Riders – Feuer und Asche - Veronica Rossi - E-Book

Riders – Feuer und Asche E-Book

Veronica Rossi

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Beschreibung

Nach "Riders. Schatten und Licht": Der zweite Teil des aufregenden Fantasy-Abenteuers von Veronica Rossi Daryn hatte schon immer viele Geheimnisse. Sie ist eine Seherin – ihre Aufgabe ist es, mit Hilfe ihrer Visionen Leben zu retten. Doch seit sie sich mit den vier Reitern der Sippschaft in den Weg gestellt hat, ist alles anders. Sebastian ist mit dem fiesesten Dämon von allen in der Unterwelt eingeschlossen, und Daryn hat plötzlich ihre Gabe verloren. Auf eigene Faust will sie Sebastian retten – doch die vier Reiter, allen voran Gideon, der sie sowieso ständig aus der Fassung bringt, wollen Daryn unbedingt begleiten. Gemeinsam müssen sie einen Weg finden, Sebastian aus der unkontrollierbaren Unterwelt zu befreien. Bevor es zu spät ist.

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Seitenzahl: 503

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Veronica Rossi

Riders – Feuer und Asche

Aus dem Amerikanischen von Franca Fritz und Heinrich Koop

FISCHER E-Books

Inhalt

1 Daryn2 Gideon3 Daryn4 Gideon5 Daryn6 Gideon7 Daryn8 Gideon9 Daryn10 Gideon11 Daryn12 Gideon13 Daryn14 Gideon15 Daryn16 Gideon17 Daryn18 Gideon19 Daryn20 Gideon21 Daryn22 Gideon23 Daryn24 Gideon25 Daryn26 Gideon27 Daryn28 Gideon29 Daryn30 Gideon31 Daryn32 Gideon33 Daryn34 Gideon35 Daryn36 Gideon37 Daryn38 Gideon39 Daryn40 Gideon41 Daryn42 Gideon43 Daryn44 Gideon45 Daryn46 Gideon47 DarynDanksagung

1Daryn

Du weißt erst dann, was Wut ist, wenn du längere Zeit mit einer wirklich schlechtgelaunten Stute verbracht hast.

Schatten ist fuchsteufelswild.

Ich bin seit zwei Tagen wieder zurück, aber sie ist immer noch stinksauer auf mich – und entschlossen, es mich wissen zu lassen. Normalerweise spüre ich instinktiv, was sie gerade fühlt. Aber das ist gerade gar nicht nötig, bei dem Theater, das sie veranstaltet. Sechshundert Kilo schwarze Stute, die die Erde mit ihren Hufen aufreißt, sprechen für sich.

Wie Jode sagen würde, wenn er hier wäre: Schatten ist völlig durchgeknallt.

Sie galoppiert bis zum anderen Ende der Anlage, dreht um und prescht dann direkt auf mich zu. Im Licht des stürmischen Nachmittags sieht sie fast aus wie ein normales Pferd. Wenn man sie nicht kennt, könnte man die ungewöhnliche Schwärze ihres Fells und die kleinen Rauchfahnen, die sie hinter ihrem schlanken Körper herzieht, leicht übersehen. Wahrscheinlich würde man nicht einmal bemerken, dass sie zu schnell ist und ein kleines bisschen zu elegant. Aber die Tatsache, dass sie so lange meinen Blick hält, und die Intelligenz in ihren Augen verrät sie dann doch.

Als sie näher kommt, senkt sie den Kopf, macht aber nicht die geringsten Anstalten, langsamer zu werden. Ich stemme die Füße in den Boden und halte mich bereit, hinter den Zaun zu springen. Schatten würde mich nie absichtlich verletzen, aber ich hatte Gideon und Sebastian auch nicht weh tun wollen.

Manchmal verletzt man Menschen einfach – auch wenn es das Letzte ist, was man will.

Ruckartig bleibt sie stehen, nur ein paar Zentimeter vor mir, und stampft mit den Hufen in den Matsch, der mir direkt ins Gesicht spritzt.

»Wow.« Ich wische ihn ab und spucke ihn aus. »Das wär doch nicht nötig gewesen!«

Ihr unverändert starrer Blick lässt keinen Zweifel daran, dass sie nicht zu Späßen aufgelegt ist.

Siehst du es? Siehst du, welche Angst ich hatte, als du mich allein gelassen hast? Siehst du, wie sehr du mich aufbringst?

»Ich weiß, Schatten. Du bist wütend, und dazu hast du jedes Recht. Erzähl mir davon. Ich höre dir zu.«

Ich hoffe, sie spürt, wie sehr es mir leidtut. Ich habe sie nur sehr ungern für eine Woche verlassen, denn ich weiß, wie sehr sie gelitten hat, nachdem wir Sebastian verloren hatten. Sie war immer vollkommen zutraulich und ruhig, aber jetzt fährt sie ständig zusammen. Andere Menschen können sie fast zu Tode erschrecken, genauso wie Flugzeuge und Autos. Zum Glück gibt es davon hier draußen in Wyoming nur wenige.

Ich bin der einzige Mensch, dem sie vertraut – und ich habe sie verlassen. Aber mein Ausflug nach Georgia hat mir die Antwort geliefert, die ich gesucht habe. Nach so vielen Monaten der Unentschlossenheit weiß ich jetzt endlich, was ich tun muss. Wenn man sein Leben aufs Spiel setzt, sollte man unbedingt einen guten Grund dafür haben.

Ich habe jetzt einen guten Grund.

Schatten schnaubt. Ich rechne damit, dass sie gleich wieder einen Tobsuchtsanfall bekommt, aber sie schaut an mir vorbei, genau in dem Moment, als ich hinter mir die Fliegengittertür zuschlagen höre. Ich drehe mich um und sehe Isabel. Meine Freundin, Mitbewohnerin, Mentorin und – wie ich – Seherin tritt von der Veranda der Hütte, die wir gemietet haben.

Willkommen zu Hause, Daryn.

Ich wohne jetzt seit acht Monaten hier. Man könnte es wohl inzwischen so nennen.

Isabel hebt die Zipfel ihres Ponchos an, damit sie nicht durch den Matsch streifen, und kommt auf mich zu. Sie lässt sich Zeit und navigiert vorsichtig um die Pfützen herum. Iz tut nie etwas in Eile. Hinter ihr wird der Rauchfaden, der sich aus dem Kamin nach oben kämpft, von einem heftigen Windstoß ausradiert, steigt dann aber sofort unverdrossen weiter in die Höhe. Heute Nacht werden wir entweder Schnee oder gefrierenden Regen bekommen: Soweit ich das beurteilen kann, ist »Frühling in Wyoming« eine Fehlbezeichnung.

»Das sieht vielversprechend aus«, meint Isabel. »Habt ihr beiden euch wieder vertragen?« Sie stützt sich mit den Armen neben mir auf dem Gatter ab und lächelt; ihre breiten Wangenknochen gleichen aufragenden Bergen. Sie hat ein Gesicht, um in Sonnenuntergänge zu schauen, in Stürme und in die Zukunft – was sie ja als Seherin auch tut. Und was auch ich getan habe, bis sich nach meinem monumentalen Scheitern im letzten Herbst alles veränderte.

»Ich glaube, wir nähern uns der Sache.« Schatten hat ein paar Schritte rückwärts gemacht und sich zum Fluss gewandt. Sie posiert, als wollten wir sie porträtieren, und hat sich scheinbar für den Augenblick ausgetobt. Ich stecke die kalten Hände in die Jackentaschen und überwinde mich, die Frage zu stellen, die ich schon den ganzen Tag stellen will. »Was ist mit dir? Hast du mir verziehen?«

Ich habe auch Isabel für eine Woche allein gelassen. Sie ist nicht meine Mutter. Ich musste sie nicht um Erlaubnis bitten. Aber ich hätte es mit ihr besprechen können.

»Ich war dir nie böse, Daryn.« Isabel streicht sich eine Locke hinters Ohr. Die meisten ihrer Haare haben sich ohnehin schon aus dem Knoten gelöst, den sie am Morgen hochgesteckt hat – noch vor ihrer Frühschicht auf der Franklin Ranch, auf der wir beide arbeiten. Sie schaut mich mit freundlichen Augen an, die an den Rändern grüngolden sind und im Inneren einen warmen Braunton aufweisen. »Ich habe mir Sorgen gemacht. Das ist ein großer Unterschied. Und deine Nachricht hat auch geholfen.«

Ich frage mich, ob das wirklich eine Hilfe war. Auf den Zettel hatte ich weder geschrieben, wohin ich wollte, noch, wie lange ich fort sein würde – nur, dass ich etwas herausfinden müsse. Ich habe ihr noch immer nicht alles erzählt, sollte das aber langsam tun: Nach allem, was sie für mich getan hat, schulde ich ihr ein paar Antworten. Solange ich damit nicht zu viel verrate.

»Also …« Wo soll ich anfangen? Wie weit zurück reicht meine Reue?

Isabel hebt die Augenbrauen. »Also …?«

»Ich war vor etwa zwei Wochen am Computer der Ranch, um ein paar Nachforschungen anzustellen.«

»Nachforschungen?«

»Über die Freunde, die ich hatte, bis ich sie fürchterlich enttäuscht habe – Gideon, Jode und Marcus. Ich wollte rausfinden, wie es ihnen geht. Ob sie in Ordnung sind.« Und sich hoffentlich nicht so miserabel fühlen wie ich, füge ich im Stillen hinzu. »Dabei bin ich auf eine Ankündigung gestoßen. Für ein Ereignis, von dem ich wusste, dass sie alle dort sein würden. Ich konnte nicht widerstehen, ich musste hinfahren, um sie zu sehen, äh …« Auf drei, Daryn Martin. Eins, zwei, drei. »Nach Georgia.«

Als ich es ausspreche, klingt es sogar noch extremer, und ich zucke zusammen, aber Isabel zeigt keinerlei Reaktion.

»Warum Georgia?«, fragt sie, als sei sie nicht im Geringsten überrascht, dass ich viertausend Meilen in neun Tagen gefahren bin.

»Marcus ist in die Armee eingetreten. Es war seine Abschlussfeier nach bestandener Ranger-Ausbildung – das Programm, an dem damals auch Gideon teilgenommen hat. Ich wusste, dass Gideon und Jode dort sein würden. Etwas so Wichtiges würden sie niemals verpassen.«

Ich hätte es mir auch nie entgehen lassen. Aus verschiedenen Gründen.

»Und wie war es? Hattet ihr Gelegenheit, über alles zu sprechen? Waren sie wütend auf dich?«

Sie weiß, dass das meine größte Angst ist. Dass Gideon, Marcus und Jode mir die Schuld für das geben, was mit Sebastian passiert ist. Ich meine, selbst ich gebe mir die Schuld – warum sie dann nicht auch? Diese Angst hat mich über ein halbes Jahr lang hier festgehalten. Und die Tatsache, dass ich keine Visionen mehr habe, die mir sagen, wo ich gebraucht werde.

Direkt nach dem Kampf gegen die Sippschaft, auch bekannt als mein monumentales Scheitern, hörten die Visionen vollständig auf. Seitdem bin ich von der Zukunft abgeschnitten. Ohne sie fühle ich mich unvollständig, spüre diese permanente leise Furcht, als hätte ich etwas Wichtiges vergessen. Aber es ist nicht so, dass ich mich nicht daran erinnern kann, was ich wissen sollte. Ich kann es nur nicht vorhersehen.

»Nein, sie waren nicht wütend auf mich.«

»Das ist gut«, findet Iz und lächelt.

»Nicht wirklich. Es ist gar nichts.« Isabels Lächeln verschwindet. Ich kann ihr nicht mehr ins Gesicht sehen, also schaue ich Schatten an. Sie steht im schwindenden Tageslicht, fast eingehüllt von der Dunkelheit, und tief in meinem Magen macht sich wieder diese Angst breit. Ihr Fell ist so schwarz, so tiefschwarz, dass ich ständig die irrationale Furcht empfinde, ich könnte sie in der Nacht verlieren. »Ich habe nicht mit ihnen gesprochen.«

Meine Worte fühlen sich an wie ein Geständnis und klingen in der stürmischen Stille aus. Ein kalter Wind fegt über das Grundstück, bewegt die Bäume am Rand des Felds und hebt einen einsamen Habicht in den unruhigen Himmel.

»Daryn … Du bist den ganzen weiten Weg gefahren und hast dann nicht mit ihnen geredet?«

»Ich habe kalte Füße bekommen, Isabel! Ich wusste einfach nicht, was ich sagen sollte! ›Entschuldigung‹? Was hätte das gebracht? Schließlich bin ich diejenige mit den seherischen Fähigkeiten. War diejenige. Ich wusste, dass es zu diesem Kräftemessen mit der Sippschaft kommen würde, und ich hätte einen besseren Plan haben müssen. Ich hätte den Ausgang vorhersehen sollen. Aber das habe ich nicht. Gideon hat meinetwegen seine Hand verloren, und Sebastian ist verletzt oder vielleicht sogar tot, aber definitiv mit einem Dämon in einem Splitterreich gefangen – ein Reich, das ich geöffnet habe. Wie entschuldigt man sich dafür, dass man einen so gewaltigen Fehler gemacht hat? Was hätte ich denn sagen können, das daran etwas ändert?«

Isabel strahlt eine meditative Ruhe aus, um die ich sie beneide. Ich habe versucht, ihr nachzueifern. Von ihr weiß ich: Je ruhiger man ist, desto mehr kann man hören, sehen, verstehen und sogar fühlen. Ruhe kann einen ausfüllen, und im Zuhören und in der Stille liegt Weisheit. Aber seit meinem Versagen bin ich nur selten ruhig. Ich habe eine neue Lautstärke in mir, ein inneres Schreien. Es kommt aus heiterem Himmel und hört sich an wie diese Signalhörner, die die Leute zu Sportveranstaltungen mitbringen. Es muss nur irgendjemand oder irgendetwas den richtigen Nerv treffen, und WAAHHHH!

Es ist furchtbar. Das hat Isabel nicht verdient. Und Schatten auch nicht.

Sie macht ein paar Schritte auf mich zu, bevor sie feststellt, dass es mir gutgeht. Überwiegend gut.

Meine Kehle fühlt sich rau an, und ich beiße die Zähne so fest zusammen, dass sie abzubrechen drohen. Isabel umfasst mein Handgelenk und drückt es mit ihrer starken Töpferhand. Ich schaue dem Habicht zu, wie er im Sturmwind dahingleitet, während ich darauf warte, dass die Tränen, die mir in die Augen gestiegen sind, wieder absorbiert werden. Die Wolken im Westen sind aufgerissen und schütten sich aus. Im Gegensatz zu mir.

»Näher bin ich nicht herangekommen.« Ich hole mein Handy aus der Tasche und zeige ihr das einzige Foto, das ich während meiner einwöchigen Abwesenheit gemacht habe. Ich habe es ungefähr fünfhundertmal angesehen, und immer empfinde ich etwas anderes dabei. Dieses Mal ruft es ein schmerzhaftes, sehnsüchtiges Gefühl hervor, als wollte ich dieser Habicht dort oben sein und durch den Sturm gleiten – als sei Furcht nur ein Mythos.

Isabel greift sich das Handy. »Ist das Gideon?« Sie muss die Antwort wohl in meinem Gesicht ablesen, denn sie wendet sich wieder dem Display zu und betrachtet das Bild. Ich frage mich, ob sie seine Handprothese sucht. Man kann sie auf dem Foto nicht sehen. Auch ich habe sie auf der Feier kaum erkennen können. »Er sieht gut aus.«

»Das Foto zeigt ihn von hinten.« Er hatte nach vorne geschaut, inmitten einer Menge gestanden, gut zehn Meter von der Stelle entfernt, wo ich mich wie eine Stalkerin versteckt hielt. Was ich – genau genommen – ja auch war.

»Ja, aber ich kann es trotzdem erkennen.«

In mir steigt ein Lächeln auf. Das wird jetzt interessant. »Woran, Iz? Hat er einen gutaussehenden Rücken? Findest du, dass sein Hintern gut aussieht?«

Sie rollt mit den Augen. »Wenn du es unbedingt wissen willst: Er hat eine attraktive Haltung. Er wirkt, als fühle er sich in der Situation wohl. Daraus habe ich es geschlossen.« Sie gibt mir das Handy zurück. »Ich habe doch recht, oder?«

»Irgendwie schon. ›Heiß‹ beschreibt ihn allerdings besser als ›gutaussehend‹, aber … ist ja auch egal.« Von Gideons gutem Aussehen zu schwärmen läuft auf das Gleiche hinaus, als würde ich vor dem Schaufenster einer Bäckerei voll mit den köstlichsten Sachen stehen, die ich je gesehen habe – nur um dann festzustellen, dass die Eingangstür verschlossen ist. Und mir eingestehen zu müssen, dass ich diejenige bin, die sie abgeschlossen hat.

»Ich weiß, dass es schwer für dich gewesen ist, Daryn.«

»Ich wünschte nur, ich hätte dich nicht mit reingezogen.« Ich habe mich schon gefragt, ob ich ihre aktuelle Mission als Seherin bin. Vielleicht haben ihre seherischen Fähigkeiten ihr verraten, wie sehr ich sie brauche?

»Das hast du nicht.«

»Trotzdem danke. Für alles. Dafür, dass du hier mit mir ausgesetzt bist.« Mein Blick schweift über die weite Landschaft, die mich umgibt. So schön und so abgelegen.

»Du musst mir nicht danken, das weißt du«, sagt sie leichthin, aber ihr Blick ist von einer besonderen Intensität. Sie streicht mir über den Arm und schaut dann zur Hütte. »Es wird bald dunkel, und ich habe Suppe auf dem Ofen. Kommst du rein? Wir können beim Essen weiterreden.«

»Ich komme gleich.« Ich höre, wie sie davonstapft, und als die Fliegengittertür zuschlägt, weiß ich, dass sie im Haus ist.

Schatten kommt wieder näher, nickt und schüttelt den Kopf, lässt mich keine Sekunde aus den Augen. Irgendwie ahne ich, dass sie mehr weiß, mehr spürt, als selbst Isabel.

Was verrätst du mir nicht? Was hast du vor?

Ich klettere vom Gatter herunter und streiche ihr über ihren kräftigen Hals. Die wellige, dunkle Mähne umhüllt meine Finger und folgt meinen Bewegungen. Sie fühlt sich an wie von der Sonne gewärmte Seide. Wie Beständigkeit.

»Heute Nacht machen wir uns auf die Suche nach Sebastian, Süße«, verspreche ich ihr. »Es wird Zeit, die Dinge in Ordnung zu bringen.«

2Gideon

»Ich sag’s ja nur ungern, Cordero«, sage ich und lasse mich auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch fallen. »Aber ich bin ein bisschen enttäuscht.«

Natalie Cordero, Doktor der Forensischen Psychologie, die mich damals verhört hat und jetzt mein Boss ist, blickt von ihrem Laptop auf und schaut mich über den Rand ihrer Brille hinweg an. »Guten Morgen, Gideon. Ich erinnere mich nicht, dich hergebeten zu haben.«

»Schon gut. Ich mach’s kurz.« Ich lege den linken Arm mit der Handprothese deutlich sichtbar auf die Stuhllehne. Ich scheue mich nicht davor, sie als Propaganda einzusetzen, wenn es dabei hilft, Sebastian zurückzuholen. Falls es eine bessere Erinnerung an das gibt, was die Sippschaft ihm angetan hat, kenne ich sie jedenfalls nicht. Sie hat mir ebenfalls zugesetzt, wenn auch nicht so schlimm. »Wir brauchen Unterstützung. Mehr Drohnen, mehr Genies – mehr von allem, und zwar schnell.« Nach acht Monaten haben wir endlich die Chance, Sebastian zurückzuholen, aber dafür müssen wir zuerst Daryn finden. Über sie führt unser Weg in das Reich, in dem Bas gefangen ist. Daryn besitzt nicht nur den Schlüssel – sie ist auch die Einzige, die ihn benutzen kann. Aber all das zählt nicht, wenn wir sie nicht finden. »Inzwischen sind vier Tage vergangen«, fahre ich fort. »Und Sie wissen ja, was man über kalte Spuren sagt.«

»Was denn?«

»Man sagt …« Ich reibe mir das Kinn und versuche, Zeit zu schinden. Ich hatte gedacht, sie würde an meiner Stelle die Antwort geben. »Man sagt, dass kalte Spuren scheiße sind.«

»Elegant formuliert, aber noch ist die Spur nicht kalt. Wir sind dran. Einige der besten Analysten der Welt arbeiten an der Sache. Wir machen Fortschritte.«

Ihre Augen wandern an mir vorbei zu der Lagerhalle, in der das Team um Schreibtische, Laptops und Projektionstische versammelt ist. Hier, in diesem ehemaligen Großmarkt, haben wir direkt nach Daryns Erscheinen in Fort Benning vor ein paar Tagen unsere Kommandozentrale eingerichtet. Seit Cordero die Sache übernommen hat, sitzt sie im Büro des ehemaligen Marktleiters, das irgendwie noch stärker nach gefrorenem Fleisch riecht als der Rest der Lagerhallen. Alle anderen haben sich ihre Arbeitsplätze inmitten von fast viertausend Quadratmetern offener Fläche eingerichtet.

Es ist unglaublich. Da draußen sind drei Doktoranden des MIT, und wo stellen sie unsere Schreibtische hin? Genau in die Mitte, damit wir alle über Verlängerungskabel stolpern und in den Genuss der miesesten Beleuchtung und Belüftung kommen.

»Ich verstehe, dass du bis in die Haarspitzen motiviert bist, Gideon, aber wir brauchen nicht noch mehr Leute«, fährt Cordero fort. »Es wäre auch gar nicht realistisch. Allein die Sicherheitsüberprüfung würde Monate dauern. Selbst wenn ich es beschleunigen könnte: Die Einweisung neuer Mitarbeiter würde uns nur langsamer machen. Wir haben genug Personal. Wir machen Fortschritte. Und wir werden sie finden.«

Sie hält inne, denn vermutlich erwartet sie, dass ich sie dränge. Aber eigentlich bin ich gar nicht sicher, ob mehr Leute tatsächlich helfen würden. Niemand hat die Nummer mit dem Verschwinden so gut drauf wie Daryn.

Ich stehe auf. »Alles klar. Gutes Gespräch.«

»Gideon, warte eine Sekunde. Wo du schon mal da bist – es gibt tatsächlich etwas, worüber ich mit dir sprechen möchte.«

Ich setze mich wieder hin und lehne mich zurück, aber jetzt bin ich auf der Hut.

»Um was geht’s?«

Cordero klappt ihren Laptop zu, lehnt sich ebenfalls zurück und schenkt mir ihre volle Aufmerksamkeit. Erst jetzt fällt mir auf, dass sich meine rechte Hand zur Faust geballt hat. Cordero bemerkt es auch. »Willst du die Tür schließen?«, fragt sie.

»Wollen Sie, dass ich sie schließe?«

»Wenn du dich dann wohler fühlst.«

»Wollen sie mich psychoanalysieren?«

»Nicht bewusst.«

»Dann kann die Tür offen bleiben.«

»Wie du willst.«

Meine Knie sind fest gegen ihren Schreibtisch gepresst, also schiebe ich den Stuhl zurück und versuche, mich zu entspannen. Jodes Lachen dringt aus der Lagerhalle an mein Ohr, über das Klappern von Keyboardtasten und das Brummen von Generatoren hinweg. Sein hohes Glucksen erinnert mich an das Lachen eines kleinen Kindes – eines psychotischen kleinen Kindes.

Unser Team ist technisch gesehen nicht militärisch. Es fällt total aus dem üblichen Rahmen und besteht aus drei von vier Reitern – Marcus, Jode und mir. Dazu kommen Cordero, ihr Assistent Ben, eines der MIT-Wunderkinder, Sophia und Soraya, die beiden anderen Wunderkinder, sowie acht Soldaten einer Spezialeinheit, die mit uns gegen die Sippschaft gekämpft haben – jene Rebellengruppe von Dämonen, die wir im Herbst ausgeschaltet haben.

Jedenfalls beinahe ausgeschaltet. Samrael ist noch immer da draußen – immer noch da drinnen, um genau zu sein. In dem Reich, das er öffnen konnte, indem er Daryn unter Druck setzte. Und indem er meine linke Hand abschnitt. Was er bitter bereuen wird, wenn ich ihm das nächste Mal begegne.

Seit letztem Herbst ist kein Tag vergangen, an dem ich nicht an Bastian gedacht habe – und daran, wie ich ihn zurückholen kann. Corderos Motive für die Suche sind wohl eher beruflicher Natur. Sie hat Bas nie kennengelernt, beschäftigt sich aber schon seit Beginn ihrer Karriere mit okkulten und paranormalen Phänomenen. Die gesamte Sondereinheit wurde für diesen speziellen Zweck eingerichtet. Allerdings sind mir ihre Motive herzlich egal, solange sie uns hilft. Für Marcus, Jode und mich ist es etwas Persönliches: Bastian ist einer von uns.

Cordero nimmt ihre Brille ab und legt sie auf den Schreibtisch. »Wie geht es dir heute, Gideon?«

»Super. Und Ihnen?«

»Gut.«

Sie nickt, also nicke ich auch.

Heute habe ich tatsächlich Mühe, meine Frustration unter Kontrolle zu halten. Irgendetwas sagt mir, dass es darum geht bei diesem kleinen Schwatz.

Jeder spürt es, wenn ich gereizt bin. Ich bin eine Inkarnation von Krieg, der zweite und rote Apokalyptische Reiter – und das bringt es lustigerweise mit sich, dass meine Wut buchstäblich ansteckend wirkt. Das ist eine Belastung für die Gruppe. Zum Glück hat Cordero in den letzten sechs Monaten ein solides Instrumentarium entwickelt, um die Wutbombe Gideon zu entschärfen.

»Wie wäre es, wenn wir unsere bisherigen Erkenntnisse noch einmal durchgehen?«, schlägt sie vor.

Ah. Neue Richtung. Sie will meine Aufmerksamkeit wieder auf etwas Produktiveres lenken. Das ist super, wenn es funktioniert. »Klar.«

»Du hast deine Schwester bei Marcus’ Abschlussfeier allein in der Menge stehen sehen. Warum bist du zu ihr gegangen?«

»Siebter Zwillingssinn.«

Corderos Lächeln ist schwach, erreicht kaum ihre Mundwinkel. Vor ein paar Monaten hat sie mir alles über den Forschungsbericht erzählt, den sie während ihres Studiums in Yale über telepathische Verbindungen zwischen Zwillingen erstellt hat. Sie ist verrückt nach allen Dingen, für die es keine Erklärung gibt.

Manchmal fühle ich mich wirklich total mit Anna verbunden, also ist es seltsam, dass sie von all dem nichts weiß. Meine Schwester hat keine Ahnung, dass ich Krieg bin. Oder dass ihr Freund Sieg ist.

Jode, mein Gott. So ungefähr der schlimmste Typ, mit dem deine Schwester zusammen sein kann. Das ist nicht richtig.

Die Jungs und ich wissen jedenfalls, dass wir nicht deshalb Inkarnationen der Reiter sind, weil wir die Endzeit oder das Jüngste Gericht herbeiführen. Wir sind, was wir sind, als eine Art Lektion. Bei mir zum Beispiel könnte man sagen, dass ich ein Wutproblem habe. Man könnte auch sagen, dass ich mehr als genug inneren Aufruhr erlebt habe. Als Krieg musste ich lernen, damit zurechtzukommen. Ich musste es wirklich lernen. Das Gleiche gilt für Jode, alias Sieg, der mit seinem Überlegenheitsproblem klarkommen musste, und für Marcus, der als Tod härter für ein gutes Leben kämpfen musste als jeder, den ich persönlich kenne. Wir sind sozusagen Metaphern auf zwei Beinen. Menschliche Baustellen – aber wir machen Fortschritte. Jeder Einzelne von uns ist charakterlich stärker geworden und besitzt mehr Vertrauen, weil wir mit unseren Schwächen nun so offen umgehen.

»Erzähl mir davon«, fordert Cordero mich auf. »Du hast also Anna gesehen und etwas Ungewöhnliches bemerkt. Was?«

»Hey, Cordero. Erinnert Sie das nicht auch an die Zeiten, in denen Sie mich vernommen haben, mir aber insgeheim am liebsten den Kopf abgerissen hätten?« Die ganze Situation – hier zu sitzen und ihre Fragen zu beantworten – weckt üble Erinnerungen daran, wie einer der Sippschaftler, ein Gestaltwandler, sie imitierte und mich verhörte.

»Das war nicht ich, und deshalb erinnere ich mich natürlich auch nicht daran.« Sie kneift kaum merklich die Augen zusammen. »Willst du darüber sprechen?«

»Nein, danke. Muss nicht sein.« Es ist nicht so, dass ich Cordero nicht vertraue. Ich kann es eben nur schwer vergessen. »Sie haben nach Anna gefragt. Warum ich zu ihr gegangen bin.« Ich hebe die Schultern. »Ich wusste es einfach. Sie hatte diesen Ausdruck im Gesicht, als sei etwas passiert. Anna sagte, ein Mädchen sei zu ihr gekommen, und sie habe nervös gewirkt. Sie stellte sich als eine Freundin von mir vor und bat Anna, mir den Schlüssel zu geben.«

Meine Aufmerksamkeit richtet sich auf ebendiesen Schlüssel, der jetzt zwischen Corderos Computer und ihrer Brille liegt. Er ist schwerer als ein gewöhnlicher Schlüssel und muss uralt sein. Daryn hat ihn wochenlang um den Hals getragen. Die Jungs und ich haben ihn für unglaublich bedeutend gehalten – ein geheiligter Schlüssel, mit dem man die Himmelspforte öffnet. Dabei hatten wir den echten Schlüssel die ganze Zeit bei uns, ohne es zu wissen – unter uns aufgeteilt und als Armbänder getarnt. Vier zweckentfremdete Armbänder, die unter Daryns Kontrolle ein Splitterreich geöffnet hatten, als sie von einem der Sippschaftler dazu gezwungen wurde. »Ich erkannte den schweren Schlüssel sofort wieder, als Anna ihn mir gab und …«

»Ich glaube, ich habe was!« Ben, einer aus dem MIT-Trio, stürmt mit einem zerknitterten Blatt Papier in der Hand ins Büro. Er legt es auf den Tisch. Für eine Sekunde schauen wir alle dieses Miniatur-Papiergebirge an, dann stürzt Ben sich wieder darauf. »Mist, Entschuldigung«, sagt er und streicht sie glatt. »Das stammt aus einer Tankstelle etwa fünfundsechzig Meilen nördlich von hier. Oh, hey, Gideon«, fügt er hinzu, als er mich endlich bemerkt.

Cordero nimmt das zerknitterte Blatt und sieht es sich genauer an.

Ich habe mitten im Ausatmen die Luft angehalten. Völliger Atemstillstand. Außerdem scheine ich spontan einen Röntgenblick entwickelt zu haben, denn durch die Fasern des Papiers hindurch kann ich das schwache Bild eines Mädchens erkennen.

Die Enttäuschung ist unbeschreiblich.

Endlich atme ich vollständig aus. »Das ist sie nicht.«

Cordero runzelt die Stirn und dreht das Blatt um. »Bist du sicher?«

»Ja.« Das Mädchen auf dem Foto hat langes blondes Haar und ist ungefähr im richtigen Alter, etwa siebzehn. Davon abgesehen sieht sie Daryn nicht im Geringsten ähnlich.

»Es ist ein grobkörniges Bild«, meint Ben. »Ich kann es schärfer machen.«

»Dann wäre es ein schärferes Bild, auf dem sie nicht zu sehen ist.«

Cordero wirft mir einen Blick zu. Sie versucht, mich dazu zu bringen, dass ich die anderen bestärke, sie unterstütze. Alle arbeiten rund um die Uhr. Wir haben draußen Feldbetten aufgestellt, und die meisten von uns schlafen hier, anstatt zurück zum Motel zu fahren. »Bleib dran, Ben«, sagt sie und gibt ihm das Blatt zurück.

»Du machst das echt gut, Mann«, füge ich hinzu, um ihn zu ermutigen. »Aber versuch, noch besser zu werden. Und schneller.«

»Unbedingt. Du hast völlig recht«, stimmt Ben mir total ernst zu. Dann joggt er buchstäblich zurück zu seinem Schreibtisch.

Ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen. »Sehen Sie? Das ist voller Einsatz, Cordero. Alle sollten so hart arbeiten.«

Sie schüttelt den Kopf. »Du nimmst dir ganz schön was raus.«

Ich lache. »Was hab ich denn getan?«

»Schon gut. Es ist meine Schuld. Ich hätte niemals zulassen sollen, dass sie dich als Krieg sehen.«

»Ach was. Sie haben es geliebt.« Bis auf Daryn, die nicht hier ist, und einigen sehr hohen Tieren von der Regierung sind die Leute hier in diesen Lagerhallen die Einzigen, die wissen, was wir sind. Oder wer wir sind? Ist ja auch egal.

Bis gestern Abend – als wir ihnen hier in der Halle eine Demonstration mit allem Drum und Dran geboten und unsere Waffen, Rüstungen und Pferde herbeigerufen haben – wussten es die Techniker allerdings nur theoretisch. Das Ganze war Corderos Idee: Sie dachte, es würde das Team motivieren, und damit lag sie genau richtig. Wir haben mächtig Eindruck auf sie gemacht, besonders Marcus. Wenn man den Tod zu sehen bekommt, passiert was mit einem. Ich wünschte, wir hätten ihre Reaktionen gefilmt.

Cordero und ich machen da weiter, wo wir aufgehört haben. Es muss ungefähr das zehnte Mal sein, dass ich diese Fragen beantworte, aber wir arbeiten an meiner Frustration, und außerdem gehört es zu ihrer investigativen Methode. Sie hofft, auf diese Art über einen Hinweis zu stolpern.

Während wir alles noch mal durchgehen, schlendern Marcus und Jode herein. Jode setzt sich auf den Stuhl neben mir; als er seine Hand auf die Lehne legt, blitzt seine Uhr auf. Als Sieg ist er eine Inkarnation des weißen Reiters. Selbst in Straßenkleidern gibt es Hinweise darauf – wenn man weiß, wonach man suchen muss. In dem fluoreszierenden Licht glänzen Jodes blonde Haare ein wenig zu sehr. Das Gleiche gilt für seine Uhr, seine Fingernägel. Er hat etwas Protziges an sich. Jode – eigentlich James Oliver Drummond Ellis – ist Engländer, ein smartes, wohlerzogenes und wohlgebildetes Exemplar, und einhundert Prozent tödlich. Ohne den alten Drummy wäre keiner von uns hier. Vielleicht wäre sogar die Welt nicht dieselbe. Als wir gegen die Sippschaft kämpften, feuerte Jode endlose Salven von Pfeilen von seinem weißen Hengst aus ab und verhinderte damit, dass wir von Dämonen überrannt wurden. Es gab viele Helden an diesem Tag, aber Jode war ganz oben auf dem Siegertreppchen.

Marcus lehnt sich an die Wand hinter Cordero, hält sich wie immer im Hintergrund. Er richtet seine hellen Augen auf mich. Ein ruhiger, unverwandter Blick, das Starren des Todes. Bevor ich ihn besser kennengelernt habe, empfand ich diesen Blick als absolut feindselig. Das hat sich inzwischen komplett geändert. Marcus und ich sind miteinander verbunden wie Anna und ich – wir brauchen keine Worte. Er hatte es verdammt schwer, wuchs in Pflegeheimen rund um Chicago auf. Zwar spricht er nur selten darüber, aber es muss echt ums Überleben gegangen sein damals – jeden Tag. Ich habe letztes Jahr meinen Dad verloren, und nichts und niemand wird ihn je ersetzen, aber es dauerte nicht lange, und dann kam Marcus. Ein Bruder. Wahrscheinlich vom Schicksal vorbestimmt. Mom und Anna haben ihn auch gebraucht.

Marcus verschränkt die Arme vor der Brust und hört zu, während sein Blick von mir zu Cordero wandert. Jodes Aufmerksamkeit gleicht eher einem Satelliten, der auf keinen bestimmten Ort ausgerichtet ist, aber alles aufnimmt. Ich fasse zusammen, was passiert ist, und beschreibe, wie ich hinter Daryn hergesprintet bin – in die Richtung, in die Anna gezeigt hatte – und dabei die Aufmerksamkeit der Militärpolizei erregt habe, aber letztlich keinen Erfolg hatte: Daryn war wieder einmal verschwunden. Noch immer spüre ich die Nachwirkung dieses Moments. Brutal.

»Also gut«, sagt Cordero. »Was wissen wir mit Bestimmtheit?« Sie legt die Fingerspitzen gegeneinander und denkt nach. Das konnte ich auch mal. »Wir wissen, dass sie nicht nur deshalb dort aufgetaucht ist, um dir den Schlüssel zu geben. Er hat keinen echten Wert, also hätte sie auch einen viel einfacheren Weg finden können, um ihn an den Mann zu bringen – falls das ihre Absicht gewesen wäre. Sie muss aus einem anderen Grund dort erschienen sein. Aber aus welchem Grund, und was hat sie veranlasst, von ihrem Plan abzuweichen?«

»Woher wollen Sie wissen, dass sie von ihrem Plan abgewichen ist?«

»Ich stelle eine Vermutung an, auf Grundlage der Nervosität, die deiner Schwester aufgefallen ist.«

»Sie meinen, Daryn hat irgendetwas Bedrohliches bemerkt und ihre Meinung geändert?«

»Oder ihr Herz hat seine Meinung geändert.«

Cordero und Jode tauschen einen Blick. Marcus senkt den Kopf und starrt auf seine Füße.

Das gefällt mir nicht. »Spuck’s aus, Ellis. Marcus … Würde mich bitte mal jemand aufklären?«

Jode schaut Cordero an. Ich meine, ein angedeutetes zustimmendes Nicken von ihr wahrzunehmen. »Und wenn sie nicht wegen Sebastian gekommen ist?«, fragt er.

»Daryn könnte aus rein persönlichen Gründen gekommen sein«, ergänzt Cordero.

»Ah. Jetzt hab ich’s kapiert. Ihr meint, ich sei der persönliche Grund. Schöne Theorie, aber damit liegt ihr daneben. Deshalb würde Daryn nie auftauchen. Sie ist ganz auf die Sache konzentriert. Hat immer nur ihre Pflichten als Seherin im Kopf.« Warum sagen sie das – um mich zu testen? Oder halten sie es wirklich für denkbar? »Jedenfalls steht dieser Teil der Diskussion nicht zur Diskussion.«

»Aber vielleicht sollte er das«, sagt Cordero. »Vielleicht solltest du in Betracht ziehen, dass sie deinetwegen gekommen ist und dich sehen wollte, aber dann verschwunden ist, weil sie nicht bereit war.«

Marcus verschränkt die Arme vor der Brust. »Vielleicht hat sie deine Prothese gesehen.«

»Meinst du die?« Ich hebe meine Roboterhand. Sie beherrscht fünfzig verschiedene Gesten, aber der Stinkefinger gehört zu denen, die ich am häufigsten verwende.

Marcus lächelt bereits: Er wusste, was kommen würde.

»Das war vielleicht gar nicht nötig«, fügt Jode hinzu. »Ein Blick auf dich könnte sie veranlasst haben, das Weite zu suchen.«

Ein Bild blitzt vor meinem inneren Auge auf. Daryn sieht mich, dreht sich auf dem Absatz um und nimmt die Beine in die Hand, als sei sie in einem billigen Horrorfilm.

Ich muss lachen. Das Ganze ist einfach zu traurig. »Wieso ist das für irgendwas von Bedeutung?« Ich schwitze und kann nicht mehr sitzen. Also stehe ich auf und stütze mich mit den Händen auf der Rückenlehne des Stuhls ab. »Hey, Ben«, rufe ich in die Lagerhalle. »Wie läuft dein Privatleben? Irgendwelche Zurückweisungen, die du mit unserer Psychologen-Chefin analysieren möchtest?«

Ben springt auf und läuft um seinen Schreibtisch herum. »Unbedingt. Ich bin der König der Zurückweisungen.«

»Alter, dann bin ich dein Mitregent.«

»Blake«, warnt Cordero.

»Wir unterhalten uns später, Ben. Bleib dran. Du machst das super.«

Ben wirbelt herum und geht wieder an seinen Schreibtisch.

Cordero seufzt. »Das ist eine durchaus relevante Ermittlungsrichtung, Gideon, denn ihr Erscheinen könnte eine falsche Spur sein. Sie scheint nicht gefunden werden zu wollen. Wir müssen in Betracht ziehen, dass sie an der Suche nach Sebastian nicht beteiligt sein will. Und da sie die Kontrolle über den Schlüssel hat …«

Ich schüttle den Kopf. »Diesen Überlegungen kann ich mich nicht anschließen. Wenn Daryn nicht bereit ist, Bastian zu suchen, sind wir aufgeschmissen. Und solange wir sie nicht finden, werde ich nicht das Handtuch werfen. Wir gehen davon aus, dass sie aufgetaucht ist, um sich auf die Suche nach Sebastian zu machen. Oder worum geht es hier?«

»Ich will nur verstehen, warum sie verschwunden ist, ohne mit dir zu sprechen – obwohl sie eigentlich deine Hilfe wollte.«

»Weil Daryn nun mal so ist.«

Bei diesen Worten fahren Corderos Antennen aus. Es ist nur ein subtiles, kurzes Blinzeln, als habe sie Angst, sie könne etwas verpassen. »Erklär mir, was du damit meinst.«

»Sie ist nicht gerade das offenste Buch.«

»Kannst du das bitte erläutern?«

»Wenn sie ein Buch wäre, könnte man nur ein paar Seiten lesen.«

»Etwas präziser, bitte.«

Ich hole tief Luft und atme dann langsam aus. Wie kann ich es erklären, ohne Daryn in die Pfanne zu hauen? »Sie ist niemand, der um Hilfe bitten würde, selbst wenn sie welche braucht. Sie ist … Ach, keine Ahnung. Sie ist einfach scheu.«

»Dann könnte sie beispielsweise versuchen, dich um Hilfe zu bitten, dann aber kalte Füße kriegen und sich zurückziehen?«

Marcus und Jode schauen mich an. Wir wissen alle, worauf das hier hinausläuft.

»Das könnte passieren.«

»Und dann?«, hakt Cordero nach.

»Würde sie es auf eigene Faust versuchen.«

Die Stille, die sich über uns senkt, scheint sich im gesamten Lager auszubreiten. Als hätte das Team da draußen ebenfalls eine Veränderung bemerkt.

»Du hältst es also für möglich, dass sie sich allein auf die Suche nach Sebastian begibt?«

Ja, genau das würde Daryn tun. Genau das.

Bevor ich antworten kann, joggt Ben in den Raum. Dieses Mal hat er seinen Laptop dabei, den er auf Corderos Schreibtisch stellt. Sofort weiß ich, dass es dieses Mal kein falscher Alarm ist. Als wir uns um das Gerät versammeln, wummert mein Herzschlag in meinen Ohren.

Der Bildschirm ist in vier Quadrate aufgeteilt. Meine Augen wandern sofort zu dem Bild oben rechts. Es ist ein Foto.

Von Daryn.

Eine Nahaufnahme von ihr in einem Ford Pick-up. Sie hat sich leicht aus dem Fenster an der Fahrerseite gelehnt, um einem Mitarbeiter an einer Mautstelle Geld zu reichen. Ihre Haare sind zu einem hohen Pferdeschwanz zusammengebunden, und sie trägt eine Sonnenbrille mit Gläsern in Herzform, was seltsam und untypisch wirkt – aber andererseits habe ich sie seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen, außer ständig als Bild in meinem Kopf. Vielleicht hat sie sich verändert. Vielleicht habe ich die echte Daryn ja nie kennengelernt. Vielleicht war alles, was zwischen uns passiert ist, nur gespielt.

Wie auch immer. Egal.

Gut, dieses Quadrat wäre schon mal abgehakt.

Das Bild darunter zeigt die Aufnahme eines Nummernschilds mit Informationen zur Registrierung. Der Wagen ist zugelassen auf eine Isabel Banks in Moose, Wyoming. Was mich zu den linken Bildausschnitten führt, beides Karten. Eine zeigt die Route, die Daryn von Georgia nach Wyoming gefahren ist oder noch immer fährt. Auf der anderen Karte ist Isabel Banks’ letzte bekannte Adresse markiert.

 

125 Smith Ranch Road, Moose, Wyoming

 

Daryn ist in Wyoming.

Ist sie die ganze Zeit dort gewesen? Nur ein paar Meilen von dem Punkt entfernt, wo ich sie das letzte Mal gesehen habe?

Der Name Isabel Banks klingt vertraut. Daryn hat mir mal erzählt, dass Seher ein großes Netzwerk besitzen. Sie helfen sich gegenseitig mit ihren Verbindungen – bei Reisen, Unterkünften und wenn sie Geld brauchen. Wir nehmen an, dass Daryn uns dank ihrer Verbindungen nach Fort Benning bringen konnte.

Jetzt fällt es mir wieder ein: Isabel ist ebenfalls eine Seherin. Sie war Daryns Mentorin, als sie zum ersten Mal Visionen hatte. Sie ist wie eine Tante für mich,hatte Daryn gesagt.

»Das muss sie sein«, meint Ben stolz. »Das ist sie doch, oder nicht?«

Ich kann ihm nicht antworten. Meine Kiefer scheinen zusammengeschweißt zu sein, und ich bin wieder bei dem Quadrat oben rechts. Tausende von Gedanken, von denen ich keinen einzigen zu fassen bekomme, rasen durch meinen Kopf.

Cordero blickt auf, wartet auf eine Bestätigung.

»Das ist sie«, sagt Marcus schließlich.

»Ja, das ist Daryn«, bestätigt auch Jode.

»Ben, melde einen Flug nach Wyoming an.« Cordero nimmt ihren Laptop und steht auf. »Wir sollten ihr einen Besuch abstatten.«

Ich bin schon aus der Tür.

3Daryn

»Daryn? Alles in Ordnung?«

»Ja, mir geht’s gut«, antworte ich automatisch. Ich stecke mir ein Stück Maisbrot in den Mund und schinde so eine Sekunde, um zu verarbeiten, was ich gerade beinahe überhört hätte. Isabel hat irgendwas darüber erzählt, was auf der Ranch passiert ist. »Echt, ein schwarzer Wolf?«, sage ich, als ich den Faden wiedergefunden habe.

Draußen regnet es. Eigentlich schüttet es. Ein leises Rauschen erfüllt die Hütte – so wie bei meinen geräuschunterdrückenden Kopfhörern, nur eine Million Mal lauter. Den Anfang des Unwetters habe ich ebenfalls verpasst.

Isabel trinkt einen Schluck von ihrer Tortilla-Suppe und nickt. »Ja, direkt hinter der Ranch. Caitlin und Samantha waren gerade dabei, die Wege für den Sommer frei zu machen, und sind fast mit ihm zusammengestoßen. Sie sagten, er sei nur ein paar Meter entfernt und so gewaltig gewesen, dass sie ihn zuerst für einen Schwarzbär gehalten haben.« Sie lächelt. »Er hat den Mädchen einen Schreck fürs Leben eingejagt.«

Diese Information ist tatsächlich bemerkenswert. Es gibt Tausende von Wölfen in Wyoming, aber man bekommt sie nie zu sehen. Sie verstehen es nur zu gut, auf Distanz zu bleiben, was ich bewundere. Aber ein schwarzer Wolf ist äußerst selten. Normalerweise würde ich mich dafür sehr interessieren, aber während Iz ins Detail geht, drifte ich wieder in meine eigenen Gedanken ab. Denn was ist seltener, als einen seltenen schwarzen Wolf zu sehen?

Einen Freund zu retten, der in einem Splitterreich gefangen ist. Gemeinsam mit einem Dämon.

Sobald Isabel gegangen ist, werde ich es tun.

In fünfzehn Minuten werde ich endlich ein paar gewaltige Fehler wieder in Ordnung bringen.

Während wir unsere Suppe essen, gebe ich mir Mühe, zu nicken und im richtigen Moment zu antworten, aber meine Gedanken schweifen immer wieder zu den Dingen ab, die ich heute Abend mitnehmen muss. Was braucht man für eine Reise in eine andere Dimension? Warme Kleidung, Handy, Seil, ein Messer … Moment mal, ein Messer?

Ja. Ein Messer. Schließlich will ich lebendig wieder zurückkehren, und zwar mit Sebastian.

»Bist du sicher, dass du heute Abend nicht auch vorbeikommen willst?«, fragt Isabel, als wir mit dem Abwasch beginnen. Sie spült ein Glas, und ihre Bewegungen gehen so fließend ineinander über – abreiben, abspülen, abtropfen lassen –, als seien es Worte im selben Satz. Ich liebe die Art, wie sie sich bewegt, so anmutig, als sei sie noch immer die junge Tänzerin, die sie einmal war. Selbst ihre Gesichtszüge sind anmutig, eine Mischung aus japanischen und spanischen Merkmalen, die sie wie ein lebendes Aquarell erscheinen lassen. Im Vergleich zu ihr bin ich praktisch ein Ungeheuer. Groß, muskulös und plump, mit meinen nordischen Wurzeln und dem widerspenstigen blonden Haar, das weder glatt noch lockig ist. Kleine Wikingerinnen – so hat Dad Josie und mich immer genannt.

»Es läuft wieder ganz gut«, fährt Iz fort. »Diese Woche sind wir komplett ausgebucht. Und du weißt, dass die Jungs nur tanzen, wenn du da bist.«

»Ha. Ob ich da bin oder nicht, ich würde das, was sie machen, nicht unbedingt ›Tanzen‹ nennen.« Die Franklin Ranch ist ein Luxus-Resort für Großstädter, die im Sommer Reiten und Fliegenfischen und im Winter Skifahren wollen. Isabel kellnert dort, und ich arbeite in der Kinderbetreuung: Ich führe kleine Kinder in der Reithalle auf Ponys im Kreis herum, bringe ihnen bei, wie man mit dem Lasso Kälber – oder besser, ausgestopfte Teddybären – einfängt und bastle mit ihnen. Es ist nicht gerade die Erfüllung meines Lebens, aber ich komme aus der Hütte, und nachdem ich im Dezember meinen Highschool-Abschluss nachgeholt hatte, brauchte ich eine Beschäftigung. Zu Anfang war es toll, sich im Haus zu verkriechen und nichts zu tun, außer zu lesen und den Schneebergen beim Wachsen zuzusehen, aber nach einer Weile schmorte ich vor lauter Reue nur noch den ganzen Tag im eigenen Saft. Die Arbeit mit kleinen Kindern und Pferden bringt mich »in die Wirklichkeit zurück«, wie Iz immer sagt. Zumindest hat es bisher geholfen.

Aber heute ist Dienstag, Squaredance-Abend. Das Personal ist angehalten, zur Ranch zu kommen und sich unter die Gäste zu mischen, da sie die Schritte nicht kennen. Isabel und ich ziehen meist typische Kleider des Wilden Westens an, helfen ein paar Stunden aus und verdienen uns etwas dazu. Die Saison hat gerade erst angefangen, aber ich habe schon mit viel zu vielen dreizehnjährigen Jungen den Allemande und Dosido getanzt. Es ist eine Tortur. Sie riechen nach Hormonen, verschwitzten Sportklamotten und Axe-Produkten. Und sie wissen nicht, wo sie hingucken sollen. Das war bei Gideon ganz anders. Er schaute mich immer direkt an, mit diesen gefühlvollen blauen Augen, als könne er es nicht abwarten, mir ein Geheimnis mitzuteilen.

Dieser Blick hat mir Angst gemacht. Aber ich habe ihn auch geliebt.

»Also, was ist? Kommst du?«

»Zum Squaredance?« Reiß dich zusammen, Daryn. Konzentrier dich. Nur noch ein paar Minuten. »Ich muss passen. Bin immer noch müde von der langen Fahrt. Ich komme nächste Woche, wenn ich wieder Vollzeit arbeite.«

»Okay. Ich werde es ihnen sagen.« Isabel trocknet sich die Hände an einem Handtuch ab, reicht es mir und schaut mich dann an, während ich mir die Hände abtrockne. Regen prasselt gegen das Fenster und verzerrt unser Spiegelbild in der Scheibe.

»Ich mache mir Sorgen um dich.«

»Ich weiß. Aber das brauchst du nicht. Es geht mir gut.« Sie muss mir glauben. Dann hör auf, das Geschirrtuch zu erwürgen, Daryn. »Wirklich, du musst dir keine Sorgen machen. Als ich die Jungs wiedergesehen habe, sind nur einfach die alten Geschichten wieder hochgekommen. Das ist alles.«

»Ich kann mir vorstellen, dass du sie jetzt sogar noch mehr vermisst.«

»Ja, das stimmt.« Alles ist intensiver geworden, seit ich sie gesehen habe – nicht nur das Gefühl, dass etwas »fehlt«. Die Sehnsucht und die Schuld sind stärker geworden. Und die Leere in mir – der Teil von mir, der von der Gabe des Sehens erfüllt gewesen ist.

»Hab Geduld. Du wirst spüren, wann die Zeit zum Weiterziehen gekommen ist.«

»Ja.« Ich hoffe, dass es in ihren Ohren weniger oberflächlich klingt als in meinen. Ich warte schon seit fast acht Monaten darauf, dass mir eine Vision den Weg weist. Geduld hat mich nirgendwohin gebracht. Jetzt ist es Zeit zum Weiterziehen – auch wenn ich keine Ahnung habe, was kommen wird.

»Okay.« Isabel nickt, als sei alles besprochen. Sie nimmt ihren schweren Mantel vom Haken neben der Eingangstür, zieht ihn über, klemmt sich dann ihre Handtasche unter den Arm und öffnet die Tür. Regen bläst herein, lässt ihre Haare und ihren Mantel nach hinten wehen, als stünde sie am Ruder eines Schiffs. Kurz bevor sie ins Freie tritt, schaut sie mich an, und ich sehe sie – die Trauer, die sie vermutlich auch in meinem Blick erkennt. Es ist das erste Mal, dass wir einander anlügen. Wir halten beide etwas voreinander verborgen.

 

In meinem Zimmer öffne ich die Truhe am Fußende des Betts, schiebe meine alten Laufschuhe und die unzähligen Briefe beiseite, die ich an Mom, Dad und Josie geschrieben, aber nie abgeschickt habe, und greife nach dem Rucksack, der ganz unten auf dem Boden der Truhe liegt.

Dieser ramponierte alte Lederbeutel hat mich überallhin begleitet, während ich von einem Ort zum anderen reiste, um den Verlorenen den Weg zu weisen. Die Kleinen zu beschützen. Die Hilfesuchenden mit denen zusammenzubringen, die Hilfe leisten konnten. Ich habe diese Reisen geliebt, bis die Sippschaft auftauchte. Bis zu diesem Augenblick hatte ich dank meiner Sehergabe stets Gutes getan.

Ich öffne den Reißverschluss des großen Fachs, hole das blaue Oxford-Hemd heraus, das ich mir von Jode dauerhaft in Norwegen geliehen habe, und lege die darin eingeschlagene Kugel frei. Mein Herz krampft sich zusammen, als die Erinnerungen wieder auf mich einzuströmen drohen.

Es ist eine kleine Kugel, nur ungefähr so groß wie ein Apfel, aber von unendlichen, tiefen Farbschichten durchzogen, mit Himmeln und Sonnen und Meeren, die darin wirbeln und tanzen.

Wunderschön.

Unermesslich schön.

Und unglaublich mächtig.

Diese Kugel ist der Schlüssel, der das Reich geöffnet und alles in Gang gesetzt hat.

Nachdem Bas verschwunden und Gideon verletzt worden war, verbrachte ich Wochen zusammengerollt auf meinem Bett und starrte sie an, durchlebte jene schrecklichen Augenblicke in allen schmerzhaften Details immer wieder aufs Neue. Ich sah Gideons Gesicht, als Bastian von dem Dämon gestochen wurde. Ich sah Bastians Gesicht, als er sich opferte, um Samrael unschädlich zu machen, und sich selbst und ihn an einen Ort beförderte, den ich mir kaum vorzustellen vermag. Jode und Marcus erschienen vor meinem inneren Auge und sahen aus, als hätten sie einen Teil von sich selbst verloren. Aber in letzter Zeit empfinde ich keine Reue, wenn ich die Kugel ansehe – nur absolute Panik.

Ich streiche über die gläserne Oberfläche und fahre mit dem Daumen über den Riss, der vor zwei Wochen erschienen ist.

Ich bin mir nicht sicher, um was es sich dabei handelt – eine Verwerfungslinie oder ein Sprung –, aber nach und nach ist dieser Riss tiefer und länger geworden. Das kann nur eins bedeuten: Die Zeit läuft ab.

Deshalb bin ich nach Georgia gefahren.

Seht euch das an, wollte ich zu den Jungs sagen. Das Fenster, um Bas zu finden, schließt sich.

Aber wie hätte ich ihnen die acht Monate erklären sollen, die ich gebraucht hatte, um sie aufzusuchen?

Die Sehergabe. Ich habe auf die Sehergabe gewartet.

Ohne sie bin ich verloren, und ich wollte nicht riskieren, dass einer von euch wieder verletzt wird.

Ich habe mir selbst einfach nicht vertraut.

In meinem Kopf klingt das alles wie billige Ausreden. In meinem Herzen fühlt es sich real und gerechtfertigt an. Aber nach Tagen des Nachdenkens auf der Fahrt nach Georgia ist mir klargeworden, dass ich keine Hilfe brauche, um Sebastian zu finden – und sie auch gar nicht will.

Ich kann es allein schaffen. Es ist gefährlich, aber welcher Teil der Sache ist das nicht gewesen? Und wenn dieses Mal etwas schiefläuft, bin ich die Einzige, die den Preis bezahlen wird.

Ich lasse die Kugel in die äußere Tasche gleiten, gehe durchs Zimmer und packe meinen Regenparka, Handy und Notizbuch ein. Als Bastian und Samrael im letzten Herbst durch das Portal verschwanden, sah ich Ausschnitte einer winterlichen Landschaft, Eis und Schnee und zerklüftete Berge wie die Teton Range, also packe ich auch Handschuhe, meine wollene Beanie-Mütze und einen Schal ein.

In der Küche schnappe ich mir eine Flasche Wasser und ein paar Müsliriegel, bleibe dann zögernd vor der Messerschublade stehen, öffne sie schließlich und nehme ein etwa acht Zentimeter langes Gemüsemesser heraus.

Wenn es brenzlig wird, willst du deinen Angreifer dann damit schälen?

Und wenn ich es recht bedenke, wozu brauche ich ein Notizbuch? Es ist ja wohl kaum anzunehmen, dass es Pausen geben wird, in denen ich mich hinsetzen und etwas aufschreiben kann.

Das Notizbuch bleibt hier, denn es ist mein Sicherheitsnetz, aber ich tausche das Schälmesser gegen ein längeres Schneidemesser ein, zu dem ich noch weniger Zutrauen habe. Ich bin stark und schnell, allerdings nicht gerade Katniss. Meine Erfahrungen im Nahkampf sind gleich null, aber zum Zögern bleibt jetzt keine Zeit. Ich schließe den Reißverschluss meines Rucksacks und bin auch schon durch die Tür. Regen klatscht mir gegen die Schultern, als ich zur Scheune laufe.

Schatten beobachtet mich mit nervösen Augen, als ich sie sattle. Wie alle Jungs mit ihren Pferden konnte auch Bas Schatten auffordern, ihren Sattel aus einer anderen Welt herbeizurufen. Er konnte sie auch dazu bringen, sich in Stränge aus Dunkelheit zu verwandeln und ihn mitzunehmen. Zusammenfalten nannten sie das. Aber ohne Bas tut Schatten nichts dergleichen. Sie ist in ihrer Pferdegestalt gefangen, also muss ich normales Zaumzeug, Trense und Sattel benutzen. Meine Hände fangen an zu zittern, als ich das Lasso an ihrem Sattel festmache und mir bewusstwird, was ich tue, aber schließlich schaffe ich es und führe sie hinaus in den Regen. Dann steige ich auf, und wir reiten davon.

Schatten verfällt in einen gelassenen Trott, weicht Schlammpfützen, Steinen und herabgefallenen Ästen aus, ohne zu stolpern, trotz Sturm und Dunkelheit.

Sie ist wesentlich selbstbewusster als ich: Ich muss mich immer wieder ermahnen, nicht so fest an den Zügeln zu ziehen und sanft mit ihrem Maul umzugehen.

Während ich auf den Snake River zureite, verschwinden zuerst die Scheinwerfer der Autos auf der Hauptstraße und dann die Verandabeleuchtung der Smith Cabin.

Zuhause, Daryn.

Wirst du es jemals dein Zuhause nennen?

Als ich an den Pfad gelange, der dem Flusslauf folgt, gibt es keine Spuren der Zivilisation mehr, und ich bin trotz meines Regenzeugs bis auf die Knochen durchnässt.

Alles, was ich höre, ist Wasser – wie es rauscht, tropft und fließt. Mein Rucksack, schwer vom Gewicht der Kugel, schlägt gegen meinen unteren Rücken, und das Gras unter mir scheint förmlich zu verschwimmen.

Ich bin so darauf fixiert, abwechselnd über meine Tapferkeit zu staunen und wütend über meine Rücksichtslosigkeit zu sein, dass der Ritt im Nu vergeht und ich die Gruppe mit den hohen Kiefern schneller erreiche als erwartet. Der Pfad ist überwachsen und in der Dunkelheit nur schwer zu erkennen, aber trotzdem finde ich ihn und führe Schatten den Berg hinauf. Oben angekommen, bleiben wir stehen – ein perfekter, abgeschiedener Ort, wo es meilenweit weder Häuser noch Straßen gibt.

Ich steige ab und lasse den Blick über die Umgebung schweifen, um sicherzugehen, dass ich allein bin. Dann spreche ich ein kurzes Gebet für Isabel, Bas, Schatten und mich und hole schließlich die Kugel aus dem Rucksack.

Sie fühlt sich unnatürlich schwer an in meiner linken Hand. Ich umfasse die Zügel von Schatten entschlossen mit der rechten.

Als ich damals das Portal öffnete, wusste ich, dass ich es kann. Ich wusste in meinem Innersten, wie ich etwas tun musste, das ich noch nie zuvor getan hatte. Ich erinnere mich an diesen Moment – als Samrael mich erpresste. Das Leben von Bas stand auf dem Spiel. Damals spürte ich, wie Samrael die wunderschöne Energie vergiftete, die mich durchströmte. Ich fühlte, wie er das Portal mit seiner Bosheit beschmutzte, kurz bevor Bas sich opferte, sich auf ihn stürzte und mit sich in das Splitterreich riss.

So war es beim letzten Mal. Dieses Mal bin ich auf mich allein gestellt.

»Okay. Auf geht’s.« Mein Puls hämmert, und ich nehme einen letzten, stärkenden Atemzug, bevor ich die Kugel bitte, sich zu öffnen. Das Echo der Worte dringt flüsternd durch meine Seele.

Die Energie der Kugel regt sich, ich kann es deutlich spüren. Vibrierende Wärme pulsiert durch meine Hand, fließt hinauf zu den Ellbogen, breitet sich in meiner Brust aus und wandert schließlich meine Beine hinab, bis sie mich als stetige Welle durchströmt.

Die Kugel in meiner Handfläche gleicht einem Mahlstrom aus allen Dingen. Wirbelnde Flammen und fließendes Wasser. Kalter schwarzer Granit und weiche Wolken. Erde, Himmel, Sterne. Lachen und Tränen. Alles dreht sich heftig und mit einer Geschwindigkeit, der ich eigentlich gar nicht folgen können sollte, es aber mühelos tue.

Dann steigt die Kugel, leicht wie eine Seifenblase, von meiner Hand auf, steht in der Luft und entwirrt sich wie ein Garnknäuel – Fäden aus Feuer, die mit grünem Gras verwirbeln, sich mit Strömen weißer Federn und mit Blutadern vermischen. Sie schwebt von mir fort, dehnt sich aus und wird größer, verdoppelt und verdreifacht sich, bis ich weder den Regen noch meine durchnässten Kleider, meine eiskalten Hände oder gar meine Angst spüre.

Ich empfinde nur Liebe und eine ungeheuer starke, unendliche Verbundenheit. Genauso, wie ich mich fühlte, als ich noch die Sehergabe besaß und mit der Bedeutung aller Dinge verbunden war. Sogar mit meiner eigenen. Irgendwo ganz tief in meinem Kopf registriere ich, wie lange es her ist, seit ich mich so gefühlt habe. Bedeutend.

Die Kugel wächst auf das Doppelte meiner Größe an, und das wirbelnde Muster verdichtet sich zu einem Tunnel – genau wie damals, vor all diesen Monaten. Ein Portal ohne Ende, ohne erkennbare andere Seite, aber mit Mauern in Form von Sternen und sengend heißen Wüsten und den Gesichtern aller Menschen zu allen Zeiten.

Sie bewegt sich auf mich zu, oder ich bewege mich auf sie zu, und ein Strang wird breiter, flüssig und schimmernd wie ein sonnendurchfluteter Strom. Neben mir wechselt Schatten zwischen ihrer physischen und ihrer ätherischen Form, besteht in einem Moment nur aus Rauch, im nächsten aus Fleisch und Blut. Ich kann über den Strang nicht hinaussehen, aber Schatten zerrt an der Leine, und ich spüre ganz genau, dass dies der Weg zu Bas ist.

Ich mache einen Schritt darauf zu.

Augenblicklich springt mich ein Schmerz an, als würde ich innerlich auseinandergerissen. Der Geist wird vom Körper getrennt, das Herz von der Seele. Unerbittlicher, unvorstellbarer Schmerz, wie eine Kluft, die mich spaltet, und ich weiß, es ist das Gift, das hier nicht hingehört, das Gift, das Samrael in etwas gemischt hat, das rein sein sollte. Ich frage mich, ob der Schmerz je enden wird, als ich plötzlich ohne Vorwarnung vornüberkippe und mich mehrmals überschlage, nicht weiß, wo oben und unten ist, bis es endlich aufhört.

Völlig verwirrt rapple ich mich langsam wieder auf.

Sofort wird mir schwindlig, und ich lande fast wieder auf dem Boden. Ein salziger Geschmack breitet sich auf meiner Zunge aus, und an meiner Schädelbasis pocht ein Schmerz, als sei mein Herz dorthin gewandert. Ich hole ein paarmal tief Luft, warte und hoffe darauf, dass der Schmerz verschwindet, aber er lässt nur ein klein wenig nach. Ich weiß, dass ich das noch einmal durchleben muss, wenn ich das Reich wieder verlasse, und bei dem Gedanken steigt Angst in mir auf. Aber darauf kann ich jetzt keine Rücksicht nehmen.

Schatten steht wenige Meter von mir entfernt. Sie zittert und hat die Augen aufgerissen, wirkt aber unversehrt.

Die Kugel schwebt nur ein paar Zentimeter vor mir, dreht sich langsam und leuchtet wie ein Stern. Als ich sie aus der Luft pflücke, wird ihr Leuchten sofort schwächer. Mir stockt der Atem, als mir auffällt, dass der Riss in ihrer Oberfläche länger geworden ist, gefährlich groß.

Habe ich sie beschädigt, indem ich hierhergekommen bin? Habe ich sie zerstört?

Panik packt mich, aber auch damit kann ich mich nicht aufhalten.

»Schon gut, Schatten. Alles in Ordnung.« Ich streiche ihr mit der Hand über den Hals und versuche, ihr die Sicherheit zu vermitteln, die ich mir selbst wünsche.

Ich bin in einem Wald gelandet – nicht in der arktischen Landschaft, die ich erwartet hatte – und habe den Regen hinter mir gelassen. Die Bäume um mich herum sind sehr alt und knorrig, mit vielen gedrehten Wurzeln und ausladenden Ästen. Ich schaue mich langsam um, noch immer wacklig auf den Beinen. Solche Bäume habe ich noch nie gesehen. Sie sind überall, so weit das Auge reicht.

Dann bemerke ich die Stille.

Kein einziger Zweig bewegt sich.

Nicht ein Blatt.

Hier gibt es keinen Wind, keine Brise, und es herrscht Totenstille. Sanftes Mondlicht fällt durch die Baumkronen wie Kreidestaub, und ein schwacher, erdiger Geruch umgibt mich.

Schatten wiehert, und ich springe erschrocken zur Seite.

»Was hast du, mein Mädchen?« Ihre Ohren bewegen sich schnell hin und her. »Okay, Schatten. Ganz ruhig. Wir wollen nur mal eben nachsehen, was los ist.«

Es macht mir Angst, dass sie nervös ist. Was spürt sie, das ich nicht spüre?

Ich lausche eine gefühlte Ewigkeit. Aber ich höre nur Schattens und meinen Atem. Enttäuschung macht sich in mir breit, aber was habe ich denn erwartet? Dass Bas direkt hier stehen würde, weil er nur darauf gewartet hat, dass ich auftauche? Vielleicht ist das hier nicht einmal der richtige Ort.

Schatten stupst mich in den Rücken.

»Gute Idee.« Ich ziehe meinen schweren Mantel aus und binde ihn am Sattel fest. Dann steige ich auf und achte auf mögliche Zeichen von Bastian, während wir langsam weiterreiten. Und noch mehr auf Zeichen von Samrael: Er ist ebenfalls durch das Portal gekommen, das darf ich nicht vergessen.

Unter dem Blätterdach klingt der dumpfe Tritt von Schattens Hufen auf dem lehmigen Waldboden ganz nah, als wäre er direkt neben meinen Ohren. Das Pochen in meiner Schädelbasis hat sich in ein spürbares, aber schmerzloses Gewicht verwandelt – wie eine Hand, die auf meiner Schulter liegt.

Was überhaupt nicht gruselig ist, Daryn. Wahrscheinlich nur eine leichte Gehirnerschütterung.

Ich passiere einen Baum nach dem anderen, aber nichts verändert sich. Fast kommt es mir vor, als sei ich auf einem Laufband. Bewegung ohne sichtbaren Fortschritt.

Nach einer Weile – wie lange? – halte ich Schatten an und steige ab. Die Zeit vergeht hier auf seltsame Weise. Als ich auf meinem Handy nachsehen will, wie lange ich schon hier bin, stelle ich fest, dass es tot ist.

Natürlich ist es das.

Ich lasse das Mobiltelefon wieder in meine Tasche gleiten und widerstehe dem Impuls, nach dem Messer in meinem Rucksack zu greifen.

Es ist zu still hier, zu gruselig, aber ohne Bas kann ich nicht umkehren. Allein die Vorstellung schnürt mir die Kehle zu. Sie lässt meinen Atem flach und unregelmäßig werden, wie ein Gang, der sich nicht einlegen lassen will.

So habe ich mich als kleines Mädchen gefühlt, wenn Mom krank war und ich nichts tun konnte, um ihr zu helfen. Dieses Gefühl ist hier sogar noch intensiver. Verzweiflung in 3-D. Verzweiflung, die mich umgibt.

»Wo ist er, Schatten? Kannst du ihn riechen?« Ich will nur einen Hinweis, dass er lebt. »Sebastian! Bas, wo bist du? Bitte sei hier.«

Ein Stück weiter weg, am Fuß eines Baums, springt mir etwas Blasses ins Auge. Ich lasse Schattens Zügel fallen und sprinte hin.

Unter einem der ausladenden Bäume, zwischen zwei Wurzeln, die aussehen wie ausgebreitete Arme, finde ich ein Beet mit weißen Blumen. Die Blütenblätter leuchten schwach in der Dunkelheit, wie Zähne in der Nacht.

Ich knie mich auf den weichen Boden und berühre die pelzigen Blätter.

Weiße Begonien.

Mutters Lieblingsblumen. Sie hatte den ganzen Hof unseres Hauses in Connecticut damit bepflanzt.

Bei uns zu Hause.

Zu Hause.

Der pulsierende Druck unter meiner Schädelbasis wird stärker, fast so stark wie das Trommeln meines Herzens.

Es ist achtzehn Monate her, seit ich von zu Hause fortgegangen bin. Wenn die Depression von ihr Besitz ergriff, sie mit Haut und Haaren packte, schien es, als würde ein Dimmer in ihrem Inneren heruntergedreht. Dann konnte ich sie nicht erreichen – und Dad oder Josie auch nicht. Manchmal konnten wir absolut nichts für sie tun, nur zusehen, wie sie litt. Meine Probleme hätten nur von der Pflege, die sie brauchte, abgelenkt. Aber ich hatte nie vorgehabt, so lange fortzubleiben.

Wieso sind seither schon eineinhalb Jahren vergangen?

Vor mir in der Ferne entdecke ich weitere Begoniengruppen. Sie verweben sich zu einem Pfad, einer Spur, die in diesem Halbdunkel fast biolumineszent leuchtet. Ohne nachzudenken, folge ich diesem Weg, Schatten dicht hinter mir.

Schon bald gelange ich an eine Lichtung, wo ein ganzes Feld von Begonien im Mondschein leuchtet. Mittendrin sitzt eine Figur, umgeben von weißen Blüten. Ich kann bei dem schwachen Licht nicht besonders gut sehen, aber sie wirkt klein. Nicht schlaksig wie Bas.

Er ist es nicht.

Aber … wer ist es dann?

Als sich meine Augen allmählich an die Lichtverhältnisse gewöhnt haben, erkenne ich, dass es sich um eine Frau mit honigfarbenem Haar handelt, welches auf ihre geraden Schultern herabfällt. Ihr langes weißes Kleid fließt über ihre Beine und Füße, geht über in die Blumen um sie herum. Sie trägt eine goldene Halskette mit zwei Amuletten dicht über dem Herzen. Obwohl ich zu weit entfernt bin, um die eingravierten Buchstaben auf den Anhängern zu entziffern, weiß ich, dass es ein »D« und ein »J« ist.

Und als ich näher komme, lächelt sie, als hätte sie mich erwartet.

Mir gefriert das Blut in den Adern. Ich bleibe stehen.

Das ist nicht möglich.

»Mom?«

»Daryn, meine liebe Tochter«, sagte sie. »Ich wusste, du würdest nach Hause kommen.«

4Gideon