Rhetorik der Säkularisierung - Daniel Weidner - E-Book

Rhetorik der Säkularisierung E-Book

Daniel Weidner

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Beschreibung

»Säkularisierung« ist ein so wichtiger wie umstrittener Begriff zur Selbstverständigung westlicher Gesellschaften – er meint sowohl das Verschwinden der Religion in der Moderne als auch deren Verwandlung. Daniel Weidner zeigt, wie im 20. Jahrhundert von Säkularisierung gesprochen wurde und wie zentral diese Überlegungen für das philosophische, theologische, soziologische und kulturelle Selbstverständnis waren. Dabei erweist sich Säkularisierung weniger als klares Konzept denn als Denkfigur, die gerade durch ihre Rhetorik – durch Metaphern und Mehrdeutigkeiten – in der Lage ist, das ambivalente Verhältnis der Moderne zur Religion zum Ausdruck zu bringen.

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Daniel Weidner

Rhetorik der Säkularisierung

Über eine Denkfigur der Moderne

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

»Säkularisierung« ist ein so wichtiger wie umstrittener Begriff zur Selbstverständigung westlicher Gesellschaften – er meint sowohl das Verschwinden der Religion in der Moderne als auch deren Verwandlung. Daniel Weidner zeigt, wie im 20. Jahrhundert von Säkularisierung gesprochen wurde und wie zentral diese Überlegungen für das philosophische, theologische, soziologische und kulturelle Selbstverständnis waren. Dabei erweist sich Säkularisierung weniger als klares Konzept denn als Denkfigur, die gerade durch ihre Rhetorik – durch Metaphern und Mehrdeutigkeiten – in der Lage ist, das ambivalente Verhältnis der Moderne zur Religion zum Ausdruck zu bringen.

Vita

Daniel Weidner ist Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Halle-Wittenberg.

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

Was bedeutet ›Säkularisierung‹?

1.

Vier Entwürfe (Taylor, Agamben, Asad, Habermas)

2.

Drei Kritiken (Lübbe, Blumenberg, Koschorke)

3.

Rhetorik und Genealogie (Zum Vorgehen)

4.

Erzählung und Motivation (Weber)

5.

Absterben und Appell (Weber)

6.

Variationen, Erweiterungen (Troeltsch)

7.

›Geschichte‹, ›Religion‹ (Troeltsch)

8.

Inversionen (Scheler)

9.

Nachgeholte Säkularisierung (Wiener)

10.

›Werte‹ (Rickert, Simmel)

11.

Die große Allegorie (Weber)

12.

Differenz und Distinktion (Barth)

13.

Theologischer Stil (Barth)

14.

Analogie und Identität (Schmitt)

15.

Unschärfe und ›große Rhetorik‹ (Schmitt)

16.

Varianten politischer Theologie (Gogarten, Barth)

17.

Allegorie und Doppelreferenz (Benjamin)

18.

Entzauberung als Roman (Broch)

19.

›Irdisch Absolutes‹ (Broch)

20.

Zivilisationsbruch (Plessner)

21.

Rekursiv Erzählen (Löwith)

22.

Verdoppelter Ursprung (Löwith)

23.

›Ver-‹ und ›Entgeschichtlichung‹ (Bultmann)

24.

Entmythologisierung und Hermeneutik (Bultmann)

25.

›Legitimität‹ aus dem Christentum (Gogarten)

26.

Säkularismus und ›Welt‹ (Gogarten)

27.

Säkularisierung als Sprachübertragung (Schöne)

28.

Soziologie und disziplinärer Mythos (Berger)

29.

Sichtbare und unsichtbare Säkularisierung (Luckmann)

30.

Destruktion und Apologetik (Blumenberg)

31.

Gegen einen Mythos einen Mythos (Blumenberg)

32.

Nachleben einer Figur

Dank

Literatur

Was bedeutet ›Säkularisierung‹?

Seit einem Vierteljahrhundert ist die Aufmerksamkeit für Religion im öffentlichen Diskurs massiv gewachsen. In den 1990er Jahren mehrten sich die Hinweise, das kulturelle und oft religiöse Konflikte das Erbe das Kalten Krieges antreten würden: In Afrika und Asien kam es vermehrt zu Auseinandersetzungen zwischen säkularen Nationalstaaten, dem globalen Neoliberalismus und religiösen Fundamentalismen, und auch im ›Westen‹ spitzten sich ähnliche Auseinandersetzungen zu, etwa in den »Culture Wars«, die die amerikanische Öffentlichkeit in den 1990er Jahren beschäftigten und die explizit als quasi religiöser Kampf, als »war for the soul of America« geführt wurden.1 Der Clash of Civilizations, den Samuel Huntington 1993 drohend prognostizierte, betraf also keineswegs nur die Konflikte zwischen verschiedenen ›Kulturkreisen‹, sondern auch innere Auseinandersetzungen, was eigentlich die Moderne sei und wie sie sich zur Religion verhalte. Dabei wurde Religion auch intellektuell in den 90er Jahren wieder interessant. Nachdem sie in den in den 60er und 70er Jahren weitgehend aus der philosophischen Debatte verschwunden war, sprach man nun von einem Tournant Théologique im Denken von Emanuel Lévinas, Paul Ricœur oder Jean-Luc Marion oder allgemeiner von Philosophy’s Turn to Religion.2 Die genannten Philosophen dachten Religion nicht mehr einfach als das ›Andere‹ der europäischen Moderne und entdeckten in theologischen Fragen und Konzepten Neues und Aufregenderes als eine überholte Metaphysik. Auch außerhalb der Philosophie erwachte seit den späten 80er Jahren ein vermehrtes Interesse für Religiöses, etwa für das »Heilige« in der Moderne, für die religiöse Begründung des »kulturellen Gedächtnisses« oder den Zusammenhang von Bilderkult und bildender Kunst.3 Solche Untersuchungen waren nicht nur von großer Bedeutung für die Herausbildung der Kulturwissenschaften in den 1990er Jahren, sondern führten im neuen Jahrtausend auch zu einer lebhaften bis in das deutsche Feuilleton reichenden Debatte über das Gewaltpotential des Monotheismus.4

Auffällig war, dass diesen Debatten nicht nur von Religionswissenschaftlern und Theologen geführt wurden, sondern quer zu den Disziplinen und eingespielten Diskursen verliefen. Dementsprechend war oft auch schwer zu bestimmen, worum es bei dieser »Rückkehr der Religion« in die öffentliche Debatte eigentlich ging – und zwar umso mehr, als zeitgleich das Konzept der Religion immer problematischer wurde. Ähnlich wie die Ethnologie entdeckte auch die Religionswissenschaft in den 1990er Jahren, dass die Kategorie ›Religion‹ von problematischen christlichen, westlichen, oft missionarischen und kolonialen Vorannahmen abhängig war und nicht mehr naiv verwendet werden könne.5 Es ist nicht ohne Ironie – und wie sich zeigen wird: nicht ohne Logik –, dass in der Öffentlichkeit und der akademischen Welt wieder breit über Religion gesprochen wurde, während die Experten sich in Begriffsdiskussionen verwickelten und über den »Verlust des Gegenstands« klagten.

Die Anschläge vom 11. September 2001 stellten auch hier eine Zäsur dar. Die Motivation der Attentäter, die Situierung des Angriffs im symbolischen Zentrum des Westens und ihre medial-ikonische Qualität, aber auch die unmittelbare Reaktion: die Ankündigung von ›Vergeltung‹ oder gar die Rede von einem ›Kreuzzug‹ schienen die düsteren Prophezeiungen der 90er Jahre zu bestätigen, wenn nicht zu übertreffen. Religion war von nun an ein dringliches Thema, ohne das man jene Zäsur und die mit ihr gesetzte Epoche nicht würde verstehen können: War das eine Wiederkehr der Religion oder ein letztes Nachhutgefecht, brach nun ein Zeitalter des Fundamentalismus heran oder eine ›postsäkulare‹ Gegenwart?

Für die deutsche Diskussion erwies sich dabei Jürgen Habermas’ unmittelbar unter dem Eindruck der Anschläge gehaltene Paulskirchenrede als zentral. Mit großer Vorsicht vermied Habermas die Frontenbildung, betonte, dass auch der islamische Fundamentalismus ein genuin modernes Phänomen sei und dass die Ereignisse dazu führen sollten, das Verhältnis des Westens zur Religion kritisch zu hinterfragen: »Wer einen Krieg der Kulturen vermeiden will, muss sich die unabgeschlossene Dialektik des eigenen abendländischen Säkularisierungsprozesses in Erinnerung rufen.«6 Denn auch der Westen sei keinesfalls durch und durch säkular und sollte auch nicht diesen Anspruch erheben, vielmehr sollten »unsere postsäkularen Gesellschaften« sich auf das Fortbestehen der Religionen einstellen; daher müsse die säkulare Mehrheit die Religionen in der Öffentlichkeit zu Wort kommen lassen, ihnen gegenüber »lernbereit« bleiben und von ihren semantischen Reserven profitieren: »Eine Säkularisierung, die nicht vernichtet, vollzieht sich im Modus der Übersetzung.«7 Habermas illustriert das am Beispiel der Gentechnik, wo auch in säkularen Diskussionen religiöse Argumente bedeutsam sein können: Die Rede von der Gottesebenbildlichkeit in Genesis 1,27 drücke eine »Intuition« aus, »die in unserem Zusammenhang auch dem religiös Unmusikalischen, zu denen ich mich rechne, etwas sagen kann«.8 Gemeint ist die Einsicht, dass die Freiheit des Menschen auf der Differenz zwischen Geschöpf und Schöpfer beruhe, auf einer Differenz also, deren Einebnung durch die Gentechnik immerhin latent möglich sei. Habermas ›übersetzt‹ also den Satz, indem er ihn aus dem theologischen Kontext löst, denn »man muss nicht an die theologischen Prämissen glauben, um die Konsequenzen zu verstehen«.9

Habermas Vorschlag zur Güte verband sehr verschiedene Dinge zu einem Argumentationszusammenhang: Er sprach vom »Säkularen« und »Postsäkularen« im Rahmen einer Zustandsbeschreibung moderner Gesellschaften, von der »Säkularisierung« als einem unabgeschlossenen historischen Prozess, und schließlich von der »Säkularisierung« als Übersetzung im Sinne einer zu leistenden Aufgabe. Der Ausdruck »Säkularisierung« mit seinen charakteristischen Mehrdeutigkeiten – er steht für Prozess und Aufgabe, historische und hermeneutische Kategorie – diente dabei insgesamt dazu, eben jene sich gerade konstituierende Frontstellung zwischen ›dem Westen‹ und ›der Religion‹ zu entschärfen und gerade nicht als großen Gegensatz zu formulieren. Mit ›Säkularisierung‹, so die Annahme, kann man eher Beziehungen denken als Gräben vertiefen.

Tatsächlich kam es mit der ›Wiederkehr der Religion‹ auch zu einer Wiederkehr der ›Säkularisierung‹. Die Rede von der Wiederkehr der Religion impliziert ja, dass sie einmal verschwunden oder doch verborgen war; ein postsäkulares Zeitalter liegt irgendwie ›nach‹ einem ›säkularen‹ und setzt somit voraus, dass es einmal eine Säkularisierung gegeben hat. Dass moderne Gesellschaften Resultat einer »Säkularisierung«, einer Zurückdrängung oder eines Bedeutungsverlustes von Religionen seien, war lange ein Teil des Selbstverständnisses der Moderne gewesen, ausgeführt etwa in der soziologischen Modernisierungstheorie (s.u. Kapitel 28), dort allerdings auch schon als »Bestandteil einer Mythologie moderner Gesellschaften« kritisiert: eher als Phantasie denn als Faktum.10 Umstritten oder nicht, Säkularisierung wurde in den 70er und 80er Jahren so selbstverständlich, dass kaum jemand darüber sprach – bis auch dieser Ausdruck Ende der 90er Jahre zurückkehrte und neu debattiert wurde.11

Wenn also Religion heute eine so unscharfe Kategorie ist, und wenn diese Unschärfe oft mit der Frage nach der Säkularisierung verbunden ist, dann liegt es nahe, zu fragen, wie ›Säkularisierung‹ in diesem Zusammenhang funktioniert hat und funktioniert und was der Ausdruck jeweils leistet. Er scheint wichtig für unser modernes Selbstverständnis zu sein und verspricht darüber hinaus, so jedenfalls die Hoffnung von Habermas, eine Brücke, eine mögliche Übersetzung zwischen Religion und Nicht-Religion. Dass eine solche Übersetzung ihre eigenen Tücken hat, macht Habermas dann allerdings auch schon deutlich, wenn er mit einem Ruck vom (deutsch zitierten) Bibeltext zur Diskursethik springt und sich der Leser fragt, ob hier wirklich etwas von der Religion gelernt – und nicht einfach: geraubt – wird.

1.Vier Entwürfe (Taylor, Agamben, Asad, Habermas)

Die Wiederkehr der Rede von der Säkularisierung in den öffentlichen Diskurs hat den Ausdruck nicht präziser gemacht haben – eher im Gegenteil. Je mehr in den letzten Jahrzehnten über Säkularisierung gesprochen wurde, desto unübersichtlicher wurden die Diskussionen. Denn nicht nur war man sich uneinig, wie man Säkularisierung eigentlich beschreiben könne, woran man sie festmache, seit wann es sie gebe und wie und von wem sie zu bewerten sei. Der Ausdruck wird auch in ganz verschiedenen Grammatiken verwendet, wie sich das schon bei Habermas abzeichnet – als Prozess, Resultat, Aufgabe etc. –, deren Differenzen in der Diskussion oft vergessen werden. Man redet leicht aneinander vorbei, man ist sich zwar einig, dass ›die Frage der Säkularisierung‹ wichtig ist – aber jeder versteht darunter etwas anderes.

Wie unübersichtlich heute die Diskussion ist, kann man an vier wichtigen Entwürfen veranschaulichen, die alle neu und alle anders von Säkularisierung reden. Der kanadische Philosoph Charles Taylor denkt im 2007 erschienenen A Secular Age darüber nach, was es eigentlich bedeutet, in einer ›säkularen‹ Welt zu leben und warum wir diese Frage selten stellen. Letzteres liege wohl an der »Subtraktionserzählung«, die unser Verständnis der Moderne bestimme; nach ihr war die Religion nur ein Firnis des falschen Bewusstseins, nach dessen Abtragung die Wirklichkeit als solche sichtbar geworden sei. Gegen dieses Selbstbild betont Taylor, dass sich zwar in der Moderne die »Bedingungen der Gläubigkeit« radikal gewandelt haben – weil heute ein religiöses Welt- und Selbstverständnis eher die Ausnahme als die Regel sei –, dass Religion aber trotzdem fortbestehe und vor allem auch Spuren hinterlassen habe, ohne die man die Gegenwart nicht verstehen könne: »Unsere westlichen Gesellschaften werden in historischer Hinsicht für immer christlich geprägt bleiben.«12 Taylor erzählt daher auf vielen hundert Seiten die Geschichte nach, wie schon im Mittelalter religiöse Reformen Ideen wie etwa die der ›Subjektivität‹ und der ›Innerlichkeit‹ entworfen haben, die uns heute säkular erscheinen, die aber in ihrer gegenwärtigen Form erst in mehreren Schritten aus jenen religiösen Reformen hervorgegangen seien. Taylor spricht also über Säkularisierung als Transformationsgeschichte, ohne freilich den Ausdruck zu explizieren oder Bezug auf die umfänglichen Diskussionen darüber zu nehmen – so zentrale Autoren wie Max Weber, Ernst Troeltsch und Karl Löwith kommen auf den gut tausend Seiten nicht vor. Sein Entwurf zeigt, wie produktiv die Frage nach einer christlichen Prägung sein kann – zugleich zeigt er aber die Gefahr einer ›großen Erzählung‹, die sich allzu sehr auf den Schwung ihrer ein Jahrtausend umfassenden Geschichte verlässt und sich bezeichnenderweise auch nur für das Christentum interessiert.

Auch der italienische Philosoph Giorgio Agamben fragt in seinem seit 1995 erscheinenden Homo Sacer-Projekt nach religiösen Vorgeschichten, mit denen er etwa zeigen will, dass die moderne Vorstellung staatlicher Souveränität auf Ideen von göttlicher Allmacht zurückgehe – allerdings ist sein Unternehmen in Gehalt und Orientierung dem von Taylor fast entgegengesetzt.13 Denn zum einen geht es ihm weniger um die Werte liberaler Gesellschaften, sondern um die hinter ihnen stehenden Machtstrukturen: auch die modernen liberalen Gesellschaften funktionierten im letzten durch Exklusion etwa von Staatenlosen oder Flüchtlingen, die auf das Muster archaischer Opferrituale zurückgingen. Zum anderen ist für ihn die ›Säkularisierung‹ weniger eine Transformation als eine Verbergung: »eine Form von Verdrängung, welche die Kräfte weiterwirken läßt und sich auf deren Verschiebung von einem Ort zum andern beschränkt. So macht die politische Säkularisierung theologischer Begriffe (die Transzendenz Gottes als souveräne Macht) nichts anderes, als die himmlische Monarchie auf die Erde zu versetzen, läßt deren Macht aber unangetastet.«14 Agambens »theologische Genealogie« betont dabei immer wieder, dass auch moderne politische Ordnungen letztlich ›grundlos‹ seien, das heißt auf Voraussetzungen beruhen, die sie selbst nicht ausweisen können – allerdings geschieht das ironischerweise in einem orakelnden Ton der Grundsätzlichkeit und Grundlegung, der alle Züge des Dogmatismus trägt.15 Wie wir noch sehen werden (s.u. Kapitel 15), zeigt die ›Politische Theologie‹, der Agamben hier folgt, wie fruchtbar das Selbstbild der säkularen und liberalen Gesellschaft von der Religion aus kritisiert werden kann – dass das aber zugleich leicht in einem hochgradig idiosynkratischen Diskurs geschieht, der zwischen Theologie, Metaphysik und Politik changiert.

Auch der Ethnologe und Religionswissenschaftler Talal Asad geht in seinem 2003 erschienenen Projekt einer »Ethnologie des Säkularen« von der Gegenwart aus; er untersucht die Implikationen und die Geschichte des ›Säkularismus‹, also der Ansicht, dass Privatisierung der Religion und der religiöse Pluralismus grundlegend für die Moderne seien und daher auch global eingefordert werden müssten.16 Diskussionen über die ›Universalität‹ solcher Menschenrechte werden allerdings, so Asad, oft in einem asymmetrischen und postkolonialen Kontext geführt, wobei die Forderung des Säkularismus die Hegemonie des ›Westens‹ zugleich voraussetze und bestätige. Schon die Vorstellung einer (privaten, innerlichen) Religion sei tief durch westliche, christliche und protestantische Vorannahmen geprägt, und ein Blick auf die »Genealogie des Säkularismus« zeige, dass das moderne Selbstbild des Westens immer schon auf einen ›abergläubischen‹ Anderen angewiesen war, den es zu bekehren, zu zivilisieren oder zu säkularisieren aufgerufen sei. Der aktuelle Konflikt mit ›dem Islam‹ folge diesem Muster und sei letztlich auch durch eine innere Krise des Westens zu erklären: Wo die spätmoderne Beschleunigung es dem Einzelnen immer schwerer mache, sich als kohärentes, autonomes Individuum wahrzunehmen, werde dieser Anspruch nach außen umso vehementer in humanitären Interventionen vorgetragen. Asads Unternehmen macht deutlich, dass das moderne Selbstbild wesentlich durch Fremdprojektionen bestimmt ist und die Rede von Säkularisierung auch dazu dient, »Deutungsmacht« über den anderen zu gewinnen – auch wenn Asad selbst nur selten von Säkularisierung spricht, die religiöse Geschichte des ›Westens‹ weitgehend ignoriert und daher ›das‹ westliche Konzept der Religion als viel zu homogen darstellt.

Schließlich hat auch Jürgen Habermas die in der Paulskirchenrede gegebenen Stichworte von der »postsäkularen« Gegenwart und der »unabgeschlossenen Dialektik des abendländischen Säkularisierungsprozesses« zu einem historischen Entwurf entwickelt, der denjenigen Taylors an historischer Reichweite wie an Umfang noch übertrifft: Auch eine Geschichte der Philosophie, 2019 erschienen, wiederholt den Anspruch, »dass die Philosophie in Ihrem Verhältnis zur religiösen Überlieferung ihr säkularistisches Selbstverständnis überprüfen muss«, begnügt sich aber nicht mit der isolierten Übersetzung einzelner religiöser Gehalte, sondern will die Entwicklung des Verhältnisses von Glauben und Wissen in der »okzidentalen Tradition« immerhin seit der »Achsenzeit« rekonstruieren.17 Auch Habermas fragt von der Gegenwart aus, von der aktuellen Paradigmenkonkurrenz von naturalistischem und transzendentalen Ansätzen in der nachmetaphysischen Philosophie. Auch Habermas bezeichnet sein Projekt als »Genealogie«, aber anders als etwa bei Agamben soll diese Genealogie nicht subversiv oder kritisch sein, sondern schlicht die Frage stellen, »ob die Philosophie aus der begrifflichen Osmose ihrer Verschwisterung mit der Theologie ein Erbe geltend machen kann, das über die Schwelle der methodischen Trennung von Glauben und Wissen hinaus zählt«, ob sich also »eine Fortsetzung dieses Diskurses im Hinblick auf die Übersetzung möglicher unausgeschöpfter Wahrheitsgehalte religiöser Überlieferung empfiehlt«.18 Habermas will die moderne Philosophie weniger in Frage stellen als erweitern, indem er die semantischen und gedanklichen Reserven nutzbar macht, die innerhalb der religiösen Überlieferung vor allem im performativen Modus des Rituals entwickelt worden sind. Ähnlich wie Taylor zeigt Habermas, dass auch der »Westen« eine komplexere religiöse Geschichte hat als es das säkularistische Selbstverständnis annimmt und dass es in dieser Geschichte nicht nur um kognitive Ansprüche, sondern auch um normative Fragen geht – allerdings wird auch hier die Neigung zu einer sehr weiträumigen Geschichte deutlich, zumal sich hinter der zentralen Metapher des ›Lernens‹, wie schon hinter der Rede von der ›Übersetzung‹, sehr Verschiedenes verbergen kann: von der schlichten Ausbeutung der religiösen Überlieferung durch die Philosophie zu ihrer produktiven Irritation und Befremdung.

Diese vier Entwürfe und die an sie anschließenden breiten Diskussionen zeigen, dass man aus der Frage nach der Säkularisierung und dem Säkularen weitreichende Forschungsprogramme entwickeln kann – die sich freilich radikal unterscheiden. Geht es eher um lange historische Ableitungen oder um aktuelle Analysen, eher um einen Weg zur Moderne oder um ihre radikale Kritik, um eine westliche, vielleicht sogar christliche Konstruktion oder um globale Fragen? Zwar ist man sich heute leicht einig, dass die ›übliche‹, ›lineare‹ oder ›einfache‹ Vorstellung der Säkularisierung unzureichend ist – also das, was Taylor treffend als ›Subtraktionserzählung‹ beschreibt –, aber das verdeckt nur, dass man weit auseinandergeht, wenn es darum geht, was an deren Stelle treten soll.

2.Drei Kritiken (Lübbe, Blumenberg, Koschorke)

Die Unübersichtlichkeit der Diskussion legt es nahe, die Ebenen zu wechseln und ›Säkularisierung‹ nicht einfach zu benutzen, sondern selbst zum Gegenstand der Analyse zu machen. Das ist an sich nicht neu: Schon in den 60er und 70er Jahren gab es sehr umfassende und elaborierte Diskussionen über ›Säkularisierung‹, kaum ein Konzept ist einer so intensiven Erforschung und Kritik unterzogen worden. So ist etwa die Begriffsgeschichte des Wortes wiederholt und in größter Ausführlichkeit untersucht worden: Das Wort hatte zunächst eine innerreligiöse, kirchenrechtliche Bedeutung – den Übergang von einem Ordensgeistlichen zum Weltgeistlichen –, es bezeichnete in der Frühen Neuzeit den Übergang von geistlichem Besitz in weltliche Herrschaft; ab Mitte des 19. Jahrhunderts wird es sowohl zur programmatischen Forderung der ›Trennung von Kirche und Staat‹ als auch zur Parole einer kulturprotestantischen Vorstellung der Verschmelzung des Christentums mit der Gesellschaft.19 An drei wichtigen Ansätzen, die diese begriffsgeschichtlichen Forschungen aufnehmen und jeweils methodisch anders fortführen, lässt sich zeigen, wie sie jeweils charakteristische Züge der Rede von ›Säkularisierung‹ sichtbar machen – aber auch andere verdecken.

Der Philosoph Hermann Lübbe hat schon 1965 in einer inzwischen klassischen Darstellung den »ideenpolitischen« Gehalt des Begriffes ›Säkularisierung‹ nachgezeichnet, der Ende des 19. Jahrhunderts zum Gegentand eines »Geisteskampfs« geworden sei und erst aus dieser Auseinandersetzung verstanden werden könne.20 Denn auch wenn das Wort weiter zurückreiche, gewinne der Begriff seine Zugkraft erst dann, wenn »die moderne Kultur einerseits und ihre christliche Herkunft und Vergangenheit andererseits als gegenwärtig sich ausschließende, miteinander kämpfende Gegensätze erfahren werden«.21 In Deutschland sei das Ende des 19. Jahrhunderts zunächst kulturpolitisch geschehen, etwa im Kampf um ›säkulare‹ Bildung; im Anschluss habe der Begriff seine klare Wertung verloren und sei bei Max Weber und Ernst Troeltsch zu einer »deskriptiven Prozess-Kategorie« geworden. Die ambivalente Bewertung der Säkularisierung bei diesen Theoretikern sei dabei die »Spiegelung eines ambivalent gewordenen Verhältnisses zur modernen ›säkularisierten‹ Welt«, welches das Bildungsbürgertum am Anfang des 20. Jahrhunderts präge.22 Sowohl diese Ambivalenz wie jene diskurspolitische Aufladung wird sich immer wieder als entscheidend für die Rede von ›Säkularisierung‹ erweisen – allerdings betreffen beide nicht nur die von Lübbe betonte Bewertung der Moderne, sondern auch viel allgemeiner die Möglichkeit, überhaupt von der Moderne zu sprechen, die um 1900 alles andere als selbstverständlich ist.

Auch der Philosoph Hans Blumenberg hat sowohl die Vieldeutigkeit wie auch die Tendenz des Konzepts scharf kritisiert und zu der wohl umfänglichsten Diskussion der Säkularisierung in der zuerst 1965 erschienen Legitimität der Neuzeit ausgearbeitet. Die Rede von der Säkularisierung sei nicht nur metaphorisch – weil die bestimmte Bedeutung des Rechtsaktes auf ganz allgemeine Prozesse übertragen werde –, sondern auch zweideutig – weil sie sowohl im »quantitativ-deskriptiven Gebrauch« den allgemeinen Bedeutungsverlust der Religion bezeichne als auch die Verwandlung ursprünglich religiöser Elemente in andere beschreibe. Es sei aber ein grammatischer Unterschied, ob ›etwas sich säkularisiert‹ (etwa: die Religion an Bedeutung verliert) oder ›etwas zu etwas säkularisiert wird‹ (etwa: göttliche Allmacht zu politischer wird).23 Besonders die zweite, »transitive« Verwendung behaupte »so etwas wie einen Weltenwechsel, eine radikale Diskontinuität der Zugehörigkeiten bei gleichzeitiger Identität« und beruhe daher letztlich auf einer »Substanzmetaphysik«, die analytisch unhaltbar sei: »Nur wo die Kategorie der Substanz das Geschichtsverständnis beherrscht, gibt es Wiederholungen, Überlagerungen und Dissoziationen, aber auch Verkleidungen und Enthüllungen.«24 Zugleich sei sie inhärent polemisch oder, in Blumenbergs Worten, eine »Kategorie historischer Illegitimität« bzw. des »geschichtlichen Unrechts«, weil sie der Neuzeit Selbständigkeit abspreche und sie letztlich als eine Art Abfall von einem reinen Ursprung darstelle.25

Blumenbergs ausgesprochen detaillierte Kritik, auf die noch näher einzugehen ist (s.u. Kapitel 30), zeigt, dass die Rede von der Säkularisierung in der Tat oft problematische methodische und auch kulturkritische Implikationen hat. Allerdings überrascht es, dass der Metaphorologe Blumenberg, der bei anderen Gelegenheiten immer wieder betont, wie zentral und unabdingbar Metaphern für das Denken sind, ausgerechnet der Rede von der Säkularisierung keinen eigenen Wert zuspricht. Läge es nicht mit Blumenberg näher, ›Säkularisierung‹ als so etwas wie eine ›absolute Metapher‹ zu verstehen, bei der es kaum möglich ist, das von ihr Ausgedrückte unmetaphorisch zu sagen? Solche Metaphern stehen für Vorstellungen, die uns beherrschen, derer wir uns aber auch bedienen, um uns zu orientieren, wo Begriffe nicht zur Verfügung stehen. Sie sind in der Regel nicht starr, sondern variieren; sie verwandeln sich leicht in Geschichten über die Wirklichkeit, zu Mythen, die dann – wieder mit Blumenberg gedacht – ihrerseits zum Gegenstand konstanter Bearbeitung werden.26 ›Säkularisierung‹ wäre aus dieser Perspektive weniger ein Konzept als eine Denkfigur oder ein Mythos: Sie wird fortgesponnen, ergänzt, neu gedeutet oder umerzählt und hat daher keine einfache oder ›letztliche‹ Bedeutung mehr – auch nicht die der Delegitimierung der Moderne –, sondern macht die Welt und insbesondere die moderne Welt auf unbegriffliche Weise zugänglich.

Schließlich hat jüngst Alfred Koschorke das »Theorem der Säkularisierung« nicht als Begriff, sondern als Erzählung interpretiert: Es verdanke seine Evidenz der »Eigenlogik kultureller Erzählungen«, die auch dort, wo nicht explizit von Säkularisierung die Rede sei, »in einer grammatikalisch miniaturisierten, dadurch fast unkenntlich gemachten Schwundform fortwirkt«, weil wir eben immer noch davon reden, dass etwas ›noch‹ oder ›wieder‹ religiös oder ›schon‹ modern sei.27 Als Erzählung könne Säkularisierung nicht nur in der Deutung (Gewinn oder Verlust?) offen bleiben, sondern sogar ihr Anderes formatieren: »Sie gesteht dem Religiösen durchaus einen Ort zu, nur eben nicht im Zentrum des Fortschritts, sondern an seiner entweder zeitlich überwundenen oder räumlich zurückgebliebenen Peripherie.«28 Gerade daher bleiben wir im Bann der Geschichte von der Säkularisierung gefangen – aber nicht mehr lange. Denn gut hegelianisch deutet für Koschorke die Lesbarkeit dieser Geschichte bereits ihr Ende an (»Wenn wissenschaftliche Wahrheiten an das Ende ihrer historischen Laufzeit genlangen, werden sie als narrative Konstruktionen entzifferbar«); das aktuelle Interesse sei daher nur ein »Übergang« zwischen der Selbstverständlichkeit der Säkularisierung und ihrer kommenden Bewertung als »bloßes Phantasiespiel ohne Verwurzelung in der Empirie«.29 Wie bei Blumenberg geht es also auch hier darum, das Theorem ›zu Ende zu bringen‹, die Säkularisierung endlich zu säkularisieren – freilich in einer erheblich reduzierten Form. Denn Koschorke versteht Säkularisierung ausschließlich als Schwund der Religion; was Blumenberg den »transitiven« Gebrauch nannte – also die Übertragung vom Religiösen ins Säkulare, etwa die Verwandlung göttlicher in staatliche Allmacht – spielt in seiner Analyse keine Rolle. Das vereinfacht nicht nur die Komplexität und Dynamik der Rede von Säkularisierung, sondern wiederholt eigenartigerweise das, was eigentlich beschrieben werden sollte: Auch für seine Lektüre ist die Religion das je schon überwundene.

Diese und viele andere Kritiken zeigen das komplexe epistemische, ideologische und rhetorische Profil von ›Säkularisierung‹, auch wenn weder Lübbes Befriedungsversuch, noch Blumenbergs Radikalpolemik, noch Koschorkes Verabschiedung wirklich erklären können, warum der Ausdruck heute immer noch wichtig ist. Die Vermutung liegt nahe, dass die Kritiker zu festgelegt sind, dass sie zu früh schon zu wissen glauben, was Säkularisierung ›eigentlich‹ bedeutet, wenn sie den einen Sinn des Ausdrucks beschreiben oder sich ganz selbstverständlich nur auf einen Teil seiner Bedeutung einlassen. Vielleicht ist gerade die Streuung und Breite des Ausdrucks wichtig, vielleicht muss man verschiedene, auch extreme Formen der Rede von der Säkularisierung untersuchen. Vielleicht fragen die Kritiker auch auf der falschen Ebene? Sicherlich ist ›Säkularisierung‹ ein politisches Schlagwort (Lübbe), ein geschichtsphilosophisches Programm (Blumenberg) und ein Narrativ (Koschorke), aber vielleicht ist es auch mehr: eine Denkfigur, ein komplexes und vielgestaltiges Deutungsmuster, ein Forschungsprogramm, eine Metapher, ein Mythos. Vielleicht ist es vor allem die Verbindung verschiedener Bedeutungsmomente und Möglichkeiten – transitiver und intransitiver, kritischer und affirmativer, narrativer und rhetorischer, solche der Identität und der Differenz –, die den Begriff so interessant machen. Vielleicht folgt ›Säkularisierung‹ nicht einer Grammatik, nicht einer intransitiven oder transitiven, nicht einer politischen, nicht einer narrativen, sondern verbindet verschiedene und heterogene. Vielleicht ist es weniger eine Grammatik als ein Sprachspiel, das man nicht so einfach beherrschen kann, sondern das man etwas üben muss, bevor man es versteht?

3.Rhetorik und Genealogie (Zum Vorgehen)

Was bedeutet es, von der Rhetorik der Säkularisierung zu sprechen? Es bedeutet zunächst, weniger ein Konzept oder einen Begriff zu untersuchen, sondern eine Form der Rede, deren Evidenz indirekter, weniger strikt, aber auch umfassender und vielleicht sogar komplexer ist als die des Begriffs. Rhetorik macht etwas wahrscheinlich, sie überzeugt oder überredet, sie veranschaulicht und gibt Orientierung im Vorbegrifflichen. Denn sie wird da wichtig, wo das Begriffliche an seine Grenzen kommt: nicht nur wo es um ›letzte Fragen‹, um Grenzen des Wissens, um das Spezifische des Besonderen, das ineffabile des Individuums geht – früher hätte man gesagt: im Existentiellen. Rhetorik ist auch dort notwendig, wo sich ganz verschiedene Ansichten gegenüberstehen, die keinen gemeinsamen Boden zum Argumentieren finden, sich aber trotzdem irgendwie verständigen müssen. Man kann das in der anthropologischen Ausstattung des Menschen begründet sehen, der immer mehr will, als er kann, man kann das auch an der besonderen Dynamik der Moderne festmachen, deren Ausdifferenzierung zugleich immer mehr Vermittlungs- und Übertragungsleistungen verlangen. Rhetorik gibt Orientierung, sie erfindet Namen für das Unbenennbare und kann daher auch das ansprechen, was aus Differenzierungsprozessen herausfällt.

Dass gerade ›Säkularisierung‹ rhetorisch so aufgeladen ist, dürfte viele Gründe haben. Religionen waren immer schon groß in solcher Rhetorik, denn sie müssen ihren Gegenstand indirekt beschreiben, sie sprechen symbolisch und verlassen sich mehr auf Bilder, Mythen und Rituale als auf Begriffe.30 Religion wird im Rahmen der Moderne aber auch zunehmend als das Andere der Moderne gedacht, also als das, was aus dem Wissbaren und begrifflich Bestimmbaren herausfällt: sie wird zur ›bloßen‹ Projektion, zur Vorgeschichte, zum Rest, der gar nicht mehr direkt beschrieben werden kann und durch das Netz der Diskurse fällt – und gerade darum indirekt, rhetorisch adressiert wird, etwa indem man von ›säkularisierter Religion‹ spricht oder das, was die Religion wörtlich meint für metaphorisch hält und umgekehrt.

Metapher und Erzählung gehören zu den Kernbereichen einer solchen Rhetorik. Säkularisierung hat zu beiden enge Beziehungen, sie hat mit ›Übertragung‹ zu tun, und sie tritt oft als Form einer großen Erzählung auf. Aber sie beschränkt sich nicht auf diese Formen, weil es eben auch andere Figuren und andere Verfahren gibt, die der Rede von der Säkularisierung Kontur geben. Wie sich zeigen wird, führt schon die Verbindung von Metapher und Erzählung zu komplizierten Aussagen, in denen sich etwas in etwas anderes verwandelt, dem es ähnelt und auch wieder nicht. Und es sind nicht nur Figuren der Ähnlichkeit am Werk, auch der Unterschied wird sich als zentral erweisen. Man kann von Religion auch als Kontrast zur Gegenwart erzählen und man kann zu komplexeren Figuren wie der Allegorie oder dem »dualen Zeichen« greifen, das gleichzeitig auf verschiedene – religiöse und profane – Semantiken verweist. Differenz kann in bestimmten Momenten sogar entscheidend sein: Man könnte vermuten, dass Religion in der Moderne gerade darum rhetorisch so fruchtbar ist, weil sie auch mithilfe radikaler Differenzen beschreibt und selbst beschrieben werden kann – ›Welt und Ewigkeit‹, ›Aberglaube und Aufklärung‹. Immer schon fiel der Religion die Aufgabe zu, von Alterität zu sprechen, und im modernen Diskurs, in dem sich alles irgendwie ähnlich ist, ist das offensichtlich eine interessante Option.

Auch die narrative Dimension der Säkularisierung ist ähnlich komplex und verlangt nach einer differenzierten Analyse. Für ihre Kritiker ist die ›große Erzählung‹ der Säkularisierung zu ›einfach‹, zu ›linear‹ – aber Erzählungen müssen ja nicht geradlinig und kontinuierlich sein, und auch die Geschichten der Säkularisierung sind es oft nicht. Sie können eine komplexe Dramatik beinhalten; mehrere Schübe und Anläufe, auch Rückschläge und Gegenentwicklungen; sie können in verschiedene Richtungen gelesen werden: von der Vergangenheit in die Gegenwart oder aus der Gegenwart in die Vergangenheit. Vor allem darf man die Frage nach der Erzählung nicht auf das Erzählte beschränken, auf die Story, man muss auch die Narration, also den Akt und die Instanzen des Erzählens verstehen. Denn in der Rede von der Säkularisierung geht es nicht nur um eine große Geschichte, sondern immer auch um diejenigen, die uns diese Geschichte erzählen. Säkularisierung ist immer auch eine Selbsterzählung, eine Erzählung der eigenen Geschichte, dann kommen wir schnell in eine Situation, in der wir nicht nur den Sumpf – das ›finstere Mittelalter‹ – miterzählen, aus dem wir befreit worden sind, sondern in der wir uns auch gleich selbst aus ihm herausziehen müssen.

Diese Frage nach dem Standpunkt ist zugleich entscheidend für den Streitwert des Begriffs. Gerade wenn sich in der Rede von der Säkularisierung Objekt- und Metasprache nicht immer klar auseinanderhalten lassen, verschärft sich die Frage, wer hier eigentlich sprechen darf und kann: Der Philosoph, der Soziologe, der Religionswissenschaftler, der Theologe? Ein Streit, der sich leicht fortsetzt: Gehört es nicht zum Anspruch der Religion, dass man sich ihr gegenüber nicht neutral verhalten könne? Oder ist gerade dieser Anspruch eine Zumutung für die säkulare Diskussion und muss aus ihr ausgeschlossen werden? Über Säkularisierung zu diskutieren heißt meist zugleich, die Bedingungen einer solcher Diskussion mitzudiskutieren – und wieder muss eine solche Diskussion über das Vorbegriffliche, Vorausgesetzte, auf rhetorischen Mittel zurückgreifen, um nicht zirkulär oder tautologisch zu werden.

All diese Verwicklungen zeigen, dass die Rede von der Säkularisierung problematisch bleibt, weil der Ausdruck überdeterminiert und umstritten ist und wohl auch bleiben muss. Aber sie zeigen auch, dass ›Säkularisierung‹ vermutlich unvermeidlich ist. Würde man den Ausdruck verabschieden, so hätte das wahrscheinlich den Effekt, dass man gar nicht mehr über das Religiöse sprechen würde oder dieses nur aus einer ›neutralen‹ Distanz beobachten könnte, die immer schon weiß, worum es sich hier handelt. Gerade weil Säkularisierung ein Streitwort war und ist, ist es der Sache angemessen; gerade, weil der Ausdruck Religiöses und Modernes verbindet, ist er wichtig, um den Zusammenhang von Religion und Moderne zu verstehen, gerade weil die Rede von der Säkularisierung so überdeterminiert und vielfältig ist, ist sie auch potentiell fruchtbar.

Von der Rhetorik der Säkularisierung zu sprechen gibt aber nicht nur einen ersten Vorbegriff dessen, worum es im Folgenden gehen soll. Es legt auch ein methodisches Vorgehen an die Hand: Verstehen wir Säkularisierung als eine komplexe Redeweise, die sich aus verschiedenen Figuren speist und kaum auf eine einzelne von ihnen zurückzuführen ist, so muss man diese Redeweise mittels genauer Lektüren beschreiben. Oft wird man sich dabei an solche Texte wenden, in denen diese Figuren entwickelt, entfaltet und mit anderen Diskursen verbunden werden: die Texte der Diskursbegründer etwa der Soziologie der Säkularisierung oder der Politischen Theologie werden sich dabei als besonders geeignet erweisen. Um die figurativen Hintergründe und Implikationen solcher Texte zu verstehen, muss man gewissermaßen Probebohrungen vornehmen: Lektüren, die über oberflächliche Evidenzen und explizite Intentionen hinaus fragen und die figurativen Hintergründe, narrativen Dynamiken und rhetorischen Operationen herausarbeiten, die das Sprachspiel ›Säkularisierung‹ ermöglichen. Nur radikalen Lektüren, die den Wendungen und Windungen solcher Verfahren folgen und sie nicht vorschnell harmonisieren oder auf den Begriff bringen, erschließt sich diese Rhetorik, die eben nicht denunziert, sondern verstanden, und das heißt: gelesen werden will. Zum Teil, an besonders emphatischen Stellen, beschäftigen sich die Texte dann auch mit sich selbst, mit ihrer eigenen Lesbarkeit und können poetologisch gelesen werden, weil sie nicht nur Unbestimmtes zum Ausdruck bringen, sondern Unbestimmtheit selbst zum Thema machen.

Allerdings ist die Dichte solcher Texte nicht die Regel und Komplexität nicht die einzige Antriebskraft der Rhetorik der Säkularisierung. Denkfiguren können auch anders existieren, diffuser, verstreuter und einfacher, sie ziehen ihre Evidenz nicht nur aus der Komplexität, sondern auch aus dem präganten Schlagwort – etwa »Sport ist die Religion der Moderne«. Es gibt in dieser Rede, im Sprachspiel Säkularisierung, nicht einen Faden, sondern eher ein Geflecht, vielleicht sogar ein Knäuel von Diskursen, die man nicht auf einen Nenner bringen kann und die man nicht nur in der Tiefe, sondern auch in der Breite des Diskurses suchen muss, nicht nur in gemeinsamen rhetorischen Operationen, sondern auch in der Fülle ganz verschiedener und höchst variabler Möglichkeiten. An die Stelle einer Geschichte des Begriffs, wie sie die begriffsgeschichtliche Forschung aus seinen Ursprüngen entwickelt hatte, tritt eine Genealogie, die angesichts der gegenwärtigen Überbestimmtheit und Vieldeutigkeit der Rede von der Säkularisierung in die Vergangenheit zurückfragt und sich dabei weniger für Kontinuitäten und Ursprünge als für Varianzen, Verschiebungen, Umschreibungen und Umbesetzungen interessiert.31 Sie hat auch nicht von vornherein eine kritische oder eine affirmative Absicht, wie es die Genealogien von Agamben und Asad bzw. von Taylor und Habermas hatten, sondern versucht zumindest, erst einmal neutral zu bleiben und erst einmal nur verständlich zu machen, warum die Rede von der Säkularisierung heute so vieldeutig ist. Eine Genealogie macht dann auch deutlich, dass Säkularisierung selbst als genealogische Kategorie verstanden werden kann: Auch die vermeintlich ›traditionelle‹ oder ›einfache‹ Rede von der Säkularisierung war nie einfach nur große Erzählung, die einen mythischen Bogen von der Antike über das Mittelalter in die Gegenwart spannte, auch sie beschrieb eine Kette immer neuer Interpretationen und Zurechtmachungen, von Missverständnissen und Doppeldeutigkeiten.

Methodisch unterscheidet sich das genealogische Vorgehen von den Untersuchungen der rhetorischen Tiefenstruktur: Neben und zwischen den Bohrungen muss man auch die Oberfläche der Rede von der Säkularisierung vermessen, gewissermaßen ihre Streubreite; neben die genauen Lektüren einzelner Texte tritt eine breitere Darstellung von Entwürfen, die weniger bekannt und oft eher randständig sind und manchmal auch für ›roads not taken‹ stehen, für Möglichkeiten, die letztlich nicht realisiert wurden. Auch das dient weniger dazu, eine Übersicht über die ohnehin uferlose Diskussion zu geben, sondern ihren Möglichkeitsraum wenigstens an einzelnen Beispielen sichtbar zu machen. So ist es, um nur ein Beispiel zu geben, natürlich richtig, dass die Rede von der Säkularisierung im Kontext des Protestantismus entstanden ist – aber das heißt nicht unbedingt, sie sei irgendwie ›wesentlich‹ protestantisch; hilfreicher ist es jedenfalls, sich katholische und jüdische Anverwandlungen des Konzepts anzusehen, um zu verstehen, was die protestantische Herkunft für die Redeweise für Folgen hat (s.u. Kapitel 8 und 9).

Close Reading und Genealogie bestimmen das Vorgehen dieses Buches. Daraus folgt auch bereits, was es nicht leistet: Es entwickelt keine eigene Theorie der Säkularisierung, eher will es das Bewusstsein dafür schärfen, wie wir über Säkularisierung sprechen. Es beabsichtigt auch keine umfassende Kritik der Rede von der Säkularisierung, weil diese Rede viel zu vielfältig ist, als dass sie mit einem Argument erledigt werden könnte. Es liefert keine Begriffsgeschichte und keine intellektualgeschichtliche Aufarbeitung der behandelten Debatten; jene liegt bereits vor, diese ist zu komplex und voraussetzungsreich, um hier entwickelt werden zu können. Wenn sich die Darstellung im Folgenden grob an der historischen Abfolge der Debatten orientiert, dient das zuallererst der Übersichtlichkeit. Denn auch eine – sei es ideenpolitische, ideologiekritische oder wissensgeschichtliche – Historisierung dieser Debatten ist nicht das primäre Interesse des Buches, das zwar die jeweiligen Kontexte berücksichtigt, aber nicht glaubt, dass man die Kraft des Konzepts damit zureichend verstehen kann. Schließlich schreibt es auch keine Diskursgeschichte der Säkularisierung, die viel weiter ausgreifen müsste und zahlreiche andere Debatten über Verhältnis von Religion und Moderne ebenso berücksichtigen müsste wie ihre Umsetzung in kulturelle Praktiken: im Recht wie im Bild, im Roman und in der Erinnerungskultur. So wünschenswert eine solche Geschichte ist und so angemessen sie der Diffusität des Redens über Säkularisierung wäre – sie übersteigt die Möglichkeiten des vorliegenden Buches, das nur ausnahmsweise den Rahmen der expliziten Debatten über Säkularisierung überschreitet, wenn etwa gefragt wird, wie ein Roman der Säkularisierung aussehen könnte (s.u. Kapitel 18). Schließlich bleibt das Buch in der Vergangenheit – gemäß seinem genealogischen Interesse geht es zwar von aktuellen Diskussionen und Problemen aus, macht diese aber nicht mehr selbst zum Gegenstand. Tatsächlich habe ich lange versucht, auch die Diskussionen der letzten Jahrzehnte in ähnlicher Weise zu analysieren, es wurde aber immer wieder deutlich, dass das zu einem anderen Buch führt, das vielleicht irgendwann geschrieben wird, aber vom Hauptinteresse dieses Buches ablenken würde: exemplarisch und idealtypisch zu zeigen, wie die Rede von der Säkularisierung in ihrem klassischen Zeitalter funktioniert.

Wenn dabei nach der Rhetorik gefragt wird, so bedeutet das nicht, dass es sich hier um ›bloße‹ Rhetorik handelt: um denkerische Konstruktionen oder um reine Phantasieprodukte. Die Frage nach Rhetorik und Poetologie könnten eine solche Sichtweise wohl nahelegen, und es ist wohl tatsächlich die größte Schwäche des close reading, dass seine Paradoxieaffinität allzu oft zum allzu vorhersehbaren Resultat führt, der jeweilige Text handele nur von sich selbst. Aber das Gegenteil ist der Fall: Rhetorik ist etwas Funktionales, sie ist dazu da, etwas zur Sprache zu bringen, sie ist ein Modus der Darstellung, nicht einfach nur ein selbstreflexives Spiel. Nur was dabei zur Sprache kommt, lässt sich eben nicht so einfach sagen. Wir glauben nicht mehr an ein Modell, eine Theorie, die uns ›eigentlich‹ sagen könnte, worüber hier, in den oft hochgradig idiosynkratischen und ideologischen Diskursen, nur in ›übertragener‹ Weise gesprochen wird: was Religion in der Moderne ist, was Religion ist, was Moderne ist. Um hier etwas zu verstehen und sich nicht einfach dieser oder jener Deutung mehr oder weniger willkürlich anzuschließen, muss man vielleicht beides: die Moderne und die Religion, durch die Rhetorik der Säkularisierung hindurch verstehen. Erst das würde dann wohl auch bedeuten, Säkularisierung als große Erzählung wirklich zu lesen und im oben angedeuteten Sinn mit Blumenberg über Blumenberg hinaus zu denken: Säkularisierung ernst zu nehmen als absolute Metapher, die man nicht einfach auflösen kann, sondern entfalten muss, als letzten Mythos der Moderne, der nicht überwunden, sondern durchgearbeitet werden will.

4.Erzählung und Motivation (Weber)

Eine Genealogie der Säkularisierung beginnt am sinnvollsten mit Max Weber und mit dessen Die Protestantische Ethik und der ›Geist‹ des Kapitalismus von 1904/05. Denn aus den Diskussionen über die »Weber-These«, die »Protestantismusschrift« oder die »Protestantismus-Kapitalismus-Theorie« ist nicht nur die Soziologie der Säkularisierung hervorgegangen, die lange den Mainstream der Debatte bestimmte (s.u. Kapitel 28, 29); auch die Gegenpositionen etwa Carl Schmitts oder Ernst Blochs lassen sich auf Webers Text beziehen und ihre Vertreter als abtrünnige Schüler oder als Anti-Weberianer verstehen, die den »Auszug aus der Entzauberten Welt« propagieren.32 Natürlich hat Weber die Idee der Säkularisierung nicht erfunden und greift seinerseits auf ältere Debatten zurück, deren Spuren noch eine wichtige Rolle spielen werden. Aber Die Protestantische Ethik gibt der Diskussion eine prägnante Form, die nicht nur fast die gesamte folgende Debatte beeinflusst, sondern an der man auch besonders gut einige Grundzüge der Rede von der Säkularisierung ablesen kann.

Das erste, was dabei auffällt, ist eine Abwesenheit: Weber entwickelt selbst keinen Begriff von ›Säkularisierung‹. Selbst der Ausdruck ist in seinem Werk selten – eine kursorische Lektüre zählt kaum zwanzig Vorkommnisse – und er wird in der Regel konkret im Sinne einer Enteignung kirchlicher Güter verwendet, seltener auch metaphorisch. So nennt Weber den Fideikommiß eine »säkularisierte Nachbildung« einer arabischen Rechtsform, bezeichnet die amerikanischen Clubs als »Produkt eines Säkularisationsprozesses« und behauptet, die niederländischen Calvinisten hätten den religiösen Wert der Armut »dahin ›säkularisiert‹: daß die Masse der Menschen nur arbeite, wenn die Not sie dazu treibe«.33 Nur ausnahmsweise greift Weber auf den Ausdruck ›Säkularisierung‹ zurück, um einen generellen Trend zu bezeichnen: Er beschreibt etwa den Bedeutungsverlust der Sekten in Amerika als »charakteristischen ›Säkularisations‹-Prozess, dem solche aus religiösen Konzeptionen geborene Erscheinungen in moderner Zeit überall verfallen«.34 Auffällig ist dabei, dass der Ausdruck oft in Anführungszeichen verwendet wird, als würde er auf einen bekannten Sprachgebrauch zurückgreifen und sich zugleich von ihm distanzieren.

So wenig Webers Beschreibung des Verhältnisses von Protestantismus und Kapitalismus eine begriffliche Form findet – wie wir noch sehen werden, hat auch die oft mit der »Weber-These« verbundene Rede von der »Entzauberung« eine komplexe rhetorische Struktur (s.u. Kapitel 11) –, so markant wird dieses Verhältnis kompositorisch, narrativ und rhetorisch artikuliert. Weber beginnt den Aufsatz Die protestantische Ethik zunächst mit der Erörterung der statistischen Korrelation von Konfession und Berufswahl, um auf den folgenden Seiten alle möglichen Erklärungen zu kritisieren, die eine direkte ›Ähnlichkeit‹ oder ›Verwandtschaft‹ von Protestantismus und Kapitalismus behaupten: Weder sei der Protestantismus einfach traditionsfeindlich – stifte er doch eine neue Tradition –, noch zeichne er sich durch ›Weltlichkeit‹ aus – im Gegenteil sei gerade der Calvinismus der Welt gegenüber ausgesprochen kritisch. Die Beziehung von Protestantismus und Kapitalismus kann erst über ein Drittes hergestellt werden, über den ›Geist‹ des Kapitalismus, der für Weber ein spezifisches Ethos des Berufs und der asketischen Lebensführung darstellt.

Weber führt diesen ›Geist‹, den eigentlichen Protagonisten seiner Geschichte, zunächst vorsichtig ein – erneut in distanzierenden Anführungszeichen –: als »Geist der ›Arbeit‹, des ›Fortschritts‹, oder wie er sonst bezeichnet wird, dessen Weckung man dem Protestantismus zuzuschreiben neigt«, und schränkt sogleich ein, dieser Geist dürfe nicht, »wie es heute zu geschehen pflegt, als ›Weltfreude‹ oder irgendwie sonst im ›aufklärerischen‹ Sinn verstanden werden«.35 Als »provisorische Veranschaulichung« zitiert er dann lange Benjamin Franklins Advice to a young tradesman, einen Text, der alle Maximen des typischen Kapitalisten – Selbstkontrolle, Sparsamkeit, Zeitmanagement – entwickelt. Erst nach diesen Vorbereitungen führt Weber jenen ›Geist‹ als etwas ein, das er »historisches Individuum« nennt: als etwas, das nicht einfach vorgefunden werde oder definiert werden könne, sondern das »aus seinen einzelnen der geschichtlichen Wirklichkeit zu entnehmenden Bestandteilen allmählich komponiert werden« müsse.36 Der ›Geist‹ fungiert im Text dann auch wirklich weniger als Kategorie, denn als eine Figur, die wir sehen, bevor wir sie verstehen. Das ist umso mehr der Fall, als Weber zunächst auch die Unverständlichkeit bzw. Paradoxie der Entwicklung betont: In der frühkapitalistischen Moral werde »nicht einfach Lebenstechnik, sondern eine bestimmte ›Ethik‹ gepredigt«, denn der Erwerb ist »so rein als Selbstzweck gedacht, daß es als etwas gegenüber dem ›Glück‹ oder dem ›Nutzen‹ des einzelnen Individuums jedenfalls gänzlich Transzendentes und schlechthin Irrationales erscheint«.37 Der moderne Mensch lebt, um zu arbeiten, und vertausche daher Mittel und Zweck; das sei eine »für das unbefangene Empfinden schlechthin sinnlose Umkehrung des, wie wir sagen würden ›natürlichen‹ Sachverhalts«.38