MORITATEN - Roman Reischl - E-Book

MORITATEN E-Book

Roman Reischl

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Beschreibung

"MORITATEN - Sammelband" ist das Gesamtwerk an Regionalkrimis, bestehend aus allen 4 Bänden, die bereits einzeln bei Amazon KDP erschienen sind. Der Inhalt wurde minimal überarbeitet und neu gestaltet. Freuen Sie Sich auf spannende, kurzweilige Kriminalgeschichten, bei denen jeder Fall ein in sich abgeschlossenes Kapitel ist. Band 1 und 2 spielt mit den Jewskis in Bayern, Band 3 und 4 mit den sympathischen Bergmayer-Kommissaren im benachbarten Österreich. Folgen Sie dem Schriftsteller an die schönsten Orte der Region, später im Verlauf geht es in die große weite Welt. Spannung und gute Unterhaltung ist garantiert!

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Seitenzahl: 434

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Inhaltsverzeichnis

Band 1 – Verdichtete Ermittlungen

Vorwort

Kapitel 1: Mono und Stereo

Kapitel 2: Im Quellenbau ertränkt

Kapitel 3: Die tote Journalistin

Kapitel 4: Die Linzer Ravertorte

Kapitel 5: Die schwarze Madonna von Altötting

Kapitel 6: Burg Tittmoning und der Perverse

Band 2 – Oberbayerische Kriminalpoesie

Vorwort

Kapitel 1: Eiskalt in Inzell

Kapitel 2: Eingemauert in Laufen

Kapitel 3: Herrenchiemsee

Kapitel 4: Der tiefe Fall am Rossfeld

Kapitel 5: Die Freilassinger Bohrung

Kapitel 6: Das Reinheitsgebot

Kapitel 7: Die Höhlen am Untersberg

Kapitel 8: Zornig in München

Kapitel 9: Burghausener Chemie

Band 3 – Alpenländische Mordkultur

Vorwort

Kapitel 1: Das Salzburger Präsidium

Kapitel 2: Die Wasserleiche am Wolfgangsee

Kapitel 3: In der Getreidegasse

Kapitel 4: Kommissar„Al“ und sein Rückzugsort

Kapitel 5: Hohentauern im Visier

Kapitel 6: Beziehungen - Bauernfeind und die Liebe

Kapitel 7: Villacher Fasching – Lieserls Einsatz

Kapitel 8: Südtirol – Am Kalterer See

Kapitel 9: Mord im Salzburger Zoo

Kapitel 10: Die Männerrechtsbewegung in Wien

Kapitel 11: Der Storch im Burgenland

Kapitel 12: Der Ausländer in der Politik

Kapitel 13: Die Kommissare machen Radio

Band 4 – Reiselustige Kriminaler

Vorwort

Kapitel 1: Am Hamburger Hafen

Kapitel 2: Verschollen auf hoher See

Kapitel 3: Rollerblader in New York

Kapitel 4: Das Kartell von Costa Rica

Kapitel 5: Der europäische Hof

Kapitel 6: Haiti und die Freundschaft

Kapitel 7: Wiener Melange

Kapitel 8: Die irische Geliebte und der Akt des Mordes

Kapitel 9: Koreanische Adressen

Kapitel 10: Das Krankenhaus in Kiew - Alberts Albtraum

Nachwort: Cruising um den Globus

Roman Reischl

Band 1 – Verdichtete Ermittlungen

Kriminalgeschichten

Vorwort

Nichts ist, wie es scheint.

Jewski war in der Kindheit und Jugend ein sehr schüchterner Mensch. Er wuchs als Sohn von russischen Einwanderern in einem Vorort von Bad Reichenhall auf. Sein besonderes Talent: Intellekt und die Fähigkeit, andere schnell mitzureißen und für etwas zu begeistern, nachdem er selbst aufgetaut war.

Als Jugendlicher begann er, elektronische Musik zu mixen. Die Aufnahmen verkaufte er in Form von Tapes im Internet Auktionshaus. Auch auf der Künstlerbühne an der alten Saline war er gerngesehener Gast mit eigenem Kabarettprogramm.

Die gut situierten Eltern besaßen ein Reihenhaus. Illegale Technoparties in Münchens U-Bahnschächten ließ der Junge aber dennoch nicht aus. Dort lernte er beim Feiern seine Lebensgefährtin Beatrice kennen.

Jene stand damals wohlgemerkt in der Ausbildung zur Polizistin. Wissen durfte von ihrem Treiben im Untergrund natürlich keiner.

Weiterhin war Beatrice von Geburt an taub auf einem Ohr. Techno war die einzige Musik, deren hämmernde Bässe sie im ganzen Körper vollends spürte.

Wie dem auch sei, ihr liebevoller Einfluss auf Roger Jewski war so stark, dass auch der junge Mann sich bei der Kriminalpolizei bewarb und genommen wurde.

Mama und Papa waren stolz, dass der Sohnemann etwas Seriöses anstrebte und sich nicht „nur“ der Kunst hingab. Die clevere Beatrice schaffte den Sprung von der Streife zur Kripo.

Jewski zog nicht lange darauf nach. Der Arbeitsalltag gestaltete sich noch vielfältiger, als man es sich vorstellt, denn das Kripopärchen macht eine geheimnisvolle Entdeckung:

Das mittelalterliche Reimbuch “MORITATEN” eines uralten Kommissars. In diesem sind Geschichten zu lesen, die auf mysteriöse Weise auf einmal mit in die Realität in der Arbeit der beiden ein klein wenig einfließen.

Aus gruseligen Erzählungen der Zeit der Geister und Mythen entwickeln sich die Mordfälle im Rupertigau und Chiemgau, wohl einer der schönsten Gegenden Deutschlands.

Kapitel 1
Mono und Stereo

Feuchter Nebel, für den die Bergregion ja bekannt ist, hing über dem gesamten Reichenhaller Saalachtal. Beatrice Jewski hatte an diesem Novembermorgen einen Termin auf dem Kripopräsidium Nonntal im benachbarten, österreichischen Salzburg.

Durch die EU arbeiteten die Beamten der Mozartstadt mittlerweile noch enger mit den oberbayerischen Traunsteinern zusammen. Beatrice´ Göttergatte Roger konnte noch im gemeinsamen Häuschen nahe der Grenze am Walserberg ausschlafen. Herr Jewski durfte sich nach einer sehr erfolgreichen Aufklärungsarbeit in der Schleierfahndung nun auch Kommissar nennen.

Trotzdem war er am Vorabend wieder einmal auf einer Technoparty an der Salzachpromenade gewesen. Feuchtfröhlich verlor Jewski bis heute nie die Liebe zu den hämmernden Beats, den grellen Blitzlichtern und groovig krächzenden Synthesizern. Sogar auf der Hochzeit mit Beatrice im beschaulichen Berchtesgaden mit atemberaubender Bergkulisse ließ er es sich nicht nehmen, selbst am DJ-Pult Hand anzulegen. Seine frisch angetraute Kriminalpolizistin sah ihm das nach. Die beiden hatten sich schließlich beim Feiern kennen gelernt. Die Technoclique des Paares hatte Roger deshalb liebevoll „Stereo“ getauft. Beatrice bekam daraufhin auf Grund ihrer Taubheit auf dem linken Ohr den Spitznamen „Mono“ verpasst.

Wie dem auch sei, der Alltag der Kommissare bestand natürlich nunmehr aus Mord und Totschlag in der Region. Ja, auch hier in der Idylle der Alpen und der Metropole der Kunst gab es Unrecht und Kriminalität. Die heile Welt und teilweise bizarre Mordfälle flossen hier oft sehr extravagant ineinander.

Mono hatte das Meeting mit den rot-weiß-roten Kollegen schnell hinter sich gebracht.

Sie schlenderte mit ihren hohen Stöckelschuhen durch das nasse Herbstlaub Richtung der berühmten Getreidegasse und freute sich auf den Abend zu Hause mit Roger. Der hatte bei einer Einladung eines ehemaligen Chefermittlers, genannt „der alte Fritz“ nämlich beim Plausch am Kaminfeuer nach dem Abendessen dessen Tagebuch geschenkt bekommen. Stereo war sehr beliebt auf dem Revier. Besagter Friedrich Reuter wollte seinem Nachfolger nun als Rentner nicht einfach nur eine Freude machen, sondern ein ganz besonderes Erbe vermachen. Zunächst lächelte Roger Jewski über die Worte des Alten bei der Übergabe des in grauem Leder eingelassenen Ringbuch. Als er aber darin zu lesen begann, fühlte es sich rasch ein wenig unheimlich an.

Der „alte Fritz“ gab ihm nämlich kleine Gruselgeschichten und merkte Folgendes an:

„Roger, mein Lieber, du wirst staunen. Das sind die MORITATEN.

Das sind ursprünglich morbide Gedichte aus dem Mittelalter. Das Unfassbare daran – diese Storys verwandelten sich immer ein kleines Bisschen in den aktuellen Fall, an dem ich gerade arbeitete, eingeleitet von abstrakten Reimen. Das Allerbeste ist, dass ich meine Arbeit durch das Lesen dieses Büchleins besser bewältigte. Kurzum: Die Moritaten helfen beim Lösen der rätselhaften Morde. Ich weiß, es klingt sehr schaurig. Du wirst zusammen mit deiner Frau eintauchen und glaube mir: Es wird euch helfen. Weiterhin werden die Geschichten wie von Zauberhand verschwinden, wenn ihr sie zu Ende gelesen habt.“

Jewski schüttelte beim Verlassen des Hauses von Altmeister Friedrich Reuter den Kopf. Dennoch begannen Beatrice und er noch am gleichen Abend, darin zu schmökern. Am Morgen danach stand ohnehin ein ganz normaler Werktag im Traunsteiner Büro auf dem Plan. Dort erwarteten mitunter Assistenzkriminaler Andi Ramer und der clevere Polizeichef Christian Tichone. Letzterer war auch zuständig für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit und stand nahezu täglich im lokalen Rampenlicht. Doch nun war im Hause Jewski erst einmal Chillen angesagt. Roger köpfte eine Flasche Weißwein und brühte auf dem kleinen, bäuerlichen Holztresen frischen Espresso auf. Während er in der Küche werkte, öffnete Beatrice ihre Haarspange und legte ein altes Vinyl von „Kraftwerk“ auf.

Das Paar hatte sich einen versilberten DJ-Plattenspieler im Wohnzimmer aufgestellt. Es sah reichlich ungewöhnlich und modern aus neben dem uralten dunkelblauen Kachelofen aus altbairischen Zeiten. Weiter links ragte ein Bassverstärker der Sonderklasse mit selbst gemachter Holzverkleidung empor. Roger hatte das Basteltalent seines Vaters geerbt.

„Kannst du mir später mit dem Haarschneider noch den Flaum im Nacken abrasieren, Sternchen? Du weißt ja, du bist mein Lieblingssalon“, fragte er seine Süße, während er mit zwei geschliffenen Gläsern im morschen Türrahmen stand.

„Wenn ich durchkomme gerne, Schatz“, antwortete Mono neckisch wie fast immer.

Aus diesem und noch einigen anderen Gründen liebte der Dunkelhaarige mit den blauen Augen sie so sehr.

„Wir können auch gerne mal eine Platte von Beethoven oder einer Rockband auflegen, oder? Das macht die Stimmung mystischer, wenn wir Fritzls Zauberbuch aufschlagen.“

Beide mussten lachen. Die Jewskis mochten aber durchaus gepflegten Heavy Metal, Beatrice auch schon einmal eine Overtüre oder Popmusik mit klassischen Einflüssen. Vier Duftkerzen flackerten auf dem Glastisch vor dem Fernseher, als Roger das Reimbuch danebenlegte. Beatrice blickte ihn kurz an, öffnete dann sichtlich gespannt das Buch mit dem dicken Einband und begann, laut vorzulesen. Roger paffte eine E-Zigarette und bewegte den Mund hin und her. Er war zugegeben auch nervös. Der alte Fritz galt schließlich als Pionier der oberbayerischen Kripoarbeit und konnte doch wohl kein kompletter Spinner sein, oder?

Die kecke Mono betonte die ersten Zeilen mit wirklich kräftiger Stimme. Die Anfangsgruselstory ging handelte von einer Puppe namens „Maria“. Zusammenfassend lautete sie folgendermaßen:

Diese Legende handelt von einer Porzellanpuppe, die sich entschließt, ihre Besitzerin zu ermorden, nachdem sie von ihr verlassen wurde. Bei jedem Schritt, mit dem sie ihrem Opfer näher kommt, ruft sie das Mädchen an. Was sich sich zu Beginn der Geschichte wie ein Streich anhört, wird im Laufe der Erzählung immer düsterer.

Eine Familie zieht um und ihre Tochter wirft eine Porzellanpuppe namens Mary weg. An jenem Abend erhält das Mädchen einen Anruf.

„Hi, hier ist Mary. Ich bin jetzt auf der Müllkippe.“

Das Mädchen legt auf, aber das Telefon klingelt erneut.

„Hi, hier ist Mary. Ich bin jetzt beim Laden an der Ecke.“

Das Telefon klingelt ein drittes Mal und eine Stimme sagt:

„Hi, hier ist Mary. Ich bin jetzt vor deinem Haus.“

Das Mädchen nimmt den Mut zusammen, die Vordertür zu öffnen, sieht dort aber niemanden. Das muss wohl ein Streich sein, denkt sie – und dann klingelt das Telefon.

„Hi, hier ist Mary. Ich stehe direkt hinter dir.“

Beatrice und Roger hielten sich noch eine Weile in der Stube auf, bevor sie zu Bett gingen. In diesen Nächten schreckte Mono bei jedem Ächzen der Bäume und den Blättern im Wind auf. Sie dachte an die kleine Geschichte. Roger ging es ähnlich. Bizarre Träume ereilten das Pärchen. Beatrice zum Beispiel erinnerte sich nach dem Abendessen an einen Umzug von ihr mit den Eltern nach Nürnberg. Beruflich verschlug es Monos Vater jahrelang durch ganz Bayern. Sie war als Kind oft sehr wütend deswegen gewesen. Im Wohnblock im tristen und grauen Arbeiterviertel warf sie damals im Zorn nämlich ebenfalls einmal ihre geliebte Puppe „Josefine“ aus dem Fenster. Sie wohnten in so einem hohen Stockwerk, dass sie das Spielzeug nicht aufprallen hörte auf dem kalten Asphalt. Diese Story sollte sie heute im Traum nochmal einholen – denn „Josefine“ kehrte zurück!

Mono wälzte sich wild im Bett umher. Kurz darauf saß sie alleine in einem Raum neben dem Holzofen. Das Feuer flackerte sachte und gab eine gemütliche Wärme ab. Nicht wenig später klingelte das Telefon neben dem Fernseher. Sie schob ihre Tasse Tee zur Seite und freute sich, denn sie hoffte, Roger würde heute noch anrufen. Der hatte nämlich schon länger einen Abend im Autokino vorgeschlagen.

Sie waren zu diesem Zeitpunkt erst ganz kurz zusammen und hatten Schmetterlinge ohne Ende im Bauch. Roger, ebenfalls dorthin gezogen, weil der Papa beruflich hier tätig wurde. Der junge Kerl sehnte sich wie seine Freundin zurück nach Oberbayern.

Wie dem auch sei, am anderen Ende der Leitung war jemand Unerwarteter. Es rauschte zunächst, dann erklang eine verzerrte Stimme, die Mono aber durchaus vertraut vorkam:

„Hi Beatrice, kennst du mich noch? Hier ist Josefine. Ich bin jetzt auf der Müllkippe!“

Mono stockte kurz, wollte dann etwas sagen. Als die Puppe aber weiterredete, lief es ihr eiskalt den Rücken hinunter.

„Ja, Beatrice, du liegst schon richtig. Ich bins, dein Spielzeug, das du im Zorn weggeworfen hast.“

Das Mädchen ließ geschockt den Hörer fallen, zerrte das Kabel aber dann hastig nach oben und legte auf. Sie fantasierte wohl. Hatten ihr die Jungs vom Sushi Fast Food Lieferservice Drogen in den Fisch gemischt? Mono wischte sich mit dem Pulloverärmel den Angstschweiß von de Stirn, ging hinaus ins Treppenhaus und zündete sich in der staubigen Nische eine Zigarette an. Der Hausmeister hatte dort einen versifften schwarzen Kübel aufgestellt für alle Bewohner, um die Kippen zu entsorgen. Auf Monos Smartphone leuchtete eine Sprachnachricht von Roger auf:

„Süße, wo steckst du? Hast du Lust, heute noch in die Karaokebar zu gehen? Meine ganze Truppe hat vorgeglüht und ist schon dort. Melde dich bitte!“

Kaum hatte sie den Messenger weggedrückt, hallte es vom Eingang unten die Stimme eines wohl verärgerten Mannes nach oben. Er fluchte und knallte die morsche Tür mit dem rostigen Schloss hinter sich zu. Mono sah den dicklichen Kauz dann die Stiegen hinauf wackeln. Der Knilch war betrunken. Sie drückte den Glimmstengel aus und verschwand in ihrer Bude. Sie hörte aus der Wohnung, dass der seltsame Besucher nun wie wild an die Tür des Nachbars pochte. Vergeblich. Der dort hausende Student war schon wochenlang auf Praktikumsreise in Australien. Sekunden, nachdem sich Mono das müde Gesicht kalt abwusch, zuckte sie erneut zusammen.

„Wo ist Josefine?“, plärrte der Eindringling dort draußen im Gang.

Im Zorn schien er auch noch den Putzeimer neben den Treppen um getreten zu haben.

Die Reinigungsfrau stellte diesen immer direkt an das gebogene, rotweinfarbene Geländer.

„Josefine?“, drang es durch den Kopf der nun wirklich verängstigten Beatrice. Sie hörte ja nur auf einem Ohr, hatte aber wohl richtig verstanden. Sie versuchte, sich zu beruhigen.

„Josefine“ ist ein verbreiteter Name. Jeder kann so heißen“, redete sich selbst zu.

Kaum zu Ende gedacht, hörte sie den besoffenen Störenfried wieder hinunter zum Ausgang poltern. Aus dem Fenster beobachtete Mono, wie er im Nebel den Gehsteig entlang in Richtung Innenstand wegging. Sie beschloss, noch einmal in den Flur zu schauen. An der Brüstung zur Treppe angekommen, stockte ihr der Atem. Mono bekam Angst und zitterte, während sie auf den Boden blickte. Sie sah, dass der Mann ein Polaroidfoto verloren hatte. Darauf zu sehen: Die Puppe Josefine mit zerzausten Haaren und augenscheinlich einem riesigen, blutigen Messer in der rechten Hand. Nun stand außer Frage – der unheimliche Gast suchte das von ihr verdammte Spielzeug. Doch warum? Er hatte die richtige Adresse, jedoch wollte er ja zum Nachbarn.

„Der hat sich einfach in der Tür geirrt. Der Typ will mich holen und bestrafen, weil ich die Figur weggeworfen habe. Bloß was zur Hölle hat er mit ihr zu tun?“

Mono rief sofort Roger an und sagte ihm den Abend zu. Erstens musste sie hier raus und zweitens wollte sie ihm alles haarklein erzählen. Die Angst hatte sie komplett erfasst. Ihr Freund war ihr mittlerweile vertrauter als die Eltern. Hoffentlich würde er ihr glauben.

Er tat es natürlich und widmete sich die ganze lange Nacht fast ausschließlich seiner Liebsten.

Mono und Stereos gemeinsamer Traum endete danach aber abrupt, denn auf dem Bauernhof nebenan wurde ab fünf Uhr morgens gemolken. An diesem Tag blökten die Rindviecher im Kuhstall besonders laut. Roger ließ sich einen frisch gemahlenen Espresso aus dem nagelneuen Vollautomaten runter und blätterte nochmal durch das Reim- und Geschichtenbuch vom alten Fritz. Er traute den Augen nicht und rief gleich seine Frau herbei. Der Kurztext über die immer wieder anrufende Puppe war tatsächlich verschwunden, so wie es Altkommissar Reuter beschrieben hatte. Weg und verflogen wie der eben erlebte Traum. Es wurde unheimlich. Fritz hatte ja angekündigt, dass sich die Geschichtlein in die Fälle der täglichen Arbeit einschleichen. Stereo zog hastig an der Morgenzigarette und setzte sich die Kopfhörer mit dem neuesten Elektroset seines Cousins Miguel auf. Ein brachialer Livemitschnitt aus einem angesagten Rosenheimer Undergroundclub.

Das brauchte er jetzt. Mono holte sich wie jeden Morgen eine Schüssel Müsli. Schnell stellten beide fest, dass sie denselben komischen Traum hatten, nur jeweils aus ihrer eigenen Perspektive. Nichtsdestotrotz stand der Arbeitsalltag in Traunstein an. Es war kalt geworden und Roger musste das erste Mal an seinem Wägelchen das Eis von den Scheiben kratzen. Wie jeden Winter heizte er für Beatrice das Auto schon vor, damit sie es auf der Autobahnauffahrt in Piding von Anfang an gemütlich warm hatte.

Stationsbulle Andi Ramer freute sich auf den Wochenbeginn mit den Kommissaren und Chief Tichone. Zur Adventszeit besorgte er stets kleine Aufmerksamkeiten für alle im Büro. Er konnte es kaum erwarten, Mono und Stereo eine Vinyl Sonderpressung aus den Staaten zu überreichen. Sämtliche US-amerikanischen Plattformen hatte er abgegrast, um die Rarität für die beiden Technofreaks herbei zu bekommen.

Für Christian Tichone kaufte er dieses Jahr eine Kleinigkeit für dessen Nachwuchs. Die kleine Hannah vom Boss kam im September zuvor in den Kindergarten.

Die gesellige Morgenrunde wurde allerdings jäh unterbrochen. Die Kripo Traunstein wurde zu einem Fall in der Landeshauptstadt München herangezogen. Weshalb, bekämen sie später zu wissen, versicherte der ungeliebte Kollege aus dem Präsidium am Ostbahnhof. Die Großstädter gaben der „Dorfkripo“ immer ein wenig zu spüren, dass sie die Größeren sind mit den aufregenden Einsätzen. Das Ehepaar Jewski stand da drüber. Sie wussten, dass auch in den ländlichen Regionen durchaus interessante Polizeiarbeit verrichtet wird. Das geheimnisvolle Buch vom alten Fritz war in diese Überlegung noch gar nicht mit einberechnet.

Der Münchner Klugscheißer namens Marc Michalke, ursprünglich aus Berlin, wartete bereits am Einsatzort. Kaum jemand kennt jenen nicht, wenn er aus Bayern stammt. Das berühmte Deutsche Museum zwischen Isartor und dem Rosenheimer Platz.

»Eine Lächelnde« besitzt zwar nicht das spektakulärste Lächeln eines Kunstwerks, doch wenn man im Deutschen Museum eine Weile vor ihm steht und sie betrachtet, dann scheint es fast, als lächelte sie einen nicht nur an, sondern auch ein klein wenig aus. Im Falle des Gastes aus Frankreich, deren Regierung das Bild am Eingang spendete, wurde Roger „Stereo“ Jewski gleich das Wort überlassen. Trotz mangelndem Respekt war auch den Münchnern seit seinem Dienstbeginn klar, dass der Jungkommissar gut im Reden und Formulieren ist.

„Monsieur Lafitte, ich möchte Sie im Namen der Regierung in unserem schönen Lande ganz herzlich willkommen heißen.“

Als müsste er dies auch körperlich noch aufs Heftigste unterstreichen, gab Jewski seinem leicht verdutzten Gegenüber zwei dicke Begrüßungsküsse auf die Wangen. Auch Lafitte war froh am Ziel seiner Reise angekommen zu sein und erwiderte die Grußbotschaft, jedoch mit deutlich geringere Emotion. Auch galt sein Interesse weniger dem schönen Land, als vielmehr einer ganz besonderen Dame.

Am 21. August 1911 hatte sich im Louvre in Paris ein dreister Raub ereignet. Leonardo da Vincis berühmtes Bild »Mona Lisa« war gestohlen worden. Wegen Reinigungs- und Instandsetzungsarbeiten wurde der Diebstahl erst am folgenden Tag entdeckt. Trotz umfangreicher Ermittlungsarbeit der Polizei, war das Gemälde erst zwei Jahre danach wieder aufgetaucht. Urheber des spektakulären Raubs war der italienische Dekorationsmaler Vincenzo Peruggia gewesen. Nach seiner Festnahme hatte er den Ermittlungsbehörden zu Protokoll gegeben, er habe lediglich aus patriotischen Gründen gehandelt, und eines der größten italienischen Kunstwerke wieder in die Heimat holen wollen. Nach zähen Verhandlungen sollte nun das Gemälde aus den Uffizien zurück in den Louvre überstellt werden. Doch hatte man sich wegen der enormen Bedeutung des Kunstwerks etwas einfallen lassen. Um erneuten Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen, war das Bild aus den Uffizien an einen Ort gebracht worden, wo es nun, in einer geheimen Mission, in die französische Heimat verfrachtet werden sollte. Eine Kopie davon hing nun eben am Eingang vom Deutschen Museum, selbstverständlich wurde für die Laien auch darauf hingewiesen, dass hier nur zur Begrüßung eine „Lächelnde“ aufgestellt war.

„Herr Kommissar, ich bin sehr erfreut, dass unsere beiden Länder sich über die Besitzverhältnisse im Klaren sind. Sie können sicher sein, dass wir das Gemälde mit der Wertschätzung behandeln werden, welches ihm gebührt. Auch als Kopie“

Dabei musste Lafitte allerdings an die äußerst delikate Bemerkung eines französischen Künstlers denken. Dieser hatte sich vor einiger Zeit zu einem respektlosen »Elle a chaud au cul« verleiten lassen. Doch Lafitte würde sich hüten, dies hier offiziell zu erwähnen.

„Gewiss, Monsieur. Unsere beiden großen Nationen werden auch in Zukunft ein freundschaftliches Verhältnis zueinander haben, und dieses auch zu pflegen wissen.“

Lafitte wich vorsichtshalber einen Schritt zurück, da er befürchtete, dem Ausspruch Rogers könnte ein erneuter, noch intensiverer Kontakt folgen. Jewski schien davon jedoch keine Kenntnis zu nehmen und setzte seine Lobeshymne fort.

„Ich muss Ihnen im Übrigen noch ein großes Kompliment aussprechen, Monsieur Lafitte. Ihre Aussprache ist für einen Ausländer wirklich bemerkenswert. Wüsste ich es nicht besser, so meinte ich ein deutscher Landsmann stünde vor mir.“

Er bedankte sich höflich, doch er wusste, dass Vorsicht geboten war. Trotz aller Freundlichkeit, galt es sein Gegenüber nicht zu unterschätzen. Erst wenn das echte Gemälde wieder an seinem Platz hing, kann er sich entspannen und zur Ruhe kommen. Er würde dem Kommissar nicht verraten, dass er mit der Mentalität der Bayern bestens vertraut war. Auch schien ihm Roger Jewski ein äußerst listiges Kerlchen zu sein. Die leicht einfältige Art, die seinen Kontrahenten in Sicherheit wiegen sollte, konnte Lafitte nicht täuschen. Für so eine delikate Aufgabe hatten die Münchner einen ihrer besten Männer ausgewählt, und mit einem gewissen Gefühl des Stolzes, musste er sich eingestehen, dass sein Land wohl genauso gehandelt hatte.

Beide nahmen am Schreibtisch des Museumsdirektors Platz und der Bayer Roger setzte die Unterhaltung fort.

„Monsieur, ich bin sehr erleichtert, dass ihnen die deutsche Lebensart und Denkweise so sehr vertraut sind. Dies macht mir die Sache doch wesentlich leichter, denn ich muss Ihnen gestehen, dass die ganze Angelegenheit, nun ... wie soll ich sagen ...“, er räusperte sich, „... doch sehr delikat ist.“

Lafitte hatte sich demnach nicht geirrt. Er hatte doch gleich geahnt, dass hier etwas auf ihn zukommen würde. Schließlich handelte es sich bei seiner Mission um keine harmlose Urlaubsreise. So erwartete er mit Spannung die Geschichte, die Jewski ihm auftischen wollte.

„Ich möchte den Diebstahl, diesen wirklich dreisten Raub, in keinem Falle rechtfertigen und schon gar nicht gut heißen ...“

Roger bemühte sich ein recht betroffenes Gesicht zu machen,

„... doch wie sie ja bereits wissen, lag dem Diebstahl kein finanzielles Motiv zugrunde.“

Lafitte, der dem Kommissar gegenüber saß und jedes Detail dessen Körpersprache mit gewohnheitsmäßiger Routine analysierte, fragte sich, worauf sein Pendant hinaus wollte.

„Lieber Kollege, wir Bayern besitzen einen sehr ausgeprägten Nationalstolz. Nur so ist es überhaupt zu erklären, wie es zu dem vorliegenden Fall kommen konnte.“

Jewski wischte sich mit einem Tuch über die Stirn. Die Art wie er um den heißen Brei herumredete, ließ Lafitte erkennen, dass die beiden Gesetzeshüter offensichtlich verschiedene tempi bei der Bearbeitung eines Falles bevorzugten. Eine Verschärfung des Selbigen konnte dem Gespräch nicht schaden. Allerdings war Lafitte darauf bedacht, den gleichen Ton anzuschlagen, da auch er sein Gegenüber in Sicherheit wiegen wollte.

»Lieber Kollege, ich bin darüber informiert, dass Peruggia nicht aus reiner Habgier handelte, sondern das Motiv eher in patriotischem Besitzneid begründet lag. Doch war ich gleichfalls überzeugt, dass dieses Thema durch unsere Regierungen hinreichend geklärt sei, und schließlich ändert es auch nichts an dem Tatbestand des Diebstahls. Eigentlich bin ich nur angereist, um nun die Kopie des Gemäldes wieder an seinen rechtmäßigen Platz zu befördern, dem Louvre.

Damit hatte Lafitte das Drumherum beendet. Er verlangte nach der langen Reise endlich Klarheit, und nach der wohlverdienten Nachtruhe.

Roger, Beatrice und auch Michalke machten einen bestürzten Eindruck.

„Sie haben mich völlig missverstanden. Selbstverständlich sollen Sie das Objekt der Begierde umgehend erhalten, und zu ihrem Schutze wird alles in meiner Macht stehende getan. Es ist nur so, dass ich nicht sicher bin, welches das Richtige ist.“

„Bitte wiederholen sie das!“

Lafitte vermutete erst nicht richtig verstanden zu haben, schließlich unterhielt er sich nicht alle Tage in deutscher Sprache. Doch seine Nachfrage bestätigte das Gehörte.

„Jewski, wie soll ich das verstehen?“

“Nun ja, es ist nicht una bella Lisa, welche wir besitzen. Es sind deren gleich zwei!“

Lafitte hielt es nun nicht mehr auf seinem Platz.

„Wie meinen? Sie haben zwei Mona Lisas als Imitate? Ist das ihr Ernst?“

„Ich fürchte ja!“

Roger zuckte mit den Schultern.

Lafitte ließ sich wieder auf den Stuhl fallen und schüttelte den Kopf. Er hatte sich ja alles Mögliche vorgestellt, aber diese Geschichte übertraf nun doch seine kühnsten Erwartungen. Er wollte gerade etwas erwidern, als der Kommissar zu erklären versuchte.

„Ich kann mir vorstellen, was Sie jetzt denken, aber lassen Sie mich Ihnen sagen, wie es zu diesem Fiasko kommen konnte. Der schändliche Dieb hatte damals natürlich erwartet, irgendwann entdeckt zu werden und wollte Vorsorge treffen. Sie müssen wissen, dass unser Land auch heute noch über ganz außergewöhnliche Künstler verfügt. Leider haben nicht alle einen felsenfesten Charakter.

So fand Peruggia ein ganz famoses Talent, welches den Pinselstrich des alten Meisters quasi in flagrante nachahmen konnte. Dieses zweite Gemälde tauchte erst vor kurzem auf, und selbst unsere Fachleute sind sich nicht einig, bei welchem der beiden Gemälde es sich um das Original oder die Fälschung handelt. Dass nun zwei Kopien hier in München liegen, weiß ich auch erst nach der Übernahme des Falls. Im Deutschen Museum werden ja keine Bilder ausgestellt. Diese lächelnde Dame funktioniert eher als kleiner Gag zurzeit, um die Besucher kreativ mit einer täuschend echten Kopie zu begrüßen.“

Darin bestand also der Haken an der Sache. Der Dieb hätte wohl zu einem späteren Zeitpunkt seine Replik in Umlauf gebracht, und das Original behalten. Dass keines der beiden echt ist, wußte der uninformierte Dummkopf wohl nicht. Doch so leicht ließ sich Lafitte nicht überrumpeln. Zu lange lag er schon im Clinch mit den Tricksern und Betrügern dieser Welt. Und er hatte ja noch einen Trumpf in petto. Doch den würde er erst morgen früh ausspielen.

„Wo befindet sich das übrige Gemälde jetzt?“, wollte Lafitte wissen.

„Hier im Keller dieses Gebäudes. Wollen Sie das Bild gleich sehen?“

„Nein, ich bin von der Reise doch ziemlich erschöpft. Wenn Sie einverstanden sind, werde ich gleich morgen nach dem Frühstück einen Blick darauf werfen.“

Roger Jewski lächelte spitzbübisch, als er entgegnete:

„Entschuldigen Sie meine Bedenken, aber fühlen Sie sich denn in der Lage, das Rätsel um das Original und die Fälschung zu lösen, nachdem nicht einmal unsere besten Spezialisten?“

Lafitte, der schon zur Tür gegangen war, drehte sich nochmals um und blickte dem Kommissar gelassen entgegen.

„Keine Sorge, mein Lieber. Ich weiß, dass eines dieser „Fälschungen“ wohl das Original ist und blöderweise hier in München gelandet ist. Ich bin nicht alleine gekommen! Ich habe jemandem dabei, der es wissen wird.“

Roger sah ihm nach, und verspürte plötzlich ein leichtes Unwohlsein in der Magengegend.

Am nächsten Morgen wartete er schon sichtlich aufgeregt auf seinen ausländischen Besuch. Kurz nach neun Uhr betraten Lafitte und eine zweite Person das Büro der Beamten.

„Guten Morgen, Herr Jewski!“, begrüßte ein bestens gelaunter Lafitte den hinter dem Schreibtisch sitzenden.

„Darf ich Ihnen Professor Lefebvre vorstellen. Er war gestern nach der Ankunft zu erschöpft gewesen und hatte gleich das Hotel aufgesucht. Er ist eine Koryphäe in Sachen da Vinci, und wird uns bei der Lösung des Problems sicher behilflich sein können.“

Roger und Beatrice begrüßten auch den zweiten Landesgast. Jewski schien sich heute nicht mehr so wohl zu fühlen. Er wirkte sehr blass und tiefe Augenränder zeichneten sich ab, die auf eine unruhige Nacht schließen ließen. Der Traum aus dem Geschichtenbuch hingen ihm und seiner Frau noch nach.

„Darf ich Sie bitten, mir in das Nebenzimmer zu folgen“, wies Roger auf eine andere Tür.

„Wir haben die Bilder aus den sicheren doch dunklen Kellerräumen, herauf ans Tageslicht gebracht.“

Der Kommissar, ein Wachmann, Lafitte und der Professor betraten das angrenzende Zimmer und sahen sich den Gemälden gegenüber. Obwohl nur eines davon echt sein konnte, war es ein unbeschreibliches Gefühl dem vermeintlichen Original so nahe zu sein. Der Professor schritt als erster aus der kleinen Gruppe auf die Bilder zu. Jewski zeigte der Wache mit einer Geste, dass dies schon in Ordnung sei.

Die Untersuchung dauerte keine zehn Minuten. Dann gab der Professor seine Expertise zum Besten.

„Ohne Zweifel ein netter Versuch, doch ganz gewiss handelt es sich bei dem Bild um eine Fälschung. Mich wundert nur, dass dies den deutschen Experten nicht aufgefallen ist.“

Der spöttische Tonfall in der Stimme des Gelehrten war nicht zu überhören.

Für Lafitte sah das Gemälde absolut identisch mit der Mona Lisa aus, doch schließlich war er nicht der Fachmann. So musste er die entscheidende Frage hier und jetzt stellen:

„Professor! Sind Sie sich ihrer Sache auch ganz sicher?“

Jener stellte sich kurz auf die Zehenspitzen, wohl um seinen Worten die nötige Größe zu verleihen.

„Meine Herren, ich bin mir absolut sicher! Sehen Sie doch selbst!“ Lefebvre machte eine beschwörende Geste, so als wolle er alle Anwesenden auf seinen Vortrag einstimmen.

„Wie kein anderes Gemälde verkörpert die Mona Lisa perfekt da Vincis Konzept der Einheit von Wissenschaft und Kunst.“

Er deutete mit dem Finger in Richtung eines Fotos vom Original, das sie dabei hatten.

„Da Vinci benutzte das sogenannte ›sfumato‹, eine Verschleierung der dargestellten Konturen. Dann die Darstellung der Mona Lisa aus zwei leicht unterschiedlichen Blickwinkeln, um somit den Effekt des binokularen Sehens nachzuahmen, wodurch er die größtmögliche, plastische Wirkung erzielte.“

Der Professor schien entzückt und sich nun vollkommen in seinem Element befindend.

„Im Allgemeinen wird angenommen, dass es sich bei dem Porträt um die Gemahlin des florentinischen Edelmannes Francesco del Giocondo handelt, weshalb das Gemälde auch ›die Lächelnde‹ genannt wird. Ich vermute jedoch, dass in der Mona Lisa letztlich gar keine wirkliche Frau dargestellt ist. Vielmehr hat da Vinci wohl versucht eine Art Idealporträt zu kreieren, in dem sich Kunst und Wissenschaft zu einer perfekten Symbiose ergänzen.“

Das Fachwissen des Professors verfehlte auch bei Lafitte seine Wirkung nicht. Die Odyssee des Bildes schien somit beendet. Das extrem große Problem war nur, dass das Original verschwunden war.

Doch war dem französischen Kriminalisten auch eine Unruhe gestellt. Lafitte spürte, dass hier etwas nicht stimmte. Er verfügte über eine analytische Beobachtungsgabe. Bewusstes und Unbewusstes floss unentwegt auf ihn ein.

Lafitte betrachtete die Kopie, und wie schon so oft, ließ er die Puzzleteilchen dieses Falles mit Hilfe seines genialen Verstandes an die richtigen Stellen wandern.

Jedes der beiden Gemälde lehnte an einer Staffelei in gleicher Höhe und Ausrichtung. Lafitte ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Manchmal musste man einen Schritt zurück tun, um das Ganze zu überblicken. Irgendetwas störte Lafitte an dem kleinen Raum, und mit einem Mal erkannte er, was ihm sein Bewusstsein mitzuteilen versuchte. Der Raum selbst schien eine einzigartige Komposition zu sein, jedoch eine sehr linkslastige.

Der Teppich, auf dem die kleine Gruppe stand, wies ein ganz eigenartiges Muster auf. Die eingewebte Struktur ließ einen schon fast an eine optische Täuschung glauben. Er war nun so ausgelegt, dass der Eindruck entstand, als würden die Linien in geordneten Bahnen leicht nach links laufen.

Die Doppelfenster an der hinteren Wand des Zimmers. Seltsam, die rechte Fensterscheibe hatte schon lange kein Leder mehr gesehen, während das Sonnenlicht klar durch die andere Scheibe strahlen konnte. Und gerade dieses Licht spielte nun wieder eine wesentliche Rolle bei der Betrachtung der Fälschung. Obwohl es in den Genuss der Morgensonne kam, erkannte er die Unechtheit.

An einer Seite des Raumes stand ein Tisch, auf dem ein asiatisches Zwillingspärchen aus Porzellan Platz gefunden hatte. Nur seltsam, dass sich die Figur bester Gesundheit erfreute, während der anderen auf dem Foto, vermutlich wegen eines Sturzes, ein Arm fehlte.

Doch mit besonderer Finesse schien die Wand hinter den Gemälden arrangiert. Hier hatte der Kommissar mit Beatrice selbst ein Bild aufgehängt. Eine eher unbedeutende Komposition, auf der sich eine italienische Landschaft abzeichnete. Das Bild hing nicht mittig an der Wand, eher im rechten Drittel. Doch das Entscheidende war, dass es leicht schief hing. Nicht sehr, nur ein klein wenig. Doch man nahm es zur Kenntnis. So entstand an jener Wandseite, vor dem die Mona Lisa positioniert war, eine gewisse Disharmonie, die sich einem unweigerlich aufdrängte und auf das Gemälde übertrug.

Alle diese Beobachtungen waren rein nebensächlich, wenn man sich auf die beiden Bilder konzentrierte. Ein Mann wie der Professor, würde sie demnach nur nebenbei wahrnehmen, aber sie dennoch unterbewusst in seine Entscheidung einfließen lassen.

Lafitte überlegte weiter. Die meisten Menschen schrieben mit rechts und auch als Ganzes tendierte es in diese Richtung. Doch gerade Lefebvre war Linkshänder! So schien die linke Seite etwas ganz Natürliches für ihn zu sein. Sicher hatte Jewski nach seiner gestrigen Bemerkung überprüft, wer sich noch im Hotel eingeschrieben hatte. Wahrscheinlich hatte er die ganze Nacht damit zugebracht, alles über den Professor und seine Eigenarten herauszufinden. Schließlich verfügte der Techno-Kommissar über die besten Kontakte. Vermutlich war ihm dann auch die kleine Eigenart nebst der Arroganz des Gelehrten zugetragen worden. So schien es Dank des Professors und mit Hilfe dieses Zimmers gelungen, die angereiste Truppe zu überlisten.

Lafitte hatte Jewski demnach nicht unterschätzt. Nein, weit mehr noch. Roger war selbst ein Meisterwerk gelungen. Nie und nimmer würde Lefebvre von seiner Meinung abweichen. Verletzter Stolz lässt es nicht zu, sich einzugestehen, von miesen Tricks überlistet und fehlgeleitet worden zu sein. Der Professor würde weiterhin der Kopie den Vorzug geben, denn Lafittes Beobachtungen könnten schließlich alle durch Zufall begründet sein. Nein, nur Roger und Lafitte selbst, würden die Wahrheit und die Hintergründe dieser gemeinen Intrige kennen.

Es musste etwas geschehen. Lafitte kombinierte blitzschnell. Da kam ihm ein abenteuerlicher Gedanke. Wo sich doch beide Bilder wie ein Ei dem anderen glichen. Bestand nicht gerade in dem Umstand die Chance zur Lösung des Problems? Was, wenn es keine Vergleichsmöglichkeit mehr gäbe? Letztendlich brauchte Frankreich ein Original, ganz gleich, wie unecht dieses auch sein mochte. Und so erkannte Lafitte schließlich, was zu tun war.

„Gut, Herr Jewski, wir haben das Rätsel wohl gelöst, und werden das Gemälde heute noch verladen. Wir hoffen auf den Geleitschutz, den Sie uns freundlicher Weise zusagten.“

In das Gesicht Rogers schien wieder Farbe zu kommen, und er wirkte nun deutlich lebhafter.

„Selbstverständlich, liebe Freunde. Die Wachen werden Ihnen bis zur Landesgrenze den höchstmöglichen Schutz gewähren.“

„Dann bleibt eigentlich nur noch eines zu tun“, sprach Lafitte und ging entschlossenen Schrittes auf die Fälschung zu. Mit einem Messer, das er unbemerkt geöffnet hatte, versetzte er der vermeintlichen Kopie mehrere Todesstöße.

Der Professor hatte sich instinktiv vor sein Original gestellt, da er befürchtete, Lafitte sei wahnsinnig geworden und wolle auch dieses zerstören. Jewski blickte mit Entsetzen und weit geöffnetem Mund auf das zerstörte Bild und hielt sich am Wachmann fest, der seinerseits nicht wusste, wie er reagieren sollte.

„Was, was ... haben sie getan?“, ächzte Beatrice und Roger schlug die Hände vor das Gesicht.

Doch der reagierte völlig gelassen.

„Nun, ich denke, dies war auch im Sinne der bayerischen Regierung“, sprach Lafitte mit einer Seelenruhe, als sei überhaupt nichts geschehen. „

Das Bild sah so echt aus, da schien es das Beste, es zu zerstören. Es hätte sonst womöglich weitere kriminelle Subjekte auf den Plan gerufen und diese dazu verleitet, die Fälschung doch als echten da Vinci in Umlauf zu bringen. Sind Sie da nicht auch meiner Meinung, lieber Kollege?“

Ein spitzbübisches Grinsen huschte über das Gesicht des Franzosen. In diesem Moment erkannte Roger, dass der Flic, was die Gemälde betraf, zu einem ganz persönlichen Urteil gelangt war. Mit einem leidenden Gesichtsausdruck, der noch Reste von blankem Entsetzen widerspiegelte, blickte er auf das zerstörte Bild und entgegnete schließlich völlig kraftlos, mit gesenktem Haupt.

„Ja ... Sie haben wohl Recht!“

Wenig später war das von Roger aufgehängte, weitere Fakegemälde sicher verladen.

„Auf Wiedersehen!“

Lafitte verabschiedete sich von Jewski mit einem kräftigen Händedruck und nahm ihm das Versprechen eines Gegenbesuchs ab.

„Wenn erst das Original wieder da hängt, wo es hingehört, sollten wir eine Flasche des besten Weines öffnen.“

Jewski lächelte gequält und blickte alsbald dem kleinen Konvoi nach, der sich auf den langen Weg nach Paris machte. Das von ihm aufgehängte Bild, das als Original angesehen wurde, hatte nämlich keine Geringere gezeichnet als seine liebste Beatrice in ihrer Studienzeit in Verbindung mit einem Fälscher der Sonderklasse, dessen Namen das Ehepaar als Polizeibeamte natürlich nie nennen würden. Alle Maße waren damals millimetergenau ausgerechnet. Auch Bullen haben in ihrer Jugend den ein oder anderen Unfug getrieben. Dann begab er sich zurück in das Gebäude, verschloss die Türe und stieg hinab in den Keller. Dabei wischte er sich mit einem Tuch das Puder aus dem Gesicht. Auch die Schminke und die aufgemalten Augenränder waren plötzlich wie durch ein Wunder verschwunden. Die Schauspielerei im Laientheater seines Vetters Miguel hatte wieder einmal gute Dienste geleistet. Auf dem Weg in den Keller dachte der Jewski an seinen französischen Kollegen. Er fragte sich noch immer, weshalb sich Lafitte so merkwürdig verhalten hatte. Warum hatte er dem Zimmer so viel Beachtung geschenkt? Erst hatte der Roger ja befürchtet, Lafitte sei ihm auf die Schliche gekommen. Doch irgendwie hatte sich der Flic durch seine Schlauheit dann selbst ein Bein gestellt.

In einer unscheinbaren Kammer angekommen, nahm Roger den Schleier von dem zerstörten Gemälde und blickte in das wohl berühmteste Lächeln der Welt.

Peruggia hatte den Fälscher zwar angewiesen, nur eine Kopie anzufertigen. Doch hatte das Lächeln der Schönen den Künstler offenbar auf wundersame Weise inspiriert und so zu Höchstleistungen angetrieben. So hatte der Fälscher beschlossen, die Dame gleich im zweimal um sich zu scharen. Das dritte, von Beatrice Jewski gezeichnete, kann man heutzutage als Original im Louvre bewundern.

„Sorry“, dachte sich Roger, als er das wahre Original betrachtete, welches die Kellerräume nie verlassen hatte. Wir Bayern haben nun einmal einen besonders ausgeprägten Nationalstolz. Was hatte der französische Kollege noch gleich gesagt?

„Wenn das Gemälde wieder da hängt, wo es hingehört“, wollte er eine Flasche des besten Weines mit ihm köpfen.

Nun, diesen Wunsch wollte er dem Franzosen auf keinen Fall abschlagen. Er entkorkte eine Flasche Rotwein, prostete symbolisch dem überlisteten Flic zu, und sprach mit feierlicher Stimme:

„Wir trinken lieber Bier hier in München. Die Lächelnde darf nun weiter die Besucher des Deutschen Museums begrüßen. Im Übrigen haben sich die Jewskis auf einen Mord eingestellt gehabt, als sie hierher berufen wurden. Dass die beiden Kriminaler aus der Rosenheimer Technoszene gerne ganz große Dinge heimtückisch und ganz schön hinterhältig so meistern wie in diesem Fall, weiß kein Mensch bei der Kripo Traunstein. Man sollte aber wissen, dass es allein durch die überragende Intelligenz des Ehepaares möglich ist, seit deren Antritt im Präsidium die Mordfälle mit einer Quote von 100 Prozent zu lösen. In den weiteren Geschichten wird man erkennen, dass es schon ein wenig magisch ist, wie Roger und Beatrice eine außergewöhnliche Jugend, die Normalität und das knallharte Polizeipensum auf geniale Art und Weise unter einen Hut bringen.

Nun müssen sich die Beiden darauf einstellen, dass die Geschichten aus Altkommissar Friedrich Reuters Reimbuch und den damit verbundenen Träumen tatsächlich in den Arbeitstag mit einfließen. Puppe „Josefine“ wird der erste und beste Beweis dafür sein.

Kapitel 2
Im Quellenbau ertränkt

Das weiße Gold. Salz! Nichts hat das Berchtesgadener Land um Bad Reichenhall so reich gemacht wie dieses einzigartige Geschenk der Alpen. Gefördert aus tiefen Stollen wurde es durch einen Soleleitungsweg von Berchtesgaden nach Reichenhall gepumpt und dort in der Saline bis heute weiterverarbeitet bis zum Endprodukt.

Im alten Quellenbau der Kurstadt kann man eine komplette Führung buchen und in die großartige Geschichte dieser Stadt eintauchen. Das hat Beatrice an einem schon sehr warmen Märztag im vergangenen Frühling getan. Zusammen mit ihrem Cousin aus Burghausen, den sie endlich mal wieder getroffen hatte, nahm sie an der Salzreise teil. Der gebürtige Niederbayer, ursprünglich aus der Deggendorfer Gegend stammend war zuvor noch nie hier im Landkreis BGL gewesen. Die mittlerweile toll hergerichteten beiden Fußgängerzonen in der Kurstadt hatten es ihm sofort angetan. Das oft als „Altersheim“ belächelte Reichenhall hat gewiss mehr zu bieten, als viele annehmen, auch kulturell.

Nach dem Tag in der alten, historischen Saline wollte er Beatrice auch einmal zusammen mit Roger nach Burghausen einladen und mit ihr die längste Burganlage der Welt besichtigen und erkunden. Doch nun stiegen die Kommissarin und Karl erst einmal hinab, vorbei an feuchtem und schwefligem Gestein bis etwa 30 Meter unter dem Meeresspiegel. Der zuständige Begleiter begann dann gleich, die erste Solepumpe und deren Technik zu erklären. Seit mehr als hundert Jahren sei sie in Betrieb. Ein unaufhörlicher Einsatz mit kleineren Reparaturen, um das Salz aus der Tiefe nach oben zu befördern. Eine fantastisch ausgereifte Mechanik, wirklich eindrucksvoll präsentiert.

Der Reiseführer geleitete die kleine Gruppe von Touristen daraufhin weiter in einen größeren Saal unter der Erde. Ein Bild wie aus einer versunkenen Unterwasserwelt tat sich auf. Würde es so in etwa auch im geheimnisvollen und Sagenumwobenen Atlantis aussehen, falls es selbiges überhaupt gibt?

Auf jeden Fall ließ ein kleiner Junge, der am Rande der Erklärungen und Ausführungen des Mitarbeiters spielte, dass er selbst ein „Bauarbeiter“ im Stollen sei die Erwachsenen plötzlich aufhorchen:

„Seht´ mal, was ich gefunden habe! Dort im Bächlein schwimmt ein Baby! Kann der überhaupt schon ganz alleine schwimmen?“

Beatrice riss es förmlich den Kopf zur Seite in Richtung des Buben. Die völlig entsetzten Menschen erblickten das wahrhaftige Grauen, wie es schlimmer nicht sein kann. Die Mutter des Kleinen zerrte ihren Sohn augenblicklich und reflexartig beiseite. Der Leiter der Führung stotterte und kramte hastig nach seinem Funkgerät. Ein mobiles Telefonnetz war dort unten nicht verfügbar. Es stellte sich schnell heraus, dass genau das passiert war, was man befürchtet und vermutet hatte. Beatrice Seeland war ungewollt zufällig und privat als eine der Ersten am Tatort eines abscheulich schrecklichen Verbrechens, das selbst hierzulande an Brutalität und Grausamkeit nicht zu überbieten war.

Ein Säugling, vielleicht wenige Wochen alt. Ertränkt und zurückgelassen. Die Abgründe einer menschlichen Seele, falls überhaupt noch vorhanden wurden sichtbar. Ausgerechnet dort, wo das Salz der Erde gewonnen wird, für jeden Reichenhaller eine Art Quelle des Lebens in mehrerer Hinsicht.

Die Kriminalpolizei Traunstein brauchte keine dreiviertel Stunde, bis sie mit einer Art Seelsorger für die geschockten und fassungslosen Besucher und einer Sondereinheit eintraf. Zunächst gelang es, nervige Pressevertreter noch auszusperren, doch wie lange wohl noch? Roger Jewski fuhr zusammen mit Andres Ramos vor und wühlte sich sogleich durch einige Fotografen bis zur Pforte der Saline, die Gott sei Dank bis dahin noch Endstation für diese Medienhaie war.

Ramos startete ohne viel zu fragen sofort durch und bestätigte die ohnehin offensichtliche Todesursache des Babys. Beatrice zitterte förmlich, als sie mit ihrer Internetbekanntschaft und Roger Jewski im Foyer neben der Kasse am Eingang sprach. Der sonst so abgebrühte und professionelle Christian Tichone rang nach Worten, als er sich vor die Vertreter diverser Medien stellen musste.

„Durch das ganze Wasser und den hohen Salzgehalt darin ist eine Spurensuche extrem schwierig“, begann er seine Stellungnahme.

„Jedoch ist unser erster Verdacht, wie soll es auch anders sein…nun…wir gehen davon aus, dass es sich um einen Kindsmord der eigenen Elternschaft handelt, meine Damen und Herren. Weiteres werden selbstverständlich unsere Ermittlungen ergeben. Warum das ausgerechnet hier passiert ist, gibt uns Rätsel auf. Wenn man sein eigenes Neugeborenes tötet, aus welchen furchtbaren Gründen auch immer…“.

Tichone schwitzte und musste nach einer Flasche Mineralwasser greifen:

„Bisher fand man Babyleichen manchmal im Müll oder die Kinder wurden lebendig in eine Babyklappe gebracht oder ausgesetzt. Ich weiß nicht, was ich jetzt noch sagen soll. Nur soviel, wir setzen natürlich wie immer alles daran, diesen Fall aufzuklären. Unsere Sorgfalt ist hier und heute ein Versprechen an sie.“

Der Chef schob die Mikrofone beiseite und stieg in seinen Wagen, den Ramer auf das Revier chauffieren sollte. Beatrice und der sonst so fröhliche Spanier Andres Ramos saßen wortlos in dessen Auto und fuhren ebenfalls nach Traunstein. Jewski blieb als einziger am bereits geräumten Ort der Schande zurück und befragte die Angestellten der alten Saline. Ob ihnen merkwürdige Dinge in den letzten Tagen aufgefallen waren, wollte er wissen. Eventuell nicht abgeschlossene Türen in der Nacht oder Streitereien unter Besuchern beispielsweise. Wichtiger war aber die Auswertung der Kamera im Besuchervorraum. Falls eine Frau mit einem Säugling eine Karte gekauft hat und eine Führung mitmachte, muss sie ja irgendwo auf den eingefangenen Bildern auftauchen.

Zum Glück, kann man nur sagen, tat sie das auch. Im Filmmaterial des Vortags war eine junge Dame zu erkennen, die ein Baby in einer Känguruhtasche an sich trug. Das Bild des Gesichts der Frau konnte klarer nicht sein. Jewski war erstaunt, dass er so zügig eine Spur nach verfolgte. Jedoch nahm der Kassenverkauf hier natürlich keinerlei Daten der Besucher auf, wenn diese ein Ticket für den Quellenbau kauften. Die Gesuchte aber war innerhalb weniger Minuten im Internet zu sehen, dafür sorgte Ramer. Neben der Boulevardpresse, der Polizei und den Lokalzeitungen veröffentlichten auch größere Geschäfte im ganzen Landkreis das Foto auf ihren Homepages. Die Zusammenarbeit klappte erstaunlich gut. Noch am selben Abend gingen in Traunstein durch eine eigens eingerichtete Hotline erste Hinweise ein. Viele wollten die Frau in Bad Reichenhall gesehen haben, einige wenige Anrufe hatten sogar konkrete Übereinstimmungen. Falls diese tatsächlich zutrafen, wäre die potentielle Mörderin sehr schnell gefunden.

Die Arbeitsgemeinschaft „Quellenbau“ saß die ganze Nacht mit den Auswertungen beisammen, allen voran das Ermittlerduo und Tichone. Der Chef fasste die Ergebnisse zusammen, als es draußen schon wieder hell wurde:

„Jungs und Mädels, nach diesem Schock haben wir jetzt nicht nur eine heiße Spur, sondern einen Namen. Wenn es sich bei zwei meiner Ansicht nach ehrlichen Leuten handelt, haben wir diese Person…man kann davon halten was man will, über Facebook ausfindig gemacht. Diese Frau ist weder eine Touristin noch zu irgendwelchen Reha – Zwecken in Bad Reichenhall. Sie heißt Alexandra Schmidt und ist Kellnerin im Moon Club in der Wittelsbacher Straße, das ist in der Nähe des Kurgastzentrums. Ein Anrufer behauptete, sie zu kennen, laut ihm verkauft sie verschreibungspflichtige Medikamente auf dem Schwarzmarkt. Beruhigungstabletten und Schlafmittel. In unseren Akten ist sie jedoch nirgends geführt, anscheinend wurde sie bisher niemals erwischt. Oder es stimmt ganz einfach nicht, ihr wisst ja, was in solchen Käffern manchmal geredet wird.“

„Hey…!“

Kommissar Jewski war mit der Betitelung seiner Heimatstadt nicht ganz einverstanden.

„Aber ok, du hast schon Recht. Es geht viel dummes Zeug herum. Aber worauf warten wir noch, Christian? Wir brauchen nur noch zu ihrer Wohnung fahren oder in die Spelunke.“

„Das hat sich erledigt, Roger.“

Tichone hatte vorausgearbeitet.

„Ich habe schon vor einer Stunde eine Streife hingeschickt. Die Wohnung ist leer. In ihrer Arbeitsstelle tobte wie immer das Nachtleben, aber ohne sie. Sie ist ohne sich krankzumelden seit zwei Tagen nicht mehr dort erschienen. Auffälliger geht es nicht. Ihr Foto wurde bereits per eMail an alle Hotels, Pensionen und Autobahnraststätten von Oslo bis Athen übermittelt. Interpol ist schon dran an dem Ganzen. Andres bekommt jetzt dann gleich ihre DNA vom Tresen des Moon Clubs, wenn er in den Dienst kommt. Vom Besitzer der Lokalität wurde den Polizisten ein Lippenstift aus ihrem Spind übergeben. Dass das Baby ihres ist, ist für unser Labor dann wohl nur noch reine Formsache.“

Als der Kommissar im Morgengrau in seine Bude kam, fiel er nur noch ins Bett. Oft reichte ihm wenig Schlaf bis zum Mittag dann, aber ohne diese paar Stunden ging bei ihm gar nichts mehr. Das Reimbuch und der Waldlauf am Bach fielen zwar aus, aber für ihn schien die Sache ohnehin schon gelöst zu sein. Trotzdem nahm er sich noch vor, nach dem Aufwachen und einer Tiefkühllasagne ein bisschen Elektrosound aufzulegen.

Die Nachmittagssonne und ein doppelter Espresso Macchiato ließen die Augen auch gerne immer ein wenig durch das Buch des alten Fritz gleiten. So zwischen Traum, verschlafenem Blick und gut gesättigt las er diesen bemerkenswerten Text:

„Denn da das größte Geschenk ist

Ein eigenes Kind zu haben

Sein Erbe weiterzugeben

Um den Horizont zu erweitern

Es aufwachsen zu sehen

Und gut zu behüten

Diesen allergrößten Schatz

Der das Leben gekrönt hat

Unbegreiflich mir

Sein eigen Fleisch und Blut

Zu töten

Obgleich man vielleicht

Des Wahnsinns ist?

Wer hat ihn verschrieben?

Oder dich für irre befunden?

Das lernt ein Mädchen schon in der Kindheit

Etwa mit einer Puppe oder Spielfigur.

Behandle diese Dinge mit Sorgfalt

Und gib ihnen Liebe

Denn eines Tages

Verlagert sich Wut und grenzenlose Verzweiflung

In die Realität“

Jewski legte das lederne Buch zur Seite und brach sich ein Stück Schokolade ab. Über dem Predigtstuhl zog sich die Schneise eines Flugzeugs. Keine Wolke am Himmel, die Berge sahen aus wie gemalt. Er war wütend und traurig zugleich. Wie kann man einem kleinen Menschen diese unglaubliche Schönheit des Lebens einfach wegnehmen? Er las das Gedicht wieder. Er sah auch die Zeile mit der Puppe und dachte an die „Josefine“ seiner Liebsten und an den gemeinsamen Albtraum. Dann fiel ihm die Dealerei der Verdächtigen mit den Medikamenten ein. Er kombinierte, dass es einen Arzt, womöglich sogar in seiner Heimatstadt Reichenhall geben muss, der ihr dieses Zeug verschrieben hat. Doch ohne Begründung bekommt man so etwas nicht. Es muss eine Diagnose vorliegen.

Eine harte Vorerkrankung aus dem psychischen Bereich. Beruhigungstabletten machen abhängig und werden in der Regel höchstens einmalig vor einer größeren Operation gegeben, um dem Patienten die immense Angst zu nehmen. Im Alleingang wollte Jewski nachforschen.

Er rief Beatrice an und besprach mit ihr, am nächsten Tag gleich in der Früh alle Neurologen im gesamten BGL und Traunstein aufzusuchen. Vermutlich litt die Frau an Schizophrenie oder Ähnlichem und wurde mit entsprechenden Mitteln behandelt. Diese verdammte Legalität jener Drogen auf Rezept machte sie vermutlich zu einer kriminellen Vertickerin. Dass in der Gastronomie und gerade in so einem Milieu wie dem Moon Club beschissene Gehälter gezahlt werden, machte das eventuell attraktiv. Beatrice und Jewski hofften, diese Frau zu finden, denn neben ihr müssten vielleicht noch weitere Leute in der Stadt dingfest gemacht werden.

Beatrice wunderte sich diesmal überhaupt nicht über die Pläne ihres Mannes. Die Geschichte mit den Pillen hätte längst zu dem Schluss führen müssen, dass bei Alexandra Schmidt etwas nicht stimmen könne, von diesem abartigen Mordszenario mal abgesehen. Einen heftigeren Fall hatten die beiden hart gesottenen Ermittler ohnehin noch nie.

Die Entbindung der ärztlichen Schweigepflicht sollte nach Vorlage der Gegebenheiten kein Problem darstellen.

In der Tat wurden die beiden direkt in Bad Reichenhall fündig. Die mittlerweile in ganz Europa gesuchte Frau war bei Herrn Dr. Münzer in der Altstadt, einem Psychiater und Nervenarzt wegen einer bipolaren Störung in Behandlung. Die manisch Depressive fiel nach den Angaben des sehr hilfsbereiten und kooperativen Doktors von einer Stimmung in die andere. Von himmelhochjauchzend bis zu Tode betrübt. Einmal fuhr sie laut dem Seelenklemptner voller Euphorie mit dem Zug spontan und ohne Gepäck nach Hamburg und wurde dort dann in Tränen aufgelöst in eine geschlossene Station der Allgemeinpsychiatrie gebracht.

Alexandra Schmidt war auch im Berchtesgadener Land immer wieder in Behandlung gewesen und suchte nach ihren stationären Aufenthalten regelmäßig einen Therapeuten auf. Auch von jenem holten sich Beatrice und Roger Unterlagen. Er stellte der jungen Frau sogar in seinen Niederschriften noch weitere Diagnosen aus, von Panikattacken mit Hyperventilieren bis hin zu Wahrnehmungsstörungen und Halluzinationen unter Alkoholeinfluss in Verbindung mit Psychopharmaka mit Delirium und Entzug. Mehrere Entgiftungen im Landkreis Rosenheim machten die Sammlung dann komplett.

Mehrere Tage verstrichen. Ramer, Beatrice und der Chef telefonierten, kommunizierten und diskutierten mit Interpol und lokalen Spürnasen sowie Undercover – Agenten auf dem ganzen Kontinent. Erst am Samstagnachmittag, als sie alle ein wenig Freizeit genossen und nur Roger Jewski eine Schicht schob, traf eine Nachricht ein.

Ein kroatischer Polizeibeamter verständigte neben den Medien glücklicherweise auch die deutschen Behörden und somit die Kripo Traunstein. Roger Jewski antwortete nicht besonders ausführlich, da er wie auch seine Kollegen damit gerechnet hat, dass sich Alexandra Schmidt womöglich selbst gerichtet haben könnte. Im Kollosseum vom Pula, einer kleineren Nachbildung des römischen Originals in Istrien wurde ihre Leiche entdeckt. Nach den dortigen Besuchszeiten hatte sich die Frau in einer der Gänge versteckt und sich an dieser historischen Stätte einsperren lassen. Man fand sie mit aufgeschnittenen Pulsadern und einem Brief in ihrer Brusttasche. Jewski und Tichone wollten verhindern, dass die Zeitungen und die Rundfunkanstalten den Inhalt erfahren, doch es gelang ihnen leider nicht. Alle kamen sie am Sonntag nach dieser Nachricht ins Büro, Beatrice wollte den Text vor den anderen lesen, denn sie fand, dass es die einzige Möglichkeit ist, das ganze Geschehen irgendwie einzuordnen. Die schwer kranke Frau suchte für ihr Kind und sich selbst zwei Orte zum Sterben, die in jedem Lexikon durch ihre Geschichte erwähnt sind, doch warum? Gaben diese Zeilen einen Aufschluss?

„Vielleicht liegt es an mir

Gewiss nicht an diesem Ort

Im Geringsten an meinem Kind

Doch hab´ uns beide erlöst

Frei gemacht vom Irdischen

Teufelsplaneten ohne Gewissen

Denn es ist der Mensch

Und seine Errungenschaften

Die mich zerstört haben

Das ständige Streben

Zu Arbeiten und zu Produzieren

Hatte ständige Angst

Wieder verletzt zu werden

Das Baby und mich

Gezeugt in dieser traumhaften Stadt

Am Mittelmeer, die Erinnerung

Vom ersten Kuss

In der Tiefe der Saline

Bei unserem ersten Date

Bis er mich verlassen hat

Weil ich nicht hineinpasse

In Euer Schema

Denn ich bin anders als Ihr

Und deshalb besser tot

Als alles weiter zu ertragen.“

Die Jewskis sprachen am Abend nach dem Heimkommen noch lange über den Fall und den Traum mit der Puppe, der sie vor einiger Zeit heimsuchte und nun unterschwellig im Gedicht im Büchlein vorkam. Die ganzen Einträge waren ohnehin schon wieder verschwunden. Ein neuer Text offenbarte sich ihnen, als sie auf die