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Ein neues Fantasy-Abenteuer der Bestsellerautorin Veronica Rossi Gideon Blake stirbt bei einem Unfall – eigentlich. Und doch findet er sich schwer verletzt im Krankenhaus wieder. Weitere merkwürdige Dinge geschehen: Seine schweren Knochenbrüche sind schon nach wenigen Stunden vollkommen ausgeheilt. Und wenig später überbringt ihm das geheimnisvolle Mädchen Daryn eine Botschaft: Er sei einer der vier Reiter, die die Welt retten müssen … Denn ein fieser Haufen Dämonen ist direkt aus der Hölle gekommen, um die Erde zu ihrem zweiten Zuhause zu machen.
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Seitenzahl: 577
Veronica Rossi
Riders - Schatten und Licht
Roman
Aus dem Amerikanischen von Franka Fritz und Heinrich Koop
FISCHER E-Books
Für Andy, Wes und all jene, die ihr Leben dem Schutz der Freiheit gewidmet haben
Ich öffne die Augen und sehe nur Dunkelheit.
Ich kann mich nicht bewegen … nicht sprechen … nicht denken mit diesen rasenden Kopfschmerzen. Ich rühre keinen Muskel, warte darauf, dass der Nebel sich lichtet und ich herausfinde, wo ich bin und wie lange ich bewusstlos war. Aber es tut sich nichts. Eines weiß ich jedoch genau: Ich bin an einen Stuhl gefesselt, mit einem Knebel im Mund und einer Haube über dem Kopf, die nach Schweiß und Erbrochenem stinkt.
Nicht gerade das, was ich von einer Rettungsaktion erwartet hatte.
Als ich mich aufsetze, knirschen meine Halswirbel wie ein rostiges Scharnier, und im nächsten Moment löst sich die Dunkelheit und beginnt, sich zu drehen. Sie dreht sich und dreht sich, und mein Magen wirft das Handtuch und dreht sich mit. Heißer Speichel schießt mir in den Mund. Ich weiß, was als Nächstes kommt, also hole ich ein paarmal tief Luft, atme ein und aus, bis die Übelkeit sich legt und ich mich wieder besser fühle. Und einfach nur auf diesem Stuhl sitze und unter der Haube schwitze wie ein Schwein.
Ich fass es nicht. Die haben mich unter Drogen gesetzt. Mir irgendein Beruhigungsmittel verpasst. Weil ich nämlich im Moment viel zu ruhig bin. Vermutlich in Kombination mit einem Schmerzmittel. Ich kann meine Schulter nicht spüren, und die Wunde war verdammt tief. Mein Deltamuskel sah aus wie Hackfleisch. Selbst ich müsste eine derart schwere Verletzung spüren.
Na klasse. Gut gemacht, US-Regierung. So ziemlich die ganze Welt geht den Bach runter, ich bin einer der wenigen Menschen, die was dagegen unternehmen können – und was macht ihr?!
Ich konzentriere mich auf mein Gehör. Alle paar Sekunden nehme ich Schritte wahr oder ein Räuspern. Ich lausche auf die Geräusche und versuche herauszufinden, wie viele Typen mich bewachen. Schätzungsweise zwei.
Hinter mir springt ein Heizkörper an und klickt, als würde jemand mit einem Schraubenschlüssel auf Metall klopfen. Wärme bildet sich in meinem Rücken wie von einem warmen Sonnenstrahl. Ein seltsames Gefühl in der Dunkelheit. Nach ein paar Minuten schaltet sich die Heizung ab, und im Raum breitet sich wieder Stille aus. Mein Rücken kühlt sich gerade ab, als eine Tür quietschend geöffnet wird. Jemand geht auf mich zu und bleibt schließlich stehen. Dann schrappt ein Stuhl über den Boden.
Showtime – Vorhang auf zum beliebten Frage-und-Antwort-Spiel!
»Nehmt ihm die Haube ab«, sagt eine weibliche Stimme.
Jemand zieht das Ding mit einem Ruck weg. Kühle Luft umströmt mein Gesicht, und ich muss die Augen gegen das grelle Licht fest zusammenpressen. Ich bin nicht darauf vorbereitet, dass der Knebel als Nächstes abgerissen wird – und mit ihm mehrere Lagen meiner Zunge.
»Lass dir Zeit«, sagt die Frau.
Als ob ich eine Wahl hätte. Ein paar Sekunden versuche ich, etwas Feuchtigkeit in den Mund zu bekommen. Ich zerre an meinen Handfesseln und unterdrücke mit Macht den Drang, mir die brennenden Augen zu reiben. Es dauert eine halbe Ewigkeit, bis ich die Gestalt vor mir ausmachen kann.
Die Frau – schätzungsweise Mitte vierzig – sitzt hinter einem kleinen Schreibtisch. Sie hat olivbraune Haut, dunkles Haar und Augen so schwarz und glänzend wie Weinflaschen. Ihr marineblauer Businessanzug sieht teuer aus, und sie hat so eine Art Doktortitel-Ausstrahlung, als wüsste sie alles über ein bestimmtes Thema und hätte sogar ein Buch darüber verfasst. Eine Zivilistin. Jede Wette!
»Hallo, Gideon. Ich bin Natalie Cordero«, sagt sie. »Ich werde dir jetzt ein paar Fragen stellen.«
Sie verschränkt die Hände auf der Holztischplatte und schweigt, um mir zu zeigen, dass sie hier das Sagen hat und dass sie mit Typen wie mir jeden Tag redet. Aber ich weiß definitiv, dass das nicht möglich ist. Denn niemand auf der Welt ist wie ich. Niemand.
Eine Wolke von Parfüm streift mich – eine Mischung aus Blumen-, Zitrus- und Moschusaroma, die es echt in sich hat. Ein voller Duftstrahl, aber immerhin besser als der Gestank der Haube.
Hinter Cordero stehen zwei Männer. Der Typ mit der Texas-Rangers-Baseballkappe ist massiv, so groß wie die Tür, die er bewacht. Der andere Kerl ist kompakter, mit dunkler Haut und Blumenkohlohr. Seine Hand ruht auf der Beretta in seinem Gürtelholster, und er wirft mir einen Blick zu, als wolle er sagen: Gib mir nur ein einzigen Grund …
Beide haben wettergegerbte Gesichter unter ihren Vollbärten und tragen Jeans, Wanderschuhe und Patagonia-Jacken, aber es handelt sich definitiv um Mitglieder einer Spezialeinheit. Delta Force oder SEALs. Diese besondere Haltung – entspannt, aber total wachsam – bekommt man nicht geschenkt.
Ich erkenne sie wieder. Sie gehören zu der Truppe, die mich heute aus Norwegen rausgeholt hat. Oder gestern … oder wann auch immer das gewesen ist.
Natalie Cordero mustert mein T-Shirt und meine Cargohose, das verkrustete Blut, die verbrannten Stellen, den getrockneten Schlamm, alles bedeckt mit einer feinen Ascheschicht. Zugegeben: Ich hab schon mal besser ausgesehen. Ich folge ihrem Blick zu meiner Schulter. Durch einen Riss in meinem Shirt sehe ich, dass meine Kidnapper – die eigentlich meine Verbündeten sein sollten – einen Druckverband über der Schnittwunde angelegt haben. Netter Zug von ihnen.
»Wasser?«, fragt Cordero.
Ich brauche ein paar Anläufe, aber irgendwann schaffe ich es, eine Antwort zu krächzen. »Ja. Ja, bitte.«
Der größere Wächter mit der Rangers-Kappe bringt mir eine Plastikflasche mit einem Strohhalm. Sein rötliches, rechteckiges Gesicht erinnert an einen Ziegelstein.
Ergrauter Bart, blaue Augen. Er ist derjenige, der mich in Jotunheimen k.o. geschlagen hat. Aber ich hab ihm auch keine andere Wahl gelassen. Ich bin ausgeflippt, als Daryn zurückgeblieben ist. Das hatte ich nicht von ihr erwartet. Hab im Leben nicht damit gerechnet und total die Kontrolle verloren. So was darf nicht noch mal passieren. Ich muss diese Situation hier im Griff behalten. Also konzentriere ich mich darauf, meine Umgebung zu erfassen, während ich am Strohhalm sauge und meinen dehydrierten Körper mit Wasser versorge.
Ich hocke in einem kleinen Raum mit Holzwänden und -dielen. Die gesamte Innenausstattung ist aus Kiefernholz. Also bin ich entweder von einem Baum gefressen worden, oder ich befinde mich in einer Holzhütte. Links von mir sehe ich ein Fenster mit blaukarierten Vorhängen. Allerdings dringt kein Licht und auch kein Laut durch, was bedeutet, dass es entweder mitten in der Nacht ist oder das Fenster verdunkelt wurde. Ich würde mal sagen: beides. Das einzige Licht im Raum kommt von einer eisernen Lampe ohne Schirm, die in einer Ecke steht und deren nackte Glühbirne eine Million Watt verstrahlt – oder aber meine Augen sind durch die Mittel, die man mir verpasst hat, extrem empfindlich.
Ein kühler Wind zieht unter dem etwa fünf Zentimeter hohen Spalt unter der Tür hindurch. Mit Corderos Parfüm im Raum fällt es nicht leicht, irgendetwas anderes zu riechen, aber schließlich nehme ich den Geruch von muffigem Teppich und Holzfeuer wahr. Für eine Gefängniszelle gar nicht mal ungemütlich.
»Ich hätte diese Frage direkt stellen sollen«, sagt Cordero, als meine Trinkpause vorbei ist. »Möchtest du, dass ich dich mit ›Gideon‹ anrede oder mit ›Mr Blake‹?«
Also hatte ich recht. Sie ist keine Militärangehörige, denn sonst hätte sie mich mit »Private Blake« angesprochen.
Ich schlucke erneut; meine Kehle fühlt sich schon besser an. »Ma’am, ich möchte, dass Sie mich losmachen und mir sagen, wo ich bin.« Für diese Ma’am-Sache könnte ich mich ohrfeigen. Schließlich hält sie mich hier fest. Scheiß auf gute Manieren!
Cordero antwortet nicht, also versuche ich es mit einer anderen Frage. »Sind wir noch immer in Norwegen?« Wieder nichts. Ich schaue zu den Typen an der Tür. »Sind wir wieder in den USA?«
»Diese Information kann ich dir im Moment nicht geben, Gideon«, sagt Cordero. Offenbar hat sie selbst beschlossen, wie sie mich anreden will. Aber da ich achtzehn bin, also vermutlich halb so alt wie sie, kann ich verstehen, warum sie sich gegen »Mr Blake« entschieden hat.
»Warum darf ich nicht erfahren, wo ich bin? Und warum das ganze Theater?« Ich deute mit dem Kopf auf meine Fesseln. »Ich hab nicht vor zu türmen. Schließlich hab ich euch gerufen, um uns zu helfen, schon vergessen? Wie wär’s, wenn du mich jetzt losmachst?«
»Wenn ich mit deiner Befragung fertig bin, werde ich dich freilassen.«
»Freilassen?« Das Ganze ist so verkorkst, dass ich einfach lachen muss. »Ich habe nichts verbrochen.«
»Ach nein?« Sie beugt sich vor und mustert mich mit leicht zusammengekniffenen Augen. »Du hast im Jotunheimen-Nationalpark Schäden angerichtet, die in die Millionen gehen. Und das nennst du ›nichts verbrochen‹? Die amerikanischen Steuerzahler müssen dafür aufkommen: Die amerikanische Öffentlichkeit hat für dich und deine Freunde eine Kaution hinterlegt, um euch da rauszuholen. Ihr könnt von Glück sagen, dass die Medien noch keinen Wind von der Sache bekommen haben. Ihr hättet fast einen diplomatischen Zwischenfall verursacht. Ist dir das eigentlich klar? Und solange ich nicht haargenau weiß, was du in Norwegen gemacht hast und warum du beschlossen hast, etliche Hektar Natur zu zerstören, wirst du diesen Raum nicht verlassen. Ich meine es ernst, Gideon. Also mach’s dir ruhig bequem.«
»Du denkst, hier geht es nur um zerstörte Landschaft? Um Geld?«
»Wenn ich das denken würde, wärst du nicht hier.«
Ich hab nicht vor, tatenlos rumzusitzen und dieses Spielchen mitzuspielen. »Du willst also wirklich wissen, worum es tatsächlich geht? Das kann ich dir verraten: Da draußen läuft das Böse in Person herum. Wir stecken tief in der Scheiße – und damit meine ich nicht die amerikanischen Steuerzahler. Ich meine die gesamte Menschheit. Jeden Einzelnen von uns. Und vor dir sitzt einer der wenigen Menschen, die daran etwas ändern können. Also wie wär’s, wenn du mich jetzt losmachst?«
»Vergiss es, Gideon«, erwidert sie, völlig gleichgültig gegenüber allem, was ich gerade gesagt habe. »Und bevor du jetzt wieder aggressiv wirst, will ich dir mal was verraten: Die Beherrschung zu verlieren bringt überhaupt nichts.«
Das Ganze ist die reinste Zeitverschwendung. Ich muss hier raus. Die anderen finden. Den Schlüssel zurückholen. »Wo ist Colonel Nellis?« Ich vertraue meinem befehlshabenden Offizier. Ich will mit ihm reden, nicht mit einer Fremden.
»Dieser Vorfall geht über den Zuständigkeitsbereich der US-Army hinaus«, sagt Cordero.
»Für wen arbeitest du? Das Verteidigungsministerium? Die CIA?«
»Lass mich das mal klarstellen und zur Not buchstabieren: Ich stelle die Fragen, und du beantwortest sie. So läuft der Hase.«
Das hat zwar nichts mit Buchstabieren zu tun, aber was soll’s? Ich bin mit dieser Nummer durch. Zeit, den Zorn hervorzuholen.
Ich greife nach meiner Wut, nach meinem Schwert, nach meinem Rebell.
Doch nichts passiert. Ich bin machtlos. Diese Beruhigungsmittel haben alles neutralisiert. Ich bin vollkommen lahmgelegt.
Aber das ergibt keinen Sinn, überhaupt keinen Sinn, also brülle ich los: Sie macht einen Riesenfehler. Ich bin einer von den Guten. Sie hat ja keine Ahnung, wen sie vor sich hat. Jedes einzelne Wort klingt einstudiert und durchgeknallt, aber es ist die Wahrheit. Es ist die Wahrheit.
Cordero wirft einen Blick auf ihre Uhr. »Offenbar ist es Zeit für die nächste Runde.« Sie schaut über die Schulter, zu dem Typen mit der Beretta. »Sorg dafür, dass er Ruhe gibt.«
Beretta holt ein kleines schwarzes Etui aus einer der Taschen seiner Cargohose. Er streift sich Latexhandschuhe über und nimmt eine Injektionsspritze heraus, während ich weiterbrülle, an meinen Fesseln zerre und absolut nichts erreiche.
Der größere Typ, Texas, stellt sich hinter meinen Stuhl und nimmt mich in den Schwitzkasten. »Entspann dich«, fordert er. »Entspann dich.«
Was natürlich das Letzte ist, was ich tun werde. Aber dann tauchen vor den Holzwänden Sternchen auf, der Raum wird dunkler, und bei mir gehen die Lichter aus. Ich brülle nicht länger, sondern verliere das Bewusstsein.
Beretta haut mir die Nadel in den Unterarm und drückt auf den Kolben. Ein langsames Brennen breitet sich in meinem Körper aus. Mein Gesicht wird taub. Meine Muskeln entspannen sich. Ich entspanne mich.
Eigentlich will ich mich nicht entspannen, aber ich kann nichts dagegen machen.
Texas gibt mich frei, und ich schnappe nach Luft. Sauge sie gierig ein. Sauerstoff ist das verdammt beste Zeug, was je erschaffen wurde.
Beretta leuchtet mir mit einer Ministablampe in die Augen.
Grelles Licht.
Fühlt sich nicht gut an.
Schließe die Augen.
Mir ist vage bewusst, dass ich zu langsam reagiere. Reaktionen sollten nicht in Schritten ablaufen. Es sei denn, es geht nur um einen einzigen Schritt. Ein einzelner, in sich geschlossener Schritt.
Ja … das fühlt sich schon besser an.
»Der Junge ist total zugedröhnt«, verkündet Beretta, während er die Handschuhe von den Fingern schält. Er und Texas treten zurück und postieren sich wieder an der Tür.
Meinen Kopf hochzuhalten wird zu einer echten Herausforderung. Keine leichte Aufgabe. Es erinnert mich an das Balancieren von einem Basketball auf einem Finger. Während man gleichzeitig versucht, Informationen zu verarbeiten. Nur mit dem Unterschied, dass mein Kopf eigentlich kein Basketball ist; er fühlt sich einfach nur so an.
Stimmt. Der Junge ist total zugedröhnt.
Cordero nimmt die Hände auseinander, trommelt mit den Fingern auf die Tischplatte und beobachtet mich. »Bist du jetzt bereit zu reden?«
»Du hast keinen Schimmer, wie groß diese Sache ist … was da vor sich geht. Du hast keine Ahnung, wer ich bin.«
Ich brauche eine Sekunde, bis ich kapiere, dass die Worte, die jetzt im Raum stehen, aus meinem Mund gekommen sind.
Nicht gut.
Corderos Finger halten abrupt inne. »Warum erzählst du es mir nicht einfach?«
Ich bin kurz davor, damit herauszuplatzen, mit allem herauszuplatzen. Es fühlt sich fast an, als hätte ich bereits geplaudert. Irgendetwas stimmt hier nicht. In meinem Verstand findet ein Gefängnisausbruch statt. All meine Gedanken wollen raus. Meine Geschichte drängt nach draußen. Bilder der vergangenen Wochen toben durch meinen Kopf und wollen ins Freie. Es erfordert vollen Körpereinsatz, sie zurückzuhalten. Ich bin an einen Stuhl gefesselt, aber mein Herz absolviert einen Triathlon. Mein Gesicht glüht, und mein Rachen beginnt zu brennen. Was zum Teufel haben die mir da gespritzt?
Cordero wartet. »Okay, Gideon. Wir versuchen es in einer halben Stunde noch mal.« An der Tür bleibt sie kurz stehen. »Ich kann das den ganzen Tag durchziehen. Aber was ist mit dir?«
Nach ihrem Abgang lasse ich den Kopf nach vorn sinken, genau dorthin, wo er sein will.
Atme, Blake. Atme.
Irgendwie hätte ich das besser deichseln können. Aber hätte ich einer Fremden erzählen sollen, was hier abgeht? Wer ich bin? Was ich bin?
Auf keinen Fall. Cordero wäre in Panik geraten. Hätte den Verstand verloren. Aber die Worte liegen mir noch immer auf der Zunge. Ganz weit vorn.
Ich bin Krieg, will ich sagen.
Ich bin Krieg.
Ich brauche weniger als eine Minute, bis mir klarwird, dass ich Corderos Fragen beantworten muss. Diese Drogen, die man mir gespritzt hat, haben meine gesamten Fähigkeiten lahmgelegt. Ich sitze hier auf diesem Stuhl fest, bis ich ihr gebe, was sie will. Ein anderer Ausweg existiert nicht. Ich muss reden.
Der größere Typ, Texas, verlässt den Raum, um Cordero zu holen. Aber sie lässt mich eine geschlagene halbe Stunde warten, bevor sie zurückkommt – wie eine Mutter, die ihrem Sohn eine Lektion erteilen will. Spiel keine Spielchen mit mir, Gideon Blake. Ich meine, was ich sage. Und ich sage, was ich meine.
Sie bringt eine schwarze Mappe mit und wirft sie auf den Tisch, wo sie mit einem klatschenden Geräusch auf der Holzplatte landet. Meine Militärakte. Eine ziemlich dicke Mappe, wenn man bedenkt, dass ich mich erst vor wenigen Monaten, direkt nach der Highschool, verpflichtet habe. Aber ich habe in der Army auch schon so einiges angestellt.
Cordero rückt mit ihrem Stuhl näher an den Tisch. »Freut mich, dass du es dir anders überlegt hast.« Sie klappt die Mappe auf und hält dann inne, als erwarte sie von mir, dass ich mich bedanke.
»Ihr hättet die Steckdosen abkleben sollen«, sage ich stattdessen.
Ihre dunklen Augenbrauen schießen in die Höhe. »Wie bitte?«
»Falls ihr nicht wollt, dass ich erfahre, dass ich wieder in Amerika bin. Nur ein Tipp … wenn ihr das nächste Mal jemanden widerrechtlich festhaltet.«
»Okay, ist notiert. Sonst noch irgendwelche Vorschläge, wie ich meinen Job zu machen habe?«
»Ja. Sobald wir hier fertig sind, Nat, in der Sekunde, in der wir hier durch sind, machst du mich los und holst Colonel Nellis.«
Cordero zieht die Mundwinkel hoch. Allerdings handelt es sich nicht um ein richtiges Lächeln. Eher um den entfernten Verwandten eines Lächelns. »Hör auf, mich ›Nat‹ zu nennen, und wir haben einen Deal.«
Ich nicke, bin mir aber nicht sicher, ob das funktionieren wird. Jedes einzelne Wort, das ich gerade gesagt habe, ist mir einfach herausgeflutscht. Meine Gedanken sind noch immer auf den Barrikaden und haben es satt, in meinem Kopf zu bleiben. Ich muss sie ganz bewusst zurückdrängen und darauf hoffen, dass sie dort auch bleiben.
Eine gedämpfte Stimme im Flur lenkt meine Aufmerksamkeit auf die Tür. Sebastian, Marcus und Jode haben Norwegen mit mir zusammen verlassen. Nur Daryn nicht. Die Jungs müssen ebenfalls hier sein. Vermutlich in den Nachbarräumen, wo sie von ihren eigenen Corderos einer Verhör-Befragung unterzogen werden. Jede Wette, dass Marcus kein Wort gesagt hat. Aber ich kann mir gut vorstellen, welchen verbalen Durchfall Bastian und Jode von sich geben. Von den beiden braucht keiner ein Mittelchen, um draufloszuquatschen.
Der Gedanke an die drei erinnert mich wieder an Daryn. Dieses Mal versinke ich tief in meinen Erinnerungen: Daryn dreht ihre langen Haare zusammen, wirft sie über eine Schulter und lächelt mich an.
Was ist, Gideon? Warum schaust du so?
Ich sehe dich an. Dich.
Und, wie sehe ich aus?
Perfekt, hätte ich sagen sollen. Hab ich aber nicht.
»Gideon? Bist du noch da?«
Whoa. Ganz und gar nicht. Wie lang war ich weg? Priorität Nr. 1: Ich muss diese Drogen aus meinem Körper bekommen. Sie machen mich viel zu langsam. In diesem zugedröhnten Zustand hab ich nicht die geringste Chance gegen die Sippschaft. Ich muss diese Einsatzbesprechung zügig hinter mich bringen, die Jungs finden und in den Kampf zurückkehren.
»Ja«, sage ich. »Ich bin noch da.«
»Gut. Am besten fangen wir mit dem Unfall in Fort Benning an.« Cordero liest in der Mappe. »Der letzte Eintrag zu deinem Aufenthaltsort liegt sechs Wochen zurück. Du hast dir bei einem Trainingsunfall schwere Verletzungen zugezogen. Der Bericht besagt, dass du dir mehrere Knochen gebrochen hast … Oberschenkel, Speiche und Elle … dazu gebrochene Rippen … eine schwere Gehirnerschütterung. Hier steht, dass du zwei Minuten lang keinerlei Reaktionen mehr gezeigt hast. Man hatte dich gerade für tot erklärt, als die Reanimation doch noch angeschlagen hat.« Sie schaut von der Akte auf. »Erzähl mir, was während dieser Übung passiert ist. Du warst beim Fallschirmspringen?«
Ich nicke. »Aber die Übung ist nicht plangemäß gelaufen, und … ich bin aufgetitscht.«
Hinter ihr tauschen Texas und Beretta einen Blick. Dämlicher Rekrut, denken sie gerade garantiert. Inkompetenter kleiner Scheißer.
»Aufgetitscht?«, fragt Cordero.
»Mit hoher Geschwindigkeit ins Gras gebissen.«
»Ja. Das steht hier, aber ich würde das alles gern von dir hören. Die ganze Geschichte, in deinen eigenen Worten.«
Okay. In meinen eigenen Worten. Aber jetzt weiß ich nicht, wie ich anfangen soll. Wenn ich die ganze Geschichte von Anfang an erzähle, verschwenden wir kostbare Zeit. Und wie kann ich hier sitzen und reden, während die Sippschaft da draußen rumläuft und unschuldige Menschen verletzt? Andererseits: Wenn ich Cordero die Situation ohne irgendeine Einleitung erkläre, wird sie entweder in Panik geraten und übereilte Entscheidungen treffen oder mich für verrückt halten und sich weigern, mir zu glauben – beides nicht das, was ich will. Also … der schnellste Weg hier raus besteht darin, die ganze Geschichte zu erzählen. Und dieser Fallschirmsprung war definitiv das Startfeld. Der Anfang. Oder das Ende, je nach Sichtweise.
Der Tod ist normalerweise das Ende.
»Erzähl mir die ganze Geschichte, Gideon. Schön der Reihe nach«, sagt Cordero, als würde sie spüren, dass ich endlich bereit bin.
»Okay. Der Unfall.«
Du hast meine Militärakte, Cordero, also kennst du die Vorgeschichte und weißt, dass ich buchstäblich am Tag nach meinem Abschluss nach Fort Benning geflogen bin. Das letzte Jahr an der Highschool war verdammt lang und nicht sehr lustig. Deshalb konnte ich es kaum abwarten, das alles hinter mir zu lassen und etwas zu machen, das mir wirklich wichtig war.
Den Sommer verbrachte ich mit Grundausbildung, Advanced Infantry Training und Airborne School, bis ich endlich dort war, wo ich hinwollte – beim Ranger Assessment and Selection Program. Das RASP ist ein Auswahlverfahren für das 75. Ranger Regiment. Mein Dad war während seiner Militärzeit Teil dieser Elitekampftruppe, und ich wollte unbedingt ebenfalls ein Ranger werden – und wenn es mich umbringen würde. Was letztendlich auch tatsächlich passiert ist, aber dazu komme ich später.
Um es kurz zu machen: Das RASP umfasst acht Wochen reine Quälerei, um all jene auszusieben, die dort nichts zu suchen haben. Die Rekruten werden einer konstanten körperlichen und mentalen Prüfung bei wenig Nahrung und noch weniger Schlaf unterzogen. Echt heftig. Aber mein Ranger-Kumpel und ich waren beide entschlossen, die Sache bis zum Ende durchzuziehen. Cory stammte aus Houston, war ein paar Jahre älter als ich und erbarmungslos. Einen Zwanzig-Kilometer-Lauf in voller Kampfmontur absolvierte er mit einem Grinsen und seinem persönlichen Motto: Es ist noch niemand in seinem eigenen Schweiß ersoffen.
Nach den ersten vier Wochen hatte sich unsere Klasse um etwa die Hälfte reduziert. Wir restlichen fünfzig Rekruten wurden eines Morgens aus der unablässigen Abfolge von Wandermärschen und Waffendrill herausgerissen und zum Fallschirmspringen abkommandiert. Die meisten von uns hatten gerade erst ihr Springerabzeichen erhalten, und unsere Ausbilder wollten unsere Kenntnisse auf Stand halten.
Also kletterten wir kurz nach zehn Uhr morgens in eine Air Force C-130. Cory und ich nahmen unsere Plätze nebeneinander ein, genau wie bei so ziemlich jeder anderen Gelegenheit während des vergangenen Monats. Als die Turboprop-Triebwerke gestartet wurden, löschte die Aussicht auf den bevorstehenden Nervenkitzel jeden Schmerz aus, der sich in meinem Körper angestaut hatte. Und als wir endlich in der Luft waren, grinste ich übers ganze Gesicht – genau wie jeder andere Trottel mit gerade mal fünf Absprüngen.
Mein erster Fallschirmsprung, der ein paar Wochen zuvor stattgefunden hatte, hatte eine Menge Vertrauen erfordert, um auch nur einen Fuß aus dem Flugzeug zu setzen. Doch als sich der Fallschirm pünktlich vier Sekunden später öffnete, entspannte ich mich. Es war einfach phantastisch – vollkommen ruhig und friedlich auf dem Weg nach unten, und die Aussicht war auch nicht zu verachten.
Dieser Sprung hier würde mein sechster sein. Da dabei nur unser Training aufgefrischt werden sollte, sprangen wir im sogenannten Hollywood-Stil, was bedeutete, dass wir weder Waffen noch Rucksäcke oder Kampfmunition bei uns trugen. Ohne diese ganze Ausrüstung fühlte ich mich wohler; außerdem wusste ich, dass ich dadurch mehr Zeit während des Falls haben würde. Bei einer Sprunghöhe von etwa 300 Metern dauerte die ganze Geschichte in der Regel kaum länger als eine Minute – Fallschirmjäger müssen schnell den Boden erreichen. Aber ohne das schwere Kampfgepäck würde ich vielleicht ein paar Sekunden länger in der Luft bleiben als sonst.
Ich lehnte mich zurück. Im Vergleich zu dem, was wir bisher absolviert hatten, würde das hier ein Spaziergang werden.
Während ich dem Dröhnen der Triebwerke lauschte, wanderte mein Blick über die anderen Rekruten auf den Klappsitzen entlang der Außenwände und im Mittelgang. Es war lange her, dass ich das Gefühl gehabt hatte, am richtigen Ort zu sein und das Richtige zu tun.
Dann stieß Cory mich mit dem Ellbogen an. »Alles okay, Blake?«
Die Frage klang beiläufig, aber ich wusste, dass sie nicht so gemeint war. Eine Woche zuvor hatte man uns zu einem Nachtmarsch durch die Cole Range, ein waldiges Trainingsgelände, losgeschickt, und Cory und ich waren ins Reden gekommen – unter anderem darüber, was das Schlimmste war, was wir je durchgemacht hatten. Ich litt derartig unter Schlafmangel und war so hungrig und kaputt, dass ich ausplauderte, seit dem Tod meines Vaters am 2. August im Jahr zuvor hätte sich nichts mehr wirklich hart oder schwierig angefühlt. Was zufälligerweise ein Jahr her war. Auf den Tag genau.
Also saß ich an seinem ersten Todestag in diesem Flugzeug – und Cory hatte sich daran erinnert.
Aber ich hatte alles im Griff.
»Alles okay, Ryland«, erwiderte ich. Dann zeigte ich ihm den Mittelfinger, als eine Art Dankeschön für seine Frage.
Im Mittelgang hatte der Absetzer mit dem Durchgehen des Sprungablaufs begonnen. Bereitmachen, aufstehen, einhaken, Aufziehleine überprüfen, Ausrüstung überprüfen, Meldung machen. Ich ging jeden Sicherheitscheck durch, zusammen mit den fünfzig Mann um mich herum. Die Airborne School schleuste jeden Monat Tausende Soldaten durch dieses Sprungverfahren, und jeder Teil verlief reibungslos wie eine gutgeölte Maschine.
Als wir uns der Landezone näherten, öffnete der Absetzer die Luke, und kalte Luft strömte ins Flugzeug. Schweißperlen liefen mir den Rücken hinab, als das Adrenalin durch meine Adern rauschte. Ich kannte das Gefühl, bis dicht an den Rand meiner Grenzen zu gehen, nur allzu gut. Während des vergangenen Jahres hatte ich mich ziemlich oft in diesem Grenzbereich aufgehalten, weil es mir half, genau das zu vergessen, woran Cory mich gerade wieder erinnert hatte.
Der Absetzer gab das »Go«-Kommando, und die Rekruten am Anfang der Reihe machten sich zum Sprung bereit: Einer nach dem anderen reichte dem Sicherheitsgehilfen an der Luke die Aufziehleine und sprang aus dem Flugzeug.
Wir rückten schnell vorwärts. Innerhalb von Sekunden war Cory an der Reihe. Er sprang aus der Luke und verschwand. Und dann war ich dran. Ich machte meine letzten Schritte im Flugzeug und warf mich hinaus. Als mich der Luftstrom erfasste, drückte ich Füße und Knie zusammen und nahm eine gute Absprunghaltung ein. Das Geräusch der Triebwerke verschwand ziemlich schnell hinter mir. Da es sich um einen Automatiksprung handelte, würde mein Schirm sich selbsttätig öffnen. Meine Aufgabe bestand lediglich darin, dafür zu sorgen, dass alles korrekt ablief.
Ich legte meine Hände an den Reserveschirm und begann zu zählen, so wie man es mir beigebracht hatte. »Eintausend, zweitausend, dreitausend, viertausend.«
Was zum Teu …?
Wo blieb der Ruck?
Ich schaute hoch und suchte nach der geöffneten Kappe, wie ich sie bei meinen vorherigen Sprüngen immer über mir gesehen hatte.
Der Schirm hatte sich nicht geöffnet.
Ich sah lediglich einen verdrehten Schlauch aus heller Fallschirmseide. Die Kappe hatte sich zu einem festen Strang zusammengerollt. Mir war sofort klar, dass es sich um eine Fehlöffnung handelte – eine Fahne, wegen des Aussehens des Fallschirms auch »Schornstein« genannt.
Der Schirm bot keinerlei Auftrieb, deshalb befand ich mich noch immer im freien Fall. Ich schoss an Cory vorbei, sah ihn dann über mir, im Gurt unter seinem Hauptschirm – also genau so, wie ich eigentlich auch hätte aussehen sollen.
Im Rauschen des Windes glaubte ich zu hören, wie er meinen Namen brüllte.
Dann lief alles in Zeitlupe ab, und mein Training machte sich bemerkbar.
Ich zog am Griff meines Reserveschirms und musste dann ungläubig mitansehen, wie der Reservefallschirm schnurgerade nach oben in den Hauptschirm schoss und sich dann mit diesem verdrillte.
In diesem Moment wusste ich, dass ich tief in der Scheiße steckte, hielt mich aber eisern an mein Training. Mir war wieder und wieder eingetrichtert worden, dass die korrekte Reaktion auf einen sich nicht öffnenden Reserveschirm darin bestand, ihn Stück für Stück zu sich heranzuziehen und erneut auszuwerfen, weg vom Hauptschirm. Und zwar so oft, wie es eben nötig war. Für den Rest meines Lebens. Also tat ich genau das: Ich zog und zerrte den Reserveschirm zu mir heran, als nähme ich an einem Jahrhunderttauziehen teil.
Ich hatte keine Sekunde gezögert, alles lief instinktiv ab, doch ein Teil von mir war fassungslos wegen dieser doppelten Fehlöffnung, dem schlimmsten Albtraum jedes Fallschirmspringers. So etwas kam nur extrem selten vor – aber für mich in diesem Moment nicht selten genug.
Die Landezone rauschte schnell näher. Wirklich schnell. Endlich gelang es mir, den Reserveschirm heranziehen und zu einer Kugel zu knäueln. Mit einem kräftigen Stoß schleuderte ich den Schirm nach unten und von mir weg, und dann Bamm! Mein Gurtzeug riss an mir und grub sich in meine Leiste.
Mein Reserveschirm hatte sich endlich geöffnet. Der Hauptschirm flatterte daneben, noch immer in sich verdreht, aber nicht länger im Weg.
Eigentlich hätte mich das begeistern sollen, doch als ich nach unten in Richtung Erde blickte, die mir wie eine planetengroße Gewehrkugel entgegenkam, wusste ich, dass es zu spät war. Meine Geschwindigkeit erlaubte keine sichere Landung. Nicht mal eine, die man gerade noch überleben konnte.
Einen Sekundenbruchteil dachte ich über meinen Vater nach und über den Zufall, der hier gerade ablief: die Tatsache, dass wir beide am selben Tag in den Tod stürzten. Dann erinnerte ich mich an die korrekte Landehaltung.
Füße und Knie zusammen. Kinn und Ellbogen einziehen. Auf den Fußballen landen, dann zu Wade und Oberschenkel abrollen, Körper wölben …
Aber ich traf so fest auf dem Boden auf, dass ich das Gefühl hatte, mit dem ganzen Körper gleichzeitig zu landen … Füße, Arsch, Kopf.
Das knirschende Geräusch meiner brechenden Knochen war das Letzte, was ich noch mitbekam. Und dann war Ende.
Aus und vorbei.
»Was ist nach deinem Sturz passiert?«, fragt Cordero.
Aus ihren Augen spricht neuerwachtes Interesse. Das Gleiche gilt für die beiden Typen an der Tür. Bis eben waren sie relativ teilnahmslos, fast schon gelangweilt. Aber jetzt sind sie hellwach.
»Nach meinem Sturz?«, frage ich, um mir eine Sekunde Zeit zu verschaffen, damit ich das Gefühl des Fallens abschütteln und meinen Puls etwas beruhigen kann. Hab ich gerade wirklich all das gesagt, von dem ich fürchte, dass ich es gesagt habe? Hab ich ihr ernsthaft von meinen Dad erzählt?
Bleib beim Thema, Blake. Beantworte die Fragen. Nur die, die sie stellt. Aber selbst das ist nicht so einfach. Was soll ich ihr jetzt erzählen – die Wahrheit?
Ich bin gestürzt, dann sind meine Knochen gebrochen, und dann ist alles ganz still geworden, und ich hab zwischen den Sternen geschwebt, war von ihnen umgeben, habe sie geatmet, sie gespürt. Tot, ich war tot. Aber ich konnte noch immer wahrnehmen, dass mehrere Typen brüllten und Cory eine Herzdruckmassage durchführte, damit mein Blut weiter zirkulierte. Und dann schloss sich irgendetwas um mein linkes Handgelenk, und die Lebensenergie strömte in meinen Körper zurück. Soll ich ihr das sagen?
Auf keinen Fall. Das werde ich ihr definitiv nicht erzählen. Dafür ist sie noch nicht bereit. Aber diese Drogen in meinen Adern sind echt link.
Ich denke es.
Die Worte sprudeln hervor.
Das ist gefährlich.
Außerdem fühlen sich meine Erinnerungen zu klar an. Zu real. Gerade hatte ich das Gefühl, wieder in die Vergangenheit zurückzukehren. Während ich geredet habe, ist mein Verstand tief eingetaucht, tiefer als beim letzten Mal. Ich konnte jedes Detail sehen. Jede Empfindung wahrnehmen. Ich habe meinen Tod gerade buchstäblich ein zweites Mal durchlitten.
»Gideon?«
»Ja?« Ich bin schon wieder mit den Gedanken abgeschweift. Dieses Gelee im Hirn ist echt übel. Und die Tatsache, dass die Sippschaft irgendwo da draußen rumläuft und ich hier festhocke, macht es nur noch schlimmer. Der Heizkörper tickt wieder. Ich hab nicht mal mitbekommen, dass er angesprungen ist.
»Was ist nach dem Sturz passiert?«
»Ich bin im Krankenhaus aufgewacht, im Walter-Reed-Militärkrankenhaus, auf der Intensivstation, wo ich wohl ein paar Tage im Halbkoma gelegen habe. Meine Mutter war ins nächste Flugzeug gestiegen, um bei mir zu sein, aber daran hab ich nur vage Erinnerungen. Überhaupt kann ich mich an kaum etwas erinnern, weil ich entweder bewusstlos oder mit irgendwelchen Mitteln vollgepumpt war. Fast so wie jetzt. Apropos, Nat, Natalie … Cordero. Ich hab einen extrem empfindlichen Magen, und dem gefällt das Zeug, das ihr mir verabreicht habt, überhaupt nicht. Schwallkotzen ist meine persönliche Spezialität. Ich hoffe, du bist schnell.«
»Deine Unterlagen aus dem Walter Reed sind interessant«, sagt sie, ohne mit der Wimper zu zucken. »Du wurdest bereits eine Woche nach deiner Einlieferung wieder entlassen.« Sie schaut auf, und ihre Augen weiten sich etwas. »Das ist verdammt schnell.«
»Verdammt richtig.«
»Wohin hat man dich danach verlegt?«
»Nach Hause. Mein Zustand hatte sich wesentlich schneller stabilisiert, als die Ärzte erwartet hatten. Irgendwie kapierten sie nicht ganz, was genau ›repariert‹ werden musste. Meine Verletzungen … sie haben sie als ›dynamisch‹ bezeichnet. Die Ärzte haben getan, was sie konnten, die größten Knochen – Oberschenkel und Schienbein – gerichtet und dann beschlossen abzuwarten, bis die Schwellung zurückgegangen war, bevor sie weitere Untersuchungen durchführen wollten.«
»Dein Verletzungsstatus war dynamisch?«
»Sich ständig verändernd.«
»Danke, ich weiß, was das bedeutet. Du hast von ›zu Hause‹ gesprochen – wo ist das?«
»Half Moon Bay in Kalifornien.«
»Und was ist dann passiert?«
»Dann hat sich das Ganze ziemlich merkwürdig entwickelt.«
Cordero lehnt sich zurück. Verschränkt die Hände. »Erzähl mir, was so merkwürdig war«, sagt sie.
Also fang ich an zu erzählen.
Okay. Zu Hause.
Ich war nur knapp einen Tag zu Hause, aber während dieser Zeit ist eine Menge passiert. Das war der Moment, als mir zum ersten Mal klarwurde, dass mit mir irgendetwas nicht stimmte.
Als ich aufwachte, war ich derart orientierungslos, dass ich mein eigenes Zimmer nicht erkannte. Ich weiß noch, wie ich gedacht habe, dass mir der Schreibtisch und das Surfbrett über dem Fenster irgendwie bekannt vorkamen, bevor mir schließlich dämmerte, dass das meine Sachen waren. Und auch mein Körper fühlte sich seltsam an. Nicht so, wie ich es nach so einem heftigen Sturz erwartet hätte. Mein linkes Bein und mein linker Arm steckten in Aircast-Schienen – ich war auf der linken Seite aufgeschlagen –, aber ich hatte keine Schmerzen. Meine Muskeln fühlten sich lediglich geschwollen an, als wären sie mit Baumwolle ausgestopft, was ich aber auf die ganzen Schmerzmittel zurückführte, die ich schlucken musste.
Und noch etwas anderes war an diesem Morgen merkwürdig: die Tatsache, dass ich allein war. Tagelang hatte ich unter ständiger ärztlicher Beobachtung gestanden, jede Minute umsorgt vom Pflegepersonal, erst im Krankenhaus, dann auf dem Heimtransport. Und davor war ich die ganze Zeit von anderen Rekruten umgeben gewesen, ein nicht abreißender Strom von Aktivitäten. Das RASP könnte man durchaus als sehr dynamische Umgebung bezeichnen.
Doch an diesem Morgen in meinem alten Zimmer hörte ich nichts außer dem weit entfernten Rauschen des Highway 1. Mir war extrem bewusst, dass ich zum ersten Mal seit Monaten nirgendwohin musste. Also blieb ich einfach eine Weile liegen, starrte auf die Sonnenstrahlen, die durch die Jalousien fielen, und ließ die Situation auf mich wirken.
Meine Mutter hatte an meinem Zimmer nach meiner Abreise nichts verändert. Der Schreibtisch war noch immer mit Baseballtrophäen übersät. Meine Campingausrüstung und mein Rucksack stapelten sich noch immer in einer Ecke. Meine Robe inklusive Abschlusshut hing noch immer über der Rückenlehne meines Schreibtischstuhls. Aber alles wirkte viel zu zerbrechlich und bunt. Wie Spielzeug im Vergleich zu der Ausrüstung, die ich in der Army bekommen hatte.
Nach etwa ein oder zwei Minuten fasste ich all meinen Mut zusammen und warf einen Blick auf mich selbst. Meine Wunden hätten definitiv schlimmer sein können, waren aber auch kein Zuckerschlecken. Ich wusste, dass ich unter den Schienen und meiner Kleidung am ganzen Körper grün und blau war. Zusammengeflickt wie eine Steppdecke. Richtig übel zugerichtet. Sobald die Schwellungen zurückgegangen waren, würde ich vermutlich weitere Operationen an Arm, Handgelenk und Bein brauchen. Gefolgt von monatelanger Rehaklinik, bevor ich auch nur daran denken konnte, nach Fort Benning zurückzukehren. Im Krankenhaus hatte man mir gesagt, dass das Ganze bis zu einem Jahr dauern konnte. In Gegenwart meiner Mom und der Ärzte hatte ich mich geweigert, darüber nachzudenken, was das bedeutete. Aber jetzt hatte ich genügend Gelegenheit dazu, und die Vorstellung brachte mich fast um.
Ich erwarte nicht, dass du das verstehst, Cordero, aber der Beitritt zur Army war … äh … war für mich eine wirklich gute Sache. Seit dem Tod meines Vaters war ich durch die Hölle gegangen. Aber die Ausbildung beim RASP hatte alles verändert und mir ein Ziel geboten, als ich es besonders dringend gebraucht hatte. Und während ich an jenem Morgen auf meinem Bett lag, konnte ich den Tiefschlag, den das Schicksal mir verpasst hatte, einfach nicht akzeptieren: die Tatsache, dass ich während meiner Heilung ein ganzes Jahr verlieren würde. Das war schlichtweg nicht drin. Ich konnte nicht wieder zu dem Gideon zurückkehren, der ich vorher gewesen war.
Als diese Erkenntnis langsam zu mir durchdrang, spürte ich, wie Zorn in mir hochkochte, eine Wut, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Ein Gefühl, das über Frustration oder Enttäuschung weit hinausging. Ich spürte Rage. Regelrechte Rage, die sich heiß in meinem Körper ausbreitete, wie hohes Fieber. Derartig hoch, dass es fast messbar schien – als könnte man mit der richtigen Ausrüstung, dem richtigen Gerät förmlich sehen, wie die Hitzewellen von mir abstrahlten.
Die Ärzte hatten mir die strenge Anweisung erteilt, mich nur im absoluten Notfall zu bewegen. Schließlich war mein Oberschenkel zertrümmert und gerade erst zusammengeflickt worden. Doch in diesem Moment war mir das scheißegal. Mit dieser rasenden Wut in mir konnte ich keine Sekunde länger dort herumliegen.
Ich schob mich an den Bettrand, ließ die Beine von der Matratze rutschen und setzte mich auf. Ein heftiges Schwindelgefühl erfasste mich, mein Puls kreischte in meinen Ohren, und der Raum um mich herum drehte sich. Aber ich wusste, dass das noch nicht alles war. Also wappnete ich mich gegen den Schmerz, der jeden Moment einsetzen musste.
Doch nichts geschah. Abgesehen von dem Schwindel und dem Zorn, der wie Kordit in mir brannte, schien ich okay zu sein. Mein linker Arm und mein linkes Bein fühlten sich geschwollen und leicht taub an, aber das war auch schon alles.
Meine Mutter hatte auf dem Nachttisch eine Nachricht unter einem Glas Wasser hinterlassen. Daneben standen meine Pillendosen mit Schmerzmitteln, auf die jede Apotheke stolz gewesen wäre. Mom war nur kurz zum Supermarkt, um einzukaufen. Ihr Zettel forderte mich auf, meine nächsten Tabletten direkt nach dem Aufwachen einzunehmen, weil ich ohnehin schon zwei Stunden hinter dem regulären Schema herhinkte. Außerdem hatte sie meine Krücken neben meinem Bett an die Wand gelehnt. Ich verzichtete auf die Pillen, schnappte mir eine Krücke für meinen gesunden Arm und stand auf.
Noch immer alles in Ordnung.
Also machte ich weiter.
Um mich mit der gesunden Hälfte meines Körpers vorwärtszubewegen, musste ich meine Krücke in einem Halbkreis nach vorn bringen, einen Schritt gehen, das andere Bein nachziehen und so weiter, wie eine Art menschlicher Zirkel. Diesen Trick entdeckte ich, als ich mein Zimmer verließ und durch den kurzen Flur humpelte, vorbei an den Fotos von mir und meiner Zwillingsschwester Anna. Die Bilder zeigten uns beide als nackte Kleinkinder am Strand, dann mich mit Pickeln und Zahnspange im Little-League-Baseballtrikot und mich noch mal mit Pickeln und Zahnspange im Anzug, kurz vor dem Abschlussball der elften Klasse. Ich führe meine mentale Stärke zum Großteil auf die Tatsache zurück, dass ich viele Jahre lang Tag für Tag durch diesen Flur laufen musste.
Als Nächstes setzte ich mir das Ziel, es bis zur Haustür zu schaffen. Ich setze mir ständig Ziele, denn so ticke ich nun mal. Außerdem musste ich mich bewegen. Ich brauchte das Gefühl, dass ich mich noch immer eigenständig fortbewegen konnte. Wenn ich es durch die Haustür schaffte, war das ein Zeichen, dass ich wieder im Sattel saß und auf dem Weg der Besserung war.
Als ich durch unser kleines Wohnzimmer humpelte, entdeckte ich mehrere Umzugskartons unter dem Fenster und blieb abrupt stehen. Annas Ozeangemälde hing nicht mehr an seinem alten Platz über dem Sofa, sondern lehnte an der Wand. Unser Bücherregal war leer, bis auf zwei gerahmte Fotos: Das eine zeigte meinen Dad auf dem Fischerboot seines besten Freundes und das andere mich als dürren Surferjungen auf einer sechzig Zentimeter hohen Welle, als wäre ich der König der Welt.
Die Zeichen waren nicht zu übersehen. Meine Mutter war dabei, das Haus zu verkaufen.
Damit hatte ich nicht gerechnet, auch wenn das eigentlich logisch gewesen wäre. Meine Mom führte ein Fischrestaurant unten am Hafen. Der Job war zwar einigermaßen gut bezahlt, aber sie musste auch noch für Annas Collegegebühren aufkommen. Natürlich versuchte ich zu helfen und gab ihr so viel wie möglich von meinem Army-Sold, aber der war nicht gerade üppig. Ich wusste, dass wir ohne das Einkommen meines Vaters nicht in dem von ihm selbst gebauten Haus bleiben und meiner Schwester eine Collegeausbildung finanzieren konnten. Dennoch: Mir war nicht klar gewesen, dass meine Mutter so kurz vor dem Verkauf des Hauses stand.
Ich hasste den Gedanken, dass meine Mom all das – den Verkauf, den Umzug, ihr Leben – allein regeln musste. Aber ich wusste nicht, wie ich ihr hätte helfen können. Wie sollte ich ihr einen Teil der Last abnehmen? Und erst recht in diesem Zustand, mit den gebrochenen Knochen?
Ich humpelte an den Umzugskisten vorbei, schaffte es bis zur Haustür und trat hinaus. Der Betonpfad fühlte sich unter meinem rechten Fuß kühl an; mein linker Fuß steckte sicher in seiner Schiene.
Meine Heimat Half Moon Bay ist eine Kleinstadt südwestlich von San Francisco, direkt am Pazifik. Eine Hafenstadt und Surferhochburg, die nach einer Mischung aus Hummerkörben, Highway-Abgasen und Touristenrestaurants riecht.
Du kennst doch den Duft von Backfisch und Pommes, oder? Dieser Geruch ist für mich »Heimat«. Hundertprozentig. Der beste Geruch der Welt. Und er hatte mir echt gefehlt, aber jetzt konnte ich an nichts anderes denken als an den bevorstehenden Umzug. Denn schon bald würde das hier nicht mehr mein Zuhause sein. Wohin würde Mom ziehen? Um mich herum sah ich überall Erinnerungen an meinen Dad, wohin ich auch blickte. Die Straße, auf der wir Baseball gespielt hatten. Die Auffahrt, wo er immer seinen Pick-up gewaschen hatte. Seine Werkstatt in der Garage.
Ihn hatte ich bereits verloren. Würde ich jetzt auch diese Erinnerungen an ihn verlieren?
Unsere Nachbarin, Mrs Collins, stand in ihrem Vorgarten und stutzte die Rosen. Nach vierzig Jahren Tätigkeit als Krankenschwester war sie kurz zuvor in Rente gegangen. Ihr Mann hatte im Vietnamkrieg F-4s für die Air Force geflogen. Da Mrs C keine eigenen Kinder besaß, hatte sie Anna und mich als inoffizielle Enkelkinder »adoptiert«. Sie war eine begeisterte Hobbybäckerin und verfügte über einen phantastischen Sinn für Humor. Am Tag meiner Einschreibung hatte sie einen frischen Brombeerkuchen vorbeigebracht, mit einem Zettel: Lieber Gideon, die Army ist vermutlich auch ein guter Berufsweg.
Sosehr ich sie auch mochte, in diesem Moment war ich nicht in der Stimmung für ein Gespräch. Trotzdem humpelte ich zu ihr hinüber, weil ich genau wusste: Wenn ich nicht kurz hallo sagte, würde meine Mutter das noch ewig zu hören bekommen.
»Hallo, Mrs Collins«, sagte ich und versuchte, etwas runterzukommen. Meine persönliche Wut-Aura umgab mich noch immer – jener brennende Zorn, der aus jeder Pore meiner Haut strahlte. »Wie geht’s Ihnen?«
»Gideon?« Sie schaute auf. Ihre Augen wirkten glasig, als würde sie mich nicht wirklich sehen. Außerdem stand sie wie erstarrt da; die lange rote Rose, die sie gerade geschnitten hatte, glitt ihr aus der Hand und fiel ins Gras.
»Mrs Collins? Alles in Ordnung?«
Sie blinzelte. »Natürlich. Ich hatte nicht damit gerechnet, dich hier zu sehen.«
»Tut mir leid. Ich wollte Sie nicht erschrecken.«
»Ich habe nicht behauptet, dass du mich erschreckt hast. Was willst du?«, fragte sie herrisch und mit leicht zitternden Wangen.
Ich brauchte einen Moment, bis ich ihre Frage kapierte. Sie schien einfach zu harsch. Auch der Ausdruck in ihren Augen hatte sich verändert: von glasig zu steinhart. »Ich war nur auf dem Weg zum Strand.«
Eigentlich hatte ich gehofft, dass sie von meinem Unfall gehört hatte und vielleicht anbieten würde, mir einen Genesungskuchen zu backen. Aber jetzt nicht mehr. Denn jetzt jagte sie mir allmählich Angst ein.
»Lügner.« Sie zeigte mit der Gartenschere auf mich. »Du gehst gar nicht zum Strand, junger Mann. Du stehst hier nur herum und verschwendest meine Zeit!«
»Äh, was?« Ich kapierte es nicht. Das hier war doch die kleine alte Dame, die mich oft gebeten hatte, eine Spinne in ihrem Haus zu fangen und ins Freie zu setzen. Die immer lächelnd auf ihrer Veranda gesessen hatte – auch wenn sie allein war. Ich meine … ich verschwendete ihre Zeit? Bisher hatte sie es doch nie erwarten können, dass Anna und ich sie besuchten.
»Verschwinde!«, brüllte sie. Dann zog sie einen ihrer Gartenhandschuhe aus und warf ihn nach mir. Ich versuchte, ihm auszuweichen, war mit der Schiene und der Krücke aber nicht schnell genug, so dass sie mich am Rücken traf. »Hau ab!«
Das klang nach einer guten Idee. Hastig schleifte ich mich über die Straße, verwirrt und aufgewühlt. Ich nahm mir vor, später mit meiner Mutter zu reden. Mrs C schien allmählich in die Jahre zu kommen; wahrscheinlich wurde es Zeit, dass mal jemand nach ihr sah.
Ich humpelte an den Häusern der Marshburns und der Harringtons vorbei bis zum Ende unserer Straße. Mir war klar, dass ich mit meinen Verletzungen nicht in den Sand konnte, deshalb blieb ich am Anfang des Dünenwegs stehen. Hinter den Dünen und unter dem Nebel lag der Ozean, endlos und unveränderlich. Man konnte sich stets darauf verlassen: Das Meer war immer da.
Während ich dort stand, erkannte ich, dass ich noch immer keine Schmerzen spürte. Die Ärzte hatten sich bei meiner Prognose gewaltig geirrt. Ein Jahr, hatten sie mir gesagt. Von wegen: Sechs Monate lautete mein neues Ziel für meine Rückkehr nach Fort Benning. Und wieso auch nicht? Körperlich fühlte ich mich wesentlich besser als erwartet. Und mental hatte ich eine ganze Tankladung voller Frust und Wut in mir, die mich antrieb. Außerdem hatte mein altes Leben vor der Army nichts mehr zu bieten. Meine Kumpels und meine Schwester studierten weit weg an irgendwelchen Colleges. Und nach dem Verkauf des Hauses würde mir nicht mal mehr ein Zuhause bleiben. Ich musste zusehen, dass ich von hier wegkam.
Ein Stück den Strand hinunter entdeckte ich den Hund der Harringtons, der in den flachen Wellen herumsprang. Jackson hatte mehr von einem Grizzlybären als von einem Labrador. Bevor ich von zu Hause weggegangen war, hatte er mich immer beim Joggen begleitet. Jetzt rief ich seinen Namen und lächelte, während er auf mich zugerannt kam.
Als er etwa zehn Schritte von mir entfernt war, rammte er plötzlich die Pfoten in den Sand und machte sich groß, die Ohren aufgerichtet, als würde er mich nicht erkennen.
»Ruhig, alter Knabe. Ich bin’s nur.« Ich kannte ihn seit seiner Welpenzeit.
Jackson zog die Lefzen hoch, fletschte die Zähne und stieß ein tiefes Knurren aus.
»Jackson, ich bin’s.«
Noch bevor ich die Worte ausgesprochen hatte, griff er an, das Fell gesträubt und mit gefletschten Zähnen.
Hastig riss ich meine Krücke hoch, um ihn aufzuhalten. »Jackson, zurück!«
Aber er knurrte und schnappte weiterhin nach mir, ganz gleich, was ich auch schrie, und drängte mich dadurch in Richtung Sand, wo ich garantiert den Halt verlieren würde. Fieberhaft dachte ich nach. Falls ich stürzte, würde ich meinen Arm mit der Schiene nutzen, um mich vor seinen Bissen zu schützen.
Ich hatte gerade einen Schritt vom Weg heruntergemacht, als Jackson innehielt. Er spitzte die Ohren. Dann rannte er weg, zur Straße hinauf, auf die Stimme zu, die ich jetzt ebenfalls hören konnte.
Sprachlos sah ich ihm nach, als er um das Haus der Harringtons herum verschwand; mein Herz hämmerte in meiner Brust.
Was war das denn gewesen?
Mir reichte es an frischer Luft. Ich humpelte heimwärts, erleichtert, dass Mrs C ebenfalls ins Haus gegangen war. Als ich durch unsere Haustür hastete, stand ich plötzlich Auge in Auge meiner Mutter gegenüber.
»Whoa! Mom! Ich war gerade …«
Ich war gerade was? Von einer kleinen alten Dame und einem Hund total geschockt worden? Aber der Anblick meiner Mom verdrängte diese Gedanken. Und es tat gut, wirklich gut, sie zu sehen – ohne den Nebel der Schmerzmittel in meinem Hirn.
Im Grunde hatte ich mich seit Wochen nicht mehr vernünftig mit ihr unterhalten, seit meinem Aufbruch zur Army, und mir lagen Dutzende Fragen auf der Zunge. Ob die Sache mit dem Hausverkauf für sie okay war. Ob sie sich einsam fühlte, jetzt, da Anna und ich nicht mehr da waren. Ob sie darüber nachgedacht hatte, sich vielleicht mal mit jemandem zu verabreden – ein einfaches Ja oder Nein auf diese Frage hätte mir schon gereicht. Ich wusste, dass sie ihr Leben letztendlich wieder selbst in die Hand nehmen würde. Meine Mom war tough. Und sie war noch so jung. Sie hatte Anna und mich mit zwanzig bekommen, und sie achtete auf sich und ihren Körper. Viele Leute dachten, sie sei Annas ältere Schwester, weil die beiden einander so ähnlich sahen – viel ähnlicher als Anna und ich.
Etwa ein oder zwei Sekunden verstrichen, bevor mir bewusst wurde, dass wir noch immer in der Haustür standen. Mom hatte kein Wort gesagt und ich auch nicht. Aber trotz der ganzen Fragen, die ich ihr stellen wollte, schaffte ich keine emotionale Kehrtwende. In mir brannte noch immer dieser wütende, weißglühende Zorn.
Als ich schließlich den Mund aufmachte, brachte ich nur eine Frage hervor: »Hattest du vor, mir vielleicht irgendwann mal von dem Hausverkauf zu erzählen, oder was?«
Überrascht zuckte sie zusammen. »Wir reden hier nicht über den Hausverkauf, Gideon. Wir reden jetzt über dich. Wolltest du mir den Schreck meines Lebens einjagen? Da gehe ich gerade mal für eine halbe Stunde aus dem Haus, und du verschwindest einfach? Du hättest nicht mal das Bett verlassen dürfen!«
Eine Einkaufstüte kippte auf der Küchentheke um, und ein Apfel rollte in die Spüle. »Es geht mir gut, Mom. Ich brauchte nur mal frische Luft.«
Aber es schien, als hätte sie mich gar nicht gehört. »Ich habe Anna angerufen«, fuhr sie fort, »und wollte gerade bei Cory nachhaken. Glaubst du, ich hätte in dieser Woche nicht schon genug durchgemacht? Ich denke nicht, dass dir klar ist, was dein Unfall für mich bedeutet hat. Weißt du eigentlich, wie nah du dem Tod gewesen bist?«
»Mit mir ist alles in Ordnung, Mom. Ich musste nur mal ein paar Minuten vor die Tür. Beruhig dich, okay?«
Aber sie beruhigte sich nicht. Stattdessen schnauzte sie mich weiterhin an: Sie konnte meinen Mangel an gesundem Urteilsvermögen einfach nicht fassen. Ob ich denn nicht verstand, wie schwer meine Verletzungen waren? Versuchte ich bewusst, ihr weh zu tun, indem ich mir selbst weh tat?
Nur selten hatte sie sich so ins Zeug gelegt und mich derartig angefahren. Als sie sich schließlich etwas beruhigte, teilte ich ihr mit, dass ich mich wieder hinlegen würde.
»Das ist eine sehr gute Idee«, sagte sie, aber ihr Tonfall klang eher nach Geh mir aus den Augen.
Ich machte mich davon und verschwand in meinem Zimmer. Nichts fühlte sich mehr normal an, und ich musste unbedingt in Ruhe nachdenken.
Langsam sank ich auf mein Bett, starrte an die Decke und ging in Gedanken jede Sekunde seit Verlassen des Hauses durch.
Als ich schließlich bei Jacksons tollwütigem Verhalten ankam, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Nach der Begegnung mit dem Labrador war ich förmlich nach Hause gesprintet. Zwar etwas unbeholfen mit den Schienen und der Krücke. Aber definitiv nicht das Humpeln eines Typen mit gebrochenen Knochen. Und das war noch nicht alles. Während meine Mom mich angeschrien hatte, hatte ich die ganze Zeit auf beiden Beinen gestanden. Dann war ich schnurgerade in mein Zimmer gegangen und hatte mich hingelegt. Wieder nicht gehumpelt. Oder das Bein nachgezogen. Und völlig ohne Schmerzen.
Ich schaute an meinem Bein herab und wackelte mit den Zehen. Dann spannte ich die Muskeln unter der Schiene an und geriet ins Grübeln. Also … ich lag zwei Stunden hinter meinem Schmerzmittelschema und war gerade mit zertrümmerten Gliedmaßen einen Hügel hinaufgelaufen, aber ich fühlte mich trotzdem gut?
»Gideon?« Meine Mom klopfte an die Tür. »Es tut mir leid, dass ich dich angebrüllt habe, Schatz. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Vermutlich war der ganze Stress einfach zu viel. Außerdem hatte ich nicht damit gerechnet, dass du so bald schon wieder auf den Beinen sein würdest, und das hat mir Angst gemacht. Ich möchte nicht, dass du wieder verletzt wirst. Aber es war nicht richtig von mir, das an dir auszulassen.«
Also das klang jetzt wieder wie meine Mom. Der sanfte Ton in ihrer Stimme sorgte dafür, dass ich mich etwas entspannte. »Ist schon okay.«
»Kann ich dir irgendetwas bringen?«
Sie suchte nach einer Ausrede, um in mein Zimmer zu kommen, aber dafür schwirrte mir der Kopf viel zu sehr. »Nein, danke. Ich werd mich jetzt was ausruhen.«
»Okay. Ich bin gleich nebenan im Wohnzimmer, falls du etwas brauchst.«
Als ihre Schritte verhallt waren, setzte ich mich auf, starrte auf die Schiene an meinem Bein und diskutierte mit mir selbst, ob ich einen Blick auf mein Bein werfen wollte.
Der Anblick von Blut machte meinem Magen nicht viel aus, im Gegensatz zu bestimmten Nahrungsmitteln und pharmakologischen Drogen. Mit Blut und Verletzungen kam ich normalerweise ganz gut klar. Allerdings ging es hier um mein Bein. Wollte ich wirklich sehen, wie stark es mit Blutergüssen überzogen und geschwollen war? Kreuz und quer genäht und geflickt?
Ja, beschloss ich. Ja, das wollte ich. Ich musste herausfinden, was los war.
Langsam öffnete ich die Klettverschlüsse und zog die Kunststoffteile der Aircast-Schiene beiseite.
Mein Bein sah aus wie immer, mit dem einzigen Unterschied, dass ich jetzt ein paar verblasste Narben besaß – so hell, dass man sie fast nicht sehen konnte. Aber ich hatte keine Blutergüsse. Und auch keine Schwellungen.
Okay. Dann … träumte ich vielleicht? Oder bildete mir das alles nur ein?
Panik stieg in mir auf, als ich die Verschlüsse an meiner Armschiene löste und sie entfernte.
Noch eine Überraschung. Mein Arm war verheilt, genau wie mein Bein. Der Wahnsinn! Völliger Wahnsinn – aber da war noch etwas anderes. Etwas an meinem Arm.
Ein dickes Metallband umschloss mein Handgelenk. Fünf Zentimeter breit und aus einem mir unbekannten Material. Es erinnerte an Quecksilber, glühte aber rötlich. Das Licht, das es reflektierte, schimmerte dunkelrot. Purpurrot.
Mein erster Gedanke war: ein medizinisches Armband. Das Ding musste eines dieser Magnetarmbänder sein. Aber ich konnte nirgendwo einen Verschluss oder eine Schnalle entdecken. Das Metall verlief nahtlos um mein Handgelenk herum, ohne jede Öse, Haken oder Knopf. Und es saß ziemlich eng. Wie angegossen. Ich hatte keine Ahnung, wie man es mir angelegt hatte.
Aber was viel wichtiger war: Ich konnte auch nicht erkennen, wie ich es jemals wieder loswerden sollte.
»Das reicht erst mal, Gideon.«
Ich räuspere mich, leicht überrumpelt von Corderos Unterbrechung. Es dauert ein paar Sekunden, bis ich wieder vollständig in der Gegenwart bin. Die Rückkehr aus der Vergangenheit verläuft sehr langsam. Zäh. Schwierig. Als würde ich versuchen, aus einem Sumpf herauszurobben.
Sind diese Drogen überhaupt legal? Habe ich diese Frage gestellt?
»Wenn das stimmt, was du sagst, dann waren deine Verletzungen innerhalb von fünf Tagen verheilt, richtig?«, fragt Cordero.
»Ich sage die Wahrheit. Und deshalb: Ja, fünf Tage.«
»Und das hat niemand für ungewöhnlich gehalten? Deine Mutter hat dich nicht darauf angesprochen? Oder die Ärzte?«
»Seit meiner Entlassung aus dem Militärkrankenhaus hat mich kein Arzt mehr untersucht. Und meine Mom …« Ich zucke die Achseln. »An diesem ersten Tag zu Hause war sie definitiv argwöhnisch, aber da ich seitdem nicht mehr mit ihr gesprochen habe, weiß ich nicht, was sie davon gehalten hat.«
Corderos Blick heftet sich auf mein Handgelenk, das von meinem langärmligen T-Shirt verdeckt und mit Kabelbindern an den Stuhl gefesselt ist. »Hast du das Armband noch?«
Ich nicke. »Wie gesagt, es lässt sich nicht abnehmen.«
Cordero hebt zwei Finger und gibt den Typen hinter ihr ein Zeichen.
Texas tritt vor und kniet sich neben mich. »Komm nicht auf dumme Ideen«, warnt er mit schleppender Stimme. An der Tür zieht Beretta seine Beretta und richtet sie auf meine Stirn.
Texas versucht, meinen Ärmel hochzuziehen, aber der Kabelbinder sitzt zu fest. Fragend schaut er zu Cordero, die schweigend nickt. Daraufhin nimmt er ein riesiges Bowiemesser aus einem Hüftholster, durchtrennt den Binder und schiebt meinen Ärmel hoch. Seine blauen Augen treffen sich für einen Sekundenbruchteil mit meinen … eine stumme Wiederholung seiner Warnung. Dann nimmt er mein Handgelenk und zieht es zu sich heran.
»Das Armband ist noch da. Keine sichtbare Naht.« Er dreht die Schultern, damit Cordero es sehen kann.
Ihr Stuhl knarrt, als sie sich vorbeugt. Sie betrachtet das Armband auf die gleiche Weise wie ich an jenem Tag in meinem Zimmer, mit einer Mischung aus Bewunderung und Verwirrung. Dieser Gesichtsausdruck fasst den vergangenen Monat meines Lebens ziemlich gut zusammen.
»Es handelt sich eindeutig um irgendeine Legierung, aber das Material bricht das Licht wie ein Edelstein … Wie ein Rubin.«
Ich wünschte, ich hätte es auf diese Weise formuliert. Ihre Beschreibung klingt besser als reflektiertes purpurrotes Licht.
»Und die Struktur?«, fragt sie.
Texas schaut mich erneut an. Er hält sein Bowiemesser in der rechten Hand, während er mit zwei Fingern der linken Hand über die Oberfläche meines Armbands streicht. »Glatt. Erinnert eher an Glas als an Metall. Körperwarm.« Echtes Interesse erwacht in seinen Augen. »Ist es schwer?«
»Nein. Ich spüre das Gewicht überhaupt nicht. Genau wie bei dem Schwert und der Rüstung.«
Bamm.
Es scheint, als wäre eine schallgedämpfte Bombe hochgegangen. Niemand rührt sich. Alle Blicke wandern von meinen Augen zum Armband und wieder zurück, wie beim Tischtennis, ein paarmal hin und her.
Vermutlich hab ich das etwas zu früh ausgeplaudert. Vielen Dank, Wahrheitsserum. Aber Geschichtenerzählen war noch nie meine Stärke.
Das ist Sebastians Spezialität. Ich wette, Bastians Cordero hat längst Popcorn und Eis bringen lassen.
Nach einem Moment bin ich derjenige, der die Stille durchbricht: »Soll ich fortfahren?«
Cordero lehnt sich zurück und kratzt geistesabwesend an ihren Fingerknöcheln. Ihre Miene wirkt jetzt etwas weniger ausdruckslos als bisher. So als würde ich sie tatsächlich unterhalten.
»Binde ihn wieder fest«, befiehlt sie Texas und wendet sich dann an mich. »Ja, Gideon, das solltest du.«
Am nächsten Morgen weckte mich die Stimme meiner Mutter; sie schien zu telefonieren.
Genauer gesagt schien sie ins Telefon zu brüllen.
Ich hatte ohne meine Schienen auf dem Bauch geschlafen und seit dem Vortag keine Schmerzmittel mehr genommen. Eigentlich hätte ich mich vor Schmerzen krümmen müssen, aber ich spürte nichts.
Natürlich war es nicht das erste Mal, dass meine Mutter die Stimme erhob. Mom war halb irischer Abstammung und ließ sich nichts gefallen, von niemandem. Aber jetzt hatte ihr Tonfall einen echt wütenden Unterton. Dann fiel mir ein, wie sie mich am Tag zuvor angefahren hatte … Was früher eher eine Seltenheit gewesen war, passierte plötzlich verdammt oft.
Sie legte auf, und ich hörte ihre Schritte, die schnurgerade auf mein Zimmer zumarschierten. Dann schwang die Tür auf, und sie erschien im Türrahmen, die Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst. Ihre grimmige Miene erinnerte mich an jenen Sommer, als ich in drei Wochen dreimal unsere Wohnzimmerscheibe zertrümmert hatte beim Versuch, meinen Baseballschwung zu perfektionieren.
»Im Restaurant gibt’s ein Problem«, sagte sie. »Ich muss die nächsten Tage zur Arbeit, aber ich habe schon mit deiner Schwester gesprochen. Sie kommt her und passt auf dich auf.«
Die beiden hatten bereits eine Vereinbarung für meine Genesungszeit getroffen: Der Plan sah vor, dass meine Mutter sich an den Wochentagen um mich kümmerte und von Freitag bis Montag arbeitete, während Anna, die im ersten Semester an der California-Polytechnic-Universität studierte und nur in der Wochenmitte Vorlesungen hatte, am Wochenende meinen Babysitter machte.
Allerdings hatten wir heute Dienstag; Moms Anrufer hatte den Plan über den Haufen geworfen.
»Anna muss zur Uni«, wandte ich ein.
»Na, dann wird sie den Stoff eben nachholen müssen. Du bist wichtiger.«
»Mom, ich …«
»Keine Diskussion, Gideon. Anna wird zum Abendessen hier sein. In der Zwischenzeit werde ich Mrs C bitten, herzukommen und auf dich aufzupassen.«
»Nein – ist schon okay. Ich schaff es auch allein, bis Anna nach Hause kommt.«
Mom drückte mir einen Kuss auf die Stirn, ermahnte mich, meine Tabletten zu nehmen, und hastete hinaus.
In dem Moment als ich die Haustür hinter ihr ins Schloss fallen hörte, zog ich meine Laufschuhe an, stopfte ein paar Sachen in meinem Army-Rucksack und schnappte meine Schlüssel. Ich verriegelte die Haustür und sprang in meinen Jeep, einen zerbeulten CJ von 1985, den mein Dad und ich hatten fitmachen wollen, was aber aus bekannten Gründen nie passiert war.