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Der oberbayerische Schriftsteller Roman Reischl hat sich selbst einen Traum erfüllt und aus deinem Lieblings-Videospiel aus Jugendzeiten eine eigene Story ins Leben gerufen. Tauchen Sie ab in die Welt der Könige, Kampfsportarten und der ewigen Energie der Krieger im tödlichen Kampf, der Ende der Neunziger sämtliche Spielhallen und Konsolen im Sturm eroberte. Fantasievoll, gekonnt modern und bestens für junge Leute geeignet. Der Autor hat sich schon seit Jahren auf Kinder- und Jugendliteratur spezialisiert und sich damit landesweit einen Namen gemacht.
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Seitenzahl: 179
7990 v. Chr. nach irdischer Zeitrechnung
7983 v. Chr.
Zur selben Zeit, Mutterreich (Erde)
Kapitel 1: Gegenwart
Kapitel 2: Dämonen des Waldes
Ein Jahr zuvor
Los Angeles, USA
Kapitel 3: Rot und Schwarz
Washington D.C., USA
Kapitel 4: Nichts Böses sehen
Sechs Tage zuvor
Gegenwart
Kapitel 5: Die Zusammenkunft
Kapitel 6: Ewige Sehnsucht
Suruga, Hauptstadt von Marciola
7972 v. Chr.
Wieder in der Gegenwart
Vergangenheit
Gegenwart
Vergangenheit
Gegenwart
Kapitel 7: Herzen aus Stein
Festung von Fantasia (Namors Regierungssitz)
7361 v. Chr.
Das freie Reich von Marciola
Königin Monique, eine schlanke, fast zierliche Frau, stand auf dem Balkon ihres Palastes, das sich hoch und mächtig wie ein riesiger Stalagmit über die Ebene von Marciola erhob. Mit ihren dunklen Augen blickte sie über die Brüstung. Aus der Ferne konnte sie den rauschenden Klang eines Wasserfalls hören. Weit unterhalb des verzierten Balkons leuchtete das Grasland im ersten Sonnenlicht des Tages auf.
Es war noch sehr früh am Morgen, für einen Augenblick lang kam ein kühler Wind auf und blies durch das Haar der Königin. Aber die Kälte störte Monique nicht im Geringsten. Sie genoss es, zuzusehen, wie die aufgehende Sonne das Zwielicht der Morgendämmerung verjagte und der Welt die große Vielfalt an Farben zurückbrachte. Es gab nichts, was das menschliche Auge mehr zu erfreuen vermochte.
„Ein Reich wie aus einem Märchen“, dachte Monique bei sich selbst.
Sie hätte sich mehr Zeit gewünscht, um die Aussicht zu genießen. Es war zu einem täglichen Ritual geworden, morgens auf ihrem Balkon auf den Sonnenaufgang zu warten, seit sie gekrönt worden war. Doch es gab Aufgaben, die sie zu meistern hatte.
Eine ihrer Hauptaufgaben war die Aufrechterhaltung der Beziehungen zu den benachbarten Reichen Seido und Fantasia. In den Tagen, als der König noch lebte, hatten sie sich die Aufgaben stets geteilt. Während es dem ihm zukam, Marciolas Interessen zu vertreten, stand ihm die Königin immer als Beraterin in allen wichtigen Fragen zur Seite. Sie folgte ihm auf sämtliche öffentlichen Versammlungen, hielt sich jedoch nur im Hintergrund auf.
Doch nun war der König tot, er starb nach langen Jahren der Krankheit. Und nun fielen alle Aufgaben der Königin zu. Manchmal wurde sie gefragt, ob sie nicht noch einmal heiraten wollte. So mancher aus den Reihen der Aristokraten hätte ihr auf der Stelle einen Antrag gemacht, denn Monique war ohne jeden Zweifel eine Frau von betörender Schönheit. Sie hatte langes schwarzes Haar, das ihr bis tief in den Rücken reichte, ihre helle Haut war glatt, und ihr ovales Gesicht mit den für eine Frau sehr markanten Wangenknochen spiegelten sowohl ihre Strenge als auch ihre Güte wider.
Doch es kam ihr niemals in den Sinn, wieder zu heiraten. Sie war stolz darauf, die einzige Königin der fünf bekannten Nationen zu sein, die ihr Reich ganz allein regierte. Obwohl die Aufgabe manchmal anstrengend oder gar lästig war, empfand sie sie als Erfüllung des Lebens.
„Ja, Marciola wird von einer Königin regiert, und wenn ich dann, eines fernen Tages, zu den ältesten Götter gerufen werde, wird dieses Reich einmal mehr von einer Königin regiert werden“, dachte Monique bei sich.
Bevor der Herrscher verstorben war, hatte er ihr eine Tochter geschenkt. Prinzessin Laura war noch ein Kind und erst zehn Jahre alt geworden. Doch schon nach kurzer Zeit würde Monique sie auf eine spezielle Akademie schicken, wo sie Unterricht über Regierungsgesetze und Verhandlungsstrategien nimmt.
„Mylady, es ist soeben ein Besucher eingetroffen“, meldete eine Dienerin, die gerade eingetreten war.
„Er erwartet Eure Hoheit im Audienzsaal.“
Monique drehte sich zu der Dienerin um und musterte sie mit einem raschen Blick. Ihre Uniform war makellos rein und ohne jegliche Falten. Ihr Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden, ihr Gesicht war ohne Gefühlsregung.
„Sag mir, Zerrai, wer ist es?“, fragte Monique.
„Lord David, Botschafter der Neuen Reiche“, antwortete die Dienerin.
„Teilt Lord David mit, dass ich ihn in wenigen Minuten empfangen werde“, ordnete Monique an.
„Sehr wohl, Mylady“
Sie verbeugte sich und verließ dann das Schlafgemach der Königin.
Jedes Mal, wenn Botschafter David zu Besuch kam, brachte er interessante Neuigkeiten mit sich, auch wenn es nur selten vorkam. Monique war neugierig zu erfahren, was es dieses Mal war.
Wie angekündigt wartete der Botschafter im Audienzsaal. David war ein kluger Mann mit kurz geschorenem Haar. Er trug einen schwarzen Mantel aus wetterfestem Material. Sein Gesicht wirkte im Gegensatz dazu blass, beinahe fahl. Die Augen blickten müde, als schliefe er seit Nächten nicht mehr.
Seine Wangen waren hohl und eingefallen, als ob er, seit Tagen nichts mehr zu sich genommen hätte. Er bemühte sich um eine aufrechte Körperhaltung, doch die Folgen seiner Anstrengungen waren nicht zu übersehen.
„Ihr seht erschöpft aus“, stellte Monique fest.
„Ihr hättet Euch nicht die Mühe machen müssen, hierher zu kommen. Es gibt einfachere Wege, mich zu erreichen.“
„Das ist mir bewusst, Mylady. Aber dieses Mal musste ich persönlich herkommen. Es ist von großer Wichtigkeit.“
Plötzlich wurde er von Monique unterbrochen.
„Sagt mir, wie geht es Eurer Tochter?“
„Wie bitte?“
David war von der Frage verwirrt. Er hatte sie nicht erwartet.
„Nun, Helena geht es ziemlich gut.“
„Wie alt ist sie eigentlich?“, erkundigte sich Monique.
Sie wollte David ein wenig auflockern, und sie hatte Erfolg. Seine Anspannung löste sich allmählich.
„Sie ist zehn, Mylady, so alt wie die Prinzessin. Sie sind am selben Tag geboren worden, wisst Ihr nicht mehr?“
„Doch natürlich“
Nach einer kurzen Pause schlug sie vor:
„Ich glaube, wir sollten unsere Unterhaltung beim Frühstück fortsetzen.“
„Bei allem gebührenden Respekt, Mylady, aber ich habe ein paar sehr wichtige Angelegenheiten, die dringend besprochen werden müssen. Wir dürfen keine Zeit verlieren.“
„Ich glaube euch das aufs Wort, Herr Botschafter, aber wenn ihr vor Hunger in Ohnmacht fallt, würde sich die Sache nur noch mehr verzögern, nicht wahr?“
Noch bevor David einen Einwand erheben konnte, rief Monique nach einem Diener.
„Ihr habt einen Wunsch, Mylady?“
„Ja, sagt dem Küchenpersonal, dass sie das Frühstück herrichten soll. Außerdem wird mir Botschafter David Gesellschaft leisten.“
„Sehr wohl, Mylady“, verbeugte sich der Diener und verließ den Audienzsaal.
Nur wenige Augenblicke später wurden Monique und David von zwei Getreuen in den Speisesaal geleitet. Dort fanden sie einen reich gedeckten Tisch vor. In einem Korb lag frisches Brot, dazu gab es Butter und allerlei Sorten Käse und Pasteten. Aus einer Kanne dampfte duftender Kaffee. Auf einem separaten kleineren Tisch stand ein Korb mit einer großen Vielfalt an verschiedenen Früchten.
Die Königin und der Botschafter nahmen einander gegenüber Platz, und während sie das Frühstück genossen, setzten sie das Gespräch von zuvor fort. So erfuhr Monique, dass sich Helena sehr für Geschichte und Überlieferungen antiker Dokumente interessiert war. Zusätzlich schien sie ein gewisses Talent für Sprachen zu besitzen.
„Nun, dann wird sie ja vielleicht Geschichts- oder Sprachwissenschaftlerin werden“, sagte Monique.
„Nein“, antwortete David.
„Ich glaube, sie wird mit Sicherheit eins von beiden.“
Sie mussten beide lachen. Dann wurde David wieder ernst.
„Mylady, ich würde jetzt gerne über die Angelegenheit sprechen, weswegen ich hergekommen bin“, kündigte er an.
„Richtig“, stellte Monique fest.
„Also, was ist es?“
„Ich habe verlässliche Informationen, dass der Imperator von Fantasia eine riesige Armee versammelt, mit dem Ziel, Marciola anzugreifen“, fuhr David fort.
Monique setzte ihre Tasse ab und sah auf. Ihre Miene war besorgt. „Nun, ich muss zugeben, dass mir dies neu ist. Keiner meiner Spione hat in der letzten Zeit eine solche Aktion gemeldet.“
„Eure Spione werden nichts entdecken, da es der Imperator äußerst gut versteht, seine Aktionen zu verbergen.“
„Darf ich dann fragen, woher Ihr Eure Informationen habt?“, erkundigte sie sich.
„Ich wurde vor einigen Wochen von einem der Generäle des Imperators aufgesucht. Er nennt sich General Shao, er sagte, dass er diesen Krieg nicht mittragen könne und deshalb überlaufen wollte. Seitdem habe ich ein paar eigene Untersuchungen angestellt. Die Informationen stellten sich als korrekt heraus.“
„Nun, es ist seit jeher ein offenes Geheimnis, dass es Ramis größter Wunsch ist, Marciola zu erobern und für sich zu beanspruchen. Es wäre auch nicht sein erster Versuch, dieses Ziel zu erreichen. Aber bisher haben ihn stets die ältesten Götter aufgehalten. Was hat sich daran geändert?“
„Ich weiß es nicht genau, aber General Shao erwähnte, dass Rami einen Weg gefunden hätte, den Rat der ältesten Götter zu hintergehen, so dass sie sich dieses Mal nicht einmischen werden.“
„Sollte es wirklich zu einem Krieg gegen Fantasia kommen, wird es übel werden, sehr übel“, Monique schwieg einen Moment lang.
„Bevor ich irgendwas unternehmen kann, brauche ich feste Beweise, und zwar schnell. Bringt mir die Ergebnisse Eurer Untersuchungen so bald wie möglich. Außerdem wäre es sehr hilfreich, wenn Ihr ein Treffen zwischen mir und diesem General vereinbaren könnt. Ich werde in der Zwischenzeit mehr Spione losschicken, wenn Ihr mir sagt, wonach sie suchen sollen.“
„Natürlich, Mylady. Ich werde tun, was ich kann.“
Nachdem David wieder gegangen war, kehrte Königin Monique in ihr Gemach zurück und trat hinaus auf den Balkon. Wie ein böses Omen war die Sonne nun durch dunkle Wolken verdeckt, der Wind wurde stärker und brachte die Königin zum schaudern.
„Etwas ist da draußen im Gange. Was auch immer passieren wird, es könnte das Ende der Welt bedeuten, wie wir sie kennen“, dachte sie bei sich, bevor sie wieder in ihr Gemach ging.
Laura fuhr zusammen, als sie zuerst einen lang bgezogenen markdurchdringenden Schrei hörte, und kurz darauf, wie etwas hart am Boden aufschlug. Sofort danach war ein großer Aufruhr außerhalb des Palastes zu vernehmen. Rasch klappte sie das Buch über die Geschichte Marciolas zusammen, in dem sie gelesen hatte, rannte aus ihrem Zimmer durch den großen Flur des Palastes zum Eingang. Dort weilte fast das gesamte Dienstpersonal in einer chaotischen Menge. Manche unter ihnen weinten, andere standen nur apathisch herum.
„Was ist passiert?“, fragte Laura die erste Dienerin, auf die sie traf, doch sie bekam keine Antwort, jene wirkte wie versteinert.
Sie schob jene ein wenig unsanft beiseite und kämpfte sich weiter nach vorne durch, während sie an mehr entsetzten Personen vorbeikam.
„Was ist passiert?“, wollte sie abermals in Erfahrung bringen, doch sie bekam keine einzige Antwort.
Daraufhin fand sie endlich den Grund für das Entsetzen der Menschen. Jemand lag im Gras, es war eine Frau. Der Körper war schrecklich entstellt, er sah aus wie eine große Puppe, die ein Kind achtlos zu Boden geworfen hatte, nachdem es die Lust verloren hatte, mit ihr zu spielen. Dann sah die Prinzessin das Blut, es war überall, und schließlich, nach fast einer Ewigkeit, erkannte sie, wer es war. Es war Monique, ihre Mutter, die leuchtende Königin von Marciola. Laura stürzte nach vorne, stolperte und schlug sich das Knie auf, doch sie spürte es kaum. Sie schloss den leblosen Körper in ihre Arme, ignorierte das Blut, das ihr blaues Kleid aufsog, so dass es sich dunkel, fast schwarz verfärbte. Sie drückte sie fest an sich, doch wie fest sie auch presste, es veränderte sich nichts. Es geschahen keine Wunder.
Monique war tot.
„Was ist passiert?“, erkundigte sich Laura einmal mehr, ihre Stimme war kaum noch zu hören.
„Sie stand auf ihrem Balkon“, antwortete endlich jemand.
„Eigentlich wie an jedem Morgen. Doch dann sprang sie von der Brüstung, einfach so. Es tut mir leid, Mylady.“
„Schon gut.“
Die Prinzessin wischte sich mit dem Handrücken über ihre Wangen und stand auf. Da bemerkte sie, dass Namor, wie er sich jetzt nannte, sich direkt hinter ihr aufhielt. Er schien gerade erst aufgestanden zu sein, denn er trug nur einen Morgenmantel und lief barfüßig.
Er trug nicht einmal seine Totenkopfmaske, die er fast immer aufhatte, so dass einige bis zu diesem Moment noch nie sein Gesicht gesehen hatten.
„Bist du in Ordnung, Laura?“, fragte er nach. Seine Stimme klang ungewohnt freundlich.
Laura sah ihm direkt in die Augen, sie wirkten so stählern und grau wie immer. Es war keine Spur einer Emotion zu sehen.
„Ja“, entgegnete sie knapp.
„Bist du dir sicher?“, wollte Namor wissen.
„Ich will jetzt alleine sein, bitte!“
Namor trat zur Seite und ließ die Prinzessin an sich vorbei. Sie kehrte in ihr Zimmer zurück, setzte sich an ihren Schreibtisch und griff nach ihrem Buch. Sie versuchte vergeblich, sich auf den Text zu konzentrieren, denn vor ihren Augen verschwamm alles. Eine unbändige Wut stieg in ihr auf, Wut auf ihren Stiefvater, sogar Wut gegen Botschafter David. Mit einer heftigen Bewegung fegte sie ihr Buch und alles, was sich sonst noch auf ihrem Tisch befand, zu Boden. Schließlich konnte sie sich nicht mehr kontrollieren, sie brach in Tränen aus.
Es begann alles damit, dass David ein Treffen zwischen Monique und dem damaligen General Namor arrangierte. Die Informationen, die er überbracht hatte, stellten sich als wahr heraus, Rami war in der Tat dabei, eine Armee aufzustellen, um in Marciola einzumarschieren. Der ehemals vertrauteste General des Imperators, überzeugte Monique davon, dass der Krieg nur zu gewinnen sei, wenn ein Präventivschlag gegen dessen Armee ausgeführt würde. Seine eigene Motivation, überzulaufen, lag darin begründet, dass Rami das Volk Fantasias ohne Gnade unterdrückte, Leute in den Städten versklavte und verhungern ließ, zumindest waren das seine Worte. Monique ließ sich auf den Vorschlag Namors ein. So wurde Ramis Armee geschlagen. Er war besiegt. Marciola hat einen hohen Preis für den Sieg bezahlt.
Viele Städte wurden zerstört und unzählige Menschen verloren ihr Leben in einem drei Jahre währenden Krieg. Dennoch wurden Monique und der General als Helden gefeiert, die Fantasia von der Tyrannei befreit hatten. Ein halbes Jahr später heirateten sie, und alles schien wieder in Ordnung zu sein.
Doch als die Zeit verging, enthüllte Namor seine wahre Absicht. Das Volk von Fantasia lag ihm so wenig am Herzen wie Rami. Die war es, selbst Imperator zu werden. Er hat sein Ziel erreicht, und noch mehr, denn durch die Heirat mit Königin Monique war er nun ebenso rechtmäßiger König. Mit einem mysteriösen Artefakt, das er in Ramis Palast an sich genommen hatte, begann er nun, Marciola mit Fantasia zu verschmelzen. Monique beobachtete das Geschehen mit Sorge, war jedoch machtlos gegen Namors Machenschaften.
All das versuchte Monique vor Laura zu verheimlichen, ihre Kindheit sollte möglichst unbeschwert sein. Doch als die Prinzessin aufwuchs, erkannte sie die bittere Wahrheit. Es gab nun einmal Dinge, die man nicht vor einem Kind verbergen konnte.
Laura erholte sich und hob die Sachen auf, die auf den Boden gefallen waren. Noch immer hatte sie das Bild ihrer toten Mutter vor ihrem inneren Auge. Ihr entstellter Körper, ihr purpurnes Kleid, das Blut, das so intensiv rot war im Vergleich zu ihrem schneeweißen Haar.
Plötzlich hielt die junge Frau inne. Irgendwas stimmte nicht. Am Abend zuvor, als Laura ihre Mutter zum letzten Mal lebend gesehen hatte, war ihr Haar noch nachtschwarz, so wie sie es seit jeher kannte. Es hellte also in wenigen Stunden völlig weiß auf. Laura eilte aus ihrem Zimmer, sie musste es noch einmal sehen. Sie überzeugte sich davon, dass es nicht nur ihr Geist war, der ihr einen Streich spielte.
Als sie am Eingang ankam, sah sie, dass der Körper bereits fortgeschafft wurde. Alle Diener waren zu ihren Arbeiten zurückgekehrt. Nur noch ein paar Männer in dunklen Roben mit Kapuzen standen an der Stelle herum, an der der Körper gelegen hatte. Laura wusste, wer diese Leute waren. Sie nannten sich die „Gelehrten des Chaos“ und gehörten zusammen mit den Schattenpriestern zu den Gefolgsleuten von Namor. Laura hatte keine Ahnung, was genau die Aufgabe dieser Leute war, aber sie konnte sie nicht ausstehen.
„Wo ist der Leichnam meiner Mutter?“, hielt sie den ersten an, dem sie über den Weg lief.
„Seine Majestät befahl uns, sie in ihr Schlafgemach zu bringen und zu bewachen“, antwortete der Mann.
Er hatte die Kapuze so tief ins Gesicht gezogen, dass seine Augen kaum zu erkennen waren.
„Es ist niemandem erlaubt, das Zimmer zu betreten.“
„Das ist mir egal“, erwiderte Laura.
Mit großen Schritten rannte sie die Treppe hinauf und ging über den langen Flur zur Tür, die ins Schlafzimmer ihrer Mutter führte. Man sah keine Wachen, die Tür war nicht einmal verschlossen.
„So viel zum Thema Befehle“, dachte sich Laura.
Monique lag auf ihrem Bett, ihre Hände über ihrer Brust zusammengefaltet, ihr weißes Haar war glatt gekämmt, ihre Augen schienen verschlossen, als würde sie schlafen. Sie so zu sehen, brachte Laura wieder zum Weinen. Sie kniete sich an ihrer Seite nieder, nahm ihre Hand und schluchzte leise. Plötzlich hörte sie Schritte. Als sie sich umdrehte, sah sie Namor hinter sich stehen. Er hatte sich mittlerweile angekleidet und trug nun ein silbergraues Hemd, ein paar dunkelrote Cordhosen und schwere, dunkelbraune Lederstiefel.
„Du solltest nicht hier sein“, begann er mit ruhiger Stimme zu sprechen.
„Ihr Haar ist ganz weiß“, murmelte Laura geistesabwesend.
„Ich werde ein Pferd für dich bereit stellen lassen.“
Namor ignorierte damit Lauras Bemerkung.
„Reite ein wenig aus. Die frische Luft wird dir gut tun. Komm schon, gehen wir.“
Gemeinsam verließen sie beide das Zimmer, und das war das letzte Mal für eine sehr lange Zeit, dass Laura ihre Mutter sah.
Einen Monat später:
Der Botschafter saß am Tisch, als Helena hereinkam. Sie trug ein Tablett mit mehreren dampfenden Schüsseln darauf. Natürlich hatte David seine Diener, die die Mahlzeiten zubereiteten, doch an diesem Tag hatte er sie schon früher heimgeschickt. Für Helena war es durchaus nichts Ungewöhnliches, denn er behauptete stets, dass das Essen, das sie zubereitete, ihm am besten schmeckte. Helena wusste nicht, ob das die Wahrheit war, oder ob er es nur sagte, um ihr zu schmeicheln. Doch es schien ihn glücklich zu machen, wenn sie kochte.
„Was gibt es heute zu essen?“
„Dein Leibgericht“, antwortete Helena.
„Schweinefleisch mit Gemüse in einer scharfen Soße und Tintenfisch mit schwarzen Bohnen.“
„Du hättest dich nicht so sehr abplagen müssen“, lachte David.
„Rede keinen Unsinn, das ist keine Plage. Kochen macht Spaß!“
Sie setzten sich zu Tisch und aßen schweigend. Früher redete David sehr viel beim Essen, sie hatten die interessantesten Gespräche miteinander, die Helena immer sehr genoss, doch seitdem die Königin verstorben war, verschloss sich David mehr und mehr.
Helena fing an, sich unwohl zu fühlen, also brach sie das Schweigen.
„Stimmt etwas nicht, Vater?“
„Nein, es ist alles in Ordnung“, antwortete David hastig, „es ist alles sehr köstlich, wie immer.“
„Das meinte ich nicht.“
David verfiel wieder in Schweigen.
„Da ist jemand, der glaubte, dass das, was er tut, das Richtige ist“, sagte er nach einer Weile.
„Er glaubte so fest daran, dass er bereit war, alles zu riskieren. Doch am Ende stellte es sich als ein Fehler heraus.“
„Jeder macht mal einen Fehler, oder?“
„Ja, du hast Recht, aber was ist, wenn es ein wirklich großer Fehler war?“
„Warte mal, du meinst jetzt nicht die Sache mit der Königin, oder?“
„Es hat mich schon lange verfolgt“, sagte David. „Ich war derjenige, der Namor diese Macht gegeben hat. Ich habe einen Krieg heraufbeschworen, und wofür? Nur, damit ein Tyrann von einem anderen ersetzt wird... Und nun ist die Königin tot, die einzige Person, die die Balance gehalten hat. Nun kann Namor alles tun, was ihm gefällt.“
Als Botschafter war David einer der wenigen Personen, die Kenntnisse über dessen wahren Absichten hatten. Doch er konnte seine Meinung nur der Tochter gegenüber äußern, da jegliche Kritik an Namor als Widerstand aufgenommen wurde und schwere Strafen die Folge waren.
„Du bist zu hart zu dir selbst“, sagte Helena.
„Niemand ist fähig, die Zukunft vorherzusagen.“
„Aber ich bin der Botschafter.“
Davids Stimme wurde lauter.
„Ich hätte mich weiser verhalten müssen. Ich hätte wissen müssen, dass Macht etwas Gefährliches ist. Es verdunkelt die Herzen und vergiftet die Seelen. Niemand vermag ihr zu widerstehen.“
„Aber man kann seine Macht doch auch dazu verwenden, Gutes zu tun, oder?“
„Glaubst du das wirklich?“, erkundigte sich David.
„Nun ja, vielleicht bist du noch zu jung, um das zu verstehen.“
Er setzte seine Reisschüssel auf dem Tisch ab und stand auf.
„Danke für dieses vorzügliche Mahl, mein Schatz.“
„Aber du hast doch kaum etwas gegessen“, wandte Helena ein.
„Ich bin sehr müde“, sagte David.
„Ich würde mich gerne zur Ruhe legen.“
Helena sah ihrem Vater nach, wie er das Speisezimmer verließ. Irgendwie schien er gealtert zu sein. Sein Körper war zusammengesunken, und er bewegte sich nur langsam vorwärts. Schließlich hörte sie, wie die Tür zu seinem Schlafzimmer ins Schloss fiel.
Helena versuchte, weiter zu essen, doch sie war zu aufgewühlt von der kurzen Unterhaltung.
Sie kam einfach nicht zur Ruhe, also stand sie auf und ging hinüber zum Schlafzimmer ihres Vaters. Als sie an die Tür klopfte, bekam sie keine Antwort. Also trat sie ein und wurde von dem überwältigt, was sie erblickte.
David saß mitten im Zimmer auf dem Boden, die Beine gekreuzt, seine azurblauen Augen verschlossen. Er hatte sein Hemd ausgezogen und säuberlich gefaltet auf sein Bett gelegt. Um ihn herum brannten Kerzen, die dem Zimmer ihr gelbliches, flackerndes Licht verlieh. Vor ihm, auf einem silbernen Teller, lag ein langes Jagdmesser mit einer Klinge aus Obsidian.
„Vater! Was tust du da?“, rief Helena sichtlich entsetzt.
David öffnete langsam seine Augen.
„Zu viele Menschen sind durch mich gestorben“, meinte er mit ruhiger Stimme.
„Ich kann nur für meine Sünden büßen, indem ich Seppuku begehe.“
„Nein, tu‘ das nicht! Ich flehe dich an!“, rief Helena.
Tränen flossen über ihr Gesicht bis zum Kinn.
„Es tut mir leid, Helena. Aber ich habe keine Wahl.“
David nahm das Messer mit beiden Händen auf. Er hielt es so fest, dass seine Knöchel hervortraten. Dann erhob er noch einmal die Stimme.
„Mögen die ältesten Götter mir vergeben, denn ich kann es leider nicht.“
„Nein!“, hallte es von Helena nun in den Raum, doch es war zu spät.