Rette dich selbst! - Werner Tiki Küstenmacher - E-Book + Hörbuch

Rette dich selbst! Hörbuch

Werner Tiki Küstenmacher

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Beschreibung

Land in Sicht! 7 Rettungsringe für alle Lebensnotlagen Chaos im Kopf und reif für die Insel? Was können wir tun, wenn uns das Leben nach unten zieht? Bestsellerautor Werner Tiki Küstenmacher legt uns sieben kleine innere Verwandlungen ans Herz, die unsere seelische Widerstandskraft stärken: etwa wie wir Ängste in Ratgeber verwandeln, Grübeln in Handeln und Selbstaufopferung in Liebe. Es sind oft nur kleine Veränderungen – mit magischer Wirkung! Meisterhaft versteht es Werner Tiki Küstenmacher, uns Lebenspraktisches unterhaltsam und bilderreich nahezubringen. Seine Zeichnungen, die in Vorträgen oft live entstehen, sind dabei sein Markenzeichen. - Lebenspraktisches aus leichter Feder kombiniert mit den berühmten Illustrationen des Autors - Bestsellerautor: Vom Co-Autor des großen Longsellers "Simplify Your Life" - Mit vielen Übungen und hilfreichen Tipps  Stärke deine Resilienz - jetzt!

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Impressum

© eBook: 2022 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

© Printausgabe: 2022 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

GU ist eine eingetragene Marke der GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, www.gu.de

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie Verbreitung durch Bild, Funk, Fernsehen und Internet, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssysteme jeder Art nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Projektleitung: Stella Schossow

Lektorat: Karla Seedorf

Covergestaltung: independent Medien-Design, Horst Moser, München

eBook-Herstellung: Viktoriia Kaznovetska

ISBN 978-3-8338-7865-7

1. Auflage 2022

Bildnachweis

Coverabbildung: Werner Tiki Küstenmacher

Illustrationen: Werner Tiki Küstenmacher

Syndication: www.seasons.agency

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EINLEITUNG

Die Erfahrung mit dem neuen Coronavirus hat die Welt verändert. Auf jeden Fall ist die Erkenntnis gewachsen: Mit Egoismus kommt man nicht weiter. Weder mit nationalem Egoismus noch mit persönlichem. Und jetzt ein Buch »Rette dich selbst«?

Ich erinnere mich noch sehr lebendig an ein Erlebnis vor über zehn Jahren (als Flugreisen selbstverständlich waren):

Die Stewardess sagte während der Sicherheitseinweisung vor dem Start ihren vorgeschriebenen Spruch auf: »Im Falle eines Druckverlustes fallen automatisch Sauerstoffmasken aus der Kabinendecke. Ziehen Sie eine zu sich herunter, befestigen Sie sie über Mund und Nase, und atmen Sie normal weiter. Erst wenn Sie selbst sicher versorgt sind, helfen Sie Mitreisenden.«

Die Frau neben mir im Flugzeug schüttelte den Kopf. »Immer sagen sie das so. Aber als Mutter würde ich doch zuerst mein Kind retten – und dann erst mich.« Daraus ergab sich eine erregte Diskussion mit den Passagieren um uns herum. »Nein«, sagten die meisten, »Sie sind für Ihr Kind und andere Menschen nur dann wirklich von Nutzen, wenn Sie sich selbst gut versorgt haben.« Ganz überzeugt war die Frau nicht. Aber das eindeutige Ergebnis der kleinen Meinungsumfrage über ein paar Sitzreihen hinweg gab ihr zu denken.

Weil mich das Thema nicht losließ, habe ich es mehrfach mit Fachleuten diskutiert. Das Ergebnis war so eindeutig, dass ich beschloss, darüber ein Buch zu schreiben. Das haben Sie jetzt in Ihren Händen.

Selbstrettung ist ein wichtiger Begriff aus der Notfallmedizin. Sie bezeichnet die Fähigkeit, sich in heiklen Situationen aus eigener Kraft aus dem Gefahrenbereich zu befreien. Um sich selbst zu retten, braucht man Wissen und Training. Selbstrettung ist ein zentrales Ausbildungsziel in allen Helferberufen. Feuerwehrleute dürfen erst in ein brennendes Gebäude, wenn sie ihre eigene Sicherheit garantieren können. Nur dann können sie wirklich Hilfe leisten.

Wenn Sie in einen Autounfall verwickelt sind, müssen Sie sich zuerst selbst in Sicherheit bringen, bevor Sie Hilfe holen oder anderen Unfallopfern Hilfe leisten. Sich selbst aufzuopfern klingt vielleicht heldenhaft. Aber sinnvoll ist es nie.

»Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« ist ein kluger Satz aus der Bibel, bestehend aus zwei gleich wichtigen Teilen: Wenn ich atemlos schufte und mich aufreibe für andere, bin ich bald für niemanden mehr nützlich. Erst wenn ich ruhig und sicher atmen kann, kann ich auch anderen helfen.

In schlimmen Stresssituationen stelle ich mir seitdem vor, dass eine Sauerstoffmaske aus meiner Zimmerdecke fällt. Ich ziehe sie über Mund und Nase und atme ganz bewusst ein paarmal ein und aus. Sehr simpel, aber wirkungsvoll: Luft, Leben, Ruhe strömen durch mich hindurch. Ich bin sicher versorgt – noch mal ruhig atmen, und dann kann ich da sein für die, die in meinem Leben mitreisen.

Die Coronapandemie hat gezeigt, wie wichtig beides ist: sich selbst schützen und solidarisch da sein für andere. Mentale Techniken zur Selbstrettung sind eine wichtige Ergänzung zu Schutzimpfungen gegen SARS-CoV-2 und viele andere Viren und Bakterien. Auch für die vor uns liegenden Herausforderungen rund um den Klimawandel sind sie unverzichtbar. Oder gegenüber dem leider weiter grassierenden Irrationalismus von Verschwörungstheoretikern und Populisten.

Wie das gelingen kann, möchte ich an sieben Verwandlungen zeigen, die in jeder und jedem von Ihnen stecken. Sieben Rettungsringe, die zusammengefaltet wie die Schwimmwesten im Flugzeug unter Ihrem Sitz lagern und die Sie mit der richtigen Technik in einfache, aber lebensrettende Hilfsmittel verwandeln können.

Sind Sie bereit? Dann nichts wie los!

ANSPRUCHSHALTUNG IN DANKBARKEIT VERWANDELN

»Seien Sie anspruchsvoll!«

Fast ein Jahrzehnt warb die Süddeutsche Zeitung mit diesem Satz für ihre Produkte. Er gibt ein typisches Lebensgefühl des frühen 21. Jahrhunderts wieder: Nun, da die Grundbedürfnisse erfüllt sind, sollen sich die Konsumenten den höheren Genüssen zuwenden. Geben Sie sich nicht mit Minderwertigem zufrieden – minderwertiger Information, minderwertiger Politik, minderwertigen Produkten. Seien Sie anspruchsvoll.

Menschen mit hohen Ansprüchen sind schwer zufriedenzustellen. »Das kaufe ich doch nicht von meinem Taschengeld!«, ruft der anspruchsvolle Junior empört, der von seinen Eltern mit einem aktuellen Smartphone und den neuesten Sneakers ausgestattet werden will. »Warum zahlt das nicht die Krankenkasse?«, maulen die Patienten. Die Versandkundin erwartet, dass das bestellte Abendkleid portofrei zurückgenommen wird, auch wenn sie es eine Party lang getragen hat.

Für die Anspruchsvollen plagt man sich, aber die Anspruchslosen liebt man.

Marie von Ebner-Eschenbach

Die deutschen Sozialgesetze regeln akribisch genau, wer worauf Ansprüche hat. Tendenz: steigend. Dies und das und noch mehr sollte der Staat leisten. Die Versicherungen sollten es auch, die Hersteller und die immer zahlreicher werdenden Dienstleister aller Art. Ist es also erstrebenswert, anspruchsvoll zu sein? Um eine ungesunde Anspruchshaltung in Dankbarkeit zu verwandeln, muss ich mir zunächst im Klaren darüber sein: Welche meiner Ansprüche sind berechtigt, legitim, und welche sind unrealistisch, ungesund oder schlichtweg unverschämt?

Auf der Suche nach der Quelle

Um dieses Dilemma rund um den Begriff »Anspruchshaltung« zu klären, lohnt sich ein Blick auf die Herkunft des Wortes. Es beruht auf dem schlichten Verb »ansprechen«, aber in einem speziellen Zusammenhang: Sie sprechen jemanden an, um ihn um etwas zu bitten. Zur Süddeutschen Zeitung sagen Sie also: Bitte geben Sie mir Artikel zu lesen, die mich herausfordern. Versorgen Sie mich mit Informationen, die besser sind als der Durchschnitt. Anspruch haben bedeutet dabei, dass Sie die Zeitung in dieser Weise ansprechen dürfen. Denn Sie bezahlen ihr etwas dafür, und zwar mehr als einer Durchschnittszeitung.

Eine Frage der Balance

In der Sozialgesetzgebung heißt dieses Gegengewicht zum Anspruch »Leistung«. Die besteht aus Zahlungen in die Rentenkasse, Steuern, geleisteten Arbeitsjahren usw. Wenn Sie etwas geleistet haben, erwerben Sie sich damit Ansprüche. Das lässt sich zwar theoretisch ausrechnen, aber in der Praxis fühlen sich viele ungerecht behandelt.

Stimmt das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung nicht, bekommt das Wort Anspruch einen negativen Beigeschmack. Wer etwas beansprucht, ohne eine angemessene Entschädigung zu leisten, gilt als »zu anspruchsvoll«: Wenn jemand einen Luxusartikel als selbstverständliche Grundausstattung betrachtet. Wenn jemand ein nagelneues Kleid zu einer Einladung trägt und es danach umtauscht, ohne dafür zu bezahlen. Wenn jemand sich an Leistungen ohne Gegenleistung gewöhnt hat.

Kinder erheben Anspruch, von den Eltern geliebt, beachtet und finanziert zu werden. Bei mehreren Geschwistern kommt es dabei leicht zu Verteilungskämpfen. Es kann eine große Last sein, von den eigenen Ansprüchen beherrscht zu werden.

Eine Frage des Ansprechpartners

Es gibt noch eine wichtige Person, die Sie ansprechen und an die Sie mehr oder weniger hohe Ansprüche stellen können: Sie selbst. Spitzensportler beispielsweise tun das. Sie erwarten nicht nur optimale Trainingsbedingungen und professionelle Betreuung von ihren Helfern, sondern auch Bestleistung von ihrem eigenen Körper und ihrem persönlichen Engagement. Auch im Berufs- und selbst im Privatleben scheint es immer mehr in Richtung Leistungssport zu gehen: Nachdem die Arbeitsbedingungen in den meisten Unternehmen immer besser werden, schrauben die Mitarbeitenden ihre Ansprüche an die eigene Leistung immer höher und höher und höher. Der Soziologin Eva Illouz zufolge ist sogar unser Liebesleben mittlerweile korrumpiert von den Gesetzen des Marktes. Datingportale im Internet befeuern den beliebig austauschbaren Warencharakter erotisch-emotionaler Begegnungen. Dabei wissen wir alle: Unrealistisch hohe Ansprüche sowie ständiges Vergleichen machen unzufrieden – mit sich, dem eigenen Körper, dem Job, dem Partner und dem Kind.

Magengeschwüre bekommt man nicht von dem, was man isst, sondern von dem, wovon man aufgefressen wird. Mary Wortley Montagu

Burn-out, die Anspruchskrankheit

Wer von sich mehr fordert, als er leisten kann, geht kaputt. Der medizinische Begriff dafür ist »chronisches Belastungssyndrom«, kurz Burn-out. In einer Metastudie für die Berliner Humboldt-Universität hat die Arbeitspsychologin Dr. Christina Guthier im November 2020 viele Untersuchungen der letzten 30 Jahre aus zahlreichen Ländern ausgewertet und kam dabei zu einem überraschenden Ergebnis: Nicht die Belastungen am Arbeitsplatz lassen Burn-out entstehen, sondern der Stress im Unternehmen entsteht vor allem durch die an Burn-out leidenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das ließ sich an fast 30 000 Befragten nachweisen.

»Je weiter sich Burn-out entwickelt, umso mehr Stress, wie zum Beispiel Zeitdruck, nehmen die Menschen bei der Arbeit wahr«, erklärt Prof. Christian Dormann von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Dieser Effekt sei viel stärker als der umgekehrte Effekt, den Arbeitsstress auf Burn-out ausübt. Es sind also weniger die Ansprüche des Chefs, die seine Leute krank machen, sondern die Ansprüche seiner Leute an sich selbst. Stress bei der Arbeit und Burn-out schaukeln sich gegenseitig auf. Als typische Burn-out-Symptome gelten Erschöpfung, Antriebslosigkeit, Reizbarkeit und Zynismus. Guthier hat beobachtet: »Um sich vor weiterer Erschöpfung zu schützen, versuchen manche Betroffene, eine psychische Distanz zu ihrer Arbeit aufzubauen, das heißt sich von der Arbeit und damit verbundenen Personen zu entfremden und zynischer zu werden.«

Ein intelligenterer Ansatz wäre, die eigenen Ansprüche an sich selbst zu senken. Sehen Sie Burn-out nicht als unveränderliches Naturereignis. Und damit wären wir bei der ersten magischen Verwandlung, mit der Sie sich selbst retten können.

DER MAGISCHE RICHTUNGSWECHSEL

Finden Sie heraus, ob Ihre Ansprüche an sich und andere gesund und hilfreich sind. Wenn Sie hohe Erwartungen an sich oder andere haben, fragen Sie sich:

Sind meine Ansprüche hilfreich? Motivieren sie mich, das Beste aus mir herauszuholen, oder hemmen sie mich und machen mich unglücklich?Sind meine Ansprüche realistisch? Ist das, was ich mir vorgenommen habe, unter den gegebenen Rahmenbedingungen überhaupt machbar? Richte ich meine Ansprüche an die richtige Person?Stimmt das Verhältnis von Geben und Nehmen?Wie kann ich mit weniger zufrieden sein?

Mit den richtigen Antworten auf diese Fragen kann sich Ihre Anspruchshaltung verwandeln: vom lauten »Gib mir!« zu einem leisen »Danke!«.

»Ich bin dankbar für mein nacktes Leben«

Das habe ich Menschen sagen hören angesichts von verheerenden Naturkatastrophen – Menschen, die alles verloren hatten. Darin steckt nicht nur der verzweifelte Ruf »Wir haben ja sonst nichts mehr«, sondern in diesem Dank steckt eine ganz besondere und ganz besonders tiefe Kraft. Wer dankt, öffnet sich für etwas, das über das eigene Ich hinausgeht.

Ich kenne diese neue Lebensenergie auch von Menschen, die eine schwere Krankheit überlebt haben. »Ich lebe jetzt viel bewusster«, sagen sie, »ich nehme jeden Tag als Geschenk. Ich weiß, wie unendlich wertvoll jede Stunde meines Lebens eigentlich ist.«

Menschen können vom nahen Tod etwas fürs Leben lernen. Wenn es aber nicht um eine Erfahrung an der äußersten Grenze geht, sondern jemand dauerhaft in einer unangenehmen Lage ist, die ihn ständig unzufrieden macht und von innen langsam aushöhlt, ist es viel schwieriger, zur Dankbarkeit zu finden. Wenn ein Mensch seine Arbeitsstelle verliert, wenn sein Einkommen wegbricht, wenn zwischen zwei Menschen die Liebe erstirbt, wenn eine Krankheit das Leben beherrscht – dann ist es für Außenstehende sehr schwierig zu sagen: »Sei doch dankbar für das, was du noch hast!« Das kann zynisch klingen und verletzend.

Nicht die Glücklichen sind dankbar. Es sind die Dankbaren, die glücklich sind. Francis Bacon

Die Epoche der Dankbarkeit

Und doch ist es wahr. Was vielen unzufriedenen Menschen fehlt, was im kollektiven Sinn einer Gesellschaft fehlt, sind der dankbare Blick und das dankbare Herz. Wie lässt sich Dankbarkeit lernen oder wiederentdecken? Ist es heute vielleicht besonders schwer? Es gab eine Zeit, da schien das viel leichter zu sein.

Meine Eltern haben mir viel erzählt von den Schrecken und Entbehrungen des Krieges. Rückblickend kommt es mir so vor, als hätte es keinen einzigen Tag in meiner Kindheit gegeben, an dem ich nicht irgendeinen Seufzer der Dankbarkeit von meinem Vater oder meiner Mutter gehört habe. Dass es so einfach Butter und Fleisch zu kaufen gab. Dass wir uns ein Auto leisten konnten. Dass wir eine so schöne Wohnung in München gefunden hatten. Die beiden Mietshäuser gegenüber waren Ruinen.

Viel später habe ich begriffen, was für ein Glück es für mich war, dass mein Vater lebendig aus dem Krieg zurückgekommen ist. Ihm verdanke ich mein Leben. Auch wenn er, als ich erst sieben Jahre alt war, an den Spätfolgen seiner Kriegsgefangenschaft gestorben ist.

Das ist eine der traurigsten Wahrheiten im Leben: Wie viele gute Taten muss ein Mensch tun, um zu beweisen, dass er tüchtig ist! Aber er braucht nur einen einzigen Fehler zu begehen, um zu beweisen, dass er nichts taugt.George Bernard Shaw

Der Horizont erweitert sich

Mit dem Danken öffnet sich etwas. Wer dankt, sieht nicht mehr nur das eigene Handeln und Leiden. Wer dankt, gewinnt den Blick auf das Größere. Danken heißt: Da bin nicht nur ich. Da sind viele andere, denen ich etwas verdanke. Und da ist etwas, das alles übersteigt. Dem verdanke ich mich.

Achte auf deine Erinnerungen. Du kannst sie nicht noch mal leben.Bob Dylan

In allen Weltreligionen gibt es unzählige Dankbarkeitsmeditationen, -mantras und -gebete. Doch selbst wer nicht gläubig ist, hat allen Grund, Dankbarkeit zu praktizieren. Mit dem Zusammenhang zwischen Dankbarkeit und psychischem und physischem Wohlbefinden hat sich vor allem die positive Psychologie befasst. Auch aus medizinischer Sicht spricht einiges dafür, sich in Dankbarkeit zu üben. So konnte nachgewiesen werden, dass etwa nach entsprechenden Dankbarkeitsmeditationen die Entzündungswerte reduziert und die Immunantikörper erhöht wurden, das Stresshormon Cortisol im Körper weniger nachzuweisen war und das parasympathische Nervensystem stimuliert wurde.

Archivar und Geschichtenerzähler

Das Dankesagen scheint jedoch schwieriger geworden zu sein – und nicht nur das Anspruchsdenken hält Menschen davon ab. Warum?

Eine Erklärung haben Forscher gefunden, die sich mit dem menschlichen Gehirn befassen. Dort gibt es eine Abteilung, in der alle autobiografisch wichtigen Erinnerungen abgelegt werden. Diese Gehirnzone wird aktiviert, sobald Sie »ich« sagen.

Stellen Sie sich Ihr Ich-Gedächtnis wie ein Archiv vor, in dem zwei Leute arbeiten: Der eine ist ein sorgfältiger Urkundensammler, der die Fakten aller Ihrer Erlebnisse verwaltet. Er wäre mit der Menge der Daten total überfordert, gäbe es da nicht noch den anderen, den Geschichtenerzähler. Der fasst Ihre Erlebnisse in prägnanter Form zusammen. Ihn erkennen Sie an den Worten »nie« und »immer«: »Nie erlaubte uns Vater ein Vergnügen« oder »Meine Mutter tröstete mich immer« – auch wenn das faktisch längst nicht immer der Fall war.

Der Geschichtenerzähler in Ihrem Gedächtnis bewahrt viel Wahres auf: Erkenntnisse, die wichtig sind für Ihre Lebenserfahrung. Er neigt aber zu holzschnittartigen Vereinfachungen, zu Übertreibungen, und er ist sehr fixiert auf Negatives. Das ist in der menschlichen Gehirnstruktur aus gutem Grund so eingebaut, denn Sie sollen ja aus Fehlern lernen, und deshalb werden unangenehme Erfahrungen besonders gut gespeichert.

Die geheimnisvolle Tür

Auch in der Gegenwart ist Ihr Gehirn empfänglicher für Unglück als für Glück. Negative Botschaften bannen Ihre Aufmerksamkeit, schlechte Nachrichten überstrahlen gute Erfahrungen. Was können Sie dagegen tun?

Der österreichische Benediktinermönch David Steindl-Rast, der seit einem halben Jahrhundert in den USA lebt, hat die Tür zu einem Leben in Dankbarkeit gefunden: die Überraschung. In einer winzigen verblüffenden Beobachtung kann der Keim stecken zu einem ganz anderen Blick auf die Wirklichkeit.

Plötzlich – ein Regenbogen. Das Staunen über die Sterne in der Nacht. Wenn Sie einem Tier zusehen. Oder ein wunderbares Flackern in den Augen eines anderen Menschen wahrnehmen, eine Berührung, eine Stimme. Ein Gedanke in einem Gespräch, einem Zeitschriftenartikel, einem Buch: »So habe ich das noch gar nicht gesehen.« Was einen erstaunt aufschauen lässt, sagt Steindl-Rast, öffnet »die Augen unserer Augen«. Ein paar Millimeter Überraschung können zu Kilometern von Dankbarkeit führen.

Der Arzt und Psychiater Gerald May erzählt, wie er eine junge Frau einmal nach ihren tiefsten Wünschen fragte. Sie antwortete: »Ich möchte ein schönes Zuhause, eine glückliche Familie und das Gefühl, gebraucht zu werden.« Dann bat er sie, sich in Ruhe hinzusetzen und nicht in die Zukunft zu sehen, sondern sich den Sehnsüchten zu öffnen, die sie in diesem Moment spüren konnte. Nach einer Weile begann sie zu weinen und sagte: »Ich empfinde, dass zurzeit alles in Ordnung ist. Mehr als nur in Ordnung. Ich glaube, ich will nicht mehr, als ich im Augenblick habe. Ich bin so dankbar.«

Ich reise niemals ohne mein Tagebuch. Man sollte immer etwas Aufregendes zu lesen bei sich haben.Oscar Wilde

ÜBERRASCHUNGSTAGEBUCH

Darauf beruht eine einfache Technik, mit der sich Dankbarkeit trainieren lässt: Schreiben Sie auf, womit Sie überrascht wurden. Führen Sie über Ihre kleinen und großen Aha-Momente ein Tagebuch. Das kann ein leeres Notizbüchlein sein, in das Sie am Abend kurze Eintragungen machen. Oder eine Datei im PC, in die Sie mitten im Arbeitsalltag Ihre Gedanken hineintippen. Oder Sie halten Ihre Erlebnisse als kurze Audioaufnahmen in der Notizfunktion Ihres Smartphones fest. Hauptsache, diese gelungenen Situationen, kleinen Erfolge, guten Begegnungen oder erfreulichen Überraschungen gehen nicht verloren.

Falls Sie früher schon einmal so etwas ausprobiert haben (vielleicht unter dem Begriff »Glückstagebuch«) und es nach einiger Zeit wieder beiseitelegten, hier eine pfiffige Variation der Aufgabe: Schreiben Sie nicht mehr allerlei überraschende Erlebnisse der Dankbarkeit auf, sondern pro Tag nur noch eines. Aber – und das ist eine große Herausforderung – diese Art von Erlebnis muss neu sein. Also nichts, für das Sie früher schon einmal dankbar waren.

»Das geht doch nicht!«, habe ich gesagt, als ich diesen Vorschlag zum ersten Mal gehört habe. Aber bitte probieren Sie es aus. Es funktioniert!

Entlarven Sie Ihre eigenen Fake News

Der Effekt dieser kleinen Übung ist erstaunlich: Ihre Wahrnehmung stellt sich allmählich um, und Sie werden nicht mehr von jeder schlechten Nachricht umgeworfen.

Der Hintergrund: Sie werden misstrauisch gegenüber den Verallgemeinerungen Ihres inneren Geschichtenerzählers, und Sie werden Ihrem Faktensammler wieder eine Chance geben. Fragen Sie sich bei Erinnerungen, je älter Sie werden: Wie war es tatsächlich? »Nie erlaubte uns Vater ein Vergnügen.« Kann das wahr sein? Sprechen Sie mit Leuten, die damals mit dabei waren. Können sie diese griffigen Gemeinplätze bestätigen? Wie groß ist der Wahrheitsgehalt all der Sätze mit »nie« und »immer« wirklich? Schauen Sie mit Ihrem Erwachsenen-Ich auf die vermeintlichen Empfindungen Ihrer Kinder- und Jugendzeit. Das kann ein wichtiger Lernschritt werden auf dem Weg zu tieferer Dankbarkeit.

Dem, der uns Gutes tut, sind wir nie so dankbar wie dem, der uns Böses tun könnte, es aber unterlässt.Marie von Ebner-Eschenbach

Rückwirkend glücklich werden

Je älter ein Mensch wird, umso mehr schaut er zurück und seufzt: »Ach, hätte ich doch nur …!« Wie schön wäre es, zufrieden auf das eigene Leben zurückblicken zu können! Der Schweizer Lebensberater Fredi Rudorf hat eine originelle Methode entwickelt, mit der Sie Ihre Erinnerungen revolutionieren können. Er behauptet: Mit den richtigen Gedanken können Sie rückwirkend glücklicher werden!

Sehen Sie sich als Glied einer Kette. Hinter Ihnen als einzelnem Menschen steht eine viele Tausend Jahre alte Reihe gelungener Existenzen. Was auch immer Ihre Ahnen an Mühen, Krisen und Schmerzen zu ertragen hatten – jeder Ihrer vielen Zigtausend Vorfahren hatte stets wenigstens ein Kind, das gesund genug war, um das fortpflanzungsfähige Alter zu erreichen. Immer gab es einen Vater, eine Mutter und eine Geburt. Ohne eine einzige Ausnahme!

So gesehen entstammen Sie einem Geschlecht von Glückspilzen. Verglichen damit sind die Fehler und Unglücke Ihres Lebens unbedeutend. Stehen Sie aufrecht, blicken Sie stolz ins Helle. Das steht Ihnen als Nachkomme dieser riesigen Erfolgsfamilie zu.

Die Kette der schwarzen Säcke