelte, dass meine Eltern ihm die Schuld geben würden.

»Es wird nicht mehr lange dauern, bis die Sonne untergeht«, fuhr er fort, und ich war mir sicher, nun ein Zittern in seiner Stimme zu hören. Shit. »Weißt du, Rena, das ist nicht witzig. Du bist campingerprobt und an einen stockdunklen Wald gewöhnt. Aber ich?«

Er drehte sich einmal um die eigene Achse, dann ließ er sich rücklings gegen einen Baum sinken und zu Boden rutschen. Es war wirklich nicht mehr witzig.

Ich hob den Arm und sah auf meine Uhr – mein Handy hatte ich im Zelt gelassen, weil ich Angst hatte, dass es mir im Wald aus der Hosentasche fallen könnte. Vom Pfad abzuweichen war eine meiner üblichen spontanen, idiotischen Ideen gewesen. Vielleicht sogar eine Art Kurzschlussreaktion, die Cal in mir ausgelöst hatte – nicht dass ich ihm dafür die Schuld geben konnte. Er wirkte gerade viel zu verzweifelt. Ich hätte es nicht einmal geschafft, ihm die Schuld dafür zu geben, wenn ich das gewollt hätte.

»Ich weiß nicht, wie du darüber denkst, aber ich habe nicht vor, hier spurlos zu verschwinden«, murmelte ich schließlich. »Wir haben noch mindestens eine halbe Stunde, um den Rückweg zu finden, bevor die Sonne untergeht. Notfalls können wir ein Feuer machen … ich hab ein Feuerzeug in der Hosentasche. Frag nicht, warum.« Eine kurze Pause. »Wenn wir versehentlich einen Waldbrand auslösen, findet uns vielleicht jemand.«

Okay, wenn wir nicht vorher im Rauch erstickten, was keine besonders angenehme Vorstellung war.

Als ich in sein Gesicht sah, erinnerte ich mich wieder daran, dass Humor im Moment unangebracht war. Ich ließ die Äste, die ich gesammelt hatte, fallen und setzte mich neben ihn. So nah wie im Auto, nur, dass es viel ruhiger war, weil das Radio nicht an war, meine Eltern sich nicht unterhielten und Darren mit seiner großen, nervtötenden Klappe nicht neben mir saß. Es war so still und friedlich um uns herum, dass ich mein Herz umso lauter schlagen hören konnte, nicht weil wir uns verirrt hatten, sondern ganz allein wegen Cal.

»Wenn wir den Rückweg nicht mehr finden, bauen wir uns ein neues Leben im Wald auf«, sagte ich mit einem schwachen Lächeln. »Ich weiß, welche Pilze und Beeren essbar sind. Wir machen uns ein wildes Leben zwischen den Buchen und Eichen.«

Verdammt, wieso schaffte ich es nicht, aufzuhören, Witze zu machen? Schlug mein Herz wirklich so laut, dass es meinen Verstand ausblendete und mich daran hinderte, etwas Hilfreiches zu sagen?

Cal fuhr sich verzweifelt durch die Haare, brachte noch mehr Strähnen durcheinander und sah so hilflos aus, dass ich noch ein klein wenig näher rutschte.

»Gibt es nicht Bären hier? Wölfe? Wildschweine? Was weiß ich, welche Gefahren hier lauern. Scheiße, Rena, was ist, wenn wir den Rückweg gar nicht mehr finden? Ich hab einige Berichte gesehen von Jugendlichen, die in den Wäldern verschwunden und nie wieder aufgetaucht sind …«

Er zog die Knie an und umschlang sie mit den Armen. Zuckte nur leicht mit den Schultern, als hätte er uns bereits aufgegeben. Als würden wir für immer im Wald verschwinden. War er wütend auf mich? Mein schlechtes Gewissen wurde schwerer und lag mir unangenehm im Magen.

»Cal …« Die Stille des Waldes wurde vom ohrenbetäubenden Geräusch meines Herzschlags gestört. Es hätte mich nicht gewundert, wenn er sich darüber beschwert hätte, dass ich zu laut war. Dass mein Körper zu laut war.

»Entschuldige, ich hätte uns nicht vom Weg abbringen sollen.« Ich sah ihm ins Gesicht. Er saß vollkommen still. Ich konnte mich nicht daran erinnern, ihm schon einmal so nahe gewesen zu sein, dass ich seine genaue Augenfarbe ausmachen konnte. Mehr als nur graublau. Achatgrau mit einem Hauch Aquamarin. Ohne nachzudenken, nahm ich eine seiner Strähnen zwischen Daumen und Zeigefinger und strich sie ihm sanft hinters Ohr.

Shit.

Nein.

Das hatte ich nicht wirklich getan, oder?

3 | CALLAN | Was im Wald passiert, bleibt im Wald

Tatsächlich schien Rena nicht gegen die ›Cooler Typ zeigt sich verletzlich‹-Masche immun zu sein, denn sie reagierte auf mein kleines Schauspiel mit so viel Mitgefühl, dass ich fast ein schlechtes Gewissen bekam. Fast. Denn wenn ich das geahnt hätte, dann hätte ich es schon viel früher ausprobiert.

Im nächsten Moment beseitigte sie sämtliche klaren Gedanken, denn sie strich mir in einer ungewohnt zärtlichen Geste die Strähne hinters Ohr, die mich immer nervte, deren Existenz ich aber in diesem Moment zum ersten Mal feierte.

Sekunden später fiel mir auf, dass ich die Luft angehalten hatte, und ich bemühte mich, unauffällig weiterzuatmen.

»Was wird das?«

Überrascht registrierte ich, dass meine Stimme nichts von dem halben Herzinfarkt verriet, der mich gerade ereilte.

»Versuchst du mich abzulenken, oder findest du mich so heiß, dass du deine Finger nicht bei dir behalten kannst?«, fuhr ich halb scherzhaft, halb provozierend fort.

Für einige Sekunden musterte sie mich schweigend, und mein Blick fiel wieder auf die kleine Biene auf der Innenseite ihres linken Handgelenks. Die Frage nach meinem eigenen Wunschmotiv hatte mich unvorbereitet getroffen, denn eigentlich hätte es längst meinen rechten Unterarm schmücken sollen. Ich hatte bereits einen Termin gehabt, den ich absagen musste, weil mir mein Dad kurz davor eine Rippe angebrochen hatte, sodass es unmöglich war, für längere Zeit still zu sitzen, ohne vor Schmerzen durchzudrehen. Bei dem Motiv handelte es sich um einen Entwurf Renas, den sie angefertigt hatte, während wir gemeinsam im Garten gesessen hatten, sie mit ihrem obligatorischen Skizzenblock auf den Knien, ich mit meinem Instrument auf dem Schoß. Sie hatte eine stilisierte Gitarre, deren Hals in Notenlinien auslief, skizziert, und ich hatte das Blatt in einem unbeobachteten Moment aus ihrem Zimmer geklaut. Vermutlich bezichtigte sie noch immer Darren des Diebstahls, und ich war ganz zufrieden damit, nicht zum Kreis der Verdächtigen zu gehören.

»Ich habe dir die Strähne hinters Ohr gestrichen«, beendete sie unvermittelt meine Überlegungen, und ich verdrehte die Augen wegen ihrer nichtssagenden Antwort. Ja, das war mir nicht entgangen.

Wieder herrschte Stille, während ich herauszufinden versuchte, was lief – und ob sie die Berührung vielleicht ebenso aus dem Konzept gebracht hatte wie mich selbst.

»Ich lenke dich ab«, fügte sie hinzu. »Einen Versuch war es wert. Einen Augenblick lang dachte ich sogar, dass es funktionieren würde.« Ein leichtes Schulterzucken, das mir deutlich machte, dass es sich tatsächlich nur um eine Strategie gehandelt hatte.

Ein Ablenkungsversuch. Natürlich. Und ich Trottel hatte für einen Moment geglaubt, nein, gehofft, dass sie zumindest ansatzweise etwas von dem spürte, was ihre Nähe bei mir auslöste. Aber nein. Natürlich nur ein verdammter Ablenkungsversuch. Wäre auch zu schön gewesen.

Außerdem musste ich zugeben, dass es mir zunehmend schwerfiel, weiterhin Besorgnis vorzutäuschen, dazu gefiel mir die Richtung, die das Gespräch nahm, viel zu gut. Ich mochte den leicht flirtigen Unterton, mit dem sie sprach und der bisher immer nur für irgendwelche anderen Kerle reserviert gewesen war. Ja, schon klar, sie tat das, weil sie Angst hatte, dass ich bei Einbruch der Nacht einen Nervenzusammenbruch erleiden würde, aber warum sollte ich es nicht noch ein wenig ausnutzen, so lange es währte?

Ich lehnte mich ein Stück zurück, wobei ich wie zufällig ihren Oberarm streifte. Schade, dass ich nicht auch ein Shirt trug, sonst hätte sich jetzt unsere nackte Haut berührt …

Während sie sprach, beobachtete ich sie von der Seite. Sogar ihr Profil war sexy. Konnte man ein Profil sexy finden? Nach einem weiteren Blick auf sie war ich sicher, dass ich diese weltbewegende Frage mit Ja beantworten konnte.

Mit einiger Verspätung fiel mir ein, dass ich ja den verschüchterten Jüngling gab, der sich im Wald verlaufen hatte und dringend gerettet werden musste.

»Ich fürchte, es hat nichts genutzt«, fügte ich also mit einem unbehaglichen Blick über meine Schulter hinzu. »Hast du das Knacken eben auch gehört? Da wird viel mehr Ablenkung nötig sein, damit ich nicht durchdrehe. Gott, ich will keine Nacht im Wald verbringen inmitten irgendwelcher wilden Tiere …«

Gemeinsam lauschten wir in die Stille des Waldes, dann schüttelte Rena den Kopf. »Ich habe nichts gehört. Kein Knacken. Keine Tiergeräusche, nicht einmal Vögel oder die Blätter eines Baums im Wind. Das bildest du dir ein, weil du dir ausmalst, dass wir zwischen Bären und Wölfen schlafen werden.«

Ihr neuerlicher Beruhigungsversuch erzielte eher einen gegenteiligen Effekt. Oh mein Gott. Sie hatte wir und schlafen im gleichen Satz benutzt. Fehlte nur noch miteinander, und sie hätte mich in der Tasche … oder auf sich, ganz wie sie wollte. Wobei, wenn sie mich reiten würde, könnte ich …

Shit. Shit, shit, shit.

Ich musste mich ganz dringend auf andere Gedanken bringen. Themenwechsel. Sofort.

Ich räusperte mich. »Du schuldest mir übrigens noch eine Antwort, Bienchen. Dir ist klar, dass ich mir jetzt das ganze Wochenende über kreative Dinge ausmalen werde, die du als Wetteinsatz gefordert haben könntest. Aber gut, vermutlich ist es das, was du willst.«

Hoffentlich hatte es weder etwas mit Cross Fucking Cooper noch mit dessen Boxershorts zu tun. Ganz ehrlich, ich hasste den Kerl, und dass er Rena seit Kurzem begehrliche Blicke zuwarf, machte die Sache auch nicht besser.