Retten wir die Kirche! - Dr. Meik Schirpenbach - E-Book

Retten wir die Kirche! E-Book

Dr. Meik Schirpenbach

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Beschreibung

Wut. Enttäuschung. Frustration. Die Abwendung von der Kirche, in dem Maße, wie sie die katholische Kirche aktuell erlebt, beunruhigt zutiefst. Sie ist historisch einmalig. Viele Menschen gehen, weil die Kirche nicht mehr das lebt, wofür sie steht. "Anderswo würde man von totalem Leitungsversagen sprechen", sagte Meik Schirpenbach. Der Landpfarrer erlebt den Frust und die Enttäuschung unmittelbar an der Basis. Die Krise habe vor allem mit einer inneren Desorientierung zu tun, was die Mitte der christlichen Botschaft ist, besonders auf Seiten mancher, die sich für "Experten" halten. In seinem Buch analysiert Meik Schirpenbach, worin das Versagen konkret besteht, warum es glaubenszerstörend wirkt und welches Potenzial zur Lösung anstehender globaler Krisen dadurch verloren geht. Er schildert leidenschaftlich, warum er nicht resigniert, katholisch bleibt und macht all denen Mut, die gerade jetzt nicht aufgeben wollen, da Kirche immer noch ihre Heimat ist.

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Dr. Meik Schirpenbach, Jahrgang 1971, studierte Theologie, Philosophie und Kunstgeschichte in Bonn und Leuven (Belgien) und promovierte zur Strukturontologie bei Meister Eckhart. Nach der Priesterweihe 2003 war er in Köln-Porz, Frechen, Brühl und Bonn in der Pfarr- und Jugendseelsorge tätig. Heute ist er Leitender Pfarrer der 21 Pfarreien der katholischen Kirche in Grevenbroich und Rommerskirchen und sorgte mit zwei offenen Briefen an die Kirche im Herbst 2020 und Sommer 2021 für Aufsehen.

Meik Schirpenbach

Zwischen Resignation, Skandalen, Sehnsucht und Begeisterung

Ein Landpfarrerschlägt Alarm

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Klimaneutrale Produktion.

Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem Papier.

© 2022 Bonifatius GmbH Druck | Buch | Verlag, Paderborn

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden, denn es ist urheberrechtlich geschützt.

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in diesem Buch teilweise bei Personenbezeichnungen und personenbezogenen Hauptwörtern die männliche Form verwendet. Entsprechende Begriffe gelten im Sinne der Gleichbehandlung grundsätzlich für alle Geschlechter. Die verkürzte Sprachform hat nur redaktionelle Gründe und beinhaltet keine Wertung.

Umschlaggestaltung: Weiss Werkstatt München, werkstattmuenchen.com

Satz: Bonifatius GmbH, Paderborn

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-89710-941-4

eISBN 978-3-89710-983-4

Weitere Informationen zum Verlag:

www.bonifatius-verlag.de

Inhalt

Fragen an meine Kirche

Etwas Wertvolles steht auf dem Spiel

1.Reizwort Kirche

Wer ist „die Kirche“? – eine folgenreiche Grundunklarheit

Hirten und Schafe

Sind uns die Kirchenaustritte egal?

Kirchen-Bashing

Mehr Selbstbewusstsein

Macht, Ohnmacht und Konflikte

Immer noch Heimat

2.Was der Missbrauchsskandal offenlegt – und was eine Aufarbeitung wäre

Eine substanzielle Erschütterung

Die Schatten der Angst

Eine fatale Prioritätensetzung

Falsche Loyalität

Jesus Christus im Missbrauchsopfer erkennen

3.Vom Nutzen einer nutzlosen Kirche

Kranke Kirche in kranker Gesellschaft

Leben, wie es ist: Krisen, Ambivalenzen, Widersprüche

Systemrelevanz

4.Gefährdete Freiräume – Unsere Kirchengebäude

Identitätsfragen

Einfache Präsenz

Im Dienst der Gesellschaft

Verlebendigung statt Ausverkauf

5.Jenseits der Vorurteile – Was Kirche noch zu sagen hat

Kirchenkrisen als Gesellschaftskrisen

Die Klimakrise als spirituelle Krise

Ein befreites Leben

Umgang mit Grenzen

Der Blick über den westlichen Tellerrand – Eine Hoffnung für alle Menschen

Wüstenerfahrungen

6.Die Wurzel der Probleme

Kirche kommt nicht zur Sache

Unser Kerngeschäft: Spirituelle Erfahrung

Was wollen wir weitergeben?

Spielt Auferstehung keine Rolle?

Wozu Kinder taufen?

Das Buch vom Erwachsenwerden

7.Katholisch bleiben

Köln oder Aachen?

Einheit um jeden Preis

Ineinsfall der Gegensätze – Wie Reformen möglich werden

8.Wiederbelebung

Pilgernd unterwegs: Flexibel und optimistisch

Mit Herz und Verstand – Unterscheidung der Geister

Bescheiden statt gnadenlos

Eine Kirche, nach der wir uns sehnen

Kein unten und oben

Was ansteht: Ein großes Zeichen

Anders weitermachen – weil es keine Alternative gibt

Fragen eines Landpfarrers II

Danksagung

Literaturverzeichnis

Fragen an meine Kirche

Sorgen eines Landpfarrers im Rheinland – ein offener Brief

Ich bin ratlos. Ich bin Pastor auf dem Lande, in 21 Pfarreien, und übe meinen Dienst mit Freude aus. Ich liebe meine Kirche und vor allem die Botschaft, für die sie einsteht.

Was sich jedoch im Moment in Teilen unserer Kirchenleitung abspielt, kann ich den Menschen, die mich fragen, nicht mehr erklären. Ich habe versprochen, von meiner Herde, meinen Pfarreien Schaden abzuhalten, aber wie soll ich sie in der jetzigen Situation schützen, wo das Problem mitten aus der Kirche kommt?

Was unsere Leute in diesen Tagen nicht mehr verstehen, ist der Umgang in unserem Bistum mit den Missbrauchsvergehen – warum da was jetzt nicht veröffentlicht werden kann. Ich hatte noch versucht, das zu verstehen und zu erklären. Doch was inzwischen hier draußen ankommt, ist, dass sich hohe Amtsträger hinter den Kulissen streiten, wer denn nun Verantwortung übernehmen soll. Stimmt es, dass da jetzt schon Anwälte im Spiel sind?

Ich erfahre, dass Mitglieder im Betroffenenbeirat sich ausgenutzt, irregeleitet und belogen, ja zum zweiten Mal missbraucht vorkommen. Es gibt Retraumatisierungen, weil durch diese Umstände alles Erlittene wieder hochkommt. Nimmt man wahr, was man den Missbrauchsopfern antut? Reicht die Tatsache nicht, dass sie das so fühlen?

Im Evangelium des vergangenen Sonntags spricht Jesus davon, dass das, was wir dem Geringsten seiner Schwestern und Brüder antun, ihm antun. Die Missbrauchsopfer sind anwesender Christus in unserer Kirche. Wird hier Jesus Christus aus der Kirche rausgedrängt, weil er lästig ist? Würde sich jemand trauen, unser Allerheiligstes aus dem Tabernakel auf die Straße zu schütten? Christus ist im leidenden Menschen genauso anwesend wie in der Eucharistie. So habe ich es von der heiligen Elisabeth von Thüringen und der heiligen Juliane von Lüttich, der Erfinderin des Fronleichnamsfestes, gelernt.

Das Vertrauen in weite Teile der Kirchenleitung ist auch bei den treuesten Kirchgängern zutiefst erschüttert.

In diese substanzielle Krise hinein soll im Zuge des pastoralen Zukunftsweges unseren Pfarreien ein Umbruch abverlangt werden, der auf Jahre Kräfte binden und Konflikte herbeiführen wird, indem sie zu einer Großpfarrei fusioniert werden müssen. Unsere Leute fragen: warum? Wir haben doch viele gut funktionierende Kirchenvorstände. Warum etwas Funktionierendes zerschlagen?

Sicher sind in den Plänen auch viele gute und zukunftsweisende Ideen. Aber nach den Informationsveranstaltungen, auf denen uns ein idealisierter Film präsentiert wurde, sagten die meisten nur: „Wir glauben und vertrauen denen in Köln nicht mehr.“ Weiß man dort, was das bedeutet?

Wer soll die Konflikte hier ausbaden? Was ist, wenn kaum einer mehr für die neuen Kirchenvorstände im kommenden Jahr kandidiert? Da kenne ich schon die Antwort aus Köln: „Sie sind der Pfarrer! Darum müssen Sie sich kümmern.“

Warum fehlt bei aller Schau in die Zukunft der Ansatz bei der Gegenwart, beim Gespür des Gottesvolkes? Warum wird das, was heute in der Kirche lebt, kleingeredet? Zu wenig Glaube? Wer kann das überhaupt bestimmen?

Stimmt es, dass ein hoher Amtsträger unseres Bistums verkündet, dass das, was jetzt ansteht, die größte Veränderung der Kirchenstrukturen seit Napoleon sei? Damals wurde ein Landpfarrer Bischof, Marc-Antoine Berdolet, der jede Gemeinde persönlich besuchte, zuhörte und dann das veränderte, was notwendig war. Muss die Bistumsleitung angesichts der Vertrauenskrise jetzt nicht umso mehr das Gespräch auf Augenhöhe suchen? Im kalten Verwaltungsdeutsch der Bistumsverwaltung werden die Gemeinden in Stadt und Land als „die Fläche“ bezeichnet. Verrät das eine Haltung, die sich selbst als den Mittelpunkt wähnt?

Haben wir vor Ort keine Ahnung von der Sache? Es gibt in der Bistumsverwaltung viele engagierte, kompetente und kooperative Fachleute, die es ernst nehmen, dass sie Dienstleister der Pfarreien sind, mit denen wir ausgezeichnet zusammenarbeiten, aber andere behandeln unsere Ehren- und Hauptamtlichen von oben herab und sprechen vom Geld des Bistums, bei dem sie überlegen müssten, was davon welcher Gemeinde zustehen könnte. Hat man vergessen, dass es unsere Gemeindemitglieder hier sind – knapp 40.000 Katholikinnen und Katholiken –, die die Kirchensteuer zahlen, die so die Bistumsverwaltung alimentieren, und dass meine Kolleginnen und Kollegen in der Seelsorge vor Ort diese Menschen bei der Stange halten? Wieso will man … allein über Geld bestimmen, das einem nicht gehört? Engagierte Christinnen und Christen hier sagen: Der Bistumsleitung gehe es um Geld und Macht, nicht ums Evangelium. Das sind keine nachgebeteten Floskeln. Muss einem solch eine Vermutung nicht an die Substanz gehen? (…)

Nimmt man in Kauf, dass viele Engagierte sich stillschweigend abwenden? Oder sind das Christinnen und Christen, die sowieso nicht gut genug waren? So denken Leute, die sich für bessere Christen halten. Wo bleibt die Verantwortung eines Hirten? Wir Pfarrer sollen die Gespräche mit den Ausgetretenen führen, aber was sollen wir denn zu Dingen sagen, für die wir nichts können? Ich möchte als Priester nicht in Sippenhaft genommen werden – weder für Mitbrüder, die Missbrauch begangen haben, noch für Versagen in der Kirchenleitung.

Ich sehe die Gefahr, dass unsere Kirche über Jahre weiter nur mit sich selbst beschäftigt sein wird. Ist es nicht die Sorge um die Institution, die zur Vertuschung geführt hat? Brauchen wir nicht die schonungslose Erschütterung, damit aus Trümmern Neues wachsen kann?

Haben wir überhaupt noch eine missionarische Kraft? Die aktuellen Skandale gehen an die Glaubenssubstanz. Ich höre Vorwürfe wie „Glaubenszerstörer“, oder dass die Kirche vor die Wand gefahren werde und sie nur noch eine Karikatur ihrer selbst sei. Das höre ich von Menschen, die glauben möchten. Ich hätte es nicht gedacht, aber die Person eines Amtsträgers kann da viel aufbauen und zerstören. Glaube ist etwas sehr Sensibles. Der Kern unserer Botschaft ist verstellt, weil wir in der Kirche nicht als Auferstandene leben, sondern Angst um uns selbst, um Formen und hierarchische Strukturen haben. Das heraufziehende Unwetter wird schon zeigen, was stabil ist und was nicht.

Dabei werden unsere Kirche und ihre Botschaft mehr gebraucht denn je, weil immer mehr Menschen in unserem Zusammenleben auf der Strecke bleiben. Was ist allein mit der Herausforderung durch den Klimawandel? Da haben wir doch Lösungswege! Papst Franziskus hat das alles längst auf den Punkt gebracht. In der Flüchtlingskrise 2015 war ich stolz auf die Zeichen, die unsere Kirche setzte. Ist es nicht allein eine Zivilisation der göttlichen Liebe, mit der das Leben auf unserem Planeten eine Zukunft hat? Aber unsere Sprachrohre sind verstopft mit einem tödlichen Mix aus Skandalen, Selbstgerechtigkeit und dem Beharren auf Nebensächlichkeiten. Wer sucht noch Lösungswege für die Menschheitsprobleme bei unserer Botschaft? Wer erwartet von der Kirche noch etwas?

Ich sehe ein reiches Erbe in unserem Lande, das aufs Spiel gesetzt wird. Als Mensch, der zutiefst in der Kultur unseres Landes verwurzelt ist, tut mir das weh. Dabei sind darin so viel geistiger Reichtum und so viel Kreativität verborgen. Aber selbst unsere Kirchengebäude, auf die wir gerade im Rheinland so stolz sein können, werden von Kirchenverantwortlichen nur noch als Ballast empfunden. Fängt man an, unser Erbe zu verschleudern, um Nebensächliches um jeden Preis zu erhalten? Ist da nicht längst ein versteckter Selbsthass am Werk?

Warum sagen mir Menschen, dass sie sich um mich sorgen, dass ich Konsequenzen fürchten müsste, wenn ich solche Fragen stelle? Warum haben sie den Eindruck, dass unsere Kirche in Bezug auf den Klerus ein System von Befehl und Gehorsam sei, von unbedingter Loyalität und totaler Identifikation, Macht und Abhängigkeit, das keine Nestbeschmutzer dulde? Erschreckt es nicht zu Tode, dass wir mit solchen Kategorien in Verbindung gebracht werden? Viele unterstellen uns einen Korpsgeist, aus dem heraus der Schutz der eigenen Gruppe wichtiger war als das Leid der Missbrauchsopfer. Warum wird immer nur davon gesprochen, dass es einzelne sind, die Fehler machen, dabei wissen wir doch als Theologen und Menschenkenner, für die wir uns halten, dass es sündige Strukturen gibt, die das befördern?

Ich bin nur ein Pfarrer vom Lande, vom Rande, kurz vor dem Abgrund – am Tagebau. Vielleicht fehlt mir einfach der weltkirchliche Weitblick oder der theologische Tiefgang, sodass ich letztlich alles falsch sehe. Ich bete viel, aber auf meine Fragen finde ich im Gebet keine Antwort. Es bleibt die Ratlosigkeit.

In der Frage steckt allerdings eine Kraft, die die Antwort nicht immer hat. Deshalb möchte ich zuletzt auch unsere Gemeinden, die einzelnen Christinnen und Christen etwas fragen: Wollt ihr euch das kaputtmachen lassen, was euch wertvoll ist? Wollt ihr die Kirche nur denen überlassen, die sie vor die Wand zu fahren drohen? Ist euer Glaube nicht viel stärker als der Kleinmut vieler kirchlicher Verantwortungsträger – weil ihr Fragende und Suchende seid, Pilgernde auf rauen Wegen, engagiert für das Unmittelbare, für unsere Orte, die allesamt Gottesorte sind? Ist euch die Botschaft des Evangeliums nicht zu kraftvoll, als dass Kleingeister und Angsthasen sie ersticken könnten? Sind wir nicht zu katholisch – das heißt: allgemein, voll Weltverantwortung –, als dass wir uns herausdrängen lassen? Ahnt ihr nicht, dass unsere Zeit die Hoffnung des Evangeliums und den spirituellen Reichtum des Christentums nötiger braucht denn je? Haben wir Angst vor einem reinigenden Unwetter, das die Turmspitzen hinwegfegen, die Grundmauern aber nicht erschüttern kann? Ist es vielleicht ein Fehler, dass wir Lösungen von der Kirchenleitung erwarten?

Ich sehe keine Alternative, als dass wir hier vor Ort als Kirche weitermachen.

Meik Schirpenbach,26. November 2020

Etwas Wertvolles steht auf dem Spiel

Ende November 2020 habe ich mich mit diesen „Fragen an meine Kirche“ zu Wort gemeldet, um die Wahrnehmung der sich zuspitzenden Kirchenkrise aus der Perspektive eines Pfarrers auf dem Lande, in Grevenbroich und Rommerskirchen am linken Niederrhein, ins Gespräch zu bringen. Der Anlass war eine Gemengelage, die sich aus konkreten Vorfällen rund um die Veröffentlichung juristischer Gutachten zur sexualisierten Gewalt im Erzbistum Köln, erschütternden Gesprächen mit Missbrauchsopfern und Informationsveranstaltungen über eine durchgreifende Strukturreform in den Gemeinden ergab: Frust und Enttäuschung auf allen Seiten, wie ich es in meinen 17 Priesterjahren noch nicht erlebt hatte. Bis dahin war ich stets optimistisch geblieben, aber jetzt fing es an, mich selbst runterzuziehen.

Ich musste mir Luft verschaffen. Als Seelsorger wollte ich das auch für meine Pfarreien tun – hier am Rande unseres Bistums –, in denen ich mit unserem Seelsorgeteam wirke. Und damit das Ganze als Beitrag von der Basis in die vielfältigen Diskussionen einfließen konnte, habe ich es von vornherein öffentlich gemacht. Ich wollte signalisieren, dass ich wahrnehme, was viele in unseren Gemeinden zutiefst bewegt. Aus dem Ernst der Lage heraus habe ich es scharf formuliert. Gerade als Pfarrer konnte ich zu den Vorfällen nicht schweigen. Es sollte ein Weckruf sein.

Die unerwartet große Resonanz weit über unsere Gemeinden hinaus hat gezeigt, wie viele diese Fragen bewegen, wie entsetzt sie über das sind, was sich in unserer Kirche zeigt, und wie groß die Sorge um ihren Fortbestand ist. Dass die Reaktionen nicht nur aus unserem Erzbistum Köln kamen, sondern aus dem gesamten Bundesgebiet und darüber hinaus, zeigt, dass die Probleme und Sorgen in unterschiedlicher Akzentuierung überall drängen. Es sind Stimmen aus der Mitte der Kirche, von sehr engagierten und tiefgläubigen Menschen. Hier nun, wie auch im Verlauf des Buchs, lasse ich immer wieder Menschen unserer Gemeinden zu Wort kommen:

„Sie haben mir mit Ihrem Brandbrief aus der Seele gesprochen! Ich hoffe, dass Ihre Worte Beachtung finden. Es ist erschreckend, dass von der Kirchenführung offenbar niemand merkt, wie es an der Basis in der Fläche brodelt. Nun haben wir hier vor Ort zum Glück noch eine große Zahl von Ehrenamtlern, die sich darum kümmern, dass vieles weiterhin funktioniert. Wenn die aber alle nach und nach vergrault werden, weil grundlegende Fragen wie der Missbrauchsskandal nicht offen diskutiert und gelöst werden, sieht es für die Zukunft düster aus.“

„Die tiefe Durchdringung der Themen beweist die ehrliche und fundierte Auseinandersetzung. Viele Punkte sprechen mir aus tiefster Seele.“

„Die Zeit, in der es nur um den ichbezogenen Ehrgeiz von einzelnen Hochgeweihten ging, ist seit vielen Jahren vorbei. Wir alle sind gefordert, uns notfalls allein für die Frohbotschaft Jesu Christi einzusetzen, damit der Auflösungsprozess der Amtskirche ein Ende findet. Ja, es ist unsere Christenpflicht, dass Sie und wir von der Basis her beginnen, deutliche Klage gegen die tatsächlichen ‚Glaubenszerstörer‘ zu führen.“

„Meine Mutter ist 80 Jahre alt … Und ist seit einigen Jahren nicht mehr zur Kirche gegangen. Sie hatte eine große Wut auf die Kirche. Ich konnte das nicht so richtig nachvollziehen. Dann hat sie mir erzählt, woher ihre Wut kam. Der Pfarrer war damals eine Institution im Dorf. Und wenn er seine Macht missbraucht hätte (was er nicht getan hat), wäre sie ihm ausgeliefert gewesen. Alle hätten dem Pfarrer geglaubt. Und diese Ohnmacht, die sie als kleines Mädchen hatte, lag in dieser Wut. Dass es letztlich nur Glück war … Jetzt konnte ich sie verstehen.“

Es herrscht eine tiefe Entfremdung zwischen dem Großteil der Leute in den Gemeinden und weiten Teilen der Kirchenleitung. Eine Kollegin hier resümiert, „dass die meisten aktiven Christen das Vertrauen in unsere Kirchenleitung schon lange verloren haben. Wir begegnen allem, was aus Köln kommt, erst mal mit Misstrauen.“

Ein Kirchenvorstandsmitglied aus einem unserer Dörfer bringt es auf den Punkt: „In vielen Situationen helfe ich mir, indem ich bewusst zwischen meinem Glauben an Gott und der institutionalisierten Kirche differenziere, auch wenn mir klar ist, dass das nicht der richtige Weg sein kann.“

„Ich werde als Ehrenamtlerin vor Ort weitermachen. Wie, weiß ich noch nicht. Mein Vertrauen auf den Wasserkopf Kirche ist tief erschüttert. Jetzt kann ich unsere Schwiegertochter verstehen, die schon vor Jahren aus der Kirche ausgetreten ist. Der Grund ist nicht die Zahlung der Kirchensteuer, die wird in gleicher Höhe an eine karitative Einrichtung gespendet, sondern die Verlogenheit, die in der Kirchenleitung herrscht.“

Seitdem ist vieles passiert, nicht nur in unserem Bistum. Die Fragen rund um die Kirche haben sich weiter zugespitzt und bohren. Trauer, Scham, Wut und vor allem Resignation angesichts der kirchlichen Skandale haben sich in unseren Gemeinden weiter breitgemacht. Die Zahl der Kirchenaustritte steigt unaufhaltsam. Zugleich ändert sich die Lage unserer Welt dramatisch. Haben Fragen zu Kirche und Christentum hierzulande angesichts der globalen Situation überhaupt noch eine Relevanz oder steht nicht Wichtigeres an, womit wir uns beschäftigen müssen? Wen interessieren innerkirchliche Probleme überhaupt noch? Sind sie in Zeiten der Krise nicht Luxusprobleme?

Es herrscht der Eindruck, dass sich in einer grundlegenden Aufarbeitung des Missbrauchsskandals, abgesehen von juristischen Klärungen, kaum etwas tut und es nicht wirklich weitergeht. Wie kann es sein, dass ein hoch engagierter Missbrauchsbeauftragter in unserem Bistum das Gefühl hat, ständig vor die Wand zu laufen und man ihn dann schulterzuckend gehen lässt?

„Der Druck wird immer größer. Aber es bewegt sich weiter nichts.“

„In Köln wird offensichtlich die Thematik ausgesessen. Man lässt die Gläubigen gegen Windmühlen kämpfen. Das ist sehr traurig. Mir fällt auch nichts ein, wie man aus dieser Ohnmacht herauskommen kann. Positive Energie dagegen setzen … oder? Und beten!“

Ich werde nicht die sexuelle Gewalt im kirchlichen Raum als solche beschreiben und analysieren. Dazu gibt es inzwischen gründliche Abhandlungen. Ich kenne zwar Opfer persönlich, aber insgesamt halte ich mich nicht für kompetent, darüber etwas zu schreiben. Es geht mir vielmehr um den kirchlichen Umgang damit. Denn ich bin mir sicher, dass viele andere Probleme damit zusammenhängen. Es gibt – und das mag zunächst irritieren – ein in sich falsches System mit tief liegenden Zusammenhängen:

„Erst dachte ich, es ist irre, es so auf den Punkt zu bringen. Dann merke ich bei mir, wie sehr das System mich wirklich unbemerkt auffrisst.“

Und das berührt die Substanz unseres Christseins. Kirche ist nicht bloß eine Institution, sondern eine konkrete menschliche Gemeinschaft. Es steht etwas Wertvolles auf dem Spiel und ich fürchte, dass wir erst, wenn es zerbrochen ist, merken, was wir verloren haben.

Viele engagierte Seelsorgerinnen, Seelsorger und Ehrenamtliche fürchten, dass die wertvolle Arbeit, die sie in den vergangenen Jahren in unseren Gemeinden geleistet haben, umsonst war. Sie fragen sich: „Warum machen wir das hier alles noch?“ Katholische weiterführende Schulen erleben einen nie dagewesenen Einbruch der Anmeldezahlen. Hoch engagierte Lehrerinnen und Lehrer sind frustriert. Weggefährten im Priesterberuf denken ans Aufgeben. – Ich kann das alles gut nachvollziehen. Ich spüre innere Wut und Enttäuschung.

Wir können nicht akzeptieren, dass große Teile der Hierarchie unsere Arbeit behindern und gefährden. Wir wollen die sich abzeichnenden Zusammenbrüche nicht hinnehmen, sondern vertrauen auf Gott, der auf einer anderen Ebene zusammenhält und heilt. Nimmt man unsere Kämpfe und unser Ringen vor Ort überhaupt wahr? Zählen unsere Erfahrungen bei Bistumsleitungen? Meint man, uns über den rechten Glauben und die richtige pastorale Praxis immer nur belehren zu müssen, einen Glauben, den wir hier existenziell in der heutigen Lebenswirklichkeit zu leben versuchen – und nicht in einem binnenkirchlichen Ghetto? Diese Fragen stellen wir aber auch angesichts der Weise, wie unsere Kirche öffentlich wahrgenommen wird. Warum zählt dort nur die Kirchenleitung? – „Und das, obwohl viele Seelsorger eine sehr gut Arbeit machen.“

„Wir sind an einem toten Punkt,“ formulierte Kardinal Marx am 4. Juni 2021 und zitierte damit Alfred Delp. Zum Christsein gehört aber, den Tod als einen Durchgang zu verstehen. An dieser Schwelle befinden wir uns. Als Christin oder Christ stehen wir heute zwischen den Stühlen, ja manchmal gefühlt an der Wand. Es reißt einen hin und her, und doch weckt es auch Lebensgeister:

„Ich habe selten in so großer Offenheit so ein Statement von einem Pfarrer gehört.“

„Welche Konsequenzen wird das für Sie haben?“

„Wie können wir unsere Solidarität zum Ausdruck bringen?“

„Köln darf doch kein Angstgegner für uns Christen sein.“

„Wichtig sind das Wort Gottes und die Wahrheit!“

„Keine Angst und keine Hoffnungslosigkeit sollen uns niederzwingen.“

„Man kann nur froh sein, dass nicht mehr geschwiegen wird bei den Gläubigen. Das lässt hoffen auf Bewegung in der Zukunft.“

„Das hier ist trotz allem meine Kirche, die ich liebe, und ich hoffe, es bewegt sich durch die viele Kritik mal irgendetwas.“

Da ist noch etwas anderes, das gegenüber dem bisher Gesagten widersprüchlich, ja fast schizophren klingen mag: So deprimierend die Situation auch ist, ich sehe doch keinen Grund zur Resignation. Ich bin gerne Priester und Seelsorger. Das ist ein großartiger Beruf. Ich bin katholisch und werde es bleiben, auch wenn ich mich nicht mit allem, was unsere aktuelle Kirche ausmacht, identifizieren kann. Trotzdem bin ich nach wie vor überzeugt von der Sache.

Ich will jetzt kämpfen. Die Situation weckt meine inneren Kräfte. Ich weiß, dass viele Engagierte in unseren Gemeinden das genauso sehen. Es sind die, die gerade jetzt nicht aufgeben wollen, weil ihnen die Kirche nach wie vor eine geistliche Heimat ist. Jemand, der beispielsweise schon lange in einem Kirchenvorstand bei uns aktiv ist, sagte mir eines Abends vor einer unserer Kirchen:

„Ich kann es nicht verstehen, dass Leute jetzt aus der Kirche austreten. Ich bin doch nicht wegen eines Bischofs in der Kirche. Ich bin katholischer Christ, weil ich gläubig bin.“

Das katholische Christsein lassen wir uns also nicht absprechen und halten viele Widersprüche aus. Daher habe ich auch im Juli 2021 einen zweiten Landpfarrerbrief veröffentlicht, in dem ich versucht habe, Perspektiven aufzuzeigen (siehe Anhang).

Ich bin überzeugt, wir benötigen eine Erweiterung unserer Sicht darauf, welchen Sinn und welche Bedeutung Kirche in unserer heutigen Weltlage hat und haben muss und weshalb wir das gerade jetzt nicht aufgeben können. Uns allen ist das, was wir in unseren Gemeinden unter katholischer Kirche verstehen und leben, sehr kostbar. Wir wollen es uns nicht kaputtmachen lassen – weder von unfähigen Kirchenleitungen noch von oberflächlicher Stimmungsmache:

„Wir müssen auftreten und nicht austreten. Jeder so wie er kann oder will. Ich lasse mir unsere Gemeinschaft nicht durch einige wenige kaputt machen. Es ist nicht einfach. Aber was ist schon einfach?“

Ich werde in diesem Buch an manchen Stellen etwas weiter ausholen, weil die Probleme vielschichtig und tiefgründig sind. Sie haben mit einer inneren Desorientierung zu tun, was die Mitte der christlichen Botschaft ist. Doch es gilt: Umwege erweitern die Ortskenntnis. Es braucht auch Umwege über andere ortskirchliche Situationen weltweit und in der Kirchengeschichte. Wir brauchen Orientierung und Vergewisserung, um weitermachen zu können. Vor allem möchte ich aufzeigen, wie sehr wir mit unserer kirchlichen Praxis hinter unseren eigenen Überzeugungen und unserer eigenen Tradition zurückbleiben. Vieles davon haben wir in den westlichen Kirchen im Laufe der Jahrhunderte verzerrt, nicht wirklich verinnerlicht oder vereinseitigt. In der aktuellen Misere unserer Kirche sehe ich vor allem ein geistliches Problem – besonders auf Seiten einiger, die sich qua Amt für „Experten“ halten.

Was mich jedoch noch mehr umtreibt, ist die Tatsache, dass die Kirchenkrise nicht unsere einzige Krise ist, sondern dass wir längst in einer gewaltigen Menschheitskrise stecken, die aus vielen in sich verzahnten Krisen besteht. Eine Rückkehr daraus in eine wie auch immer geartete Normalität ist alles andere als absehbar. Die Klimakrise ist in ihrer Wurzel eine spirituelle Krise, weil sie grundlegend auf unserem Verhältnis zu unserer Mitwelt basiert. Hier böte die christliche Überlieferung ein unschätzbares Lösungspotenzial.

Papst Franziskus hat das immer wieder betont, aber es wird auch in der Kirche weitgehend ignoriert. „Katholisch“ bedeutet „allgemein“ im Sinne von „für alle“. Es geht um nicht weniger als eine Hoffnungsperspektive für die ganze Menschheit, die nicht durch weitere Spaltungen und Vereinseitigungen zerstört werden darf. Hier zeigt sich umso dramatischer, welche Folgen die hausgemachte Selbstblockade der Kirche hat: Wir befinden uns in einer Situation von menschheitsgeschichtlichem Ernst. Die christliche Botschaft wäre als Hoffnungs- und Gestaltungspotenzial gefragter denn je – doch die Kirche ist beschäftigt mit sich und schiebt sich selbst ins Abseits. Das ist unerträglich!

Putins verbrecherischer Angriffskrieg auf die Ukraine hat uns eine Entfesselung tödlicher Kräfte vor Augen geführt, mit der wir in unseren Breiten nicht mehr gerechnet hatten. Bislang selbstverständliche Sicherheiten sind damit weggebrochen. An was können wir uns überhaupt noch halten? Die Welt schreit nach Hoffnung!

Für mich gilt: Jede Zeit ist Gottes Zeit. Wohin ruft Gott uns in dieser auf so vielschichtige Weise undurchschaubaren Situation? Warum verharren wir als Kirche in unserer Selbstblockade – wenn die weltverändernde Kraft des Evangeliums notwendiger wäre denn je? Kann die Kirche in Anbetracht dieser Zeitenwende eine innere Wende vollziehen?

Wir brauchen uns als Kirche jetzt nicht wider alle äußeren Fakten als den großen Retter der Welt zu präsentieren, nach dem Motto: „Seht mal, wie sehr ihr uns jetzt braucht. Das haben wir euch doch schon immer gesagt.“ (Auch wenn ich mir im März 2022 sehnlichst gewünscht habe, der Papst würde mit dem Patriarchen von Konstantinopel sofort in die Ukraine reisen und Putin stoppen.) Nein, es geht darum, dass der Kirche klar wird, dass ihre einzige Aufgabe von Gott her lediglich ein Dienst für die Menschheit und kein Selbstzweck ist. Das macht bescheiden, nicht überheblich. Wir selbst sind nur Teil dieser Menschheit und stehen ihr nicht gegenüber.

Dieses Buch sei all denen gewidmet, die zwischen den Fronten stehen und nicht aufgeben wollen, denen in den Kirchenleitungen, die einen gemeinsamen Weg mit der Kirche vor Ort gehen wollen, und allen, die noch mit der Frage ringen, ob sie bleiben oder vielleicht auch wieder zurückkommen sollen. Ich hoffe, dass es fruchtbare Diskussionen fördert. Mit dem, was ich hier vortrage, stehe ich nicht allein. Es geht um Anliegen, die die allermeisten, denen Kirche am Herzen liegt, teilen. Angesichts der Polarisierungen ist vielen oft nicht mehr bewusst, dass es uns um die gleiche Sache geht. Selbst hohe Würdenträger in Köln sagten mir, dass sie dem zustimmten, was ich in meinen Landpfarrerbriefen geschrieben habe; sie könnten es aber in ihrer Position so nicht äußern. Was wir daher dringend brauchen, ist das offene Gespräch – auf allen Seiten.

1.Reizwort Kirche

Wer ist „die Kirche“? – eine folgenreiche Grundunklarheit

Wenn wir von „der Kirche“ sprechen, müssen wir uns zunächst darüber klar werden, wovon wir überhaupt sprechen. In der analytischen Philosophie lernt man, sich über seinen Sprachgebrauch Rechenschaft zu geben: Wen oder was meinst du, wenn du diesen Begriff verwendest? Ich habe den Eindruck, dass im Blick auf den Begriff „Kirche“ eine grundsätzliche und folgenreiche Unklarheit herrscht. Ich denke dabei nicht zuerst an die Unterscheidung zwischen dem Gebäude und der sozialen Größe. Hier besteht mehr Wechselwirkung, als uns allgemein bewusst ist. Mir geht es darum, wen wir mit „Kirche“ meinen, wenn wir von der sozialen Größe reden. Noch unklarer wird das Ganze durch die Verwendung des Artikels: Wer ist „die Kirche“?

In seinem ursprünglichen Zusammenhang, wie er im Neuen Testament überliefert wird, bedeutet das griechische Wort ekklesia, das auf Deutsch mit „Kirche“ wiedergegeben wird, ganz einfach „Versammlung“ und noch genauer übersetzt „die Zusammengerufenen“ oder „die Herausgerufenen“. Das entspricht der Grundintention einer Sammlungsbewegung und hat noch keinen Anklang an irgendetwas Institutionelles. Insofern kann damit auch eine Volksversammlung im antiken Griechenland bezeichnet werden. Hier jedoch geht es um eine Sammlungsbewegung, die nach der biblischen Erfahrung schon viel früher ansetzt, indem Gott Menschen aus ihrem bisherigen Lebenskontext herausruft, sich auf ein Leben mit ihm einzulassen. Daraus erwuchs ein besonderes Volk, Israel, was wörtlich bedeutet: „der mit Gott ringt“.

Israel wurde immer wieder durch die Propheten neu gesammelt und versammelt, um auf diesem Weg zu bleiben, und durch Jesus Christus wurde diese Sammlungsbewegung auf alle Menschen ausgeweitet. Juden sind deshalb die älteren Geschwister der Christen, aber Christen sind letztlich nichts anderes, eben eine Sammlungsbewegung, die sich von Gott herausgefordert weiß. Das bedeutet Kirche. Mehr nicht.

Von Anfang an hat es innerhalb dieser Sammlungsbewegung Menschen gegeben, denen besondere Aufgaben für die gesamte Bewegung übertragen wurden. Jesus selbst hat damit angefangen, indem er Apostel berief. Je größer die Bewegung wurde, umso notwendiger wurde dies. Interessant ist, dass sich überall in der antiken Welt, auch außerhalb des römischen Reiches, die gleiche Struktur entwickelte: Bischöfe, Priester und Diakone. Dies wurde nicht von oben herab verordnet oder durch eine allgemeine Versammlung beschlossen, weil es weder ein „Oben“ noch eine weltweite Versammlungsstruktur gab. Spannenderweise gilt das gleiche Phänomen für die Entstehung der Bibel: Welche Bücher dazugehören und welche nicht, ist seit dem Ende des 2. Jahrhunderts überall klar, ohne dass dies von irgendeiner übergeordneten Institution angeordnet wurde. Beides ist ein bemerkenswerter Konsens.

Die Ämter in der Kirche sind nicht durch Amtsanmaßung entstanden, gleichsam als Dekadenz einer zuvor idealen Urkirche, sondern waren aus innerer Notwendigkeit von Anfang an gegeben. Damit haben sie eine Dienstfunktion. Das ist innerhalb eines sozialen Organismus etwas völlig Normales. Jesus selbst sagt: „Ich bin unter euch als einer der dient“ (Lukas 22,27). Im Dienst aller zu sein, ist Jesu Selbstverständnis. Wesen und Funktion sind bei ihm nicht zu trennen. Der priesterliche Dienst ist kein Privileg, sondern ein notwendiger Dienst aus dem lebendigen Bedürfnis einer christlichen Gemeinde heraus. So geht es für Paulus darum, „die Heiligen für die Erfüllung ihres Dienstes zuzurüsten, für den Aufbau des Leibes Christi, bis wir alle zur Einheit im Glauben und der Erkenntnis des Sohnes Gottes gelangen, zum vollkommenen Menschen, zur vollen Größe, die der Fülle Christi entspricht“ (Epheser 4,12+13).

Priesterlicher Dienst ist also von Jesus selbst initiiert. Und die „Heiligen“ sind für Paulus alle, die zur Sammlungsbewegung der Kirche gehören. „Heilig“ ist keine moralische Qualität, sondern die Grundeigenschaft Gottes: seine Unverfügbarkeit, sein Geheimnis. „Heilige“ sind Menschen, die sich davon berühren lassen, an denen also etwas von diesem Geheimnis aufleuchtet. Und das ist nach christlicher Erfahrung Gottes Absicht: an Menschen aufzuleuchten und so das Leben zu erleichtern. Dieses Geschehen macht Kirche aus.

Die weitere Entwicklung kann ich hier nicht nachzeichnen. Aber Tatsache ist, dass das, was sich ursprünglich als ein notwendiger Dienst an jedem Ort, wo es die Sammlungsbewegung („Kirche“) gab, entwickelt hat, später mit dieser gleichgesetzt wurde: Die Kirche, das sind ihre Amtsträger. Eine dienende Struktur, die dem Ganzen Festigkeit geben sollte und an konkreten Bedürfnissen ausgerichtet war, wurde als das Eigentliche wahrgenommen: Kirche galt als Institution, die mit ihrer Dienst- und Leitungsstruktur gleichgesetzt wurde. Dort stehen wir noch heute. Diese Wahrnehmung ist völlig eingeschränkt: Wenn man also von einer „Institution Kirche“ spricht, zielt man auf etwas, das für sich genommen wenig mit der eigentlichen Bedeutung von Kirche zu tun hat, sondern nur einen Teilaspekt berücksichtigt.

Diese Reduzierung der Wahrnehmung geschieht aus scheinbar entgegengesetzten Richtungen von „außen“ und von „innen“. In Teilen der öffentlichen Wahrnehmung und der medialen Darstellung wird Kirche auf ihre Kirchenleitung reduziert. Diese bekommt ihre öffentliche Bühne. Dann wird schnell alles, was auf dieser Ebene läuft, auf „die Kirche“ übertragen.

Von einer gut recherchierenden Presse dürfte man statt pauschalisierender Vereinfachungen eine differenzierte Darstellung erwarten. Jede Christin und jeder Christ vor Ort sind die Kirche, jede besorgte oder auch kritische Stimme aus ihrer Mitte. Wird das öffentlich wahrgenommen?

Die äußerliche Wahrnehmung wird dadurch genährt und befördert, dass Teile der Kirchenleitung selbst vergessen haben, wo sie stehen und wer sie sind. Sie sehen sich selbst als „die Kirche“. Wenn von „uns“ die Rede ist, meint man den Klerus. Das geschieht sowohl unbewusst als auch absichtlich.

Wenn also in einem Bußgottesdienst von „Täterorganisation Erzbistum Köln“ gesprochen wird, verdient das allen Respekt, und doch stellt sich die Frage: Wer ist hier mit dem Erzbistum gemeint? Ist das Erzbistum die Bistumsleitung? Ist das Erzbistum nicht eine Gemeinschaft der Gläubigen? Sind normale Gläubige Teil der Täterorganisation? Oder beansprucht die Kirchenleitung, „die Kirche“ zu sein? Müsste nicht eingestanden werden, dass man das Erzbistum für sich vereinnahmt hat? Darf man die Gläubigen so einfach in Mithaftung nehmen? Sollen sie etwas mittragen, für das sie nichts können?

Christinnen und Christen in unseren Gemeinden erleben Kirchenleitung als weitgehend mit sich selbst beschäftigt. In unserem Bistum gibt es einen eigenartigen Sprachgebrauch in der Bistumsverwaltung: Wer im Generalvikariat arbeitet, gehört zum „Haus“, und die Gemeinden mit ihren Seelsorgerinnen und Seelsorgern vor Ort bezeichnet man als die „Fläche“. Das spürt man dort:

„Durch Ignorieren des ‚niederen Fußvolkes‘ konnten jahrhundertelang Strukturen erhalten bleiben. Wir brauchen einen langen Atem, um deutlich zu machen, dass dies auch unsere Kirche ist und wir solch einen Umgang mit uns und unseren Mitmenschen nicht hinnehmen. Wir als gläubige mündige Christen, die die Bibel lesen und in einer Gemeinschaft leben wollen, werden uns nicht den Mund verbieten lassen. Also durchhalten und an Gemeinschaft und Gemeinde festhalten und gemeinsam beten.“

Es sind aber nicht jahrhundertealte Strukturen, sondern spätere Engführungen und Vereinseitigungen, die hier wirken. Es bedarf daher der Selbstvergewisserung, denn hier ist auf verschiedenen Seiten manches aus dem Blick geraten.

Hirten und Schafe

Um das Verhältnis von Amtsträgern und Gläubigen in der Kirche zu beschreiben, wird gerne das uralte Bild von den Hirten und den Schafen herangezogen. Es gründet in der Bibel, hat wie so vieles mancherlei Verflachung und Banalisierung erfahren und wirkt deshalb sehr klischeehaft. Schließlich herrscht das Vorurteil, Schafe seien dumm, aber der Hirte wisse, wo es langgeht. Die Schafe müssen nur folgen … Wer so denkt, hat wenig Ahnung von Schafzucht und ihrer kulturellen Bedeutung.

Letztlich hat dieses Bild nur noch wenig mit konkreter Lebenserfahrung zu tun, ist aber dennoch sehr aufschlussreich, wenn wir uns auf seinen wirklichen Gehalt einlassen. Doch um die biblischen Bilder zu verstehen, muss man sich mit ihnen auseinandersetzen und in ihre Welt vorstoßen, damit sie in unsere Welt eindringen können.

Im Orient, aber auch in Europa, stehen Hirte und Herde in einer intensiven Lebensgemeinschaft. Das Meiste läuft durch Intuition, durch ein intimes Vertrauensverhältnis. Hirte und Schafe kennen sich wirklich. Der Hirte ist nichts ohne seine Schafe.

Ich selbst bin am Rhein aufgewachsen und habe in meiner Kindheit die großen Schafherden auf den Rheinwiesen erlebt und gerne beobachtet. In der Regel ging der Schäfer nicht voran, sondern war irgendwo am Rande oder auch mitten in der Herde zu sehen. Selbst wenn die Schafe durchs Dorf liefen, brauchte er nicht voranzugehen. Die Herde ging intuitiv ihren Weg. Natürlich hatte der Hirte im Blick, wohin die grobe Richtung ging, sie musste zu gutem Grünland führen. Doch die unmittelbaren Schritte dorthin waren von gegenseitigem Gespür bestimmt. Das Ganze lief, da eine lebendige Beziehung bestand.

Im rumänischen Siebenbürgen mit seiner kulturprägenden Hirtentradition konnte ich diese Beobachtungen vertiefen. Manche Hirten sind von Weitem durch ihren Schaffellmantel kaum von der Herde zu unterscheiden. Solange sie unterwegs sind, leben sie in Symbiose. Der Hirte hat gleichsam den Geruch seiner Schafe, und sie spüren das. Hirte und Herde sind nicht voneinander zu trennen. Und es ist beeindruckend zu sehen, wie sehr die selbstbewusste und wohlhabende Hirtenkultur das rumänische Selbstbewusstsein im Karpatenraum geprägt hat. Man kann dort immer noch beobachten, dass die Stäbe der Hirten und die der Bischöfe sich entsprechen.

Dass es in der Kirche hierzulande zu Entfremdungen zwischen Hirten und Herde gekommen ist, wird keiner bestreiten. Man vertraut einander nicht mehr. Manche Hirten der Kirche bei uns beanstanden, dass es auf Seiten der Gläubigen, wenn diese lehramtliche Schreiben beanstanden oder ignorieren oder Umstrukturierungen nicht mitvollziehen wollen, zu wenig Fühlen mit der Kirche (lateinisch sentire cum ecclesia), also Gespür für die Kirche gäbe. Rom wird dann schnell mit der Weltkirche gleichgesetzt. Hierzulande kreise man zu sehr um sich selbst. Kann ein Hirte so reden?

Jesus unterscheidet sehr scharf zwischen dem Hirten und dem Tagelöhner, dem an den Schafen nichts liegt (Joh 10,11–18). Der Hirte versucht in Krisenzeiten ein Gespür zu entwickeln, woran die Herde leidet. Sentire cum ecclesia ist also auch ein Gespür der Hirten für ihre Herden und damit etwas Wechselseitiges. Man könnte es als ein sentire in ecclesia akzentuieren: ein gegenseitiges Gespür in der gemeinsamen Kirche. Wir versuchen, uns aufeinander einzulassen, weil wir zusammengehören. Wenn der Hirte Hirte sein will, liegt die Initiative bei ihm. Das gehört zu seinem Selbstverständnis.

Ein interessantes Beispiel aus der Kirchengeschichte ist die sogenannte Union von Kiew im 16. Jahrhundert. Da die Ukraine seinerzeit zu Polen-Litauen gehörte, versuchten die polnischen Könige, die orthodoxe Kirche in eine Gemeinschaft mit der römisch-katholischen Kirche zu bringen. Die Bischöfe sollten die Leitungsvollmacht des römischen Papstes anerkennen. Der größte Teil der orthodoxen Bischöfe zog mit, weil es ihnen selbst ihre Lage erleichterte. Gescheitert ist das Ganze damals weitgehend daran, dass die Gläubigen und die Klöster das in weiten Bereichen einfach nicht mitvollzogen, weil sie die staatlichen und kirchenpolitischen Interessen durchschauten.

In sowjetischer Zeit funktionierte das trotz angewandter Gewalt im westukrainischen Lemberg in der umgekehrten Richtung nicht, und im Moment erleben wir eine tiefe Entfremdung der Angehörigen der ukrainisch-orthodoxen Kirche von ihrem Patriarchen Kyrill in Moskau, weil diesen das unsägliche Leid seiner Herde überhaupt nicht zu interessieren scheint und er auf skandalöse Weise Putins Krieg gutheißt. Das Moskauer Patriarchat wird daran zerbrechen.