9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 8,99 €
ALLES VON MIR FÜR DICH
Rockstar Abe Bellamy steht vor den Scherben seines Lebens. Nachdem seine kleine Schwester an Krebs gestorben ist, droht ihm alles zu entgleiten. Seiner Band schenkt er kaum noch Beachtung, und seine junge Frau Sara verlässt ihn. Erst da bemerkt Abe, dass er zu weit gegangen ist und dass er mit Sara den einzigen Menschen von sich gestoßen hat, der sein Herz tief im Inneren noch berühren konnte. Er setzt alles daran, sie zurückzugewinnen, auch wenn er weiß, dass er eine zweite Chance eigentlich nicht verdient hat ...
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 485
NALINI SINGH
Rock Kiss
Bis der letzte Takt verklingt
Roman
Ins Deutsche übertragen von Patricia Woitynek
Sara Smith träumte schon ihr ganzes Leben lang davon, eines Tages die Familie zu gründen, die sie selbst nie hatte. Als sie Rockstar Abe Bellamy kennenlernt, fühlt sie vom ersten Moment an, dass sie in ihm den Mann gefunden hat, mit dem sie für immer glücklich sein will. Doch Abe droht seit dem plötzlichen Tod seiner kleinen Schwester jeden Tag tiefer in einen Abgrund aus Drogen und Alkohol abzustürzen. Sara ist sich sicher, ihn mit ihrer Zuneigung und Geduld heilen zu können, doch Abes seelische Wunden sind so tief, dass selbst ihre Liebe es nicht vermag dorthin zu reichen. Mit gerade einmal siebenundzwanzig Jahren steht sie nun vor den Scherben ihrer Ehe und versucht verzweifelt, den Menschen zu vergessen, der ihr die Welt bedeutet hat – ohne zu ahnen, dass ihr Entschluss zu gehen für Abe der Weckruf war, den er dringend gebraucht hat. Nach seinem Entzug ist ihm sofort klar, dass er einen großen Fehler begangen und den wichtigsten Menschen in seinem Leben vielleicht für immer verloren hat. Abe setzt von da an alles daran, Sara zu beweisen, dass es eine zweite Chance für sie geben kann – auch wenn er weiß, dass er sie eigentlich alles andere als verdient hat …
Sarah wusste, dass Abe heute schlecht drauf sein würde. So wie immer, wenn sich Tessies Todestag jährte … Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass das Datum mit dem Tag ihres Kennenlernens zusammenfiel. Jede Freude darüber, mit ihr zusammen zu sein, wurde unter einer schwarzen Wolke der Trauer erstickt, die sich herabsenkte, sobald die Uhr Mitternacht schlug.
Sie verstand, dass Tessie an erster Stelle kam, das schon immer so gewesen war, und empfand keine Eifersucht. Wie könnte irgendjemand auf ein süßes Mädchen eifersüchtig sein, dessen Leben nach nur acht Jahren grausam ausgelöscht worden war? Es schien himmelschreiend ungerecht, dass dieses unschuldige Wesen tot war, während so viel Böses in der Welt fortbestand.
Nein, Sarah würde niemals eifersüchtig auf Abes geliebte kleine Schwester sein.
Das Einzige, was sie wollte, war, für ihn da zu sein. An ihrem ersten Jahrestag hatte er sich geweigert, sie an seiner Trauer teilhaben zu lassen, doch inzwischen waren sie fast zwei Jahre verheiratet. Es war an der Zeit, den Stier bei den Hörnern zu packen und Abe begreiflich zu machen, dass sie ihm immer zur Seite stehen würde – im Dunkel wie im Licht. In guten wie in schrecklichen Zeiten.
Wieso er das nicht längst erkannt hatte, konnte sie nicht sagen. Sarah hatte ihrem Mann während seiner Drogenabhängigkeit, seinen Entziehungskuren und Rückfällen beigestanden. Sie hatte ihn auf jedem Schritt seines Weges begleitet, ohne sich ein einziges Mal von ihm abzuwenden, trotzdem war ihm offenbar nicht klar, dass sie alles für ihn geben würde, sogar ihr Leben.
Sie liebte ihn mit einer Aufopferungsbereitschaft, die ihr Angst machte.
Sarah wusste, dass er ihre Liebe nicht erwiderte. Aber das war okay. Das konnte sie akzeptieren, immerhin hatte sie nie erwartet, von einem derart umwerfenden Mann wiedergeliebt zu werden. Zumindest begehrte Abe sie, er brauchte sie und war wundervoll zu ihr, wenn er seinen Körper nicht gerade mit Drogen und Alkohol vergiftete. Erst letzten Monat hatte er sie überrascht, indem er mit ihr an der Aufzeichnung ihrer Lieblingsfernsehshow teilgenommen hatte. Und die Art, wie er sie berührte … als wäre sie kostbar.
Es war mehr, als sie je zu finden geglaubt, mehr Wertschätzung, als sie sich je von irgendjemandem erhofft hatte. Könnte sie ihm doch nur im Gegenzug bei seinem Kummer helfen.
Vier Jahre waren vergangen, seit Abe und seine Familie Tessie nach dem raschen Ausbruch einer Krankheit, gegen die sie chancenlos gewesen war, beerdigt hatten, doch der Verlust war noch immer eine offene Wunde in ihm.
Auf Außenstehende mochte er den Eindruck erwecken, vor seinem Seelenschmerz kapituliert zu haben, aber Sarah kannte die Wahrheit. Ihr Ehemann war von tiefem Zorn erfüllt. Er hielt ihn in sich verschlossen, brüllte das Schicksal nur im Stillen an, dennoch erlosch seine Wut nie. Und manchmal, wenn sie zu übermächtig wurde und er sie nicht mehr bezähmen konnte, nahm er Drogen und verwandelte sich in einen Mann, den sie nicht kannte. Dann raste er wie ein Tobsüchtiger.
Zertrümmerte Möbel und Löcher in den Wänden – an all das war Sarah gewöhnt. Doch ganz gleich, wie fürchterlich seine Stimmung war, wie viel Gift durch seine Adern strömte, Abe hatte seine Rage noch nie an ihr ausgelassen. Er reagierte sich an Stein und Beton ab, bis seine Fingerknöchel bluteten, die zu bandagieren er ihr nicht erlaubte.
Beim letzten Mal hatte sie in ihrer Verzweiflung David angerufen. Der Schlagzeuger war gekommen und hatte Abe gut zugeredet, bis er sich beruhigte.
Sie hoffte, dass sich diese Nacht nicht als schmerzhaftes Echo entpuppen würde. Bitte, lass Abe heute die Nerven behalten.
Ihr Herz pochte in der nächtlichen Stille, als sie barfuß den Gang des luftig gestalteten, hell erleuchteten Hauses entlangtappte und die Tür des Musikzimmers aufdrückte, wo in einsamer Pracht ein schwarzer Stutzflügel stand.
Die Schutzhülle war heruntergezogen und beiseite geworfen worden, sodass das herrliche Instrument im Mondlicht glänzte, das durch die hauchzarten Vorhänge vor den gläsernen Faltflügeltüren rechts davon hereinschien.
Diese standen offen, und die Vorhänge wehten in der sanften Brise.
»Abe?«, rief sie, als sie ihn nirgendwo im Zimmer entdeckte.
Sie trat hinaus auf die Terrasse, deren Steinboden rau gegen ihre Fußsohlen rieb. Der Pool schimmerte im Mondschein, der Rasen lag dank der Pflege, die ihm die Gärtner jede Woche angedeihen ließen, da wie ein samtiger grüner Teppich.
Sarah hätte gern einen eigenen Garten angelegt und hübsche, fröhliche Blumen gepflanzt, aber was wusste sie schon vom Gärtnern? Wahrscheinlich würde sie ein peinliches Kuddelmuddel anrichten und die makellosen, von den Experten kreierten Beete voll Rosen verwüsten, die so viel eleganter und anmutiger waren als Sarah je sein würde.
Sie zupfte den Saum ihres kurzen, golden funkelnden Kleids zurecht, das sie zum Abendessen – welches Abe in brütendem Schweigen verbracht hatte, bevor er aufgestanden und nach draußen verschwunden war – angezogen hatte. Dabei löste sie den Blick von den schneeweißen Rosen, die an einer Seite des Hauses emporrankten, und ließ ihn über den Rasen bis zu den Bäumen an der Grundstücksgrenze schweifen. Manchmal zog Abe sich nachts dorthin zurück, aber heute konnte sie ihn selbst im Mondschein nirgendwo entdecken.
Ihr Herz begann zu rasen. »Abe?«
Dieses Mal war er seit einem Monat clean, aber wenn etwas einen Rückfall auslösen konnte, dann Tessies Todestag. »Abe!«
Ihre Stimme hallte durch die silbrige Nacht.
Während sie ins Haus zurückkehrte fragte Sarah sich, ob er in die Stadt gefahren sein könnte, um sich zu betrinken oder mit einem seiner Bandkollegen einen draufzumachen. Errötend stellte sie fest, dass sie etwas Schmutz hineingetragen hatte, darum ging sie schnell noch mal nach draußen und wischte sich die Füße am Türvorleger ab. Manchmal befürchtete sie, dass es ihr niemals gelingen würde, sich kultiviert und damenhaft zu geben, um den Anschein zu erwecken, in Abes Welt zu gehören.
Nicht in die oberflächliche Glitzerwelt eines Rockstars. Das könnte sie vorgaukeln.
Nein, es war die Welt der Bellamys, in der sie sich verloren fühlte. Elite-Universitäten, altes Geld und Menschen, die Wörter benutzten, welche Sarah nur aus den Büchern kannte, die ihr ein Leben lang treue Freunde gewesen waren. Da sie so viel las, verstand sie die Worte zumindest, auch wenn sie nicht alle aussprechen konnte. Und das war doch schon mal was.
Einmal hatte sie Abe gestanden, wie unterlegen sie sich fühlte, aber er hatte nur verständnislos den Kopf geschüttelt. »Du bist perfekt, Sarah. Klug und wunderschön.« Er hatte den Arm um ihren Hals gelegt und sie an seinen warmen, muskulösen Körper gezogen. »Wie du weißt, habe ich selbst keinen protzigen Abschluss. Hör auf, dir Gedanken zu machen.«
Danach war es ihr zwar besser gegangen, trotzdem konnte sie seinen Rat nicht befolgen, die Sorgen nicht abstellen. Abe mochte auf ein Diplom verzichtet haben, um stattdessen eine Karriere als Rockmusiker anzustreben, aber er war als klassischer Pianist ausgebildet und spielte schon seit seiner Kindheit. Und im Gegensatz zu ihr könnte er eine Elite-Universität besuchen, falls er es wollte. Seine Mutter Diane hatte ihr voll Stolz von seinen außerordentlichen schulischen Leistungen erzählt.
Von allen Leuten in Abes Umfeld bewunderte Sarah Diane Bellamy am allermeisten. Sie musste nie die Stimme erheben, um Aufmerksamkeit zu erringen, ihre Persönlichkeit und stille Grazie besorgten das von selbst. Sarah wünschte sich so sehr, sie wäre wie sie, elegant und selbstbewusst und sich ihres Platzes in der Welt gewiss.
Nachdem sie die Erde mit einem Taschentuch von den glänzenden Holzdielen entfernt hatte, knüllte sie es zusammen und steckte es wieder in die Tasche ihres trägerlosen Paillettenkleids, die bei einem Clubbesuch gerade mal Platz für ein Handy und einen Ausweis bot. Sie hatte es heute Abend angezogen, weil sie sich darin hübsch fand, aber mehr noch, weil Abe sie beim letzten Mal, als sie es trug, zu einem leidenschaftlichen Kuss zu sich herangezogen hatte.
»Abe?«, rief sie wieder, dabei stahl sich ein Zittern in ihren hoffnungsvollen Ton.
Sie spürte einen Kloß im Hals.
Er hatte sie wieder allein gelassen, war verschwunden, um sich ohne sie seinen Dämonen zu stellen – wahlweise in Gesellschaft der Menschen, die er tatsächlich liebte: Fox, Noah und David, seine Bandkollegen und besten Freunde.
Sarah wusste, dass sie ihnen dankbar sein sollte, und sie war es auch. Sie würde alles akzeptieren, was Abe half. Sie wünschte nur, er würde sie nicht ausschließen. Seine Reserviertheit war wie eine Steinmauer, die sie nicht durchbrechen konnte, egal, wie sehr sie sich anstrengte.
Trotz all der guten Zeiten in ihrer Ehe, der Momente, in denen sie zusammen lachten, der vielen Nächte, die sie eng umschlungen verbrachten, waren sie sich nie mehr so nah gewesen wie in der Nacht ihrer ersten Begegnung.
Er war allein gewesen an jenem Abend und so schutzlos in seinem Schmerz, dass sie das tiefe Bedürfnis überkommen hatte, ihn zu trösten. Sie hatte ihn in den Armen gehalten und ihm später dann ihren Körper geschenkt. Damals hatte sie nichts von Tessies Tod gewusst, sondern nur gespürt, dass er sie brauchte und sie diesem Mann, der ihrer Seele Leben einhauchte, alles geben wollte. Nicht einmal die Erkenntnis, dass er in einer völlig anderen Liga spielte als sie, hatte sie stoppen können. Sie war die Motte, die seine Flamme umschwirrte.
Da bist du ja, hatte eine innere Stimme geflüstert, als er sie zum ersten Mal angesprochen hatte. Ich warte schon so lange auf dich.
Doch als sich der Tod seiner Schwester letztes Jahr jährte, hatte er die Nacht nicht bei Sarah verbracht, sondern stattdessen Aufnahmen im Tonstudio gemacht. Die anderen drei Mitglieder von Schoolboy Choir hatten ihm über die schweren Stunden hinweggeholfen, während Sarah allein im Haus umhergetigert war.
Sie hatte nicht geahnt, dass man in einer Ehe einsam sein konnte, bis sie Abe geheiratet hatte, den Mann, den sie mehr liebte als das Leben.
Mit brennenden Augen berührte sie die Tastatur des Flügels, ganz behutsam, um keine Fingerabdrücke auf der glänzenden Lackierung zu hinterlassen, während sie gleichzeitig nicht widerstehen konnte, dieses Schmuckstück anzufassen. Es war ein unbeschreiblich schönes Instrument, doch sie hatte nie seinen Klang gehört. Abe hatte nicht ein einziges Mal darauf gespielt, seit sie bei ihm eingezogen war.
Es kam ihr falsch vor, dass es zum Schweigen verdammt worden war.
Sie setzte sich auf den Klavierhocker und betrachtete die makellosen schwarzen und weißen Tasten. Als Kind hatte sie nicht die Chance gehabt, ein Instrument zu lernen, doch seit ihrer Hochzeit mit Abe bemühte sie sich sehr, sich das Klavierspiel anzueignen, um sich mit ihrem Mann über seine Leidenschaft austauschen zu können. Ihrem Lehrer zufolge war sie »nicht sehr begabt, aber hartnäckig«.
Für Sarah war das vollkommen in Ordnung – sie träumte nicht davon, eine großartige Musikerin zu werden.
Ihre Leidenschaft war Abe, die Musik nur ein Weg, ihm näherzukommen.
Aber auch eine nicht sehr begabte Person konnte in eineinhalb Jahren durch intensives Üben während zehn oder mehr Wochenstunden halbwegs schwierige Stücke lernen. Es half ihr, die Zeiten auszufüllen, in denen sie allein zu Hause war, abgesehen von der Haushälterin und dem Koch, der täglich kurzzeitig vorbeikam. In den Wochen, die Abe auf Tournee war, bat sie den Klavierlehrer, jeden Tag zu erscheinen. Und dann waren da noch all die Tage, an denen Abe Stücke aufnahm oder mit der Band neue Songs konzipierte.
Sarah hatte jede Menge freie Zeit zur Verfügung.
Ihre Augen auf die Tasten fixiert, hob sie die Hände und ließ sie sofort wieder sinken.
Dies war Tessies Flügel. Das wusste sie, ohne dass es ihr jemand gesagt hatte. Die Tatsache, dass er das ganze Jahr über abgedeckt war, nur nicht an Tessies Todestag, ließ keinen Raum für Zweifel. Zwar sprach Abe mit Sarah nie über seine wesentlich jüngere Schwester, aber überall im Haus hingen Fotos, die sie lachend und mit funkelnden Augen zeigten, ihre krausen schwarzen Haare zu entzückenden kleinen Rattenschwänzchen gebunden.
Tessie war eine späte Überraschung für ihre Eltern gewesen, sie kam zur Welt, als Abe dreizehn war. Doch anstatt den kleinen Eindringling abzulehnen, hatte er ihn vergöttert.
»Er war so ein guter großer Bruder«, hatte Diane Sarah eines Tages anvertraut, als sie vor einem Familienabendessen zusammen Kaffee getrunken hatten. »Er hat sie oft aus dem Internat angerufen, um ihr eine Gutenachtgeschichte zu erzählen, und sie während seiner Ferien zu ›Rendezvous‹ ausgeführt. Wann immer sie ihn bat, Klavier zu spielen, tat er ihr den Gefallen. Dann hat sie ihr Tutu angezogen und begeistert dazu getanzt.«
Sarah konnte sich nicht vorstellen, dass ein Mädchen, dem Musik solche Freude bereitete, gewollt hätte, dass dieser Flügel für immer stumm blieb.
»Für dich«, flüsterte sie und schlug die Tasten an.
Das Instrument war perfekt gestimmt.
Obwohl Abe nicht darauf spielte, hielt er es offenbar in einwandfreiem Zustand, stellte sie fest, als sie ein melancholisches Nocturne anstimmte. Ihr tat die Brust weh vor Mitgefühl mit ihrem wundervollen Mann, mit seinem gebrochenen Herzen und seiner vernarbten Seele. Wenn er doch nur –.
»Was zur Hölle fällt dir ein?«
Mit einem Missklang der Tasten hielt Sarah abrupt inne und stand so hastig auf, dass sie den Klavierhocker umstieß.
»Abe!« Ihr Puls raste, als sie ihren Mann anschaute, der keinen Meter entfernt drohend vor ihr aufragte. »Wo warst du? Hast du mich nicht rufen gehört?«
»Geh verflucht noch mal von dem Flügel weg!«
Nicht einmal während seiner schlimmsten Drogenphasen hatte er je in solch finsterem Zorn mit ihr gesprochen. Seine Augen glitzerten im Mondlicht, und sein schwarzes Hemd und die schwarze Jeans verstärkten noch die Aura von Gefahr, die ihren breitschultrigen Mann mit seiner Haut wie dunkles Mahagoni umgab.
»Es tut mir leid«, wisperte sie, bevor sie zur Seite trat und sich bückte, um den Hocker aufzurichten.
Er half ihr nicht, rührte keinen Muskel, sondern stand einfach nur da und starrte sie an, seine Augen kalt und hart in seinem markanten, attraktiven Gesicht.
Ihr Magen zog sich zusammen. »Ich dachte nur –«
»Ich habe dich nicht wegen deiner Denkfähigkeit geheiratet.«
Seine abfälligen Worte trafen sie wie ein Messer an ihrer verletzbarsten Stelle, dem geheimen Wissen, dass sie eine Schulabbrecherin aus einem Armeleuteviertel war, die vorgab, eine niveauvolle Frau zu sein und in dieses große Haus mit seinen glänzenden Böden und funkelnden Kronleuchtern im Norden von Santa Monica zu gehören.
Sarah blinzelte, um den sengenden Schmerz zu vertreiben. Sie wusste, dass Abe tiefen Kummer litt, darum würde sie sich das, was er gesagt hatte, nicht zu Herzen nehmen. Abgesehen davon kannte er ihre Vergangenheit nicht. Soweit er wusste, hatte sie denselben Ausbildungsgrad wie er und war in einer ganz normalen, langweiligen Vorstadt aufgewachsen, bevor ihre ebenso normalen Eltern gegen Ende von Sarahs Highschool-Zeit bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren.
Er konnte nicht ahnen, wie sehr seine im Zorn hervorgestoßenen Worte sie verletzten.
Sich an diesen Gedanken klammernd sagte sie: »Du solltest heute Nacht nicht allein sein.« Sie ging zu ihm und legte die Hand auf seinen muskulösen Unterarm, der in dem wenigen Licht noch eine Nuance dunkler schimmerte. »Warum sprechen wir nicht über Tessie?«, schlug sie in sanftem Ton vor. »Erzähl mir von den guten Erinnerungen, den schönen Zeiten, die du mit ihr verbracht hast. Ich würde gern mehr über sie erfahren.«
Abe schüttelte ihre Hand ab, trat aus der offenen Terrassentür und heftete den Blick auf die Landschaft. »Verschwinde.«
»Abe –«
Er drehte sich zu ihr um, seine Schultern verkrampft, seine Hände zu Fäusten geballt. »Du raffst es einfach nicht, oder, Sarah?« Er schob die Vorhänge zur Seite, damit keine Barriere zwischen ihnen war. »Du bist ein heißes Luder, das es geschafft hat, in mein Hirn und in meine Hose zu gelangen, als ich nicht bei Sinnen war. Ich habe dich geheiratet, weil du behauptet hast, du seist schwanger –«
Der Hohn in seiner Stimme zerbrach etwas in ihr. »Ich war schwanger!« Die Fehlgeburt hatte sie schier zugrunde gerichtet. Abe war damals so zärtlich gewesen und hatte sie gehalten, wenn sie weinte. Er war sogar eine ganze Woche zu Hause geblieben und hatte sie in seinen Armen schlafen lassen.
Fast hatte sie sich geliebt gefühlt.
Jetzt zuckte er auf eine Weise mit den Achseln, die besagte, dass er sie für eine intrigante Lügnerin hielt. »Der Punkt ist: Ich liebe dich nicht. Ich möchte dir nichts anvertrauen.« Harte, abgehackte Worte. »Dein Job ist es, weiterhin wie ein heißes Luder auszusehen und dich an meinen Arm zu hängen, wenn ich dich brauche. Ansonsten halt dich verflucht noch mal aus meinem Leben raus.«
Sarah kämpfte mit den Tränen, dabei rief sie sich ins Gedächtnis, dass Trauer und Wut aus ihm sprachen. »Das meinst du nicht so.«
»Herrgott, Sarah.« Er kam zu ihr, packte sie an den Oberarmen und hob sie beinahe vom Fußboden. »Wie viel klarer soll ich mich denn noch ausdrücken? Du bist ein Groupie wie zahllose andere, die ich gefickt habe. Nur hattest du das Glück, dass ich dumm genug war, dich ohne Kondom zu vögeln.«
Sie hatte sich so gebraucht gefühlt in jener Nacht, als Abe sie erstmals mit in sein Bett genommen hatte, so begehrt. Als er danach in ihren Armen eingeschlafen war, die Kummerfalten aus seinem Gesicht verschwunden, war sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben nützlich vorgekommen. »Es war mehr als das.« Sie würde ihm nicht erlauben, ihre Erinnerungen zu zerstören. »Wir haben die ganze Nacht zusammen verbracht.« Ihre Glieder miteinander verschlungen, ihre Herzen im Gleichtakt. »Wir haben eine Beziehung angefangen.«
Abe schob sein Gesicht dicht vor ihres. »Ich war high, und du warst verfügbar.«
Sarah zuckte zusammen, sie fühlte sich wie ein billiges Flittchen … wie ein Nichts.
Bevor sie antworten konnte, fügte er hinzu: »Wenn du dieses nette Leben, das du dir erschlichen hast, also weiterführen möchtest, bleib mir aus den Augen, bis ich nach dir rufe.« Er ließ sie los. »Du musst nur die Beine breit machen, wenn ich dich dazu auffordere, und für die Kameras lächeln, wann immer es nötig ist. Das ist unsere Beziehung.«
Sarah brach innerlich entzwei, spinnennetzartig breiteten sich Risse von ihrem Herzen aus und füllten jeden Winkel in ihr mit scharfen Splittern. Zitternd und unfähig, die Tränen länger zurückzuhalten, sah sie Abe in die Augen, konnte jedoch nicht erkennen, ob er nüchtern war oder nicht. »Du hast getrunken«, sagte sie mit brüchiger, flehentlicher Stimme.
»Klinge ich betrunken?«
Nein, das tat er nicht. Aber sein Körper war so sehr an Alkohol und Drogen gewöhnt, dass es oft schwerfiel, seinen Zustand einzuschätzen. Gut möglich, dass er zugedröhnt war. Daran versuchte sie sich festzuhalten … und konnte es nicht. Dazu hatte er zu hässliche Dinge gesagt.
Nie zuvor hatte er auf diese Weise mit ihr gesprochen.
Und da begriff sie.
Abe liebte sie nicht nur nicht. Er mochte sie nicht einmal.
Er brauchte sie definitiv nicht.
Sie war wertlos.
Wieder.
Sarah drehte sich auf dem Absatz um und stürmte aus dem Musikzimmer. Die Tränen nahmen ihr die Sicht, trotzdem schaffte sie es in ihr gemeinsames Schlafzimmer, wo sie einen kleinen Koffer hervorzog. Es war ein edles Louis-Vuitton-Modell. Dabei gefielen ihr weder die Farben noch das Design wirklich. Wäre sie ihrem eigenen Geschmack gefolgt, hätte sie einen wesentlich billigeren gekauft, einen der aussah, als wäre er überall mit Reisestickern beklebt. Aber dies hier war die Sorte, die Abes Mutter benutzte, und Sarah hatte sich an ihr orientiert, um sicherzustellen, dass sie keinen Fehler machte, der Abe in Verlegenheit bringen könnte.
Nachdem sie sich mit den Handrücken die heißen, nassen Tränen, die einfach nicht versiegen wollten, von den Wangen gewischt hatte, warf sie achtlos ein paar Kleidungsstücke in den Koffer. Schuhe, sie brauchte Schuhe. Sie trat in den begehbaren Kleiderschrank, den sie stundenlang immer wieder neu arrangiert hatte, weil sie einfach nicht fassen konnte, dass er ihr gehörte, fand ihre billigsten, ältesten Turnschuhe und schlüpfte hinein.
Sie rieb sich mit dem Unterarm übers Gesicht und trat vor das Regalfach, in dem ein Stapel Pullover lag, für den Fall, dass sie Abe irgendwo hinbegleiten sollte, wo es kühler war. Auf Tour nahm er sie so gut wie nie mit, jedoch war sie schon bei einigen Musik-Events an kälteren Orten gewesen – Anlässe, bei denen er wollte, dass seine Frau »an seinem Arm hing«.
Der Schmerz durchfuhr sie mit solcher Macht, dass sie sich mit zusammengebissenen Zähnen vornüberbeugte. Sobald er abgeklungen war, nahm sie, noch immer weinend, die Pullover heraus und verstaute sie sorgsam in einem anderen Fach. Nicht einmal jetzt brachte sie es über sich, die wunderschönen Kaschmir- und Seidenteile nachlässig zu behandeln. Versteckt hinter dem Stoß war eine kleine Box mit ihrem Geld für Notfälle.
Abe, dem es egal war, was sie kaufte, hatte ihr mehrere Kreditkarten ohne Limit gegeben, aber Sarah hatte ihnen nie ganz vertraut und deshalb nur Geld mit ihnen abgehoben. Falls es Abe oder seinen Buchhaltern aufgefallen war, hatten sie jedenfalls nichts gesagt. Sie hatte nie viel abgehoben. Hundert hier, ein paar hundert da. Genug, um für den Fall der Fälle gerüstet zu sein.
Für welchen genau, konnte sie selbst nicht sagen. Vielleicht für den hier.
Eine Frau, die wusste, dass sie nicht geliebt wurde, konnte sich nie ganz entspannen.
Sie holte die zweitausend Dollar, die sie in der Zeit ihrer Ehe angehäuft hatte, heraus und deponierte einen Teil davon in ihrem BH, einen anderen in ihren Schuhen und ein paar wenige Scheine in ihrer Handtasche. Sollte sie überfallen werden, würden die Diebe nicht alles bekommen. Die Karten nahm sie ebenfalls mit. Eine Frau, die keine Familie und auch sonst niemanden hatte, der ihr beistehen würde, konnte sich keinen Stolz leisten.
Und wenn ihr Ehemann, den sie anbetete, sie für eine Goldgräberin hielt, deren einziger Nutzen darin bestand, die Beine breit zu machen und als schmückendes Beiwerk zu dienen, konnte sie diesen Erwartungen ebenso gut gerecht werden.
Sie hielt den drohenden neuen Ansturm von Tränen mit aller Kraft zurück, während sie den Koffer die Treppe hinuntertrug und in den dunkelgrünen Jaguar warf, der draußen parkte. Es war nicht ihr Wagen, aber sie durfte ihn nach Belieben benutzen. Sie verdrängte die Erinnerung daran, wie Abe ihr Fahrstunden gegeben und nur lachend den Kopf geschüttelt hatte, als sie versehentlich rückwärts mit seinem SUV kollidiert war, dann checkte sie, ob sie ihre Handtasche dabei hatte, legte den Gang ein und fuhr los. Sobald sie eine Unterkunft gefunden hätte, würde sie den Jaguar an einem sicheren Platz abstellen und der Haushälterin Bescheid geben, damit einer von Abes Fahrern ihn abholen konnte.
Sarah mochte Abschaum aus einer Wohnwagensiedlung sein, aber sie war keine Diebin.
Ihre Lippen verzogen sich, als sie an die Kreditkarten dachte.
Abe hat sie mir gegeben, rief sie sich ins Gedächtnis. Ich habe jedes Recht, sie zu benutzen, ohne mich deswegen schuldig zu fühlen. Und das würde sie auch tun. Wenn sie schon sein Herz nicht erreichen konnte, würde sie ihn eben über seine Brieftasche treffen.
Heftige Schluchzer schüttelten sie. »Hör auf!«, befahl sie sich. »Es kümmert niemanden, ob du weinst.«
Und das hatte es auch nie.
Sarah fuhr ziellos umher, bis sie ein gutes, wenn auch nicht erstklassiges Hotel entdeckte. Sie parkte den Wagen und begab sich zur Rezeption. Die Mitarbeiter guckten misstrauisch, als sie sie bat, das Zimmer für eine Woche im Voraus abzubuchen, aber da es eine schwarze Kreditkarte war und der Name darauf dem in ihrem Ausweis entsprach, taten sie es. Selbst wenn Abe die Karten sperren ließe, hätte sie für eine Weile ein Dach über dem Kopf.
Sie rollte ihren Koffer gerade zum Aufzug, als sich die Türen öffneten und ein Mann in einem teuren Anzug heraustrat. Er hatte aristokratische Gesichtszüge, eine golden getönte Haut, blaue Augen und von feinen Silberfäden durchwobene dunkle Haare. Bei seinem Anblick fühlte sie sich augenblicklich klein und hässlich. Er verströmte Reichtum und Kultiviertheit aus jeder Pore.
Auf einmal runzelte er besorgt die Stirn. »Sie wirken ja ganz bekümmert. Was ist denn passiert?«
Sarah schüttelte wortlos den Kopf, seine unerwartete Freundlichkeit hatte ihr die Sprache geraubt.
»Ist ja gut. Na kommen Sie, ich bringe Sie und Ihr Gepäck zu Ihrem Zimmer.« Er nahm ihr den Koffer ab, anschließend half er ihr, die Tür zu öffnen, als sie sich mit der Magnetkarte abmühte.
Verspätet realisierte sie, dass sie so naiv gewesen war, blindlings einem Fremden zu vertrauen. Aber noch ehe sie in Panik geraten konnte, hatte er schon den Koffer drinnen abgestellt, die Schlüsselkarte auf die erstbeste ebene Oberfläche gelegt und war wieder in den Flur getreten.
»Dieses Hotel verfügt über Apartment-Etagen. Ich bewohne das Penthouse.« Er zog eine glänzende schwarze Visitenkarte aus seiner Jackentasche und reichte sie ihr. »Hier. Rufen Sie mich an, falls Sie irgendetwas brauchen.«
Sarah schloss die Finger darum. »Wieso sind Sie so nett?«, fragte sie heiser.
»Weil Sie eine wunderschöne Frau in Nöten sind und ich Ihr Ritter in schimmernder Rüstung sein möchte.« Sein entwaffnendes Lächeln brachte seine perfekten Hollywood-Zähne zum Vorschein. Sie bildeten einen hellen Kontrast zu seiner gebräunten Haut, die nicht künstlich wirkte, sondern so, als hätte sie genau die richtige Menge Sonne abbekommen. »Und weil ich hoffe, dass sich auch meiner Schwester jemand annehmen würde, sollte sie je in eine ähnliche Situation geraten.«
Wieder drohten die Tränen zu fließen, dieses Mal vor Erleichterung. Er war einfach nur ein freundlicher Mann und niemand, der wollte, dass sie »die Beine breit machte«. Abes grausame Worte taten noch immer unendlich weh, sie gaben ihr das Gefühl, beschmutzt und missbraucht worden zu sein. »Ich danke Ihnen.«
»Es ist mir ein Vergnügen.« Sein Lächeln verblasste. »Jetzt nehmen Sie ein heißes Bad und bestellen sich etwas beim Zimmerservice. Und vergessen Sie nicht, dass Sie mich jederzeit anrufen können.«
Sarah nickte und schloss die Tür.
Anschließend wartete sie, auch wenn es ihr nicht wirklich bewusst war. Denn falls Abe betrunken oder auf Drogen gewesen war, als er diese verletzenden Dinge gesagt hatte, würde Sarah ihm die Chance geben, sich mit ihr auszusöhnen. Sie würde ihm klipp und klar sagen, dass er ein für allemal clean werden musste, trotzdem würde sie versuchen, ihm die Wunden zu verzeihen, die er ihrem Herzen zugefügt hatte. Möglicherweise war es nicht die vernünftigste Entscheidung, aber Sarah liebte Abe zu sehr, um sich ohne einen Blick zurück von ihm abzuwenden.
Darum stellte sie sicher, dass ihr Handy stets aufgeladen und bei ihr war und sie sich nie an einem Ort aufhielt, wo es keinen Empfang hatte. Und sie wartete.
Aus Stunden wurden Tage, und schließlich zwei lange Wochen.
Die Karten funktionierten weiterhin, doch anstatt in dem Hotel zu bleiben, zog sie in ein gewöhnliches Apartmenthaus. Bedingt durch die preiswerte Miete waren ihre Nachbarn alles tüchtige Leute aus der Arbeiterschicht, die ihr zulächelten und ihr zum ersten Mal seit zwei Jahren das Gefühl gaben, normal zu sein. Hier konnte sie sich nicht blamieren, sondern einfach nur Sarah sein, die die Highschool nicht zu Ende gebracht hatte, dafür aber ebenfalls zu harter Arbeit imstande war und eine solche auch ausgeübt hatte, bis sie Abe begegnet war.
Und sie wartete weiter.
Am dreißigsten Tag, nachdem sie sein Haus verlassen hatte, akzeptierte sie endlich, dass Abe sie nicht anrufen, er sich nicht für seine schrecklichen, verletzenden Bemerkungen entschuldigen würde. Den Mann, den sie aus tiefster Seele liebte, kümmerte es nicht, dass sie ganz allein war in dieser riesengroßen Stadt, ihn interessierten weder ihre Tränen, noch ihr gebrochenes Herz oder die Tatsache, dass sie ihn so furchtbar vermisste, dass sie nicht atmen und nicht schlafen konnte.
Ich liebe dich nicht.
Dein Job ist es, weiterhin wie ein heißes Luder auszusehen und dich an meinen Arm zu hängen, wenn ich dich brauche. Ansonsten halt dich verflucht noch mal aus meinem Lebenraus.
Die Erinnerung an diese Worte ließ sie zusammenzucken. Sie holte die Kreditkarten heraus, die sie bisher nur für Essen und Unterkunft benutzt hatte, und wollte sich schon daranmachen, sie methodisch in Stücke zu schneiden, als sie plötzlich dachte: Scheiß auf ihn. Er hatte ihre Träume in Staub verwandelt, sie behandelt wie den letzten Dreck, darum verdiente er jeden Schmerz, den sie ihm zufügen konnte.
Sarah stand auf und wusch sich das Gesicht, dann zog sie ihr bestes Tageskleid und Ballerinas an. So gerüstet brach sie zur Einkaufstour ihres Lebens auf. Doch dabei ging sie nicht unüberlegt vor, dafür war sie zu lange arm gewesen. Sie erstand die Art von Kleidung, die eine Frau auf Jobsuche brauchte. Keine dünnen Fähnchen, wie die Frau eines Rockstars sie tragen würde, und auch keine Abendkleider, die sich für eine Musikpreisverleihung eigneten.
Sondern dezente Röcke und Hosen, schlicht geschnittene, jedoch qualitativ hochwertige Oberteile, die eine Weile halten würden, adrette Kleider und zu allem die passenden Schuhe.
Sarah kaufte ein Auto, weil sie in dieser gigantischen Metropole einen fahrbaren Untersatz brauchte. Sie entschied sich für einen liebesapfelroten MINI Cooper mit weißem Dach, der niedlich und schnell war und ihr außerdem viel mehr entsprach als der Jaguar, in dem sie sich immer wie eine Heuchlerin gefühlt hatte. Sie kaufte Schmuck, wenn auch nicht, weil sie ihn wollte, sondern als Rücklage, um ihn in einem Bankschließfach zu verwahren und falls nötig zu verkaufen.
Sie legte Lebensmittelvorräte an, die monate- oder sogar jahrelang nicht verderben würden.
Sie bezahlte jedem Obdachlosen, den sie sah, eine warme Mahlzeit, den jugendlichen sogar zwei.
Und sie hob so oft wie möglich Bargeld ab.
Am dritten Tag ihrer zielstrebigen Einkaufsorgie hörten die Karten auf zu funktionieren.
Bis dahin hatte sie so viel Geld ausgegeben, dass es Abe hoffentlich etwas schmerzen würde, gleichzeitig wusste sie, dass es nicht annähernd an den Schmerz heranreichte, den er ihr zugefügt hatte. Noch immer hörte sie unablässig die Worte, die er ihr entgegengeschleudert hatte, fühlte sie die unerträgliche Qual, die mit jedem verbalen Schlag einhergegangen war. Sie wollte ihn zerschmettern, wie er sie zerschmettert hatte, nur wusste sie nicht, wo sie die entsprechende Waffe auftreiben sollte, damit er sich so elend fühlte wie sie.
In diesem Moment fiel ihr Blick auf die glänzende schwarze Visitenkarte des Mannes, der ihr in jener Horrornacht und auch danach noch mit solcher Freundlichkeit begegnet war. In den zwei Wochen, die sie im Hotel gewohnt hatte, hatte er ihr Essen aufs Zimmer liefern lassen, darunter auch eine Schale Erdbeeren mit Sahne, zusammen mit einer handgeschriebenen Karte, auf der stand, er hoffe, die Früchte mögen ihr den Tag versüßen.
Er hatte sie täglich angerufen, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen, und bei ihrem Umzug in das Apartment darauf bestanden, sie persönlich hinzufahren. Seither hielt er Kontakt, indem er sich einmal pro Woche bei ihr meldete. Und obwohl sein Blick bewundernd war, wenn er sie ansah, verhielt er sich ausnahmslos wie ein perfekter Gentleman.
Bei ihm fühlte sie sich wie eine Frau, die Respekt verdiente. Nicht wie eine billige, geldgierige Hure.
Sie griff zum Telefon und wählte seine Nummer. »Hallo, Jeremy«, sagte sie. »Können Sie mir einen guten Scheidungsanwalt empfehlen? Ich meine einen wirklich erstklassigen?«
Es entstand eine kurze Pause, bevor Jeremy Vance entgegnete: »Ich kenne einen Mann, den man liebevoll als den ›Rottweiler‹ bezeichnet. Würde das genügen?«
Sarah spannte den Bauch an, legte einen harten Panzer um ihr Herz. »Ja.«
»Wenn Sie möchten, kontaktiere ich ihn für Sie und vereinbare einen Termin. Wir sind Freunde, daher werden Sie auf diese Weise eher einen bekommen, als wenn Sie selbst anrufen.«
»Vielen Dank. Das weiß ich zu schätzen.« Sarah zwang sich zu atmen.
Abe würde keine Tränen mehr von ihr bekommen.
»Für Sie tue ich alles, Sarah.« Jeremys Tonfall war warm. »Möchten Sie, dass ich Sie bei Ihrem ersten Termin begleite? Sie sind noch immer angeschlagen, das weiß ich.«
Sarah war drauf und dran, Ja zu sagen, tat es dann aber doch nicht. Sie fühlte sich so ängstlich und allein, aber das war sie auch schon früher gewesen, trotzdem hatte sie überlebt. Jeremy war nett, doch das war Abe auch mal gewesen. Die einzige Person, auf die sie sich verlassen konnte, war sie selbst.
So wie immer.
Jeder Atemzug tat weh.
»Nein«, antwortete sie. »Vielen Dank, aber ich mach das allein.« Und sie würde dafür sorgen, dass Abraham Bellamy den Tag, an dem er sich mit einem Mädchen namens Sarah Smith eingelassen hatte, bitterlich bereute.
Ein Mädchen, das sich einst das Herz herausgeschnitten und ihm zu Füßen gelegt hätte, hätte er sie darum gebeten.
Sarah saß im Wintergarten des zauberhaften zweistöckigen Hauses, das sie mit einem Teil ihrer Abfindung aus der Scheidungsvereinbarung gekauft hatte. Sie hatte die Knie an die Brust gezogen und mit einer Grobstrickstola bedeckt, die sie in einem Secondhand-Laden erstanden hatte. Mit einem Becher Kaffee zwischen den Händen betrachtete sie die Gänseblümchen, die hinter den Scheiben heiter mit den Köpfen nickten.
Es hatte sie unbeschreiblich glücklich gemacht, dieses Haus mit seiner stylischen Optik, dem gepflegten Garten und dem zierlichen Metallzaun zu kaufen. Es befand sich in einer sicheren, familienfreundlichen Wohngegend und gab durch nichts zu erkennen, dass die Frau, der es gehörte, einen de-facto-Stiefvater hatte, der im Gefängnis saß, weil er ihre Mutter ermordet hatte.
Nein, die Frau, die hier lebte, besaß Wert.
Mit einem verkniffenen Lächeln erinnerte sie sich an die trotzigen Gedanken, die ihr durch den Kopf gegangen waren, als sie vor etwas mehr als zwei Jahren hier eingezogen war, einen Monat nach ihrer Scheidung von Abe. Damals hatte sie keinen Wert besessen. Nicht in der Form, wie sie es sich gewünscht hätte. Sie hatte dieses Haus mit Abes Geld gekauft, es mit Abes Geld eingerichtet. Ihr Rottweiler von einem Anwalt hatte sich sein Honorar mehr als verdient, doch am Ende war ihr nur noch zum Heulen zumute gewesen. Weil sie diese Scheidung nie gewollt hatte. Sie hatte sich gewünscht, dass Abe um sie kämpfte.
Er hatte gegen ihre Forderungen gekämpft, aber niemals um sie.
Jetzt hatte sie dieses Haus und diesen Garten und ihr gebrochenes Herz, das nie mehr ganz heil geworden war. Und wieder war sie allein. Sie strich mit den Fingern über ihre Wange, spürte noch immer die Prellung, die sich vor zwei Wochen blau verfärbt hatte. »Ich hätte Jeremy niemals zugetraut, dass er mich einmal so behandeln würde«, sagte sie zu Flossie. »Er war früher so liebenswürdig und beschützend. Zwar konnte er nie mein Herz entflammen, trotzdem war er anfangs ein guter Mann.«
Sarahs schokoladenbraune Promenadenmischung, deren überraschend seidige Ohren sie so gern streichelte, schaute sie aus kummervollen Augen an, die etwas dunkler waren als ihr struppiges Fell.
»Nein«, sagte sie, als würde sie dem Hund widersprechen. »Ich habe ihn nicht deshalb von meinen Vermögenswerten ferngehalten, weil ich ihm nicht vertraute. Diese Lektion habe ich im Zuge der Scheidung gelernt.« Im Anschluss an den Rottweiler hatte sie einen anderen Anwalt engagiert, der das Geld aus ihrer Übereinkunft mit Abe so anlegte, dass niemand außer ihr herankam. Dazu hatte sie keines Rates bedurft – sie mochte keinen Highschool-Abschluss haben, aber sie war in einem Umfeld aufgewachsen, in dem das bisschen, was ihre Mutter verdiente, von deren Liebhaber eingesackt worden war.
Obwohl Jeremy immer wohlhabend gewesen war, hatte sie nie auch nur in Betracht gezogen, sich von ihm bei der Verwaltung ihrer Finanzen helfen zu lassen. Er hatte es ihr nach der Scheidung angeboten, ihr Nein jedoch gleichmütig hingenommen. Ohne Druck auszuüben oder spitze Bemerkungen zu machen. »Er war ein guter Mann«, bekräftigte sie. »Aber er hat sich verändert, als ich es tat.« Das Herz wurde ihr schwer. »Wäre ich die Alte geblieben, hätten wir es vielleicht geschafft.«
Jeremy Vance hatte einen verwundeten Vogel gerettet und erwartet, dass er verwundet bliebe.
Aber natürlich war Sarah nicht bereit gewesen, im Stillstand zu verharren.
Sie war von Tag zu Tag stärker und unabhängiger geworden, hatte sich zur Geschäftsfrau gemausert. Zunächst hatte Jeremy ihren Erfolgen Beifall gezollt. Erst später war ihr klar geworden, dass er keine Partnerin wollte, die auf eigenen Füßen stand. Er wollte die Sarah zurück, die sie einmal gewesen war: ein verlorenes Mädchen auf der Suche nach Hilfe.
Sie hätte sich sofort von ihm trennen müssen, als sie das erkannt hatte. Mit ein Grund, warum sie geblieben war, war das Baby gewesen.
Ihre Hände krampften sich um den Kaffeebecher.
In ihrem Kopf flammte die Erinnerung daran auf, wie sie eine Woche, nachdem sie die Scheidung eingereicht hatte, Lebensmittel einkaufen gegangen war und auf der Titelseite einer großen Boulevardzeitung Abes Gesicht entdeckt hatte. Er war in der Nacht zuvor feiern gewesen, und halbnackte Groupies hingen wie die Kletten an ihm, ihre Hände besitzergreifend auf seiner Brust, ihre Blicke triumphierend.
Sarahs gebrochenes Herz war ein weiteres Mal in Stücke zerborsten. Denn selbst da noch – in den erbitterten Anfangsstadien der Scheidung, als Abe sich geweigert hatte, auch nur die Papiere zu unterzeichnen – hatte sie Hoffnung gehegt. Sie hatte ihn so sehr geliebt, aber die Fotos ließen keinen Zweifel daran, dass er sie entsorgt hatte wie Müll und bereits zu neuen Ufern aufgebrochen war. Er wollte die Dokumente nur deshalb nicht unterschreiben, weil er wütend war wegen der Abfindung, die ihr Anwalt forderte.
Jeremy hatte parat gestanden, um die Einzelteile ihres Ichs aufzufangen.
Er war an jenem Abend vorbeigekommen und hatte ihr Blumen mitgebracht, um sie aufzumuntern. Ein spontaner Besuch, hatte er behauptet, und ihr war nicht einmal in den Sinn gekommen, genauer nachzufragen oder sich zu wundern, wieso er gerade an dem Tag bei ihr auftauchte, an dem die Partyfotos von Abe in der Klatschpresse erschienen waren. Andererseits war er bis dahin ausnahmslos freundlich zu ihr gewesen – gut möglich, dass er in der aufrichtigen Absicht zu ihr gekommen war, ihr dabei zu helfen, mit der hässlichen Situation fertig zu werden.
Sie hatte völlig neben sich gestanden, war emotional so betäubt gewesen, dass sie ihn nicht abgewehrt hatte, als er – wie schon so oft – versucht hatte, sie zu küssen. Danach hatte er auf mehr gedrängt, und obwohl ihr bewusst gewesen war, dass sie ihn stoppen sollte, war es ihr in ihrer Benommenheit leichter gefallen, es einfach geschehen zu lassen, es hinter sich zu bringen und sich anschließend zusammenzurollen und den Schmerz abzuschütteln.
Sie war eine zerfetzte Lumpenpuppe gewesen, ohne Herzschlag.
Nur war Jeremy danach nicht gegangen. Nein, er war geblieben und hatte ihr geradeheraus gesagt, dass er eine Beziehung wollte. Mit jeder seiner Handlungen hatte er ihr das Gefühl eingeflößt, wichtig zu sein, begehrt und sogar ein wenig geliebt zu werden. Als er sie schon nach relativ kurzer Zeit gefragt hatte, ob sie sich ein Kind mit ihm vorstellen könne, war sie schockiert gewesen. Dann hatte er ihr erklärt, dass er sie vergöttere, dass er nicht jünger werde und nicht zu alt sein wolle, um mit seinem Kind zu spielen … und Sarah hatte daran gedacht, wie sehr sie das Baby, das sie verloren hatte, geliebt hatte.
Das Baby, von dem Abe behauptete, es habe nie existiert.
Rückblickend wusste sie, dass sie emotional noch immer in einem desaströsen Zustand und keineswegs in der Verfassung gewesen war, derart lebensverändernde Entscheidungen zu treffen. Jeremy musste das ebenso erkannt haben, er hatte ihren Schmerz ausgenutzt, um sie an sich zu binden. Heute sah sie das glasklar, aber damals hatte sie nur daran denken können, dass ihr gemeinsames Kind von seinem Vater gewollt wäre. Darum hatte sie zugestimmt. Und Jeremy hatte sie nicht im Stich gelassen. Er hatte ihr zur Seite gestanden und direkt, nachdem sie ihm gesagt hatte, dass sie schwanger sei, ihre zukünftigen Nachkommen sogar in sein Testament aufgenommen, damit sie im Fall, dass ihm etwas zustieße, trotzdem die Unterstützung ihres Vaters hätten.
Sarah hatte Jeremy nicht geliebt, doch in diesem Moment war ihr klar geworden, dass sie alles dafür tun würde, damit ihre Beziehung funktionierte. Dieser Mann ist ein guter Mensch, hatte sie gedacht. Ihr Kind würde einen Vater und eine Mutter und einen Background haben, auf den es stolz sein konnte. Es würde kein vergessenes Stück Treibgut sein, das von anderen zertrampelt und zerbrochen und weggeworfen werden konnte.
Der Schmerz riss sie schier in Stücke.
Denn ihr kostbares Baby war tot, begraben an einer friedvollen Stelle unter den Flügeln eines Schutzengels. Ihr Sohn war wunderschön gewesen, so perfekt mit seinen winzigen Zehen und Fingern und so entsetzlich still. Kein Schrei, kein Atemzug, seine hellbraune Haut fahl. Wie schon bei ihrem und Abes Kind war ihr Uterus nicht fähig gewesen, ihn auszutragen.
Ihre Hand begann zu zittern, darum stellte sie den Kaffeebecher weg und vergrub die Finger in Flossies Fell, als der Hund sie winselnd mit der Schnauze anstupste. »Ich weiß, Flossie«, sagte sie, überrollt von einer Welle herzzerreißenden Kummers. »Ich sollte Lola anrufen.« Ihre beste Freundin würde es ihr nicht danken, dass sie versuchte, ausgerechnet diesen Tag allein durchzustehen, aber Sarah war sich wohl bewusst, dass Lola momentan selbst genügend um die Ohren hatte.
Ihre Freundin, eine ehemals alleinerziehende Teenager-Mutter, aus der eine erfolgreiche Unternehmerin geworden war – wobei sie ihrem Sohn, der heute aufs College ging, noch immer eine fürsorgliche Mutter war –, lebte normalerweise in Los Angeles. Doch vor sechs Wochen hatte ihr Vater einen schweren Sturz erlitten, darum war sie nach Houston geflogen, um ihrer Mutter beizustehen. Sie und Sarah telefonierten mindestens zweimal wöchentlich, und abgesehen von denen, die in jener Nacht dabei gewesen waren, war Lola die Einzige, die wusste, dass Jeremy Sarah geschlagen hatte.
Sie hatte empfohlen, dass sie »die Eier dieses Bastards frittieren und ihm zu fressen geben« sollten.
Lola konnte ein wenig angsteinflößend sein, wenn Menschen, die sie liebte, verletzt wurden.
Trotz des Schmerzes, der sich in ihrer Seele eingenistet hatte, musste Sarah unwillkürlich lächeln, als sie Lola anrief. Nicht nur, um Trost bei ihr zu suchen, sondern auch, um sich nach ihr zu erkundigen. Wie sich herausstellte, hatte auch ihre Freundin einen Plausch dringend nötig. »Ich liebe meine Eltern«, sagte sie gegen Ende des Gesprächs. »Trotzdem kann ich es kaum erwarten, dich wiederzusehen. Hoffentlich dauert es nicht mehr allzu lange. Dads Zustand bessert sich rapide.«
»Solltest du doch noch eine Weile in Houston bleiben müssen, steige ich in den Flieger und besuche dich.«
»Du hast keine Ahnung, wie viel mir das bedeutet, Schätzchen. Und sei heute nett zu dir selbst, okay?«, sagte sie, bevor sie auflegte, um ihren Vater zu einem Arzttermin zu fahren.
In dem sanften Befehl schwang so viel Liebe mit, dass es Sarah die Kehle zuschnürte und sie nur mit einem wortlosen Laut antworten konnte.
Als wenige Sekunden, nachdem sie das Telefonat beendet hatten, die Türklingel ging, fuhr sie erschrocken zusammen. Eigentlich sollte niemand das Tor passieren können. Offenbar hatte sie vergessen, es zu schließen. Das hätte sie beunruhigen müssen, stattdessen beunruhigte sie die Tatsache, dass es das nicht tat.
Flossie kläffte, als es wieder schellte.
Sarah ignorierte es, weil sie niemanden sehen wollte und falls es Jeremy wäre, sie in Versuchung geraten könnte, ihm das Knie in die Weichteile zu rammen. Sie griff nach ihrem Becher, trank einen Schluck und stellte ihn wieder weg. Allmählich sollte sie aus diesem Sessel aufstehen und damit anfangen, die anstehenden Aufgaben zu erledigen. So durfte das nicht weitergehen, sie konnte nicht jeden Monat den Vierzehnten aus ihrem Kalender streichen, nur weil sie an dem Tag ein seelisches Wrack war, das keine Gesellschaft ertrug.
Noch wirkte es sich nicht negativ auf ihr Geschäft aus, doch das würde es, so sie nicht einen Weg fand, damit klarzukommen.
Denn Sarah war inzwischen kein Niemand mehr. Sie war die Chefin eines kleinen, aber florierenden Unternehmens, mit Angestellten, die sich auf sie ebenso verließen wie ihre Kunden.
Etwas blitzte am Rande ihres Blickfelds auf.
Mit einem leisen Aufschrei fuhr sie aus ihrem Sessel hoch … und starrte den großen, muskulösen Mann hinter der Scheibe des Wintergartens an. Abe hob eine Hand und sagte etwas, was durch das Glas nicht zu vernehmen war. Sein Augenbrauen-Piercing funkelte in der Mittagssonne, das Metall ein kühler Kontrast zum warmen Dunkelbraun seiner Haut. Dieses Piercing und Abes kahl rasierter Kopf lenkten alle Aufmerksamkeit auf seine schroffen und zugleich anziehenden Gesichtszüge. Sarah fühlte, wie ihr die Röte in die Wangen schoss und ihr Herz zu galoppieren begann. Sie hatte ihn seit jenem furchtbaren Abend auf dem Zenith-Musikfestival vor vierzehn Tagen, als Jeremy sie geschlagen hatte, nicht mehr gesehen.
Der Angriff war erfolgt, nachdem sie Jeremy verkündet hatte, dass es Aus sei zwischen ihnen. Sie hatte es schon seit einer Weile gewusst und war nur noch aus Loyalität bei ihm geblieben, die sie ihm zu schulden glaubte, weil er bei ihrer ersten Begegnung so freundlich zu ihr gewesen war. In Wahrheit hatten sie sich seit Monaten kaum noch berührt. Und bis zu jener Nacht hatte rein gar nichts an Jeremys Verhalten den Verdacht nahegelegt, dass er ihr gegenüber gewalttätig werden könnte. Andernfalls hätte sie niemals mit ihm Schluss gemacht, während sie allein mit ihm in der Dunkelheit war.
Auf der anderen Seite der Glasscheibe deutete Abe zur Hintertür.
Mit wild pochendem Herzen schüttelte Sarah den Kopf.
Abe war derjenige gewesen, der Jeremy von ihr weggezerrt hatte. Sie hatte nicht einmal geahnt, dass er in der Nähe war, bis er Jeremy unter lautem Wutgebrüll gepackt und gegen einen der enorm großen Tourbusse geschmettert hatte, in denen die Band während des Open-Air-Festivals wohnte. Sie und Abe hatten früher an fraglichem Abend auch miteinander gesprochen, als er während der Party, mit der sie ihren Auftritt an jenem Tag feierten, auf sie zugekommen war.
Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er sie entdecken würde, aber noch weniger war sie auf seine Worte gefasst gewesen: Es tut mir so leid, Sarah. Ich hätte das schon vor langer Zeit sagen sollen. Es gibt keine Rechtfertigung dafür, dass ich nicht erkannt habe, was für ein Arschloch ich war.
Das hätte sie ertragen können, denn wie er selbst eingeräumt hatte, kam die Entschuldigung viel zu spät. Sie hatte nicht die Macht, durch ihre Abwehrschilde zu dringen. Dann fügte er hinzu: Du bist noch immer die schönste Frau, die ich je gesehen habe.
In Anbetracht der Tatsache, dass Abe sie gerade im Gespräch mit der Oscar-nominierten Schauspielerin Kathleen Devigny gesehen hatte, die selbst in lässiger Aufmachung unvergleichlich schön war, trafen die Worte sie wie ein Pfeil ins Herz. Der zynische Teil von ihr hätte ihn beschuldigen können, den Charmebolzen herauszukehren, aber Abe war noch nie charmant gewesen. Er war einfach nur er selbst. Schonungslos aufrichtig und über alle Maßen talentiert.
Und wie sie in jener Nacht realisierte, besaß er immer noch die Macht, ihr wehzutun.
Jetzt gerade verschränkte er hinter dem Glas die Arme vor der Brust und spreizte die Beine auf dem weichen Gras, das sie das ganze Jahr über hegte und pflegte und um das sie trauerte, wenn der Wasserverbrauch eingeschränkt werden musste. Mit trotzig vorgeschobenem Kinn hielt er ihren Blick mit seinen dunkelbraunen Augen fest.
Er würde nicht gehen.
Sarah zog die Brauen zusammen, als Jahre unterdrückten Zorns die Oberhand über ihren Kummer gewannen, dann zeigte sie ihm den Mittelfinger und formte mit den Lippen »Leck mich«, bevor sie sich auf dem Absatz umdrehte und aus dem Wintergarten stolzierte.
Zehn Minuten später brauste sie aus ihrer Garage, während Abe auf dem Rasen stand und wartete.
Sarah hatte ihm den Stinkefinger gezeigt.
Abe schüttelte den Kopf, er konnte es noch immer nicht ganz fassen, obwohl es schon mehrere Stunden her war. Seine Frau … seine Exfrau, rief er sich in Erinnerung, ließ sich nicht zu öffentlichen Zärtlichkeitsbekundungen, nicht zu Flüchen und schon gar nicht zu vulgären Gesten hinreißen. In all der Zeit, die er Sarah kannte, war sie immer elegant, damenhaft und beherrscht gewesen.
Selbst wenn sie ihn davon hatte überzeugen wollen, den Drogen zu entsagen, oder wegen seines Verhaltens so frustriert gewesen war, dass ihr die Tränen kamen, hatte sie nicht ein einziges Mal ein Schimpfwort benutzt. In seinen schlimmsten Momenten hatte er sie dazu zu treiben versucht, trotzdem war sie niemals ausgerastet und hatte ihm gesagt, er solle sich verpissen, oder ihn einen verdammten Mistkerl genannt.
Wenn er mit ihr im Bett gewesen war und sich in ihr verloren hatte, hatte er dazu geneigt, höchst schmutzige Dinge zu ihr zu sagen. Sarah hatte ihm nie befohlen, das zu unterlassen, tatsächlich hatte es ihre Begierde weiter angefacht, doch wann immer er sie aufgefordert hatte, es ihm nachzutun, hatte sie errötend geschwiegen.
Er hatte das immer niedlich gefunden und darin eine Herausforderung gesehen. Eines Tages, hatte er sich vorgenommen, würde er seine Frau dazu bringen, ihm verruchte Worte zuzuflüstern.
Sein Lächeln erstarb.
Seine Finger glitten über die Klaviertasten, während er sich auf eine Melodie konzentrierte, die ihm seit Stunden im Hinterkopf herumschwirrte. Er wusste nicht, wo er sie gehört hatte, aber sie würde nicht aufhören, ihn zu nerven, solange er sie nicht spielte. Also tat er es, dabei dachte er wieder zurück an die Nacht, in der er sein Leben mit Sarah ruiniert hatte. Sie hatte nichts weiter getan, als ihn zu lieben, und er hatte sich nach Kräften bemüht, ihr Verletzungen beizubringen, die nie mehr heilen würden.
»Du warst ein gottverfluchter Wichser, Abe«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, und die Melodie schwoll unter seinen Fingern zu einem harten und wütenden Crescendo an.
Dass er einen Cocktail aus Drogen intus gehabt hatte, an die sein Körper derart gewöhnt war, dass man ihm nach außen hin kaum etwas anmerkte, zählte nicht. Er hatte alles verbockt, und das noch Tage und Wochen, nachdem Sarah gegangen war. Aus irgendeinem idiotischen, seinem benebelten Hirn geschuldeten Grund war er zornig auf sie gewesen, weil sie ihn verlassen hatte, obwohl er alles darangesetzt hatte, sie zu vertreiben. Jeden Morgen beim Aufwachen hatte er erwartet, dass Sarah wieder neben ihm liegen würde, und weil sie nicht da war, hatte ihn erneut die Wut gepackt und er sich abermals dem Alkohol und den Drogen ergeben.
David, Fox und Noah hätten ihn wieder zu Verstand geprügelt, hätten sie gewusst, dass er in den Abgrund gestürzt war, aber alle drei waren nicht in der Stadt gewesen. Infolgedessen hatte Abe die Freiheit gehabt zu versuchen, seine Dämonen mit Betäubungsmitteln zu bekämpfen. In seinen wenigen klaren Momenten war er froh gewesen, dass Sarah nicht da war und somit nicht sehen konnte, was aus ihm geworden war. Er hatte nie gewollt, dass sie ihn so erlebte.
Es war Noah gewesen, der den Braten schließlich gerochen hatte. Einige Tage, nachdem alle drei wieder zu Hause waren, hatte er ihre Lieblingsbar aufgesucht und Abe beim Feiern mit einem Dutzend Groupies vorgefunden, der Glastisch vor der Couch, auf der Abe saß, mit weißem Puder bestäubt. Noah hatte erkannt, dass Abe in zu angriffslustiger Stimmung war, um ihn zum Heimgehen zu bewegen.
Darum hatte der Gitarrist die Zähne zusammengebissen und ihn einfach nur im Auge behalten.
Später hatte Noah ihm erzählt, dass er immer wieder gebrüllt habe: »Sie hat mir die verfluchten Scheidungspapiere geschickt!« So als wäre er das Opfer. Irgendwann in jener Nacht hatten die Drogen und der Alkohol schließlich ihren Tribut gefordert. Abe hatte das Bewusstsein verloren und am nächsten Morgen festgestellt, dass seine drei besten Freunde ihn in eine Entzugsklink eingeliefert hatten.
Acht Wochen später war er entlassen worden. Clean und so zornig wie eh und je. Auf das Schicksal. Auf Gott. Auf Sarah. Sie hatte ihn verlassen und wollte die Scheidung. Nicht einmal da hatte er realisiert, dass er sie auf Knien um Entschuldigung anflehen sollte, für das, was er getan, die Art, wie er sie von sich gestoßen hatte.
Stattdessen hatte er sich wieder in seinen Zorn geflüchtet, diese Emotion, die es leichter machte, keinen Schmerz zu empfinden, keine Panik, nicht dieses überwältigende Gefühl von Verlust, das ihn traumatisiert hätte, hätte er auch nur für eine Sekunde innegehalten und darüber nachgedacht, was die Scheidungspapiere tatsächlich bedeuteten. Wut war ein großartiger Schutzschild. Fuchsteufelswild war er zu seiner Frau gefahren, um sie daran zu erinnern, dass sie ein Gelübde abgelegt hatte, das zu vergessen er ihr nicht erlauben würde, aber er war Monate zu spät gekommen.
Voll Rachsucht waren seine Dämonen erwacht, als er vor dem Haus gehalten und gesehen hatte, wie Jeremy Vance Sarah auf der Türschwelle ihrer Wohnung küsste.
Während der Scheidungsschlacht war er so gut wie nie nüchtern gewesen.
Inzwischen war er stocknüchtern. Doch obwohl er seinen Entzug dieses Mal eisern durchhielt, hatte er bis zum Zenith-Festival eines niemals getan: Sich bei Sarah entschuldigt. Nicht weil er fand, dass sie es nicht verdiente. Sondern weil er nicht den Mut aufgebracht hatte, ihr gegenüberzutreten. Sarahs Meinung über ihn bedeutete ihm alles – und die hatte er rettungslos versaut.
Es hätte ihn umgebracht, Abscheu oder Hass in ihren Augen zu sehen.
Außerdem hatte er geglaubt, sie sei glücklich mit Vance, und er war sich schmerzlich bewusst gewesen, dass er nicht das Recht hatte, ihr dabei dazwischenzufunken. Dieses Recht hatte er selbst aufgegeben. Die Tatsache, dass er sie Tag für Tag vermisste, änderte daran nichts.
Doch als er auf dem Festival bemerkt hatte, dass Sarah nur wenige Meter von ihm entfernt stand, hätte er nicht auf Abstand bleiben können, selbst wenn sein Leben davon abgehangen hätte. Er hatte Mühe gehabt zu atmen, bis ihre Blicke sich kreuzten … und er keinen Hass in ihren Augen sah, sondern nur eine argwöhnische Wachsamkeit, die noch viel schlimmer war.
Die Entschuldigung, die er ihr an jenem Abend angeboten hatte, reichte nicht annähernd, um auch nur ansatzweise sein entsetzlich schäbiges Verhalten ihr gegenüber wiedergutzumachen. Ein Teil von ihm sagte, dass es selbstsüchtig war, sich zurück in ihr Leben zu drängen, wenn auch nur, um sie tausendmal um Vergebung zu bitten.
Ein anderer Teil fand, sie hätte Anspruch darauf, gnadenlose Forderungen an ihn zu stellen.
Er schob den Klavierhocker zurück, stand auf und schnappte sich seine Schlüssel. Sarah würde nicht damit rechnen, dass er sich schon so bald, nachdem sie ihm den Mittelfinger gezeigt hatte, wieder blicken lassen würde – und er wusste, wo er sie sehr wahrscheinlich finden würde, falls sie nicht daheim war.
Er fuhr zuerst bei ihrem gepflegten kleinen Haus vorbei; das Tor war zugesperrt, die Fenster alle geschlossen, und kein Mensch reagierte, als er lange auf den Klingelknopf am Tor drückte – dafür ertönte im umzäunten Hintergarten Hundegebell. Bei seinem vorherigen Besuch hatte er sich übers Tor geschwungen, aber da er wesentlich größer und kräftiger war als dieser Drecksack, der Sarah auf dem Zenith-Festival geschlagen hatte, stand nicht zu befürchten, dass Jeremy Vance das ebenfalls versuchen würde. Trotzdem würde er sie ausdrücklich auf diese potenzielle Sicherheitslücke hinweisen.
Vorausgesetzt, sie rammte ihm nicht die Faust ins Gesicht, sobald sie ihn sah.
Er stieg wieder in den schwarzen SUV, der das einzige Fahrzeug war, in dem er sich wirklich wohlfühlte, und steuerte zum Los Angeles County Arboretum. Ohne Sarah hätte er nicht einmal gewusst, dass dieser Ort existierte, dabei lebte er schon viel länger in L. A. als sie. Eines Tages, kurz nach ihrer Hochzeit, war sie ohne Vorwarnung verschwunden. Als er sie angerufen hatte, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war, hatte sie ihm erzählt, dass sie unweit der Stadt den »allerbezauberndsten Garten« entdeckt habe.
Abe hatte sie in den guten Zeiten dorthin begleitet, um nicht nur die friedvolle Landschaft zu genießen, sondern mehr noch die sprudelnde Freude seiner Frau, wenn sie ihr Wissen über die Blumen mit ihm teilte. Seine gebildete Sexbombe, die die Leute an der Nase herumführte, indem sie sie denken ließ, sie sei ein hirnloses Partygirl. Abe hatte immer gewusst, dass das nicht stimmte und Sarah neben ihrem hinreißenden Körper auch einen messerscharfen Verstand besaß.
Er hatte angenommen, dass sie weiterstudieren und sich den einen oder anderen Titel holen würde, sobald sie sich in ihrem neuen Leben eingerichtet hätten. Die Intelligenz seiner Frau hatte ihn mit tiefem Stolz erfüllt. Das Einzige, was er nicht einkalkuliert hatte, war sein unterbelichtetes Verhalten. Wie zum Teufel sollte Sarah studieren, wenn er die meiste Zeit zugedröhnt war?
»Tritt dich dafür später in den Allerwertesten, Abe«, sagte er. »Heute wirst du auf die Knie fallen und dich bei ihr entschuldigen.«
Wegen des zähen Verkehrs in L. A. brauchte er fast eine Stunde bis zum Arboretum, wo er feststellte, dass der Parkplatz relativ leer war, nicht nur, weil der Garten in dreißig Minuten schließen würde, sondern auch, weil es ein Wochentag war. Nachdem er neben einem kleinen roten MINI Cooper geparkt hatte, zahlte er die Einlassgebühr und ging auf direktem Weg zu Sarahs Lieblingsplatz, einer Holzbank mit Blick auf den Baldwin Lake und das anmutige Queen Anne Cottage auf der gegenüberliegenden Seite.
Und da stand sie, am Ufer des Sees, ihre Augen versonnen auf die spiegelglatte Wasseroberfläche gerichtet. Wunderschön reichte nicht annähernd, um sie zu beschreiben, war ein zu profanes Wort für sie. Sie war Sarah.
Einzigartig und atemberaubend.
Ihre afroamerikanischen, puerto-ricanischen und japanischen Vorfahren hatten auf unterschiedliche Weise ihre Spuren bei ihr hinterlassen – in ihrer herrlichen dunkelbraunen Haut, die im Licht der späten Nachmittagssonne schimmerte, ihren dicht bewimperten braunen Augen, denen etwas Katzengleiches anhaftete, den prägnanten Wangenknochen und ihrer dichten schwarzen Lockenmähne.
Er hatte ihre Haare immer geliebt, auch wenn Sarah meist darauf bestand, sie zu glätten.
Heute jedoch wogten sie ungebärdig um ihren Kopf und ihre Schultern, während das Sonnenlicht rötliche Schimmer in all dieser Pracht auffing.
Abe grub die Finger in die Handflächen, seine Haut kribbelte vor Verlangen, sie zu berühren.
In diesem Augenblick bemerkte sie ihn. Es war, als würde ihre Wirbelsäule von einem Stahlmast ersetzt, während sich gleichzeitig Eisentore vor den Ausdruck in ihrem Gesicht schoben.