Riesenpaket der Magischen Fantasy Januar 2024 - Alfred Bekker - E-Book

Riesenpaket der Magischen Fantasy Januar 2024 E-Book

Alfred Bekker

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Beschreibung

Dieses Ebook enthält folgende Abenteuer: Rajin Der Magier der Elben Der Fluch des Zwergengolds Drachen-Attacke Sturm auf das Elbenreich Stadt der Helden Lirandil – Der Fährtensucher der Elben Die Drachenhaut Sindbads längste Reise 1 Sindbads längste Reise 2 Sindbads längste Reise 3 Sein Name ist Branagorn von den Elben, Krieger und Magier aus dem Zwischenland der Elben. Er suchte die Seele seiner verlorenen Liebe Cherenwen und führte magische Experimente durch, die ihn in andere Welten verschlugen. In einer dieser Welten trifft er auf den Wikinger Gunnar und dessen wilde Horde nordländischer Barbaren. Die Suchen nach einem mächtigen Artefakt führt sie beide durch ein magisches Tor und in ein Land jenseits der Zeit...

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Alfred Bekker

Riesenpaket der Magischen Fantasy Januar 2024

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Inhaltsverzeichnis

Riesenpaket der Magischen Fantasy Januar 2024

Copyright

Rajin

Der Magier der Elben

Der Fluch des Zwergengolds

Drachen-Attacke!

Sturm auf das Elbenreich

Stadt der Helden

LIRANDIL – DER FÄHRTENSUCHER DER ELBEN

Übersicht: Athranor & Zwischenland

Die Drachenhaut

Sindbads längste Reise, Teil 1 von 3

Sindbads längste Reise, Teil 2 von 3

Sindbads längste Reise, Teil 3 von 3

Riesenpaket der Magischen Fantasy Januar 2024

von Alfred Bekker

Dieses Ebook enthält folgende Abenteuer:

Rajin

Der Magier der Elben

Der Fluch des Zwergengolds

Drachen-Attacke

Sturm auf das Elbenreich

Stadt der Helden

Lirandil – Der Fährtensucher der Elben

Die Drachenhaut

Sindbads längste Reise 1

Sindbads längste Reise 2

Sindbads längste Reise 3

Sein Name ist Branagorn von den Elben, Krieger und Magier aus dem Zwischenland der Elben. Er suchte die Seele seiner verlorenen Liebe Cherenwen und führte magische Experimente durch, die ihn in andere Welten verschlugen. In einer dieser Welten trifft er auf den Wikinger Gunnar und dessen wilde Horde nordländischer Barbaren. Die Suchen nach einem mächtigen Artefakt führt sie beide durch ein magisches Tor und in ein Land jenseits der Zeit...

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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von

Alfred Bekker

© Roman by Author /

© dieser Ausgabe 2024 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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Rajin

DRACHENFLUCH Erstes Buch

von Alfred Bekker

Drachenerde 6bändige Ausgabe 1

Der Umfang dieses Buchs entspricht 229 Taschenbuchseiten.

Drachenfluch – Drachenring – Drachenthron: Die DrachenErde-Saga von Alfred Bekker

Seit Urzeiten ist das Drachenland die Heimat der mythischen geflügelten Geschöpfe, die von den Drachenreiter-Samurai gehütet werden. Doch der Frieden im Land wird empfindlich gestört, als sich der grausame Tyrann Katagi des Drachenkaiserthrons bemächtigt und selbst vor Mord nicht zurückschreckt, um seine Macht zu festigen. Der junge Rajin ist der wahre Thronfolger des Landes und der Einzige, der es mit dem Usurpator aufnehmen kann. Doch dazu muss er einen verschwundenen magischen Ring finden, mit dessen Hilfe die Drachenkaiser einst über die feuerspeienden Ungeheuer geboten. Und über diesen wacht der mächtige Urdrache Yyuum ...

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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author

© dieser Ausgabe 2016 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

[email protected]

Alle Titel der Serie in 6 E-Books:

Rajin (Drachenfluch, Erstes Buch)

Katagi (Drachenfluch, Zweites Buch)

Prinz Rajin, der Verdammte (Drachenring, Erstes Buch)

Yuum und die Macht des dritten Drachenrings (Drachenring, Zweites Buch)

Schatten der Vergangenheit (Drachenthron, Erstes Buch)

Schatten des Schicksals (Drachenthron, Zweites Buch)

Prolog

Fünf Monde stehen in der Nacht am Himmel;

Fünf Reiche teilen sich das Land;

Fünf Meere bilden den Ozean;

Fünf Winde wehen;

Fünf Himmelsrichtungen kennt der Reisende;

Fünf Äonen dauert die Geschichte der Welt – von ihrem Anfang bis zu ihrem Untergang.

Der Gesang von den Fünf

Alle, die den Mächten des Bösen noch hätten Einhalt gebieten können, wurden von den Schergen der Finsternis nach und nach gemeuchelt. Nur Rajin war noch am Leben. Ich hatte den Keim des Wissens in seine Seele gepflanzt, als er noch ein Säugling war. Inzwischen waren achtzehn Sommer und Winter vergangen und Rajin meine letzte Hoffnung …

Die Schriften des Weisen Liisho

Und siehe – es gibt Welten im Polyversum wie Sand am Meer. Es lohnt nicht, sich ihrer Namen zu erinnern, noch ihnen Namen zu geben. Denn seien wir redlich gegenüber Göttern und Sterblichen: Kaum ein Sterblicher verlässt je seine Provinz, geschweige denn seine Welt. Und die Götter sind verdammt dazu, dort zu bleiben, wo die Gläubigen ihnen huldigen, denn sie verhelfen ihnen Kraft ihres Glaubens erst zur Existenz.

Vergessen ist die Größe des Kosmos. Vergessen die Vielzahl der Existenz-Sphären. Vergessen auch die Tore, die sie alle miteinander verbinden und durch die sie alle kamen.

Die Ersten, die diese Tore durchschritten, waren die Drachen.

Es gab sie in jeder Form und Größe; es gab unter ihnen jede Art von Klugheit, Falschheit, Verderbtheit und Erhabenheit, wie sie uns auch von den Völkern der Menschen und der Magier bekannt ist.

Im Ersten Äon beherrschten sie die Welt, die sie darum Drachenerde hießen und die ihnen allein untertan war.

Sie erschufen Gebirge und Landmassen nach ihrem Willen und Gutdünken. Mit der rohen Kraft ihrer monströsen Pranken formten sie alle Länder und verbrannten mit ihrem Feueratem, was ihnen nicht genehm war.

Das Gestein brachten sie zum Schmelzen, ließen es erkalten, furchten ein Flussbett nach dem anderen in den Boden und türmten Felsbrocken übereinander. Sie brachten den Ozean zum Kochen und ließen ihn als Regen wieder herabfallen. Ihre Götter aber hatten die Drachen jenseits der Tore zurückgelassen und spotteten ihrer.

Wer hätte schon mächtiger sein können als die Drachen selbst? Welcher Drache hätte auf dieser Welt, die ihnen allein gehörte, noch göttlichen Schutz gebraucht? Bewiesen sie nicht jeden Tag und jedes Jahrtausend aufs Neue ihre uneingeschränkte Macht, indem sie die Welt zu einem Ort des Chaos machten?

Der Urdrache Yyuum – so groß wie ein Gebirge und mit dem Feueratem eines Vulkans – war ihr Fürst. Gefürchtet wie kein Gott vor ihm und mächtig wie niemand sonst.

Doch jene Welt, der die Drachen ihren Namen und ihre Herrschaft aufgezwungen hatten, sollte sich bitter rächen.

Und es rächte sich auch, dass sie ihre Götter jenseits der Tore zurückgelassen hatten, weil sie glaubten, ihres Schutzes nicht mehr zu bedürfen. Denn darum gab es niemanden, der sie vor der Macht aus dem Erdinneren schützte.

Wie aus einer blutenden Wunde quoll es glühend aus Rissen und Spalten im Erdreich hervor. Eine Feuersbrunst, wie sie kein Drache hervorzubringen vermochte, wütete über das Land und das Meer, und eine Menge an geschmolzenem Gestein, die ausgereicht hätte, einen Kontinent zu erschaffen, wurde zu einem gewaltigen Krater aufgeschichtet.

Dieser Vulkanausbruch von nie gekanntem Ausmaß verschlang die größten und mächtigsten unter den Drachen. Der Urdrache Yyuum selbst wurde ebenso verschüttet wie zahlreiche andere Giganten. Nur ein paar Drachen von kleiner und mittlerer Größe überlebten diesen Tag des Feuergerichts.

Einzig dem Empfinden von Menschen und Magiern nach mögen sie gewaltig erscheinen. Und doch waren die Drachen der folgenden Zeitalter nichts als Winzlinge gegen jene, die das Erste Äon beherrscht hatten.

Die überlebenden Drachen aber reute es, dass sie so hochmütig gewesen waren, und ihre Tränen füllten den Kratersee auf dem Dach der Welt.

Die mächtigsten von ihnen waren entweder vernichtet oder zu ewigem Schlaf unter den Gesteinsmassen verurteilt, die sie verschüttet und eingeschlossen hatten.

Das Buch des Ersten Äons; Platte I, Vers 1-4

So endete das Erste Äon und die Herrschaft der Drachen, und es dauerte ein Jahrzehntausend, ehe sich die Welt erholte.

Dann folgte das Zweite Äon, in dem das Volk der Magier die Tore passierte, gefolgt von allerlei Schattenkreaturen und den Echsenkriegern, von denen manche annehmen, dass sie entfernte Verwandte der Drachen waren, die der Verbleib unter der Herrschaft der Götter klein hatte werden lassen, sodass sie zu willigen Vasallen wurden.

Stolz und machtbewusst war jedoch das Volk der Magier.

Die Magie dieser Invasoren vermochte jene Drachen zu zähmen, die das Ende des Ersten Äons und die Zeit des geschmolzenen Steins überlebt hatten.

Das Dritte Äon ließ die Völker der Menschen durch die Weltentore treten und sich überall ausbreiten. Sie fürchteten Drachen und Magier gleichermaßen und dienten den Herren der Magie als Sklaven und Narren.

Aber ein Magier verliebte sich in eine Menschenfrau, und es dauerte ihn das schwere Schicksal, dass ihr Volk in Armut, Einfachheit und Einfalt ertrug. Sein Name war Barajan, und die Magie war sehr stark in ihm.

So bannte er die Kraft, die die Drachen knechtete, in drei Ringe, mit deren Hilfe auch Menschen in der Lage waren, sich die Drachen gefügig zu machen, sodass sie ihnen durch ihre Dienste das Leben erleichterten.

Die anderen Magier aber waren sehr erzürnt über Barajan, denn sie wollten die Macht über die Drachen nicht teilen. So erklärten sie Barajan fürderhin zum vogelfreien Feind, den jeder töten durfte.

Da verschloss Barajan mit der Macht der drei Drachenringe den Geist aller Drachen vor dem Einfluss der Magier. Er zog mit seiner menschlichen Gemahlin, deren Name Ceranée lautete, nach Osten, setzte einen Stein, den er aus dem Reich der Magier mitgebracht hatte, auf eine Anhöhe an der Küste des Altlandes und sprach: „Hier soll meine Stadt entstehen, die der Kern jenes Reiches werden soll, das ich gründen werde!“ Und diese Stadt nannte er Drakor, die Hauptstadt von Drachenia.

So scharte Barajan viele Menschen um sich und erwehrte sich der Angriffe der anderen Magier. Die Menschen aber lehrte er, die Drachen zu reiten und ihren Geist zu beherrschen.

Seine menschliche Gemahlin gebar ihm Söhne und Töchter, und darum fließt bis auf den heutigen Tag das Blut von Magiern in den Adern vieler Adeliger des Drachenlandes Drachenia – ganz besonders aber in denen des Kaisergeschlechts.

So begann die Geschichte des Drachenlandes Drachenia und das Vierte Äon.

Die Steintafel des Blinden Schreibers von Kajar

Dies waren die Herrscher der Fünf Reiche im Vierten Äon:

– Der Kaiser des Drachenlandes Drachenia auf dem Thron in Drakor, der größten Stadt der Welt, Herr über Drachen und Drachenreiter.

– Der Priesterkönig des Luftreichs Tajima in der Tempelhalle der Fünf Winde in seiner Feste Taji an den Ufern des Vulkansees auf dem Dach der Welt.

– Der Fürst von Feuerheim, der als Feuerfürst in der Stadt Pendabar residierte, aus deren Mauern Flammen schlugen, wenn sich ihnen jemand unbefugt näherte.

– Der Großmeister von Magus, der als Herrscher aller Magier an den Zinnen von Magussa stand und seine unheilvollen Formeln vor sich hin murmelte, sodass der Wind und die Kraft mächtiger Magie sie über das Mittlere Meer trug.

– Der Hochkapitän des Seereichs, Herr über die tausend Schiffe im Hafen von Seeborg und Kapitän der Kapitäne, Herrscher der Seemannen, deren Flotten so viel Gold und Silber in ihr Land brachten, dass man sich fragte, wie es sein konnte, dass dieser mächtige Strom aus glänzendem Metall nicht längst versiegt war.

Fünf Herrscher, die die Welt unter sich aufgeteilt hatten und die die Tatsache, dass keiner von ihnen den anderen zu besiegen vermochte, irrtümlich für Frieden hielten.

Doch es gab einen sechsten Herrscher, der mächtiger war als sie alle zusammen.

Es war Yyuum, der Urdrache.

Äonenlang schlief er unter dem Dach der Welt.

Doch die Zeit sollte kommen, da er wieder erwachte.

Die Zeit des Fünften Äons sollte es sein, da die Erde erzitterte und aufriss, da sie blutete wie eine offene Wunde und Yyuums Herrschaft gekommen war.

Doch in den Reichen der Menschen und Magier redete man davon nur hinter vorgehaltener Hand und voller Furcht.

Das Buch Yyuum

(Abschrift nach dem einzig erhalten gebliebenen Exemplar in der Großen Bibliothek von Magussa)

Fünf mal fünfundzwanzig Kaiser aus der Blutlinie Barajans hatten in ununterbrochener Folge auf dem Thron von Drakor geherrscht, bis der eine kam, den die Annalen den »Usurpator« nannten und dessen wahrer Name seitdem einem Fluch gleicht.

Das Buch des Usurpators

1. Kapitel: Drachenfeuer auf Winterland

„Dein wahrer Name ist Rajin, auch wenn die Zeit noch nicht gekommen ist, da du ihn offenbaren solltest!“

Worte, gesprochen in einer Sprache, die der junge Seemammutjäger außer in seinen Träumen nie gehört hatte.

Wie oft hatte Rajin diese Stimme schon vernommen und dazu das Gesicht das weißbärtigen, mandeläugigen Weisen vor sich gesehen, dessen Namen er kannte, obwohl er sich nicht erinnern konnte, ihm je begegnet zu sein: Liisho. Wie in einem Tagtraum sprach der Weißbärtige zu ihm. Der Kopf dieser Traumgestalt war vollkommen kahl und seine Züge von einer so ernsthaften Eindringlichkeit, dass sich Rajin ihrer Magie nicht zu entziehen vermochte.

„He, Bjonn! Träumst du?“, herrschte ihn jemand an.

Bjonn Dunkelhaar – so hieß Rajin bei den Menschen des Winterlandes, einer Insel im äußersten Nordwesten des Seereichs der Seemannen. Dort war er aufgewachsen, unter Seefahrern, Fischern und den Jägern der Seemammuts, die vier- bis fünfmal so groß waren wie die größten Langschiffe.

Ein Ruck ging durch Rajin.

Er trug Kleidung aus Fell, und ein Schwert steckte in einer Lederscheide, die er über den Rücken gegürtet hatte, wie es im Seereich weit verbreitet war. Das blauschwarze Haar fiel ihm bis über die Schultern, und seine Augen waren mandelförmig und dunkel. Dass in seinen Adern nicht das Blut der Seemannen fließen konnte, war ihm schon früh klar gewesen, denn deren Haare waren blond oder rot und ihre Haut deutlich heller, während Rajins Gesicht einen sanften Braunton aufwies.

Wulfgar Wulfgarssohn, ein rotblonder Hüne von vierzig Jahren, dem der Bart bis unter die Augen wuchs, hielt Rajin eine Harpune hin. Rajin nahm sie an sich. Mit zwanzig anderen Männern standen sie an der Reling der „Stoßzahnsammler“, einem Langschiff, das speziell für die Jagd auf die Seemammuts konstruiert worden war, was sich unter anderem in den Holmen zur Befestigung der Harpunentaue zeigte.

„Was ist los, Sohn Bjonn?“, fragte Wulfgar. Er pflegte Rajin seinen Sohn Bjonn zu nennen, obwohl jeder sehen konnte, dass sie von Natur her nicht Vater und Sohn sein konnten und weder Wulfgars Gemahlin noch eine seiner Nebenfrauen oder Mägde als Mutter in Frage kamen, denn keine von ihnen hatte Mandelaugen oder blauschwarzes Haar.

Wulfgar kümmerte das nicht. Er hatte Rajin als seinen legitimen Sohn angenommen und ihn Bjonn genannt. Die meisten Kinder ereichten ohnehin nicht das Erwachsenenalter, ganz zu schweigen von den Gefahren, die danach das karge, raue Leben auf Winterland für sie bereithielt. Da war es besser, mehr Söhne zu haben als weniger, ganz gleich, ob man sie selbst gezeugt oder ob man sie in einem mit Pech abgedichteten Korb gefunden hatte, den scheinbar die See an die winterländische Küste gespült hatte.

Ein Geschenk des Meeresgottes Njordir – als das hatte man den Jungen unter den Kapitänen von Winterborg damals angesehen. Und da Wulfgar es gewesen war, der dieses Geschenk gefunden hatte, war jeder Zweifel daran, dass ihm diese Gabe Njordirs zugedacht gewesen war, abwegig.

Wulfgars meergrüne Augen verengten sich. Die „Stoßzahnsammler“ schwankte im relativ sanften Rhythmus der Wellen. Die See war für die rauen Verhältnisse des Nördlichen Meeres sehr ruhig. Kein Wunder, es war Sommer. Dann wurden die Winde milder, und das Eis zog sich an der winterländischen Küste einige Meilen ins Landesinnere zurück, sodass die Insel für ein paar Monate von einem grünen Saum umgeben war, der aus der Ferne wie ein schimmerndes Band erschien.

Das Wetter war wie geschaffen für die Jagd auf die Seemammuts …

„Sind es wieder die Träume?“, fragte Wulfgar besorgt.

„Es ist vorbei.“

„Habe ich es doch geahnt …“

„Vater!“

„Es sind wieder die Traumgesichter, über die du nicht sprechen kannst und die dir der Meeresgott eingegeben haben muss, als du draußen auf dem Meer herumgetrieben bist!“

„Es ist vorbei!“, versicherte Rajin noch einmal und diesmal energischer. Er hatte einmal als kleiner Junge versucht, sich Wulfgar anzuvertrauen und über das zu sprechen, was er in seinen Gedanken vor sich sah. Über die Stimme, die er hörte, und das Gesicht des weißhaarigen Alten mit dem kahlen Kopf, dessen Augen wie ein Spiegelbild seiner eigenen Augen auf ihn wirkten. Zumindest hatten sie die gleiche Form, und auch die dunkle Farbe stimmte überein.

Aber Rajin hatte nicht ein einziges Wort hervorgebracht. Obwohl er als sprachgewandt galt und das Seemannische ihm wie eine Muttersprache beigebracht worden war, hatte er keine Worte für das gefunden, was hinter seiner Stirn mitunter vor sich ging. Als ob ein Bann es verhinderte.

Ebenso war es ihm unmöglich, Wörter aus der gleichermaßen vertrauten wie vollkommen fremden Sprache nachzusprechen, die der Weise Liisho in seinen Träumen verwendete. Für jedes Wort, das man ihm in der Sprache der Seemannen von Winterland beigebracht hatte, wusste er eine Entsprechung in der Sprache Liishos – und doch war er nicht fähig, auch nur eines dieser Wörter über die Lippen zu bringen.

Dasselbe galt für den Namen, den die Traumgestalt Liisho als seinen wahren Namen bezeichnete.

Rajin …

Es hatte Zeiten gegeben, da hätte er diesen Namen am liebsten laut herausgeschrien, weil er sich davon eine Befreiung von den Dämonen erhofft hatte, die in seinem Kopf zu spuken schienen. Aber er war nicht dazu im Stande gewesen. Eine unheimliche Kraft hatte verhindert, dass der Name »Rajin« über seine Lippen kam.

Er versuchte, die Gedanken an den weißbärtigen Liisho und seine teilweise rätselhaft bleibenden Worte für den Moment aus seinen Gedanken zu verbannen. Es war ein denkbar schlechter Augenblick dafür, sich von den sprechenden Dämonen in seinem Kopf ablenken zu lassen.

Rajin blickte gespannt auf die graue Wasseroberfläche. Sie war ruhig. Verdächtig ruhig. Jeden Augenblick konnte sie sich plötzlich teilen und ein wahrer Koloss daraus hervortauchen. Seemammuts hatten Hauer so lang wie drei Männer. Wie kunstvoll gewundene, vorne spitz zulaufende Dornen sahen sie aus, und ein einziger von ihnen bestand aus mehr Elfenbein, als es ein halbes Dutzend Elefanten mit sich herumtrug, die es in einigen tiefer gelegenen Gebieten des Luftreichs Tajima sowie im gesamten Osten von Feuerheim gab.

Wenn sich der Koloss unter der „Stoßzahnsammler“ emporhob, waren Schiff und Besatzung verloren. Das Wasser war so kalt, dass jeder innerhalb weniger Herzschläge in den eisigen Fluten erfrieren würde. Rajin konnte schwimmen. Es war ihm angeboren, wie er irgendwann einmal festgestellt hatte, als er im Alter von acht Jahren mit anderen Jungen seines Alters in einem der von heißen Geysiren gespeisten Warmwasserseen gebadet hatte, die es auf Winterland gab.

Viele der winterländischen Seefahrer lehnten es ab, das Schwimmen überhaupt zu erlernen. Diese Fähigkeit verlängerte in ihren Augen letztlich nur das Leiden dessen, der über Bord ging und dem Tod unrettbar ausgeliefert war. In so einer Situation war es ihrer Ansicht nach besser, sich einfach nur mit offenen Armen vom Meeresgott Njordir empfangen zu lassen. Zumindest ersparte es einem die Qual eines Überlebenskampfes, der schon wenige Meilen von der Küste entfernt vollkommen aussichtslos war.

Das Seemammut, dem Wulfgar Wulfgarssohn und die Mannschaft der „Stoßzahnsammler“ schon seit einem Tag und einer Nacht hinterherjagten, war bereits geschwächt. Hunderte von Pfeilen steckten in seinem Rücken. Pfeile, die mit dem Gift der winterländischen Eisspinne getränkt waren.

Es gab kein stärkeres Gift als dieses. Auf einen Menschen wirkten schon kleinste Mengen tödlich, und angeblich hatten es im Ersten Äon sogar die Riesendrachen gefürchtet.

Auf das Seemammut wirkte es natürlich nur allmählich. Es lähmte seinen gewaltigen Körper nach und nach, machte ihn träge und ließ ihn schließlich das Bewusstsein verlieren und regungslos an die Oberfläche treiben. Aber bis dahin standen den Schiffsbesatzungen zumeist ein oder zwei Tage des Kampfes und der Verfolgung bevor.

Im Delirium schlug das gewaltige Monstrum um sich und war häufig genug ein blindwütiger, zerstörerischer Gegner. Selbst die größten, fast hundert Mannlängen messenden Langschiffe der Seemannen konnten durch einen einzigen Flossenschlag zerteilt werden. Die Spanten waren gegenüber dieser Gewalt nicht widerstandsfähiger als Papier, das neuerdings das althergebrachte Pergament als Schreibmaterial zu ersetzen begann, seit es die seemannischen Handelsschiffe aus den Ländern des Südens herbeischafften. Selbst der Hauptsteven eines Drachenschiffs war nichts weiter als ein dünner trockener Ast, wenn ein beiläufiger Flossenschlag ihn traf.

Rajin hatte das bereits mit angesehen. Den betreffenden Besatzungen war meist kaum zu helfen, da es unmöglich war, sich dem Seemammut weit genug zu nähern, um sie an Bord nehmen zu können, bevor sie ertrunken oder erfroren waren. Oft wurden sie jedoch auch von den Beißern bei lebendigem Leib gefressen – etwa handgroßen Fischen, die in Schwärmen den Seemammuts folgten und normalerweise die quallenartigen Parasiten von der dicken Haut der Meeresriesen knabberten. Aber die drei Reihen nagelspitzer Zähne verhakten sich auch gerne in das Fleisch anderer leicht erreichbarer Beute, die sie für Aas hielten. Und ein Ertrinkender gehörte durchaus dazu. Das Wasser färbte sich dann blutrot …

Bei der Jagd auf ein Seemammut mit schon mehreren vergifteten Pfeilen im Leib kam es auf das Geschick des Kapitäns an. Er musste richtig einschätzen, wie agil das Ungeheuer in der Tiefe noch war und wann es zum Atmen an die Oberfläche kam. Die Beißer-Schwärme waren an der Wasseroberfläche oft als wimmelnde Bewegung auszumachen, die das Wasser kräuselte. Wenn dies geschah, stieg das Seemammut im nächsten Moment aus den Fluten hervor.

Und genau dies war in diesem Moment der Fall.

Ein erfahrener Kapitän konnte ungefähr abschätzen, wo das Ungeheuer auftauchen würde, aber ein gewisses Risiko war immer dabei.

Die wirbelnden Bewegungen der Beißer waren deutlich auszumachen – und zwar auf einer Breite, die fast fünf Schiffslängen entsprach.

„Bei Njordir! Selbst unter den riesenhaften Ungeheuern muss dies noch ein wahrer Gigant sein!“, stieß Sven Blauauge hervor, der Steuermann der „Stoßzahnsammler“, der ebenso gespannt wie alle anderen auf die Wasseroberfläche starrte. Das Segel hing schlaff im lauen Wind. Die Seile waren gelöst. Während sich zwanzig Harpuniere im vorderen Teil des Schiffs positioniert hatten, saßen fünfzig weitere zumeist hellbärtige und langhaarige Seemannen auf den Ruderbänken, jederzeit bereit, mit der Kraft ihrer Arme kleinere Kurskorrekturen vorzunehmen. Das Leben der Mannschaft konnte davon abhängen, dass sie sich schleunigst in die Riemen legte, um mit einigen Ruderschlägen dem Meeresriesen auszuweichen, falls sich der Kapitän in seiner Einschätzung über die Stelle, an der das Ungeheuer auftauchen würde, geirrt hatte.

Und falls der Riese doch noch munterer war, als es die Menge des durch die Pfeile verabreichten Gifts eigentlich vermuten ließ, und das Seemammut nach einem tiefen Atemzug einfach das Weite suchen wollte, standen zwei Männer bereit, um sofort die Segeltaue wieder strammzuziehen, sodass das Schiff Fahrt aufnehmen und das Monstrum verfolgen konnte.

Die Beißer ließen das Wasser an manchen Stellen regelrecht aufspritzen, so sehr waren sie in Aufruhr. Wenn in dieser Situation ein Mann über Bord ging, hatte er keine zehn Herzschläge mehr zu leben, während derer er sich in ein blutiges Stück Fleisch verwandelte.

Es war kein gutes Zeichen, dass die Beißer so munter waren, ging es Rajin durch den Kopf. Mit fünfzehn Lenzen war er zum ersten Mal auf einem von Wulfgars Schiffen auf Seemammutjagd mitgefahren und hatte inzwischen genug Erfahrung gesammelt, um derlei Zeichen richtig deuten zu können. Wenn die Beißer ruhiger waren, bedeutete dies, dass sie sich überwiegend in die quallenartigen Parasiten verbissen hatten, die sich zu Tausenden auf der Haut des Seemammuts festgesetzt hatten. Nur ein kleiner Teil von ihnen schwamm dann noch frei im Wasser. Bewegte sich das Seemammut aber noch recht munter, zog es die Mehrheit der Beißer vor, erst einmal abzuwarten, denn im Eifer des Gefechts konnte das Ungeheuer mit einem Flossenschlag, der gegen den eigenen Körper klatschte, auch gleich Hunderte von Beißern zerquetschen.

Die Anzahl der Giftpfeile, die Wulfgar hatte abschießen lassen, war groß genug, aber gerade bei sehr großen Seemammuts war oft schwer einzuschätzen, wann die Wirkung einsetzte.

Das Wasser verdunkelte sich, und die Beißer verschwanden; der gewaltige Körper des Seemammuts drängte sie bei seinem Aufstieg zur Seite. Augenblicke später teilte sich das Wasser, und es war, als ob eine kleine, von festgesaugten Quallen und Muscheln übersäte, pockennarbige graue Insel aus der See aufstieg.

Nur gut vier Mannlängen lagen zwischen der Schwanzflosse und dem Bug der „Stoßzahnsammler“. Den Kopf hatte der Meeresriese immer noch nicht gehoben, sondern nur mit dem Rüssel Wasser in einer Fontäne in die Luft gestoßen. Ein dröhnender Ton entstand dabei, der so tief war, dass die Männer ihn mehr mit dem Magen spürten als mit den Ohren hörten.

„Werft die Harpunen!“, rief Wulfgar Wulfgarssohn.

Er ging offenbar davon aus, dass das Seemammut inzwischen zu geschwächt war, um noch einmal zu tauchen, wobei die Gefahr bestand, dass es das Schiff an den Tauen der Harpunen mit in die Tiefe riss. Falls dies geschah, mussten die Taue rechtzeitig gekappt werden.

Die Harpunen schwirrten im Dutzend durch die Luft, gruben sich in das Fleisch des Seemammuts und blieben mit den Widerhaken aus bestem Feuerheimer Stahl stecken. Weitere Harpunen fanden ihren Weg in die hintere Körperpartie des Meeresriesen. Wenn das Seemammut noch zu fliehen versuchte, würde es seinen Jäger hinter sich herziehen.

Da erst hob das monströse Wesen den Kopf – größer als so manches Haus in Winterborg – aus dem Wasser. Es troff von den geschwungenen Elfenbeinhauern, und aus dem Rüssel und dem Schlund drangen tiefe, gurgelnde Laute hervor, die einen dröhnenden Zweiklang ergaben.

„Holt ihn euch!“, rief Wulfgar.

Die Flossen bewegten sich kaum noch. Das war ein Zeichen, dass das Gift der Eisspinne nicht wirkungslos geblieben war. Die Pfeile, die von den Männern der „Stoßzahnsammler“ während der bisherigen Jagd abgeschossen worden waren, spickten den Rücken der lebenden Insel.

Die Männer fassten die Harpunentaue und zogen die „Stoßzahnsammler“ bis auf Sprungweite an den Körper des Seemammuts heran. Gleichzeitig wurde das Segel eingeholt, denn es war so gut wie ausgeschlossen, dass dieses Ungeheuer plötzlich doch noch zu einer heillosen Flucht aufbrach und es ihm außerdem noch gelang, die Harpunen abzuschütteln, sodass es notwendig wurde, ihm mit Segelkraft zu folgen.

Rajin war der Erste, der den Sprung wagte.

Er landete auf dem glitschigen, von Quallen und Muscheln übersäten Rücken des Seemammuts. Die Muscheln konnten messerscharf sein, aber die Quallen waren harmlos. Sie erschwerten allerdings das Laufen auf dem inselgroßen Rücken des Meeresriesen, weil man leicht auf ihnen ausglitt.

Rajin lief dennoch voran, so schnell er konnte. Er fühlte unter den Fellsohlen seiner Stiefel, wie sich das gewaltige Wesen bewegte und ein Stück drehte.

Rajin verlor beinahe das Gleichgewicht.

Hinter sich hörte er Schreie.

Einer der Männer, die ihm gefolgt waren, rutschte aus, glitt über die festgesaugten Quallen und fiel ins Wasser.

„Herjolf!“, war ein heiserer Ruf zu hören.

Rajin kannte Herjolf gut. Der hatte ihm beigebracht, wie man mit der Harpune umging und was man tun musste, wenn man auf dem Seemammut ritt.

Herjolfs Gesicht war eine Maske des blanken Entsetzens.

Gefrorene Todesangst.

Sein Schrei wurde von einem weiteren kehligen Doppellaut des Seemammuts übertönt. Der Laut war so dröhnend und tief, dass Rajin seine Bauchdecke vibrieren spürte.

Im Wasser wimmelten die Beißer und stürzten sich auf ihr Opfer. Niemand konnte Herjolf helfen. Innerhalb weniger Augenblicke färbte sich das schäumende Wasser rot.

„Vorwärts!“, hörte Rajin einen der anderen Männer rufen und löste sich aus seiner Erstarrung. Das Seemammut erinnerte ihn mit einer leichten Bewegung daran, wie schwankend der Grund war, auf dem er stand. Er fiel auf die Knie und hielt sich an einer der pockenartigen, tellergroßen und von wulstigen Wucherungen umrandeten Vertiefungen fest, von denen es unzählige auf dem Rücken eines Seemammuts gab. Muscheln hatten sich auf der Haut des Giganten festgesaugt und Quallen, um die das Fleisch während der Wachstumsphase des Seemammuts herumgewachsen war; starben die Quallen ab, hinterließen sie diese Vertiefungen.

Rajin rappelte sich auf. Er bemerkte aus den Augenwinkeln, dass die letzte Bewegung des Seemammuts auch die anderen Männer, die ihm auf den Rücken des Monstrums gefolgt waren, umgerissen hatte.

Rajin war als Erster wieder auf den Beinen. Auch wenn sich das Seemammut durch das Gift in den unzähligen Pfeilspitzen bereits in einem Zustand tödlicher Agonie befand, konnte es durch eine einzige krampfhafte Zuckung durchaus noch Tod und Verderben über diejenigen bringen, die ihm als Jäger nachstellten.

Mit schnellen, sicheren Schritten gelangte Rajin zum Kopf. Die gewaltigen Ohren hingen schlaff im Wasser. Sie wurden normalerweise als zusätzliches Flossenpaar genutzt. Direkt hinter dem Kopf gab es eine charakteristische Vertiefung zwischen zwei Knochenkuppen, eine Stelle, die jeder Seemammutjäger kannte.

Rajin riss das Schwert hervor, kniete nieder und umfasste den Griff mit beiden Händen. Dann stieß er die Klinge mit aller Kraft in den Körper des Seemammuts, bis ans Heft.

Einige Augenblicke lang verharrte Rajin so und wartete ab. Der Rüssel, dessen Öffnung das Seemammut bisher überwiegend über der Wasseroberfläche gehalten hatte, sank in die Tiefe. Rajin hatte gut getroffen. Er hatte das Gefühl, dass sein Schwert nicht einen einzigen Knochen berührt hatte. Wenn man schlecht traf, drang die Klinge nicht tief genug ein, um den Seegiganten zu töten. Und bei diesem besonders großen Exemplar war ohnehin die Frage, ob ein Schwert von normaler Länge überhaupt ausreichte. Aber das war offensichtlich der Fall, denn das Monstrum gab keinerlei Lebenszeichen mehr von sich.

Rajin wartete so lange, bis sich die Vertiefung mit einer grünlichen Flüssigkeit gefüllt hatte – dem Blut des Seemammuts. Es hatte die Eigenschaft, selbst bei größter Kälte Eis zu verflüssigen; die Bewohner Winterborgs nutzten es, um ihre Hafeneinfahrt freizuhalten. Allerdings war Seemammut-Blut auch höchst giftig und musste aus dem Fleisch erst herausgekocht werden, bevor man dieses verzehren konnte. Die Beißer schienen das zu wissen. Jedenfalls hatte Rajin noch nie gesehen, dass sich ein Beißer-Schwarm an einem Seemammutkadaver vergangen hatte. Lediglich die Quallen wurden sorgfältig abgenagt.

„Gut gemacht!“, sagte Wulfgar, der sich ebenfalls auf den Rücken des Seemammuts begeben hatte, und einen Schritt hinter Rajin stand. „Du kannst das Schwert jetzt getrost herausziehen, sonst leidet die Klinge.“

„Ja“, murmelte Rajin.

„Und reinige es sofort, damit kein Klingentod zurückbleibt.“

Das Blut der Seemammuts war so giftig, dass es selbst den Stahl der besten Schwerter angriff, wie er von den Schmieden in Feuerheim gefertigt wurde. Wenn eine Waffe dieser Wirkung zu lange ausgesetzt war, blieben Flecken zurück, aus denen sich poröse Stellen bildeten und sich im Metall fortfraßen.

Das war der „Klingentod“.

Rajin zog seine Waffe mit einer kräftigen Bewegung aus dem Leib des Seemammuts.

„Jetzt müssen wir den Koloss nur noch unbeschadet nach Hause bringen“, sagte Wulfgar und schlug Rajin anerkennend auf die Schulter. Und mit Blick auf das immer noch anhaltende Gewimmel im Wasser fügte er hinzu: „Die Beißer werden uns den Brocken ganz sicher nicht streitig machen.“

„Nein, die nicht“, murmelte Rajin und blickte in die Ferne.

Zwei dunkle Punkte waren dort am grauen Horizont zu sehen. Sie schwebten hoch über dem Wasser und bewegten sich in nordwestliche Richtung.

Wulfgar machte eine wegwerfende Handbewegung. „Machst du dir etwa Sorgen wegen Seegeiern oder Adlern? Selbst für die ist das Fleisch des Seemammuts giftig.“

„Das sind keine Seegeier, Adler oder sonstige Vögel“, sagte Rajin.

„Ach?“

Kein noch so scharfes menschliches Auge hätte Einzelheiten erkennen können. Aber Rajin wusste trotzdem, was für Wesen dort in der Ferne am Himmel schwebten. Er spürte es. Es war so, als wäre da plötzlich etwas in ihm geweckt worden, was lange geschlummert hatte. Wie ein verborgener Sinn, der ihn mit jenen unscheinbaren dunklen Flecken am Horizont auf unheilige Weise verband.

Wulfgar schüttelte den Kopf und lachte auf. „Die einzigen Wesen, die – zumindest der Legende nach – in der Lage sind, ungekochtes Seemammutfleisch zu verzehren, ohne dabei draufzugehen, sind …“

„Drachen!“, vollendete Rajin.

Auch er kannte die Legenden. Legenden, die besagten, dass die Drachen die Vorfahren der Seemammuts auf die Welt geholt hatten, weil es ihnen an leicht zu erbeutender Nahrung gemangelt hatte, die groß genug war, um den Hunger ihrer gigantischen Mägen zu stillen. Jene Vorfahren der Seemammuts hatten noch an Land gelebt und Beine statt Flossen gehabt. Aber die Drachen stellten rasch fest, dass der größte Teil der Welt aus Ozean bestand und das Land knapp war. Zu knapp, um es mit diesen riesigen, appetitlichen Fleischbergen zu teilen. So trieben sie die Vorfahren der Seemammuts ins Meer und zwangen sie dazu, dort zu leben, sodass ihnen schließlich Flossen wuchsen, als wären sie Fische. Ihre Größe nahm noch erheblich zu, da nun der Auftrieb des Wassers und nicht mehr die Kraft ihrer Beine sie trug.

Doch all das waren Legenden aus dem Ersten Äon, aus einer Epoche, da die Drachen allein über die Welt geherrscht hatten. Geschichten, die man sich seit so undenkbar langer Zeit erzählte, dass niemand Vermutungen darüber wagte, wie groß ihr Wahrheitsgehalt war. Tatsache war, dass seit Menschengedenken nie ein Drache auf der Jagd nach einem Seemammut beobachtet worden war – auch keiner der wenigen noch wilden, nicht unter Menschenherrschaft stehenden Drachen, die es noch gab.

Ein Großteil des Seemammutfleisches, das von den Jägern im Norden des Seereichs erbeutet wurde, wurde getrocknet, sodass es eine ähnliche Haltbarkeit erlangte wie Stockfisch. In handliche und brettharte Brocken zerteilt, von denen keiner zu schwer war, um von einem einzelnen Mann getragen werden zu können, brachte man das Seemammutfleisch in die großen Häfen des Seereichs, allen voran Seeborg, Storgard, Borghorst und Mittelborg, die durch den Handel mit Stockseemammut reich geworden waren. Von dort aus wurde es auch an die drachenländischen Küsten verschifft, wo es die Drachenier an ihre imposante Schar von gezähmten Kriegsdrachen verfütterten. Vielleicht traute man diesen riesigen, in den Äonen ihrer Versklavung offenbar geistig degenerierten Ungetümen einfach nicht zu, sich ihre Nahrung weit draußen auf See selbst zu suchen – oder man misstraute ihnen und glaubte nicht, dass sie freiwillig zurückkehren würden.

Rajin blinzelte. Die dunklen Punkte am Horizont strebten auf die winterländische Küste zu. Einen kurzen Moment leuchtete etwas auf, das vielleicht ein Feuerstrahl sein mochte, der aus Drachenschlünden gezüngelt war. Der Dunst tief hängender Wolken verschluckte die beiden dunklen Punkte bereits wenige Augenblicke später.

„Halt dich zurück und such nicht die geistige Berührung mit den Drachen“, hörte er in seinem Inneren die wohlbekannte Stimme des Weisen Liisho sagen. „Denk nicht an sie, und vor allem unterdrücke jeden Gedanken daran, ihren Willen beeinflussen zu wollen. Es wäre dein Verderben.“

2. Kapitel: Fluch der Himmelsbestien

Es dauerte eine Weile, bis sich die Beißer verzogen. Sie hatten zuvor sämtliche Quallen am Körper des toten Seemammuts, die in ihrer Reichweite lagen, abgenagt. Je weniger Quallen noch übrig blieben, desto aggressiver wurden die gierigen Fische, und sie fingen an, sich gegenseitig zu zerfleischen.

Schließlich verschwand der Schwarm und tauchte auf Nimmerwiedersehen ab. Die Macht Njordirs schien sie zu lenken wie ein einziges Wesen.

Rajin hatte inzwischen sein Schwert sorgfältig gereinigt, um den Klingentod zu verhindern. Schwerter waren kostbar, und ein nicht geringer Teil des Silbers, das die Seemannen durch ihren Handel mit Stockseemammutfleisch erwirtschafteten, floss den Schmieden Feuerheims zu.

Hjalgor und Glednir – zwei weitere Männer aus Wulfgar Wulfgarssohns Gefolge – entfachten ein Signalfeuer auf dem Rücken des getöteten Seemammuts. Die „Stoßzahnsammler“ führte dazu einen Holzvorrat mit, der nur diesem Zweck diente.

Hjalgor Fünfzopf war ein großer rothaariger Mann, dessen Mähne in fünf Zöpfe geflochten bis weit über seine Schultern hing. Er hatte Njordir und den fünf Mondgöttern versprochen, sich das Haar niemals zu scheren, zum Dank dafür, dass er vor fünfzehn Wintern aus Seenot gerettet worden war.

Glednir war klein und drahtig. Sein Haar war aschblond und die Stirn so hoch, dass man ihn auch Glednir Freistirn nannte; dafür war sein Barthaar umso üppiger.

Die beiden sorgten dafür, dass die Flammen hoch emporloderten. Das Holz war zuvor mit Seemammut-Tran getränkt worden, was dazu führte, dass pechschwarzer, meilenweit sichtbarer Rauch gen Himmel stieg – Tranrauch, wie die Seemannen sagten. Mit einer nassen Decke formten Glednir und Hjalgor daraus Rauchzeichen. Viele Seemeilen weit konnte man so nicht nur erkennen, dass ein Seemammut erlegt worden war, man erfuhr auch, dass es die Mannschaft von Wulfgar Wulfgarssohns Schiff gewesen war, die dies vollbracht hatte.

Aber auf sich allein gestellt konnte die Mannschaft der „Stoßzahnsammler“ mit dieser Beute nichts anfangen. Man brauchte die Hilfe weiterer Schiffe, um den riesigen Kadaver in die Bucht von Winterborg zu ziehen und dort irgendwo anzulanden. Ein Schiff allein war dazu nicht in der Lage – schon gar nicht bei einem so außergewöhnlich großen Exemplar wie jenem, auf dessen Rücken inzwischen ein Dutzend Männer damit begonnen hatten, mit Widerhaken bewehrte Harpunen in das Fleisch des Monstrums zu treiben. An ihren Schäften waren Metallringe befestigt, an denen die Zugseile herbeieilender Hilfsschiffe befestigt werden konnten.

In Sichtweite der Rauchsäule wusste bald jeder Seemannen-Kapitän, dass ein gutes Geschäft auf ihn wartete, denn jeder, der sich an der Bergung eines erjagten Seemammuts beteiligte, erhielt einen festgelegten Anteil am Gewinn.

Rajin war ebenfalls damit beschäftigt, solche Zugharpunen zu verankern. Sie unterschieden sich deutlich von den Wurfharpunen, die bei der Jagd benutzt wurden, waren kürzer und darauf ausgelegt, mit aller Kraft und aus unmittelbarer Nähe in den Seemammutkörper hineingestoßen zu werden. Eine ausgeklügelte Mechanik sorgte dafür, dass Widerhaken im Fleisch der Beute ausgeklappt wurden, sobald man am Schaft zog, und man konnte diese Harpunen mit einer sehr viel größeren Zugkraft belasten als die bei der Jagd eingesetzten Waffen, deren Spitzen nicht so tief in den Körper des Seemammuts eindrangen.

„Sohn Bjonn!“, wandte sich Wulfgar an Rajin, nachdem dieser gerade eine Zugharpune gesetzt hatte.

Rajin drehte sich zu seinem Ziehvater um, der ihm einen Bogen hinhielt. Es war ein besonderer Bogen, der nur zu rituellen Zwecken benutzt werden durfte. Er war aus der Rippe eines ungeborenen Seemammutjungen gefertigt, den man vor vielen Generationen im Leib eines Beutetiers gefunden hatte. Wulfgar Eishaar, der in zahllosen Legenden und Erzählungen als Held verehrte Stammvater von Wulfgar Wulfgarssohns Sippe, hatte daraus einen Bogen gefertigt, und seitdem damit das Opferritual für Njordir durchgeführt wurde, war das Jagdglück der Sippe treu geblieben.

„Es ist an dir, das Ritual durchzuführen“, sagte Wulfgar. „Du hast den Stoß geführt, der den Geist des Seemammuts zu Njordir schickte, wo er sich über uns beklagen wird.“

Aus diesem Grund musste der Meeresgott besänftigt werden, indem man ihm einen zumindest symbolischen Teil der Beute abgab.

Rajin nahm den Bogen.

Glednir und Hjalgor hörten auf damit, Rauchzeichen zu geben. Einer der anderen Männer hatte bereits ein faustgroßes Stück aus dem Fleisch des Monstrums geschnitten, es an die Spitze seines Schwertes gesteckt und ins Feuer gehalten. Der Mann hieß Bratlor Sternenseher. Diesen Namen verdankte er seiner Fähigkeit, aus dem Stand der Gestirne die Himmelsrichtung und die Position des eigenen Schiffs bestimmen zu können. Dazu war er zwei Jahre auf die Sternenseher-Schule in Seeborg, der Hauptstadt des Seereichs, gegangen, wo man ihm den Erwerb seiner Fähigkeiten mit einem Dokument bestätigt hatte. Solche Männer waren bei allen Kapitänen heiß begehrt, und ihre Dienste wurden teuer bezahlt.

Man sagte den Sternensehern eine besondere innere Nähe zum Meeresgott Njordir und den fünf Mondgöttern nach, von denen man annahm, dass sie den Lauf der Gestirne bestimmten. Befand sich also ein Sternenseher an Bord eines Seemammutjägerschiffs, so war es daher stets dessen Aufgabe, die Opfergabe über dem Feuer zu erhitzen. Schließlich wollte man nicht Njordirs Zorn herausfordern, indem man ihm Fleisch anbot, in dem sich auch nur noch eine Spur des giftigen Seemammutblutes befunden hätte.

Nachdem Bratlor der Meinung war, das Stück Fleisch sei ausreichend erhitzt worden, band er es an einen gewöhnlichen Pfeil und reichte diesen Rajin.

„Den Göttern gebe man, was den Göttern zusteht“, sagte er.

„Und Frieden der Seele des Seemammuts“, erwiderte Rajin; es war die traditionell bei diesem Anlass gesprochene Formel.

Er spannte den Bogen und ließ den Pfeil in einer leicht aufsteigenden Linie in die Ferne schnellen, bevor sich seine Flugbahn schließlich senkte und er mitsamt der Opfergabe in die graue See eintauchte.

„Friede allen Seelen und Geistern“, murmelten die Männer im Chor.

Daraufhin gab Rajin den Bogen an Wulfgar zurück, und Bratlor Sternenseher bereitete ein weiteres Stück Opferfleisch vor. Diesmal diente es als symbolische Wegzehrung für Herjolf, den die Beißer zerrissen hatten. Sein Geist sollte sich nicht ohne Proviant auf den Weg in die Gefilde Njordirs machen müssen. Aber in diesem Fall war es die Aufgabe des Kapitäns, den Knochenbogen des Wulfgar Eishaar zu spannen und den Pfeil in den grauen Himmel zu schießen.

Nach einer Weile tauchten die ersten Hilfsschiffe am Horizont auf, die sich an der Bergung des Seemammuts beteiligen wollten. Etwa ein Dutzend von ihnen brauchte man, um den Koloss zu ziehen, falls der Wind günstig stand; ansonsten waren doppelt so viele Schiffe notwendig, denn dann musste das erlegte Seemammut allein mit der Kraft der Ruderer in die Bucht von Winterborg gezogen werden.

An diesem Tag war der Wind schwach, auch wenn er günstig stand. Zu schwach, um sich allein auf ihn zu verlassen. Also mussten sich die Mannschaften zusätzlich in die Riemen legen, während einige Männer auf dem Rücken des Seemammuts zurückbleiben mussten, um darauf zu achten, dass sich die Zugharpunen nicht lösten und sich die Taue nicht verhedderten.

„Dir steht das Recht zu, auf dem Rücken zu bleiben, Sohn Bjonn“, sagte Wulfgar zu Rajin. „Schließlich hast du den tödlichen Stoß gesetzt.“

„Ich nehme dieses Recht gern wahr“, erwiderte Rajin.

„Deiner Achtung unter den Seemammutjägern von Winterborg wird das sicher förderlich sein.“

„Ja, Vater.“

„Und vielleicht hört nun auch so manches dumme Gerede auf, wenn man dich auf dem Rücken des Seemammuts in die Bucht einfahren sieht und jeder der Ehre gewahr wird, die man dir zugesteht.“

Rajins Gesicht verdüsterte sich nur für einen kurzen Moment. „Ich hoffe, du hast recht“, murmelte er.

Es gab manchen in Winterborg, der Rajin als drachenischen Bastard bezeichnet hatte, denn schon bald hatten dessen Gesichtskonturen keinen Zweifel mehr daran gelassen, dass drachenländisches Blut in seinen Adern floss.

Aber Wulfgar Wulfgarssohn genoss als Anführer jener Sippe, die ihren Ursprung in direkter Linie auf den legendären Wulfgar Eishaar zurückführen konnte, einen nahezu unangreifbaren Ruf auf ganz Winterland und im nördlichen Festland des Seereichs. So wagten die meisten nur hinter vorgehaltener Hand zu äußern, was sie in Wahrheit dachten.

Mit den Jahren waren die Vorbehalte gegen Rajin mehr und mehr in den Hintergrund getreten. Er hatte nicht, wie zunächst von manchen befürchtet, das Unglück nach Winterborg gebracht. Ganz im Gegenteil: Njordir hatte den Kapitänen in den Jahren seit dem Auffinden des Knaben überreiche Meeresbeute beschert. Ungewöhnlich viele Seemammuts hatten sie erlegen können, und die gesamte Insel hatte in dieser Zeit einen erheblichen Aufschwung genossen.

Die ersten Hilfsschiffe erreichten schließlich das Seemammut. Wulfgar Wulfgarssohn war verpflichtet, ihre Hilfe in jener Reihenfolge anzunehmen, in der sie den Kadaver erreichten. Im Zweifelsfall war ausschlaggebend, wer als Erster sein Tau warf, sodass es an eine der Zugharpunen im Körper des Meeresmonstrums festgemacht werden konnte. Diejenigen, die nicht mehr berücksichtigt werden konnten, wurden mit einem vier Pfund schweren Fleischbrocken entschädigt, der an Ort und Stelle aus dem Fleisch des Kadavers herausgeschnitten und mit der Bordwaage abgewogen wurde. Eine solche Waage hatte jedes Seemannen-Langschiff an Bord.

Innerhalb des Seereichs herrschte das Prinzip der Selbstverwaltung, und so gab es nur wenige Gesetze, die vom regierenden Hoch-Kapitän und dem Kapitänsrat in der Hauptstadt Seeborg verabschiedet wurden. Diese waren dann aber für das gesamte Reich verbindlich, und zu ihnen gehörte unter anderem die Vorschrift, dass jedes Schiff eine geeichte Waage mitzuführen hatte. Zuvor war es immer wieder zu Streitigkeiten zwischen einzelnen Kapitänen gekommen, die dann sehr häufig mit Schwert und Streitaxt ausgetragen worden waren, was insgesamt der Wohlfahrt des Seereichs nicht zuträglich gewesen war.

Aber an diesem Tag hatten alle Glück, die sich die Mühe gemacht hatten, auszulaufen, denn sie wurden alle gebraucht, und niemand musste entschädigt werden.

„Njordirs Segen sei mit dir!“, riefen die Kapitäne der ankommenden Schiffe Wulfgar entgegen. Es war mehr eine Feststellung als ein Wunsch oder eine beschwörende Bitte an die Gottheit – denn wer hätte angesichts dieser überwältigend großen Jagdbeute daran zweifeln können, dass der Meeresgott Njordir seinen Segen tatsächlich Wulfgar, dem Nachfahren von Wulfgar Eishaar, gegeben hatte? Niemand konnte Glück auf der Jagd, beim Fischen oder gar im Handel haben ohne zumindest Njordirs wohlwollende Duldung.

„Njordirs Segen für euch alle!“, lautete die traditionelle Erwiderung, und auch das entsprach den Tatsachen, denn jeder der Kapitäne, deren Schiffe den Kadaver erreichten, konnte sicher sein, dass sie von der Beute profitieren würden.

Allerdings waren auch Neuigkeiten zu hören, die Rajin aufhorchen ließen.

Einer der Kapitäne, der als der „Wilde Aeriggr“ bekannt war, berichtete davon, dass zwei Drachen den Hafen von Winterborg überflogen hätten.

„Du bist sicher, dass es Drachen waren?“, fragte Wulfgar.

„Ich habe Augen im Kopf“, erwiderte Aeriggr ungehalten und etwas beleidigt. „Sie flogen so tief über die Häuser, dass jeder Irrtum ausgeschlossen ist.“ Aeriggr atmete tief durch, seine Augen wurden schmal, und er strich sich mit einer beiläufigen Geste über den struppigen Bart, bevor er weitersprach. „Es muss Generationen her sein, dass sich zuletzt Drachen so weit nach Norden gewagt haben.“

„Ich weiß.“ Wulfgar nickte.

„Man mag vielleicht nicht gleich bis zu den Zeiten Eures ruhmreichen Vorfahren Wulfgar Eishaar zurückgehen, aber ich weiß genau, dass selbst mein Großvater nie einen Drachen über Winterland gesehen hat, und er erzählte mir, dass auch sein Vater niemals einer dieser Kreaturen ansichtig wurde.“

„Drachen meiden die Kälte“, sagte Wulfgar. „Das ist doch bekannt. Die wenigen wildlebenden Drachen fühlen sich im Süden einfach wohler, und diejenigen, die als gezähmte Reit- und Lasttiere den Dracheniern dienen, fliegen ebenfalls nicht bis hierher, denn der Kaiser in Drakor respektiert die Souveränität des Seereichs.“

„So wie wir die seines Reiches“, mischte sich Hjalgor Fünfzopf ein. „Die Drachenier wissen genau, dass ihnen niemand genug Nahrung für ihre degenerierten Kampfdrachen liefern kann außer den Seemammutjägern des Seereichs. Fürwahr, ihre Biester sind in den Zeitaltern seit ihrer Zähmung so faul geworden, dass sie nicht einmal mehr für sich selbst jagen können!“

„Warum sollten sie den Dracheniern dienen, wenn sie für sich selbst sorgen könnten?“, warf Wulfgar lachend ein.

Aeriggrs Gesicht blieb sehr ernst. „Du solltest mal darüber nachdenken, was es bedeuten könnte, dass auf einmal solche Kreaturen über Winterland auftauchen“, grollte er. Dann deutete er auf Rajin. „Vielleicht hat dein Sohn Bjonn Dunkelhaar ja etwas damit zu tun!“

Rajin steckte ein Kloß im Hals. Er fühlte, wie das Blut in ihm zu kochen begann. Zwei der wenigen wilden Drachen, die es noch gab, tauchten am Himmel der winterländischen Küste auf, und schon waren die alten Vorbehalte wieder da. Unwillkürlich krampften sich Rajins Hände zu Fäusten zusammen.

„Verbanne die Drachen aus deinen Gedanken …“, hörte er die Stimme des Weisen Liisho in seinem Kopf, und plötzlich stand das Gesicht des weißbärtigen Alten vor seinem inneren Auge. „Verbanne die Gedanken an das, was war und in dir verborgen ist, dann wirst du Unglück abwenden. Schließe ein, was verschlossen bleiben muss, bis der Tag kommt, da es offenbar werden kann. Die Macht muss wachsen, bevor sie sich entfalten kann.“

Ein Augenblick verstrich, ohne dass Rajin auch nur einen Ton zu seiner Verteidigung hervorbrachte. Seine Zunge schien wie gelähmt. Es hatte in der Vergangenheit immer wieder Momente gegeben, in denen er nicht in der Lage gewesen war, das auszusprechen, was ihm auf der Zunge lag. Der geheimnisvolle Bann, der ihn auch daran hinderte, seinen wahren Namen auszusprechen, musste dafür verantwortlich sein.

„Es ist zu deinem Wohl, Rajin!“, versicherte ihm der Weise Liisho, als wäre dies die Antwort auf alle Fragen, die sich Rajin stillschweigend stellte.

In diesem Augenblick stellte sich Wulfgar schützend vor seinen Ziehsohn und rief ungehalten: „Was willst du damit andeuten, Aeriggr? Dass ein Kind, nur weil es unter seltsamen Umständen aufgefunden wurde und weil seine Augen schmal und sein Haar dunkel ist, ein Unglücksbringer sein muss?“

„Hör zu, Wulfgar …“

„Nein, hör du mir zu, Aeriggr!“, grollte Wulfgar. „Wir können diesen Streit jederzeit mit Axt oder Schwert austragen, wenn du den Mut dazu hast. Aber du solltest eines dabei bedenken: Njordir hat sein Wort in dieser Frage längst gesprochen, denn andernfalls hätte er die winterländischen Kapitäne in den Jahren seit dem Auffinden meines Sohnes Bjonn Dunkelhaar nicht mit so reichhaltiger Beute beglückt!“

Aeriggr bedachte Rajin kurz mit einem abschätzigen Blick. „Ich habe nie daran gezweifelt, dass dein Sohn Bjonn mit irgendwelchen übernatürlichen Mächten im Bund stehen muss – ob es nun Njordir selbst ist oder ob deinem Sohn einfach nur die Elementargeister gewogen sind, vermag ich nicht zu sagen, dazu fehlt mir das nötige Wissen über derlei Dinge. Aber wenn seit sehr langer Zeit zwei Drachen in die ihnen verhasste Kälte von Winterland fliegen, dann werden ja wohl ein paar Gedanken über die Ursache dieses merkwürdigen Ereignisses erlaubt sein, Wulfgar Wulfgarssohn!“

„Und was sind das für Gedanken?“, fragte Wulfgar herausfordernd.

„Wie schon gesagt wurde: Ein wilder Drache würde nicht freiwillig so weit in den Norden fliegen.“

„Früher soll das des Öfteren geschehen sein“, hielt Wulfgar dagegen.

„Aber das ist so lange her, dass niemand mehr mit Sicherheit sagen kann, ob es stimmt!“

„So zweifelst du an den Worten, die uns mein Vorfahr Wulfgar Eishaar gab?“ Wulfgar war mittlerweile sichtlich verärgert.

Aeriggrs Hand umfasste bereits den Griff des Schwerts, das er entgegen der Gewohnheit vieler Seemammutjäger nicht auf dem Rücken, sondern an der Seite trug. „Ich zweifle lediglich am Gedächtnis derer, die Eishaars Worte im Laufe der Zeit von Generation zu Generation weitererzählten.“

Rajin erkannte, das alles auf einen handfesten Streit zwischen den beiden Kapitänen hinauslief. Einen Streit, der den Anlass nicht lohnte, wie er fand. Also mischte er sich ein. Schließlich war er die Ursache für den Zwist, und nach all den Jahren, in denen sich Wulfgar Wulfgarssohn immer schützend vor seinen Ziehsohn gestellt hatte, war es an der Zeit, selbst für sich einzustehen.

„Beleidige nicht die Ahnherren unserer Sippe!“, herrschte er Aeriggr an. „Wenn du mir etwas vorwerfen willst, dann wende dich damit an mich und nicht an meinen Vater!“

Rajin trat auf den Wilden Aeriggr zu, ohne aber durch eine Bewegung oder Geste erkennen zu lassen, dass er zum Schwert greifen wollte. Im Gegenteil, er stemmte die Hände in die Hüften. „Also, Aeriggr. Was wirfst du mir vor?“

„Es ist doch bekannt, dass Drachenier eine besondere geistige Verbindung zu Drachen haben“, sagte Aeriggr. „Vielleicht hast du diese Ungetüme ja gerufen!“

Rajin lag eine entsprechende Erwiderung auf der Zunge, aber erneut war er unfähig, auch nur ein einziges Wort herauszubringen. „Schweig!“, dröhnte die Stimme Liishos in seinem Kopf, und es gab keine Möglichkeit für Rajin, sich diesem Befehl zu entziehen.

„Was du redest, ist Unsinn, Aeriggr!“, schritt Wulfgar erneut ein. „Nur die Macht der Drachenringe des Kaisers von Drakor vermag den Willen wilder Drachen zu zähmen – und kein drachenischer Drachenreiter wäre in der Lage – selbst bei noch so guter Ausbildung –, einen Drachen zu reiten, wenn dessen Willen nicht durch die Macht der kaiserlichen Ringe gebrochen ist!“

„Und was ist mit den Geschichten über Drachenier, die Drachen mit der puren Kraft ihres Willens herbeizurufen vermögen?“, fragte Aeriggr.

„Geschichten – mehr nicht!“, meinte Wulfgar. „Geschichten, die uns die Drachenier fürchten lassen sollen, damit wir weiter mit ihnen Handel treiben, anstatt ihre Küsten zu plündern, wie es unsere Ahnen taten.“

„Es ist doch bekannt, dass in den Adern vieler Drachenier magisches Blut fließt“, entgegnete Aeriggr.

„Soweit ich weiß, nur in denen der Mitglieder des Kaiserhauses und ihrer adeligen Abkömmlinge“, sagte Wulfgar. „Aber auch da bin ich mir nicht sicher, ob es sich nicht nur um eine Legende handelt, die dazu dient, dem Kaiser und der Kaste der Drachenreiter-Samurai die Macht zu erhalten. Schließlich könnte ja sonst das gemeine Volk auf den Gedanken kommen, dass jeder die Fähigkeit hat, einen Drachen zu reiten!“

„Wulfgar Wulfgarssohn hat recht!“, mischte sich nun Bratlor Sternenseher ein. „Ich habe früher auf Schiffen gedient, die regelmäßig nach Etana und Jandrakor segelten, und war neben der Sternennavigation auch für die Verhandlungen mit den drachenischen Geschäftspartnern zuständig, da ich ihre Sprache spreche. Ein gewöhnlicher Drachenier verfügt über genauso viel oder wenig magische Kräfte wie du und ich. Wären sie sonst dazu gezwungen, im Schweiße ihres Angesichts ihre Tätigkeiten zu verrichten wie unsereins, wenn es anders wäre?“

„Du redest so viel, dass man denken könnte, du müsstest Knoten in der Zunge haben!“, knurrte der Wilde Aeriggr. „Lernt man das auf der Sternenseher-Schule von Seeborg? Dann habe ich ja einiges zu erwarten, wenn mein dritter Sohn von dort zurückkehrt!“

„Ich spreche nur die Wahrheit“, sagte Bratlor. „Und der beste Beweis dafür ist, dass seit siebzehn Jahren ein Emporkömmling namens Katagi auf dem Drachenthron in Drakor residiert. Zwar versucht er krampfhaft, eine weitläufige Verwandtschaft zu seinem Vorgänger zu konstruieren, aber davon ist doch augenscheinlich nichts wahr. Doch hat man seitdem gehört, dass die drachenischen Kampfdrachen nicht mehr ihren Reitern gehorchen? Offenbar steckt nicht viel hinter all dem Gerede von magischem Blut.“ Er schüttelte in einer nahezu mitleidigen Geste den Kopf. „Aber die drachenische Propaganda scheint ihr Ziel ja erreicht zu haben, wenn sogar ein Mann, der sich den Beinamen ›der Wilde‹ verdient hat, einem Jungen mit drachenischen Augen die Macht über alles Mögliche zuschreibt. Warum nicht auch die Macht über das Wetter oder die Wassermenschen, deren wir uns in jedem Sommer erwehren müssen?“

Glednir Freistirn lachte verhalten – verstummte aber sofort, als Aeriggr ihm einen finsteren Blick zuwarf.

„Du versündigst dich an Njordir!“, zischte Aeriggr.

„So absurd es ist, Njordirs Macht über das Meer und das Wetter anzweifeln zu wollen, so absurd sind deine Ängste vor einem Paar schmaler dunkler Augen, Aeriggr“, entgegnete Bratlor ruhig.

Der Sternenseher gehörte zu Rajins engsten Gefährten unter den Männern der „Stoßzahnsammler“. Seit fünf Jahren diente er auf Wulfgars Schiff, nachdem er sich nach einem Streit um eine ausstehende Gewinnbeteiligung von seinem vorhergehenden Kapitän getrennt hatte. Er war der Einzige an Bord der „Stoßzahnsammler“, der nicht von Winterland stammte, sondern in Borghorst auf dem seemannischen Festland geboren worden war. Von allen Männern, die Rajin bisher kennengelernt hatte, war er mit Sicherheit derjenige, der am weitesten herumgekommen war, und die Reiseberichte des Sternensehers faszinierten ihn stets sehr. Es waren Erzählungen über die Luftschiffe der Tajimäer und die feuerspeienden Stahlrohre, die in die Mauern von Pendabar, der Hauptstadt Feuerheims, eingelassen waren und jeden Angriff zum Scheitern verurteilten. Er berichtete auch von den Wundern des Reiches Magus, dessen Bewohner über geistige Kräfte verfügten, die über alles hinausgingen, was sich ein einfacher winterländischer Seemammutjäger vorzustellen vermochte.

Besonders aber fesselten Rajin immer die Geschichten von den Küsten des Drachenlandes Drachenia. Von der erhabenen Armada von Kampfdrachen, die von stolzen Kriegern geritten wurden. Von Drachen mit Transportgondeln, die wertvolle Güter, wohlhabende Passagiere oder die Söldner des Kaisers innerhalb kurzer Zeit an jeden Ort des Reichs bringen konnten. Gerade diese Berichte waren wie Spiegelbilder dessen, was er vor seinem inneren Auge manchmal sah. Rajin hatte immer das Gefühl, all diese Dinge so zu kennen wie einer, der selbst in diesem fernen Land aufgewachsen war.

Ganz besonders hatte es ihn jedes Mal berührt, wenn Bratlor Sternenseher zur Belustigung der anderen Männer ein paar Worte in drachenischer Sprache hervorbrachte. Die Männer von Winterland machten sich dann über die angeblichen Barbaren Drachenias und deren Sprache, die sie an Tierlaute erinnerte, lustig – nicht ahnend, dass sie in Drachenia selbst als Barbaren galten.

Wulfgars Ziehsohn hatte stets das Gespräch mit Bratlor gesucht, aber leider hielt der Sternenseher Rajins Schweigen zu allem, was mit Drachenia in Verbindung stand, für Desinteresse und erzählte daher mehr über die Luftschiffe Tajimas und die Wunder Feuerheims. Dabei hätte Rajin durchaus gern mehr über jenes Land gehört, dessen Bewohner ihm angeblich so ähnlich sahen, dass manche sogar behaupteten, er wäre einer der ihren.

Es war der Bann des Weisen Liisho, der ihn daran hinderte, sich mit Bratlor über Drachenia zu unterhalten. So manches Mal hatte Rajin in jenen Momenten diesen Bann verflucht, doch schien es keinerlei Möglichkeit zu geben, diesen Einfluss zurückzudrängen.

„Wenn du Bedenken hast, einer Mannschaft von Seemammutjägern zu helfen, unter denen sich ein Unglücksbringer befindet, so entbinde ich dich und deine Mannschaft gern von der Hilfspflicht“, sagte nun Wulfgar Wulfgarssohn zum Wilden Aeriggr. „Allerdings entgeht dir dann auch dein Anteil, und du solltest dir überlegen, ob du dir deine Furcht vor einem dunkelhaarigen Jüngling auch leisten kannst.“

Dröhnendes Gelächter brach daraufhin aus, und selbst Aeriggrs Männer konnten sich nur schwer beherrschen.

Von einer Entbindung von der Hilfspflicht wollte der Wilde Aeriggr nichts wissen, was niemanden wunderte, denn sein Jagdglück war in den letzten Monaten nur mäßig gewesen, weshalb er auf die Anteile aus der Kadaverbergung angewiesen war, um seine Mannschaft weiter unterhalten zu können. Trotzdem knurrte er: „Ich hoffe, du bereust es nicht eines Tages, dass du meine Warnungen in den Wind geschlagen hast, Wulfgar. Mag sein, dass ich tatsächlich ein Narr bin und nicht genug von diesen Dingen verstehe, aber wenn nach so langer Zeit zwei Feuerspeier am Himmel auftauchen und so tief über Winterborg fliegen, kann das kein Zufall sein!“

So dumm und einfältig die Vorurteile auch sein mochten, mit denen Rajin immer wieder konfrontiert wurde – tief in seinem Inneren ahnte er, dass der Wilde Aeriggr mit seiner Vermutung recht hatte, was das Auftauchen der beiden Drachen betraf. Es hatte auf irgendeine Weise mit dem Geheimnis zu tun, das in der Seele des Achtzehnjährigen durch einen Bann eingeschlossen war.

Hast du darauf nicht auch eine Antwort?, fragte er in Gedanken, an den Weisen Liisho gerichtet. Warum sagst du dazu nichts, da du mir doch sonst ungefragt alles Mögliche erklärst?

Aber der ständige Gast in seiner Seele, der ihn von frühester Kindheit an begleitete, blieb diesmal stumm.

Du hörst mich – ich weiß es! Warum sagst du jetzt nichts und flüsterst mir nicht wenigstens einen Teil des Geheimnisses ein, das in mir verborgen ist? Habe ich denn kein Recht darauf, zumindest ein wenig der Wahrheit zu erfahren?

Doch in Wirklichkeit hatte Rajin die Hoffnung, dass er doch noch eine Antwort erhielt, schon aufgegeben, und so wandte er sich wieder der Arbeit zu, der Bergung des Seemammuts. Leinen mussten festgezurrt werden, weitere Hilfsschiffe legten an und warfen ihre Taue herüber, und die Männer der „Stoßzahnsammler“ setzten weitere Zugharpunen, an denen die Taue befestigt wurden.

Da bekam Rajin doch noch eine Antwort!

Die Stimme Liishos flüsterte wie ein leichter Landwind in den kurzen Sommern auf Winterland:

„Mag für viele die größte Gefahr in der Unwissenheit liegen – für dich liegt sie im Wissen!“

3. Kapitel: Rückkehr nach Winterborg

Ganz Winterborg war auf den Kaimauern und den weit in die Bucht ragenden Landungsstegen versammelt, als die Flotte der Seemammutjäger zurückkehrte. Rajin stand auf dem Rücken des Kadavers, gleich hinter dem Kopf, sodass jeder sehen konnte, dass er es gewesen war, der dem riesigen Monstrum den Todesstoß versetzt hatte. Diese Ehre stand ihm zu, und sowohl Rajin selbst als auch Wulfgar Wulfgarssohn hofften, dass Bjonn Dunkelhaar dadurch endlich als vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft akzeptiert wurde. Wie sonst hätte er noch beweisen können, dass er ein Seemammutjäger unter Seemammutjägern war? Ein junger Mann, der sich – abgesehen von seinem Äußeren – in nichts von den anderen Männern auf Winterland unterschied?

Die Schiffe zogen den riesigen Kadaver in die Bucht von Winterborg, vorbei am Hafen, wo das jubelnde Volk stand und jenen begeistert zuwinkte, die mit diesem Fang dafür gesorgt hatten, dass es den Seemannen auf dieser unwirtlichen Insel im äußersten Nordwesten des Seereichs weiterhin gut gehen würde.

Abseits des Hafens und der eigentlichen Siedlung gab es flache, wenn auch steinige Strände, an denen Hunderte von Seemammutskeletten lagen. Allerdings waren die meisten von ihnen nicht vollständig, und von einigen war nichts weiter geblieben als der Schädel, vor dem die Seemannen einen besonderen Respekt hatten. Denn ihrem Glauben zufolge wohnte die Seelenkraft eines Seemammuts dem Knochenschädel noch lange nach seinem Tod inne – so wie auch dem Herzen, das in kleine Stücke geschnitten wurde, die man bei ablandigem Wind ins Meer warf, sodass sie hinaus in die Bucht von Winterborg trieben und dort von den Beißern und anderem Fischgetier, das die nördliche See bevölkerte, gefressen wurden.

Während der Rest des Seemammutskeletts zur Fertigung von Gebrauchsgegenständen des täglichen Bedarfs benutzt wurde und so manches Rückgrat als First eines Langhauses und so manche Rippe als dessen Türbogen seine letzte Bestimmung fand, ließ man die Schädel weitestgehend unangetastet – bis auf die Stoßzähne, denn die waren die legitime Trophäe des Jägers, und das Fleisch, zumal vor allem Hirn und Zunge der Seemammuts als Delikatesse galten.

Den Schädelknochen aber ließ man am Strand, und um sich mit dem Geist des Seemammuts zu versöhnen, brachte man ihm Opfer dar und betete ihn an. Vor allem erhoffte man sich dadurch Unterstützung gegen die Gefahr durch die Wassermenschen, die in der wärmeren Jahreszeit immer wieder Angriffe auf die Siedlungen der Seemannen wagten. Der warme Meeresstrom aus dem Süden brachte die Wassermenschen in die Gefilde des Nordens, wo man zumindest während der klirrend kalten Winter Ruhe vor ihnen hatte, denn der Schnee- und Eisgott Fjendur war ihr Feind. Der Geruch eines frisch erlegten Seemammuts lockte die Wassermenschen an, das war jedem bekannt, der auf die Jagd nach den Meeresriesen ging. Und schon deshalb war es für jeden Seemammutjäger wichtig, dass nicht nur der Meeresgott Njordir ihm gewogen war, sondern auch der eisige Fjendur, den die Wassermenschen fürchteten wie sonst kaum etwas Anderes.

Rajin sah die Menschen von Winterborg auf den Kaimauern und Landungsstegen stehen und den erfolgreichen Jägern zujubeln. Insbesondere galt dieser Jubel ihm, dem Mann, der den Meeresriesen letztlich erlegt hatte. Doch täuschte er sich, oder fiel die Freude diesmal verhaltener aus, als Rajin es sonst erlebt hatte? Vielleicht bildete er sich das auch nur ein, weil er davon ausging, dass ihn zumindest ein Teil der Bevölkerung Winterborgs nicht anerkannte.

Das Omen der Drachensichtung lastet auf ihren Seelen!, ging es ihm durch den Sinn. Ein Zeichen des Unheils, das man unweigerlich mit ihm, Bjonn Dunkelhaar, in Verbindung brachte. Allein die unverkennbar drachenische Augenform! Rajin konnte den Menschen von Winterborg ihr Misstrauen nicht einmal verübeln. Er selbst hätte nicht anders empfunden, wäre er an ihrer Stelle gewesen. Und davon abgesehen ahnte er tief in seinem Innern längst, wie begründet dieses Misstrauen ihm gegenüber war.

Vielleicht wäre es das Beste gewesen, einfach wegzugehen. Wulfgar Wulfgarssohn und seine Sippe hatten ihn als Findling aufgenommen und großgezogen. Rajin war ihnen zu großem Dank verpflichtet, und er sah es als seine Pflicht an, jedwedes Unglück von ihnen fernzuhalten. Nie hätte er es sich verziehen, wäre seinetwegen denjenigen, die so viel für ihn getan hatten, etwas zugestoßen.

„Hör auf, dich zu grämen!“, meldete sich der Weise Liisho zurück, und obwohl Rajin ihn nur in Gedanken hörte, war es ihm, als spräche Liisho in strengem Tonfall. „Erwarte deine Bestimmung, anstatt dich in Selbstzweifeln zu ergehen, Unwissender!“

Rajin hatte auf einmal das Gefühl, als würden ihn zwei dunkle mandelförmige Augen durchdringend anstarren. Ihr Blick schien bis auf den Grund seiner Seele zu dringen. Ein Blick, den er schon von klein auf kannte und von dem er lange Zeit angenommen hatte, es wäre sein eigener geistiger Blick, mit dem er selbst sein Innerstes betrachtete, um sich misstrauisch zu prüfen.

Aber inzwischen war er zu der Erkenntnis gelangt, dass sowohl Stimme als auch Gesicht des Weisen Liisho keineswegs nur Widerspiegelungen seiner eigenen verworrenen, widerstreitenden Gedanken und Gefühle waren. Liisho war eine wirklich existierende Person. Er lebte – irgendwo jenseits des Horizonts – jenseits der Grenzen des Seereichs. Vielleicht existierte er in einer der fantastisch anmutenden Städte Drachenias, die er Rajin in ungeheuer real erscheinenden Visionen gezeigt hatte. Und möglicherweise gebot er über den Willen von Drachen, die ihn als ihren Herrn und Reiter akzeptierten und über die Ebenen und schroffen Gebirge des Drachenlandes trugen …

Du nennst mich einen Unwissenden – aber hättest du nicht die Macht, dies zu ändern?, entgegnete Rajin in Gedanken. Vielleicht wurde es Zeit, dass er sich gegen die geheimnisvolle Macht zur Wehr setzte, die ihn in ihrem Bann hielt und zum Stillschweigen verurteilte.

„Der Tag der Erkenntnis wird früher kommen, als dir lieb ist“, antwortete ihm die Gedankenstimme des Weisen Liisho.

Unter den Menschen am Hafen entdeckte Rajin auch Nya Kallfaerstochter. Sie war – so wie Rajin – achtzehn Sommer jung, und das dunkelblonde Haar, das ihr weit über die Schultern fiel, trug sie zumeist zu einem Zopf geflochten. Für sie schlug Rajins Herz und das ihre für ihn, auch wenn ihr Vater Kallfaer Eisenhammer stets mit aller Deutlichkeit klarmachte, dass er nichts von Bjonn Dunkelhaar hielt – und schon gar nichts von einer eventuellen Verbindung seiner Tochter mit einem Mann, dessen Gesicht sich von dem aller anderen Seemannen Winterlands so deutlich unterschied, dass auch all seinen Nachkommen dieser Makel anzusehen sein würde, den einen vielleicht weniger, den anderen mehr.

Eigentlich hatte Rajin gehofft, dass Kallfaer Eisenhammer seine Meinung über ihn ändern würde, nachdem er diesen wahren Giganten unter den Seemammuts erlegt hatte. Dass er endlich anerkennen würde, dass Bjonn Dunkelhaar ein hervorragender Seemammutjäger war, von dem man erwarten durfte, dass er irgendwann sogar mit einer eigenen Mannschaft in See stechen und auf Jagd gehen würde. Ein Mann also, dem seine Tochter zu geben für Kallfaer eine Ehre bedeutet hätte.

Dieser Hoffnung allerdings widersprach allein schon die Tatsache, dass Kallfaer mit seinem Schiff nicht ausgelaufen war, um Wulfgar Wulfgarssohn und den Männern der „Stoßzahnsammler“ bei der Bergung des Kadavers zu helfen. Die Rauchzeichen von Glednir und Hjalgor hatten den Bewohnern von Winterborg nicht nur den großen Jagderfolg kundgetan, sondern auch den Namen desjenigen übermittelt, der den Todesstoß gesetzt hatte. Offenbar war dies der Grund, warum Kallfaer Eisenhammer sein Schiff nicht klar zum Auslaufen gemacht hatte: Seine Ablehnung gegen Rajin war so groß, dass er sogar auf den ihm zustehenden Gewinn aus der Kadaverbergung verzichtete.

Und bei einer so großen Beute war das beileibe kein kleiner Verzicht!

Dabei bestand nicht nur ein Bergungshilferecht, sondern auch eine Hilfspflicht, die verhindern sollte, dass aufgrund von Streitigkeiten ein bereits erlegtes Seemammut nicht geborgen werden konnte, was der Gemeinschaft aller Sippen von Winterborg geschadet hätte. Aber Kallfaer konnte sich in diesem Fall damit herausreden, dass bereits Schiffe in ausreichender Zahl den Hafen von Winterborg verlassen hatten und seine Mannschaft möglicherweise gar nicht mehr zum Zuge gekommen wäre. Dass er wahrscheinlich mit Absicht so lange gewartet hatte, bis – außer seinem eigenen – kein Schiff mehr im Hafen von Winterborg war, konnte ihm niemand nachweisen – und damit war auch eine Verletzung der Hilfspflicht nicht nachweisbar. Dennoch war Kallfaers Unterlassung kaum anders, denn als Affront zu verstehen. Nicht nur als ein Affront gegen Rajin, sondern auch gegen dessen Stiefvater Wulfgar Wulfgarssohn und die gesamte Mannschaft der „Stoßzahnsammler“ …

Der Kadaver des Seemammuts wurde so nahe wie möglich an den Strand gebracht, dass sein gewaltiger Körper den Grund berührte. Am Strand warteten bereits gut hundert Männer aus Winterborg, die gegenwärtig keiner Schiffsmannschaft angehörten und hofften, durch die Bergung des Kadavers etwas vom Gewinn abzubekommen. Das Seemammut musste so schnell wie möglich zur Gänze aus dem Wasser geholt werden, denn solange der Kadaver auch nur noch ein Stück ins Meer ragte, konnten ihn die Wassermenschen selbst über große Entfernungen hin wittern.

Das lag wahrscheinlich an dem recht durchdringenden Geruch, den ein Seemammutkadaver sehr schnell entwickelte und den manche unter den Seemannen für eine besondere Wirkung des giftigen Blutes hielten, das in den Adern dieser Monstren floss. Andere glaubten hingegen, dass es mit einem den Wassermenschen angeborenen Zaubersinn zusammenhing, während Bratlor Sternenseher zu berichten wusste, dass unter den Lehrern der Sternenseher-Schule von Seeborg die Ansicht vorherrschte, einer der fünf Mondgötter wäre ein Verräter an den Seemammutjägern, indem er den Wassermenschen verriet, wo Jagdbeute gemacht worden war, sodass diese unheimlichen Wesen dann des Nachts aus der Tiefe stiegen, um sich das zu holen, was sie sich selbst niemals hätten erjagen können.