Richter und Dichter (Ein Lebensausweis) - Ernst Wichert - E-Book
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Ernst Wichert

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Beschreibung

Dieses eBook: "Richter und Dichter (Ein Lebensausweis)" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Ernst Wichert (1831-1902) war ein deutscher Schriftsteller und Jurist. In seinen Bühnenstücken und Prosaarbeiten entsprach er dem Bedürfnis des wilhelminischen Bürgertums nach Bestätigung seiner Werte und des Glaubens an die Zukunft des Bismarck-Reiches. Sie bilden ein kulturhistorisch authentisches Bild des 19. Jahrhunderts. Aus dem Buch: "Geboren bin ich in dem freundlichen preussisch-litauischen Städtchen Insterburg am 11. März 1831. Das Haus, in welchem meine Wiege stand, ist kürzlich abgebrannt. Lange wusste ich nicht, ob es überhaupt bekannt sei. Als ich aber meinen sechzigsten Geburtstag feierte, wurde ich durch das Schreiben einer alten Dame überrascht, die mir mitteilte, dass ihre Eltern damals in demselben Hause gewohnt hätten, von dem sie auch eine Photographie beilegte. Nun wusste ich, wie es aussah. Irgend welche Erinnerungen an meine Geburtsstätte konnten dadurch nicht aufgefrischt werden, da mein Vater, Assessor beim Oberlandesgericht, bereits in meinem dritten Lebensjahre als Stadtgerichtsrat nach Königsberg versetzt wurde." Inhalt: Aus meiner frühesten Jugend Gymnasium Universität Vorbereitungsdienst Dichterische Versuche Erster Schritt auf die Bühne Staatsexamen. - Stoffwahl aus Erlebtem Memel Prökuls Königsberg "Der Königsberger Lustspieldichter" Schau- und Trauerspiel Novellen. Litauische Geschichten Romane, insbesondere die historischen Abhandlungen, Vorträge, Gedichte Gemeinnützige Bestrebungen Sommerfrischen und Reisen Berlin "Richter und Dichter" Rückschau

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Ernst Wichert

Richter und Dichter (Ein Lebensausweis)

Autobiografie eines Schriftstellers: Aus meiner frühesten Jugend + Dichterische Versuche + Erster Schritt auf die Bühne + Novellen + Romane, insbesondere die historischen + Sommerfrischen und Reisen
e-artnow, 2015 Kontakt: [email protected]
ISBN 978-80-268-4836-3

Inhaltsverzeichnis

Aus meiner frühesten Jugend
Gymnasium
Universität
Vorbereitungsdienst
Dichterische Versuche
Erster Schritt auf die Bühne
Staatsexamen. - Stoffwahl aus Erlebtem
Memel
Prökuls
Königsberg
»Der Königsberger Lustspieldichter«
Schau- und Trauerspiel
Novellen. Litauische Geschichten
Romane, insbesondere die historischen
Abhandlungen, Vorträge, Gedichte
Gemeinnützige Bestrebungen
Sommerfrischen und Reisen
Berlin
»Richter und Dichter«
Rückschau

Meinen lieben Enkeln

I. Aus meiner frühesten Jugend.

Inhaltsverzeichnis

Geboren bin ich in dem freundlichen preussisch-litauischen Städtchen Insterburg am 11. März 1831. Das Haus, in welchem meine Wiege stand, ist kürzlich abgebrannt. Lange wusste ich nicht, ob es überhaupt bekannt sei. Als ich aber meinen sechzigsten Geburtstag feierte, wurde ich durch das Schreiben einer alten Dame überrascht, die mir mitteilte, dass ihre Eltern damals in demselben Hause gewohnt hätten, von dem sie auch eine Photographie beilegte. Nun wusste ich, wie es aussah. Irgend welche Erinnerungen an meine Geburtsstätte konnten dadurch nicht aufgefrischt werden, da mein Vater, Assessor beim Oberlandesgericht, bereits in meinem dritten Lebensjahre als Stadtgerichtsrat nach Königsberg versetzt wurde.

Ich war das erste Kind meiner Eltern, das einzige von sechs, welches meine Mutter, trotz eines schweren Krankenlagers nach meiner Geburt, selbst genährt hat. Vielleicht hat sie mich deshalb bis an ihr Ende so sehr lieb gehabt, weil sie von mir so viel hat leiden müssen.

Meine Eltern hatten einander, nach langem Brautstande, aus innigster Neigung geheiratet, und das Verhältnis blieb auch das allerglücklichste trotz vieler schweren Haussorgen, an denen es ihnen nie fehlte, da beide ganz ohne Vermögen waren und das kärgliche Gehalt oft für die bescheidensten Bedürfnisse nicht ausreichte. Mein Vater, dessen Rufnamen ich erhalten hatte, durch und durch Sanguiniker, meist aus rein innerem Wohlsein zu allerhand Humoren aufgelegt, mitunter aber auch infolge von augenblicklichen Bedrängnissen ganz entmutigt und tief verstimmt, trug sich gern mit utopistischen Plänen, seine Lage dauernd zu verbessern. Meine Mutter (sie war in dem kummervollen Jahr 1807 geboren und wohl nach der unglücklichen Königin Luise getauft) unendlich gutmütig, mit einem heiteren Temperament begabt, schwer niederzubeugen und rasch erfreut, dabei für ihre Person ganz anspruchslos, nahm ihn immer freundlich, wie er war, liess seine ausgelassene Laune und seine Versunkenheit gelten, wusste mit den mildesten Mitteln zu dämmen oder aufzurichten und half ihm allezeit getreulich zu den phantastischen Aussichten hinaufzuklettern, auch wenn sie sehr gut wusste, dass sie sich in Nebel würden auflösen müssen – eine durchaus sonnige Natur und auch später bei den schwersten körperlichen Leiden, die ihrem Leben schon mit 47 Jahren ein zu frühes Ende bereiteten, nie ganz niederzudrücken.

Beide haben sich auch in ihrer Liebe Maienblüte dichterisch versucht. In die Briefe, welche sie wechselten, waren vielfach Verse eingefügt oder eingelegt. Der Vater hatte sie sorgsam nach Jahrgängen gesammelt und aufbewahrt; kurz vor ihrem Tode wünschte die Mutter aber dringend, dass ihr diese Mappen in den Sarg mitgegeben würden. Das hätte für niemand weiter Wert, sagte sie. Und so geschah’s nach ihrem Willen. Es ist wahrscheinlich, dass der Vater damals auch ein Heft seiner eignen lyrischen. Dichtungen, Übersetzungen und dramatische Fragmente, woraus er auf meine von der Mutter unterstützte Bitte mitunter vorlas, versargt hat. Ich hatte den Eindruck, dass diese Poeme zu künstlich geformt und nicht ursprünglich genug empfunden seien, dass die ernsten meist an zu starkem rhetorischem Pathos, die heiteren aber an übertriebener Komik litten. In meinem Besitz ist noch das ziemlich umfangreiche Fragment eines im Jahre 1828 begonnenen, mehrmals unterbrochenen und nie beendeten Epos »Der Referendar«, dessen etwas dürftige Fabel von allerhand humoristischem und satirischem Rankenwerk überwuchert ist. Er schildert darin, unzweifelhaft nach eignen Erlebnissen, eine »dichterische Ratsversammlung« von sechs Freunden, die alle vierzehn Tage »ein kritisches Gelage begehen,« bei dem sie »mörderlich schlagen und beissen – sich die Lungen zerfetzen – und, gleich aus dem Felde geschlagen, noch trotzen.« Da zeichnet er denn auch offenbar sich selbst:

»Zur Linken also sitzt Herr Ernst; Ein langer grüner Rock, ein zott’ger Backenbart, Drei-Zapfenduft umher, die eingefallne Wange, Bekundet g’nugsam seine Pilgerfahrt. Er ist Jurist – und dichtet auch nicht übel, Allein sein Wissen ist ein weiter Kübel, Worin sich Rat und Unrat durcheinander wirren, Worinnen Sinn und Unsinn brüderlich gepaart, Irrlichtern gleich, durch Moor und Sümpfe schwirren. Er ist ein sonderbarer Kauz; du lernst Ihn nimmer aus. Heut predigt er Moral, Wir sind bewegt, dann lockt er Lyratöne Aus seiner Harf’, ihn schützet die Camöne, Wir sind erweicht, wir müssen ihn fast lieben; Nun karikiert er, spiesst mit feur’gem Pfahl Die arme Menschheit, lässt kein gutes Haar An allem, was der Mutter Erd’ entspross, Wir müssen, wird uns gleich ein wenig bange, Wir müssen lachen ... etc.«

Der siebente und letzte Gesang beginnt mit der schwermütigen Klage, dass »der ernste, starre Riegel, der bannend zwischen Kopf und Herz sich schob,« sich nicht mehr rücken lassen wolle, dass das Leben mit der Poesie aufräume und die Kraft nicht ausreiche, des Lebens ernste Pflichten alle zu bewältigen, und schliesst mit einem warm empfundenen und auch in der Form untadeligen Gedicht an den Mond:

»Wächter der Nacht! Silberne Sichel am blauen Zelt, Wenn die ermattete müde Welt Selig dem Schlaf in die Arme fällt; Wächter der Nacht, Hab auf die liebenden Menschen acht!«

Später ist wohl nur noch hin und wieder ein launiges Gelegenheitsgedicht zustande gekommen; das Amt nahm ihn völlig in Beschlag.

Aber nicht an Vater und Mutter, sondern an die Tante Julie, eine ältere Schwester der Mutter, heften sich meine ältesten Erinnerungen. Geistig gut beanlagt, sehr lebhaft und in aussergewöhnlicher Weise befähigt, sich in ein Kindergemüt zu versenken, Verstand und Phantasie zu wecken, schloss sie mich, der ich nach ihrem Zeugnis »ein sehr drolliger Junge« gewesen, tief in ihr warmes und treues Herz. Sie hatte die seltene Gabe, aus wenigem, viel machen zu können, und so ging ihr der Stoff zu immer neuen Geschichten und Märchen nicht leicht aus, obgleich ich, unermüdlich im Anhören, täglich nicht wenig davon verbrauchte. Sie konnte so eindringlich erzählen, so zur Heiterkeit reizen und wieder so tief rühren, dass immer der ganze kleine Mensch bei der Sache war. Ein Bilderbuch wurde mir erst dadurch wert, dass sie die Darstellungen durch ihre Erklärung und Schilderung belebte. Selbst die illustrierten »Berliner Witze« – mein Vater kaufte die Heftchen sämtlich und konnte sich daran sehr vergnügen – wusste sie dem Kinde verständlich zu machen. Als ich sie einmal im Winter in eine Apfelkammer begleitete, die sie der Kälte wegen etwas zaghaft betrat, hatte ich ihr zugerufen: »Gehn Sie nur drieste, Mamsellken – ik habe Stiebeln an.«

Das waren höchst wahrscheinlich dieselben Stiefel mit Schäften und hohen Absätzen, die mein Grossvater von Vaters Seite (der mütterliche lebte längst nicht mehr) mir geschenkt hatte, als ich vier Jahr alt war. Ich meine mich zu entsinnen, dass ich, um mich zu bedanken, zu dem kranken Manne, der im Bett lag, von der Grossmutter geführt und bedeutet wurde, ganz leise aufzutreten, was mir sehr sonderbar vorkam, da das Trappen mit den Absätzen doch gerade das Hauptvergnügen war. Vielleicht deshalb ist mir der unbedeutende Vorfall im Gedächtnis geblieben. Er war Kaufmann und dann, als er durch mancherlei Unglücksfälle sein Vermögen verloren hatte, Küster bei der altstädtischen Kirche gewesen. Er muss es recht knapp gehabt haben, denn mein Vater erzählte, es hätte abends ein einziges Talglicht auf dem Tische gebrannt, an welchem er und die Geschwister Schularbeiten machten, sein Vater bei seinen Büchern, seine Mutter bei ihrer Näherei sass und auch noch ein Dierstmädchen spann. Man hatte damals bessere Augen als heut.

Die Grossmutter, eine geborene Gemmel, eine stattliche und peinlich adrette Frau, scheute ich ein wenig ihrer Strenge wegen. Ich glaube, sie war mit meiner Erziehung gar nicht zufrieden und gab dies auch wiederholt meiner allzu nachsichtigen Mutter zu verstehen. Ich verdarb es an einem Geburtstage mit ihr. Ich hatte mir ausbedungen, dass keine »Grossen« zum Besuch sein sollten. Als sie nun, ein Päckchen auf dem Arm, zur Gratulation kam, lief ich ihr schon auf die Treppe hinaus entgegen und rief ihr recht ungezogen zu, sie möchte nur dableiben, es seien heute nur Kinder geladen; sie brauche mir auch gar nichts zu schenken. Das nahm sie sehr übel, und ich empfinde noch ihren strafenden Blick.

Die andere Grossmutter, Witwe des frühverstorbenen Oberbürgermeisters Marenski in Elbing, der in der Franzosenzeit der Stadt beste Dienste geleistet haben soll, lebte von einer kleinen Pension und war eine sehr gutherzige, liebe Frau, deren Wert ich recht schätzen lernte, als sie später in unser Haus zog. Während eines Sommers, den meine kränkliche Mutter still auf dem Lande zubrachte, war ich bei ihr und musste mir das Stricken beibringen lassen, wahrscheinlich, weil ich sonst nicht ausreichend zu beschäftigen war. Das kostete viel Thränen, denn ich schämte mich, »wie ein Mädchen« behandelt zu werden.

Mir, dem Juristen, könnte es vielleicht Bedeutung haben, dass der nachweisbare Stammvater Hans Weichardt gegen Ende des XVI. Jahrhunderts Schultz (also Richter) von Niklauken, einem Dorf bei Mühlhausen, und dessen Sohn Kaspar, Mälzenbräuer in Mühlhausen (gest. 1682), zuletzt judex emeritus daselbst gewesen ist. Sein Sohn Martin, ebenfalls Mälzenbräuer, hatte mehrere Söhne. Der eine davon, Johann, getauft 1693, ging als Bäckermeister nach Königsberg und ist dort in die Hauptrolle eingetragen worden. Von ihm leite ich meine Abstammung her. Ein anderer Sohn, namens Michael, Stadtschreiber, Postverwalter und Königlicher Accisseneinnehmer in Mühlhausen, ist der Stammvater der 1804 geadelten Linie. Mein Vater wollte übrigens viel höher hinaus. Er scherzte mitunter, unser Urahn sei kein geringerer, als der erste, der auf den Mauern von Jerusalem gestanden habe. Der Ritter, von welchem diese Heldenthat aus dem ersten Kreuzzuge berichtet wird, hiess nämlich Wichart.

Ich war erst fünf Jahre alt, als ich in die Schule gebracht wurde – eine Mädchenschule, in deren unterster Klasse auch Knaben unterrichtet wurden. Des ersten Tages entsinne ich mich noch sehr gut. Es war für mich eine lederne Büchertasche bestellt, und Tante Julie hatte meine Bedenken hauptsächlich. durch die eindringliche Vorstellung, dass ein Junge mit der Büchertasche auf dem Rücken unmöglich mit einem Mädchen verwechselt werden könne, zum Schweigen gebracht. Unglücklicherweise war aber die Büchertasche zum bestimmten Tage nicht fertig geworden, und ich sollte nun Tafel und Fibel in einem sogenannten Pompadour tragen. Das war ganz gegen die Abrede. Heulend wurde ich nach der Schule mehr geschleppt als geführt, und dort machte ich so viel störenden Lärm, dass zuletzt nur übrigblieb, mich mit einem anderen Knaben (er hiess Diestel und ist Schuldirektor in Dresden geworden) in eine zu besonderem Zwecke eingerichtete Kammer zu schicken, in der ich mich denn auch beruhigte. Aus dieser Schule ist mir sonst nur noch in Erinnerung, dass eine sehr korpulente Lehrerin, der immer der Schweiss auf der Stirn perlte, strickend auf einer Art von Katheder sass und über die Platte hin mit der Nadel die Reihe im A-B-C-Buch anzeigte, die buchstabiert werden sollte (man lautierte damals noch nicht) und auch wohl hin und wieder durch einen leichten Schlag auf die Hand eine Aufmunterung erteilte.

Darauf besuchte ich eine Elementarschule. Von da her entsinne ich mich nur noch eines Vorfalls, bei dem ich sehr bald ziemlich unverdient zu Schlägen gekommen wäre. An einem Sommernachmittage trat der Lehrer, den Hut in der Hand, in die Schulstube und begann sogleich: »Jungen, es ist heut so schönes Wetter, dass es mir hier in der engen Stube gar nicht gefällt; wir wollen einmal zusammen eine Wanderung vors Thor machen und uns da umsehen.« Das war nun durchaus nach meinem Geschmack. Ich sprang also vergnügt auf und packte mit lebhafter Geschäftigkeit die Bücher in den Riemen, ohne darauf zu achten, dass die Kameraden, die wahrscheinlich diese witzige Vorrede zu einer auf die Sehenswürdigkeiten vor einer Stadt bezüglichen Lektion schon kannten, vielleicht auch klüger waren, als ich, sich ganz ruhig verhielten. Erst, als sie in ein Höllengelächter ausbrachen, merkte ich, dass über meinem Haupt der schwarz-weiss gewürfelte Kantschu schwebte. Ich duckte mich rasch unter den Tisch, auf den nun der Hieb fiel. »Ich werde dich lehren, Schlingel, Spass zu verstehen,« rief der Gestrenge, malitiös lachend. Das ist ihm denn auch gelungen, und ich habs mein Lebenlang nicht wieder vergessen.

Als der Rektor starb und die Schule mit einer anderen, meinem Vater nicht zusagenden vereinigt wurde, liess er mir mit zwei Söhnen eines Predigers Laudien zusammen von einem Lehrer Jahr Privatunterricht erteilen. Er war sehr gutmütig und freisinnig, beteiligte sich übrigens später in den vierziger Jahren bei den politischen Bürgerversammlungen, die der Regierung sehr unbequem wurden, verlor sein Amt und wurde Papierhändler. Der gemeinsame Unterricht führte auch sonst zu freundschaftlichem Verkehr. Wahrscheinlich hatten wir auf dem Jahrmarktsplatz eine Menagerie gesehen; jedenfalls wurde beschlossen, eine solche auf dem engen Hofe des dicht an die alte Schlossmauer gebauten Pfarrhauses einzurichten. Einige Kisten mit vorgenagelten Latten oder vorgespannten Drähten stellten die Käfige vor. Leider konnten wir sie mit wilden Tieren nicht besetzen. Zum Ankauf eines Kaninchens und einiger Vögel liess sich aber meine gute Mutter so manchen Groschen abbetteln. Der ältere Bruder (später Musikdirektor) besass ein Puppentheater und wusste darauf ganz artig zu spielen. Besonders liebte er Ritterstücke mit allerhand Spuk, wobei recht viel Kolophonium zu den Blitzen verbrannt werden konnte. Wir jüngeren mussten uns mit der Rolle der Zuschauer begnügen; mit meinem Beifall konnte er aber zufrieden sein.

Übrigens muss ich damals wunderlich genug ausgesehen haben. Mein Vater hatte mir aus Berlin, wohin er den Bräutigam seiner Schwester zur Unterstützung bei einem juristischen Examen begleitete, einen mit Schnüren sehr kunstvoll besetzen Rock mitgebracht, der mir leider viel zu gross war und des Besatzes wegen auch nicht passend gemacht werden konnte. Da ich die üble Gewohnheit hatte, mich nicht gerade zu halten, musste ich auf ärztliche Anordnung eine steife Halsbinde tragen. Dieser beiden Kleidungsstücke wegen hatte ich viel Neckereien auszustehen.

Gegen Ende des Jahres 1839 wurde mein Vater als Kommerzien- und Admiralitätsrat nach Pillau versetzt, und dort ging mir nun in der kleinen Seestadt ein ganz neues Leben auf.

An einem kalten Wintertage wurde in einer geschlossenen Kutsche die Reise angetreten. Wir brauchten für die sieben Meilen einen vollen Tag, was mir und meiner drei Jahre jüngeren Schwester eine Ewigkeit schien. Eines kleinen Brüderchens wegen war überdies der Wagen mit Betten und anderen Sachen vollgepackt, so dass man sich darin wenig rühren konnte. Schritt nach Schritt ging es weiter, erst über den verschneiten Landweg, dann hinter Fischhausen an der Burgruine Lochstädt vorüber durch den fliegenden Sand. Früh vor Abend wurde es dunkel. Zuletzt standen wir plötzlich auf freiem Felde still. Aus der Ferne liess sich ein unheimliches Summen und Brausen vernehmen: das sei die See, hiess es, ein mir noch unfassliches Ding. Der Kutscher kletterte vom Bock und lief eine Strecke weit fort. Der habe gewiss »den Weg verloren,« äusserte die Mutter ängstlich, und das klang mir nun wieder sehr sonderbar. Wie kann jemand den Weg – verlieren? Nach einer Weile wurden Stimmen laut: »Zum Teufel! wo geht denn hier der Weg?« fragte der Kutscher. »Ja – da liegt der Hund begraben,« lautete die Antwort in plattdeutscher Sprache. Ich nahm diese Redensart ganz wörtlich und wollte nun durchaus wissen, was das für ein Hund sei und warum er da begraben liege und weshalb wir seinetwegen nicht weiterfahren könnten. Es war mir wenigstens eine Erleichterung, dass unser prächtiger Pudel Ajax, der schon meine Wiege bewacht hatte, munter bellte, also nicht der gemeinte tote Hund sein könne. Endlich gings weiter durch den wegelosen Sand auf ein Licht zu, das in einem der Häuser des Dorfes Alt-Pillau brannte. Spät, aber wohlbehalten langten wir in der Stadt an.

Mein Vater hatte eine Amtswohnung in dem einstöckigen weissen Häuschen dicht am Tief, der Wasserrinne zwischen Haff und See, von der Steinböschung nur durch die nicht breite Strasse getrennt; bei schwerem Wetter spritzte der Gischt der brandenden Wellen bis an die Thür. Links erweiterte sich der Raum zu einem mit grossen Pfählen zum Umlegen der Schiffstaue besetzten Bollwerk. Weiter gelangte man bald zu dem schlanken weissen Leuchtturm mit Glaskuppel, dahinter dem Binnenhafen. Rechts aber kam man etwas weiter zu einem freien Platz, auf welchem die hölzernen Baken mit Tonne, Kreuz und anderen Abzeichen zum Hereinwinken der Schiffe bei zu hohem, für den Lotsenkutter gefährlichem Seegange standen. Auch drehte dort eine Mühle ihre Flügel. Weiter hatte man vor sich die Festung mit ihren Gräben, ummauerten Wällen, engen Thoren, Zugbrücken, Kanonen, Kugelhaufen, Baugefangenen in zweierlei Tuch, zum Teil die Kette zwischen den Füssen. Über das Tief, in welchem meist Schiffe ankerten, sah man nach den niedrigen Dünen der Frischen Nehrung und dem Sandkruge. Auch in dem reinlichen Städtchen selbst war viel fremdartiges anzutreffen. In den stattlicheren Häusern mit Wappen über den Thüren wohnten die Vizekonsuln aller Nationen; auf den Strassen und Bollwerken sah man fremde Kapitäne, englische, norwegische, holländische, schwedische, auch wohl portugisiesche Matrosen, Schiffsköche aus Mohrenland, Lotsen in ihrer Ölkleidung, Rheder, die früher selbst zur See gegangen waren, alle mit ganz verwetterten Gesichtern. Immer fesselte irgend etwas die Aufmerksamkeit: da standen Leute mit Fernrohren auf dem Bollwerk und spähten nach der See hinaus, die Flagge eines Schiffes zu erkennen, das sich am Horizont blicken liess; dann kreuzte das Lotsenboot, endlich lief das Schiff ein, reffte die Segel, warf den Anker aus und schleifte ihn noch eine Strecke am Grunde fort, bis er fest lag, ein Boot wurde ausgesetzt, den Kapitän an Land zu bringen, der dann gleich von den Gehilfen der Spediteure mit grossem Lärm in die Mitte genommen und nach einem Kontor geschleppt wurde. Überall roch es so eigen nach Teer und Steinkohlendampf.

Unser Häuschen hatte nur zwei Fenster auf jeder Seite der Thür. Rechts vorn befand sich die Amtsstube. Sie stand selten leer, denn mein Vater hatte da nicht nur als Stadtrichter Termine abzuhalten, sondern auch die Rechtsgeschäfte der Schiffsleute zu ordnen; manchmal, wenn eine ganze Mannschaft abgefertigt werden musste, standen sie bis in den Flur. Der Vater, der sich immer gern gründlich einarbeitete, lernte englisch und studierte eifrig aus Büchern und Karten, was sich auf Seeschiffahrt, Bau der Schiffe, Benennung aller einzelnen Teile, Flaggenkunde etc. bezog. Und wie er denn stets die Mutter bei allem beteiligte, was er trieb (musste sie sich doch manchmal gar amtliche Berichte und Relationen vorlesen lassen!) so lernte sie auch jetzt mit und von ihm. Ich war meist dabei und verlor kein Wort. So wusste ich bald jede Stenge und jedes Tau am Schiffe zu benennen. Dass ich Seemann werden müsste und nur Seemann, verstand sich nun schon von selbst.

Aber es blieb auch nicht beim lernen in der Stube. War ich bis dahin immer ängstlich behütet und ein rechtes Muttersöhnchen gewesen, so durfte ichs jetzt treiben wie die anderen Jungen auch. Ich tummelte mich nach Gefallen auf der Strasse, ging in leichtesten Kleidern mit weit offenem Hemde, machte mir auf den Schiffen etwas zu schaffen, kletterte wohl auch in den Mastkorb hinauf und später, als ich mit Eifer turnen lernte, auch oft genug bis zum Flaggenknopf, ohne dass meine Matter sich deshalb sonderlich besorgt zeigte. Das hat meine vorher sehr schwächliche Gesundheit dienstlichst gekräftigt.

Zuerst mag ich wohl bei der Pillauer Jugend in sehr geringem Ansehen gestanden haben. Kam ich doch aus Königsberg, und die Königsberger galten meinen Kameraden in der Rektorschule überhaupt als Weichlinge. An Körperkraft waren sie mir alle überlegen, vielleicht bis auf den einen, den Sohn eines Segelmachers, mit dem ich es wenigstens wagen durfte, mich zu messen. Es wurde beschlossen, dass wir uns zur Probe zwischen der Windmühle und der Bake zu prügeln hätten – »einmal hin und einmal zurück«. So geschah es denn auch. Der Kampf blieb unentschieden, und wir wurden dann gute Freunde. Dass ich wenigstens nicht unterlegen war, besserte meine Stellung doch einigermassen und hob mich auch in meinen eigenen Augen.

Mein Lehrmeister im Schwimmen wurde der alte Gerichtsdiener, Invalide von 1813/15, eine grundehrliche Haut. Im Sommer gegen Abend, wenn es in der Amtsstube nicht mehr viel zu thun gab, schickte ihn der Vater mit mir und anderen Knaben, die sich anschlossen, an die See zum Baden. Anfangs wird er wohl mit mir seine Not gehabt haben, mich ins kalte Wasser zu bringen, bald aber kannte ich kein grösseres Vergnügen, als ein kräftiges Wellenbad. Er liess mich über seinem Arm Schwimmversuche machen, und nach einiger Zeit war ich schon soweit, dass ich mich mit anderen Jungen vom Flössplatz aus in den Festungsgraben wagen konnte, der für uns keinen Grund hatte. Wenn wir am Strande sassen, uns abzukühlen, musste der Alte, der mit in Frankreich gewesen war, Kriegsgeschichten erzählen und seine Kugelnarben zeigen. Recht unangenehm dagegen war mir der Herr Registrator, eine richtige Schreiberseele, steif, pedantisch, immer, wie es mir schien, spöttisch beobachtend und jederzeit zu scharfen Rügen gerüstet, wenn wir im Flur vor der Amtsstube oder in unserem Schlafzimmer hinter derselben zu arg lärmten.

Wir waren drei Jahre in Pillau. Ich besuchte die städtische Bürgerschule, in welcher lateinischer Unterricht nicht erteilt wurde. Zuletzt war ich in der dritten Klasse. Der Rektor, ein studierter Mann mit stark weingerötetem Gesicht und krallen Augen, wurde sehr gefürchtet, weil er viel schlug. Die älteren Schüler – er gab nur auf den oberen Klassen Stunden – unterhielten sich oft darüber, wie man sich eine dicke Haut auf der Handfläche schaffen und den Rücken mit Löschpapier auspolstern könne, um die Wucht der Hiebe weniger zu fühlen. Wir jüngeren hörten mit ehrfürchtigem Staunen zu. Der Subrektor, ein sehr hagerer Junggeselle, pedantisch und stets langweilig ernst, war wenig beliebt. Einmal aber wurde doch zu einem Geburtstagsgeschenk für ihn gesammelt. Es gingen zwei Thaler ein. Drei Jungen, unter denen auch ich war, wurden beauftragt, einen passenden Gegenstand auszusuchen und ihm mit der Gratulation der Klasse zu überbringen. Wir wählten ein paar Leuchter von Metall mit kleiner Perlstickerei in der Mitte. Er zeigte sich sehr überrascht und liess uns von seiner Schwester ein Stück Fladen geben, der mir so trocken vorkam, wie sie selbst. Die ganze Aufnahme befriedigte uns wenig. Ein sehr dicker Schreiblehrer gab in den unteren Klassen zugleich Geschichtsunterricht, der freilich im wesentlichen darin bestand, dass er den »kleinen Heinel« (preussische Geschichte) auswendig lernen liess: »Vor sechshundert Jahren sah es im Lande Preussen ganz anders aus« etc.

Den Namen des Lehrers, dem ich am meisten verdanke, habe ich vergessen. Er gab den Zeichenunterricht und hatte eine vortreffliche Art, uns vor allem sehen zu lehren. Auf die Platte des Katheders stellte er Holzkörper verschiedenster Form, allein oder in verschiedenen Lagen zu einander, und gab uns auf, sie nachzuzeichnen, wie sie sich unserem Auge darstellten. Dabei brachte er uns die Grundbegriffe und Regeln der Perspektive bei, indem er die gemachten Fehler besprach. Da zeigte sich nun bei mir eine entschiedene Anlage; ich war nicht nur stets der erste fertig, sondern ich zeichnete auch am richtigsten. Und weil mir das gefiel, setzte ich mir auch zu Hause erst Klötze aus dem Baukasten, dann auch andere Gegenstände auf und bemühte mich, sie zeichnerisch wiederzugeben. Daraus hat sich dann bei mir eine sehr starke Neigung entwickelt, nach der Natur zu zeichnen. Bei allen Ferienausflügen, bis in die letzte Zeit, habe ich mein Skizzenbuch in der Tasche mitgetragen und mit leidenschaftlichem Eifer alles zu Papier gebracht, was mir des Behaltens wert und zu solcher Aufnahme geeignet schien. Durch diese langjährige Übung hat sich auch mein Formengedächtnis scharf entwickelt, so dass ich imstande gewesen bin, mir ein Landschaftsbild im ganzen und in seinen Einzelheiten vorzustellen und es nach dieser Vorstellung zu zeichnen. Von dieser Fertigkeit habe ich in unzähligen Gerichtssitzungen Gebrauch gemacht und mir dadurch die Stunden gekürzt, ohne an Aufmerksamkeit für die Verhandlungen irgendwie etwas einzubüssen. Viele Hunderte solcher mehr oder minder ausgeführter Federzeichnungen haben die Herren Kollegen an sich genommen und teilweise in Mappen gesammelt. Es wird ihnen Stimmung und Vielgestaltigkeit der Objekte nachgerühmt; auf künstlerische Ausbildung erheben sie selbstverständlich keinen Anspruch. Die Anfänge dieser Liebhaberei gehen also auf die Pillauer Bürgerschule zurück.

In meinem elften Lebensjahre machte ich den ersten Ausflug in die Welt. Das geschah folgendermassen. Auf dem Haff verkehrten schon seit längerer Zeit die kleinen Dampfschiffe »Falke« und »Schwalbe« regelmässig zwischen Königsberg, Pillau und Elbing. Der erste Dampfer, der sich meines Wissens weiter über See bis Danzig wagte, war die »Gazelle«. Wenn sie, von Königsberg kommend, in Pillau anhielt, war immer ein munteres Getreibe am Bollwerk in der Nähe des Leuchtturms. An einem Sommertage zu Anfang der Schulferien sah mein Vater dort den jungen Lehrer Born (er ist später ebenso wie Jahr wegen liberaler Gesinnung gemassregelt worden!) mit einer Anzahl grösserer Knaben in Turnkleidern, das Ränzel auf dem Rücken, zur Abfahrt bereit stehen. Er wollte nach Danzig, von dort zu Fuss nach Marienburg und Elbing, endlich wieder mit dem Dampfboot nach Pillau zurück. Die Frage, ob er mich mitnehmen wolle, bejahte er freundlichst. So wurde ich denn aufgesucht, in einer Viertelstunde ausgerüstet und ihm anvertraut.

Es war mir alles wie ein Traum, in den sich doch auch ängstliche Empfindungen mischten, als nun die Ladebrücke eingezogen wurde, die Dampfpfeife schrill ertönte, die Räder sich in Bewegung setzten und das Schiff an unserem Hause vorübersauste, in dessen Thüre meine Mutter stand und gewiss mit schwerem Herzen ihren ältesten Jungen auf die tückische See hinausfahren sah. Es wehte ein frischer Wind, und hinter der Mole bespritzten die Wellen mit ihrem Schaum das Verdeck. Doch hielt ich mich längere Zeit ganz tapfer gegen die Seekrankheit. Gegen Abend aber blies uns ein ein so kräftiger Sturm entgegen, dass das kleine Schiff arg zu schwanken anfing und meine leichten Kleider bald völlig durchnässt waren. In der Kajüte wurde mir unwohl; ich musste wieder auf Deck und lag da unter einer Bank, durch den niedrigen Bord nur wenig geschützt gegen Wind und Wetter, in traurigstem Zustande. Mit einer Verspätung von vier Stunden langten wir endlich schon zur Nachtzeit in Neufahrwasser an. Am anderen Morgen war freilich alle Not vergessen, als wir nach Danzig wanderten und die Wunder der alten Hansestadt anstaunten: die Festungsthore, die Strassen mit den hohen Giebelhäusern und Beischlägen, das Rathaus mit seinem mächtig aufstrebenden Turm, den Artushof mit seinen alten Bildern und Schiffsmodellen, die gewaltige Marienkirche mit ihrem wundersamen Gewölbe. Auch im Kloster Oliva schauten wir uns um, und vom Bischofsberge aus genossen wir die schöne Aussicht. Dann gings weiter nach Marienburg, wo das alte Ordensschloss an der Nogat mit seinen stolzen Erinnerungen die jugendliche Phantasie völlig gefangen nahm. Ich hatte mir Blasen an den Füssen gelaufen und war froh, dass mich auf dem weiteren Wege ein Planwagen, wenn auch nur schrittweise, beförderte. In Elbing war schliesslich von dem sehr mässigen Reisegelde für jeden nur noch ein kleiner Betrag übrig geblieben. An die Rückfahrt zu Dampfboot war nicht mehr zu denken. Da am anderen Morgen ein Frachtkahn abgehen sollte, verschafften wir uns hier gegen Vergütung von fünf Silbergroschen pro Person Unterkunft. Der Rest des Geldes wurde leichtsinnig in Kuchen angelegt. Wir meinten, nachmittags schon in Pillau zu sein, täuschten uns aber sehr. Der Kahn musste den Elbingfluss hinab bis zum Haff mühsam getreidelt werden, lag dann eine gute Weile still, um auf Wind zu warten, und lavierte darauf Tag und Nacht und bis zum Nachmittag des nächsten Tages. Ich schlief in einem Stapel Taue und befleckte mir dabei den ganzen Anzug mit Teer. Dazu der Hunger. Zum Glück hatte der Schiffer Kartoffeln an Bord; sie schmeckten mit Salz vortrefflich. So kam ich trotz mancherlei Strapazen vergnügt im Vaterhause an. Die in Danzig und Marienburg gewonnenen Eindrücke, allerdings wiederholt aufgefrischt, wirkten noch stark nach, als ich vierzig Jahre später meinen Roman »Heinrich von Planen« schrieb.

Ausser mit dem kleinen Segelmacher hatte ich auch mit anderen Knaben engeren Umgang, so mit den beiden Söhnen eines angesehenen Spediteurs, in dessen Hause ich kaufmännische Wohlhabenheit kennen lernte, und mit einem Nachbar auf der Schulbank, dessen Vater Garnisonbäcker in der Festung war, und mit dem ich gern mein Weissbrot gegen dünne Kommissbrotfladen austauschte, die er noch warm unter der Weste vorzog. Bei dem Spediteur waren gewöhnlich Sonntags fremde Kapitäne zu Gaste. Es stand dann auch eine Kiste sehr kräftiger Zigarren auf dem Seitentisch. Der ältere von den Söhnen wusste mitunter im Vorbeigehen einige davon zu entführen – »bowen« war der Kunstausdruck dafür – und wir zogen dann in die Plantage zu unseren ersten Rauchversuchen, die uns nicht immer gut bekamen. In dem Sohn eines Konsuls (der einen schiefen Mund hatte, weil die Amme, als sie ihn gerade nährte, eine Ohrfeige bekam, wie sehr verwunderlich erzählt wurde) fand ich einen Spielkameraden, mit dem ich auf seinem Hof ein mit Tauwerk und Segeln wohlausgerüstetes Schiff baute, dessen wertvollster Teil doch eine in die Erde gegrabene Kajüte war, in die wir wirklich hinabsteigen konnten, um dort Schiffszwieback zu verzehren. Freundschaftliche Neigung fasste ich zu einem sehr armen, aber gut befähigten und namentlich in dem mir immer schreckhaften Rechnen äusserst gewandten Knaben, der mir aber an Lebenserfahrung weit voraus war, sich zu mir nicht ebenso hingezogen fühlte und meine schwärmerische Hingebung mit Untreue lohnte, was mir viel kindische Thränen ausgepresst hat.

Wenn ich nun auch immer bereit war, mit den anderen Jungen mich auf den Strassen herumzutummeln, Räuber und Soldat zu spielen, auf die Schiffsmasten zu klettern, dem Reif nachzulaufen, Knopf zu werfen, mit dem Flitzbogen zu schiessen und kleine Schiffe schwimmen zu lassen, so hatte ich doch nebenher stets noch meine besonderen Beschäftigungen, die mir eine stille Freude bereiteten und meiner Mutter besser zusagten. Ich las gern und viel, nicht nur Kindergeschichten und Märchen, sondern auch Bücher aus des Vaters Bibliothek, die über mein Verständnis gingen. Auch mit einem Puppentheater gab ich mich gern ab.

Ehe die Eltern von Königsberg verzogen, hatten sie mich einmal ins Schauspielhaus mitgenommen, und es mochte mir von dem, was da vorging, wenigstens ein allgemeiner Eindruck geblieben sein. Übrigens gehörte dieser Tag sonst nicht zu meinen angenehmsten Erinnerungen. Unglücklicherweise war nämlich ein dritter Platz nur noch hinter den ihrigen zu haben. Darüber hörte ich schon an der Kasse verhandeln und klammerte mich beim Hineingehen nur um so fester an meine Mutter an. Im Parkett, wo ich nun in eine andere Sitzreihe einlenken sollte, hatte der Vater sogleich Ärger mit mir. Nichts in der Welt hätte mich vermögen können, zwischen den wildfremden Leuten in einem so unheimlichen Raum zu sitzen. Es blieb den Eltern endlich nichts übrig, als mich zwischen sich zu nehmen, was bei den engen Plätzen auf die Dauer unbequem genug gewesen sein mag. Gegeben wurden kleine Lustspiele, von denen ich natürlich nicht das mindeste verstand. So ist mir denn nur im Gedächtnis geblieben, dass in einem derselben ein sehr niedliches Mädchen mit langen blonden Zöpfen, wahrscheinlich eine Art Aschenbrödel, eine Zeit lang auf einem niedrigen Schemelchen sass und irgend eine häusliche Arbeit verrichtete. Ich habe mich sicher arg gelangweilt und bin zuletzt so schläfrig geworden, dass es Mühe gekostet hat, mich nach Hause zu schaffen.

In Pillau wurde mitunter in der Ressource Theater gespielt. Ich mag wohl auch zugelassen sein und nun aufmerksamer zugeschaut haben. Viel näher kamen mir diese Dinge aber dadurch, dass meine Mutter aus ihrer lebhaften Einbildungskraft nicht nur lange Geschichten erzählen konnte, die mich noch mehr spannten, als die aus den Büchern, sondern auch zu den aus den Bilderbogen ausgeschnittenen Theaterfiguren Stücke zu erfinden oder die ihr bekannten, zu welchen sie gehörten, namentlich auch Operntexte, in Puppentheaterdramen umzumodeln verstand. Mehr noch, sie wusste zu den allerinteressantesten Schauspielen, die auf irgend einer Robinsoninsel in der Südsee vor sich gingen, die passenden, in gar keinem Buchbinderladen käuflichen Kulissen herzustellen, indem sie in der primitivsten Weise schuppige Stämme mit einem üppigen Behang von Palmblättern zeichnete, die Stämme mit Lakritzen braun, die Kronen mit einer Mischung von Berliner Blau und Gelberde saftig grün färbte. Und das ging alles so hübsch rasch! Ich lernte diese edle Kunst von ihr und wurde nicht müde, Palmwälder auf Papier zu zaubern. Mit den Aufführungen gelang es mir schlechter, da die Puppen gar zu steif und störrisch waren. Wir versuchten nun selbst Komödie zu spielen. Ich hatte Schillers »Räuber« und Goethes »Götz« gelesen. Ritter und Räuber spukten unaufhörlich in meinem Kopfe herum. Es wurden von Pappe Schilde, von Holz Schwerter fabriziert und mit Silberpapier beklebt, Armbrüste gezimmert, aus Bohnenstangen Lanzen hergestellt und auf unserem kleinen Hofe Ritterkämpfe aufgeführt, ein andermal Räuberkostüme aus roten Bettdecken, aufgekrempten Hosen, alten Hüten mit Krähenfedern hervorgebracht. Das »Verkleiden« blieb immer die Hauptsache, denn das Extemporieren nachher hatte seine Schwierigkeit. Meine Schwester und ihre Freundin, die Pflegetochter des Registrators, liessen sich meist willig als Prinzessinnen ausputzen; auch entdeckte ich in den Töchtern eines Gendarmen schauspielerische Talente und zog sie, nicht ohne den mir unerklärlichen Einspruch meiner Mutter, zur Verstärkung des Personals heran. Als Theater diente unsere kleine Schlafstube, die eine Balkendecke hatte, an welcher sich Tücher und Laken leicht als Kulissen befestigen liessen. Dann erwachte aber auch der Wunsch, wirkliche Kulissen zu haben. Zu diesem Zweck wurden Schulhefte auseinandergerissen, die Blätter mit Mehlkleister zusammengeklebt und die Flächen mit Wasserfarben bemalt. Die Stücke, zu denen sie angefertigt wurden, blieben aber gemeinhin ungespielt.

Zwei besondere Ereignisse aus dem Pillauer Aufenthalt stehen noch sehr fest in meinem Gedächtnis. In einem Spätherbst starb mein kleiner Bruder, erst vier Jahre alt, nach langem Krankenlager, fast bis zum Knochengerippe abgezehrt. Ich wurde spät abends mit der Todesnachricht zu einem befreundeten Offizier in die Festung geschickt und weiss, dass mir bei meiner aufgeregten Phantasie dieser einsame Gang bei Sturm und Regen sehr unheimlich vorkam. Der Vater war untröstlich. Zum erstenmale sollte Weihnachten nicht gefeiert werden. Es brannte auch wirklich kein Baum. Für meine Schwester und mich wurden zwar kleine Geschenke auf den Tisch gelegt, eine richtige Bescherung fand aber nicht statt; der Vater ging finster schweigend im Zimmer auf und ab, die Mutter sass weinend in einer Ecke. Wir Kinder wussten gar nicht, wie wir uns zu benehmen hätten, und wagten nicht, an den Tisch heranzutreten. Endlich fasste ich mir ein Herz und sagte, wir wollten gar nichts geschenkt haben, wenn es die Eltern so traurig machte. Das hatte bei meinem Vater eine lösende Wirkung: er nahm, mich beim Kopf und küsste mich, küsste die kleine Schwester und die Mutter, ohne freilich ein Wort zu sprechen, und der Abend verlief dann nicht ganz so traurig, als er angefangen hatte.

II. Gymnasium.

Inhaltsverzeichnis

Zu Anfang des Jahres 1843 wurde mein Vater zum Oberlandesgerichtsrat in Königsberg ernannt. Mit achthundert Thalern Gehalt! Er verschlechterte sich pekuniär erheblich, wollte aber auf die amtliche Stellung, zu der ihn das sogenannte grosse Examen berechtigte, nicht verzichten. Seitdem quälten ihn, zumal die Familie sich noch um zwei Köpfe vergrösserte, und die Mutter viel kränkelte, trotz der bescheidensten Ansprüche an das gesellschaftliche Leben unausgesetzt die schwersten Nahrungssorgen. Er musste Schulden machen; die Zinsen und die Prämien der zur Deckung der Gläubiger genommenen Lebensversicherungen nahmen einen immer grösseren Teil des sich nur langsam erhöhenden Gehalts in Beschlag. Er war oft in verzweifelter Stimmung, dann wieder ausgelassen lustig, wenn die augenblickliche Not beseitigt war. Die Verhandlungen über diese traurigen Verhältnisse erfolgten zwischen den Eltern meist in meiner Gegenwart, verschüchterten mich und machten mich früh zu einem bedächtigen, über seine Jahre reifen Menschen.

Nachdem ich einige Monate nur lateinischen Unterricht erhalten hatte, wurde ich in die Quinta des Altstädtischen Gymnasiums aufgenommen, um schon ein Vierteljahr später nach der Quarta versetzt zu werden. Bis zur Sekunda erfolgte dann mein Aufrücken ganz regelmässig, allerdings unter beständiger Nachhilfe meines Vaters, der ein guter Philologe war und nicht nur jede Aufgabe mit mir durchnahm, sondern mich immer schon im voraus auf die folgende Lektion vorbereitete, so dass ich in der Schule gerüstet war, freilich auch das beängstigende Gefühl nicht los wurde, eigentlich doch über meine Kenntnisse zu täuschen. In der Mathematik, wo ich auf mich angewiesen war, kam ich auch nie recht mit, ausser in der mir anschaulicheren Geometrie. Ich bin stets sehr ungern in die Schule gegangen und habe sie als eine Zwangsanstalt zur Vorbereitung auf das unvermeidliche Abiturientenexamen betrachtet.

Das Gymnasium war die mittelalterliche Lateinschule, ein klosterartiger, düsterer Bau, der erst etwas Licht bekommen haben konnte, nachdem die vorliegende Kirche abgebrochen war, an deren Stelle jetzt ein grüner Platz, um den Grabstein eines Sohnes Luthers herum, das Auge erfreute. Der Quarta erinnere ich mich als eines niedrigen Raumes mit schwerer, von einem Pfeiler gestützter Balkendecke. Vielleicht bestärkte diese Umgebung unser romantisches Gelüste, »eine heilige Fehme« zu errichten, welche allerhand Ungebühr zu ahnden hatte. Ich wurde damit betraut, die Fehmbriefe zu schreiben und mit den schauerlichen Zeichen des heimlichen Gerichts zu bemalen. Sie wurden dann dem Missethäter in die Kleider gesteckt, und jeder durfte ihn nun ungestraft »hauen«. Einmal wurde ein solcher Brief, der hinten aus dem Gürtel eines wegen seines zu geschniegelten Wesens verfehmten Jungen verräterisch vorschaute, vom Direktor entdeckt. Ich machte mich auf eine exemplarische Strafe gefasst, aber der Inhalt gab ihm und den anderen Lehrern herzlich wie über einen Spass zu lachen, und so kam ich mit einer leichten Verwarnung davon, solche Allotria künftig zu unterlassen.

In der Tertia erhielten wir einen Mitschüler, der uns an Jahren erheblich voraus war und sich auch wie ein Erwachsener kleidete. Er hatte eine auffallend grosse Nase und erhielt deswegen sogleich den Spottnamen Ovidius Naso oder Naso schechtweg. Er wurde viel gehänselt, und in jeder Zwischenstunde hatte er einen Kampf mit dem kleineren Volk zu bestehen, dem er wie ein ungeschlachter Riese erschien. Diese Kämpfe schilderte ich in einem Heldengedicht in der Weise des Nibelungenliedes und auch in dessen Strophe. Es fand grossen Beifall und selbst bei den Herren Sekundanern einige Beachtung.

Auch sonst beschäftigte ich mich schon damals mehr, als meinen Schulstudien zuträglich sein mochte, mit allerhand poetischen Versuchen, namentlich Dramatisierungen von Märchen in Reimversen und von Historien aus der alten Geschichte in fünffüssigen Jamben.

Von dramatischer Erfindung war kaum die Rede; die geschichtlichen Stoffe, stets heroischen Charakters, wurden nackt übernommen und nur szenisch eingeteilt, wobei einige Verwandlungen mehr oder weniger keine Skrupel verursachten. Doch fehlte nicht ein instinktives Gefühl für dramatische Ökonomie und den theatralischen Effekt. Das Beste freilich mussten pathetische Reden des tugendhaften und gegen alle Versuchungen siegreichen Helden leisten, der die Vaterstadt rettete oder ihren Fall nicht überlebte. Ich hatte mit der Zeit ein ziemlich starkes Buch zusammengeheftet und deklamierte gern daraus, wenn man mich anhören wollte. Es hat sich davon aber glücklicherweise nichts erhalten.

Nun wiederholte ich den Theaterbesuch, so oft sich die vier Silbergroschen erbitten liessen, sah mich aber vor, rechtzeitig einzutreffen, um womöglich noch einen Sitzplatz zu erhaschen. Ich sah nach und nach sämtliche klassischen Stücke, die damals auch ohne berühmte Gäste noch häufiger gegeben wurden, viele mehrmals. Die Schillerschen konnte ich mit vierzehn Jahren halb auswendig, in Shakespeare war ich wohlbewandert. Laut vorzulesen, wenn auch nur den Wärterinnen meiner kleinen Brüder oder der Köchin in der Küche, und die schauspielerische Recitation im Charakter der Rollen nachzuahmen, war mir ein Hochgenuss.

Anfänglich wurde meine eigene Produktionslust durch den Theaterbesuch genährt. Dann machte sich ein Stocken bemerkbar, wahrscheinlich weil strengere Selbstkritik die Unzulänglichkeit solchen Nachschaffens allzubeschämend ausser Zweifel stellte. Auch hatte ich mit Kameraden Freundschaft geschlossen, deren Neigungen sich in ganz anderer Richtung äusserten. Wir nahmen uns wohl einmal bei unseren sonntäglichen Zusammenkünften auch vor, eine Komödie zu schreiben, legten ein Blatt Papier vor uns hin und sassen eine Stunde darüber gebückt, auf einen Einfall wartend. Aber wir brachten natürlich nichts zustande, und auch meine Aufzeichnungen wurden sogleich als schwächliche Reminiszenzen erkannt.

Viel mehr Zeit wurde auf die Herstellung von allerhand Räderwerken zu Mühlen, Wagen, selbst Uhren, und von physikalischen Instrumenten verwandt. Ein Fallschirm, auf den grosse Hoffnungen gesetzt wurden, verschlang mein und meiner Freunde Taschengeld für Monate; als er fertig war, fehlte uns nur die Höhe, von der wir uns an ihm hätten hinablassen können, um seine Tragkraft zu prüfen. Wer hätte auch im voraus an so etwas denken sollen?